Cover

Über dieses Buch

Zum Glück hat Suni Stern ihre Freundin Stella. Sonst wäre es kaum auszuhalten mit der neuen Mitschülerin Yolanda, die sich völlig danebenbenimmt, aussieht wie eine Barbie und den Jungs den Kopf verdreht. Aber sie scheint ernste Probleme zu haben. Und das weckt die Neugier der beiden Mädchen. Was will der riesige, finstere Kerl von Yolanda, der ständig auftaucht? Warum streitet sie sich pausenlos mit ihrem Vater? Und wo ist eigentlich ihre Mutter? Gemeinsam mit ihrer Freundin Stella geht Suni den Dingen auf den Grund und scheut dabei auch Gefahren nicht.

Die Autorin

Annette Mierswa, geboren 1969 in Mannheim, tätig für Film, Theater und Zeitung, arbeitet heute als freie Autorin. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in Hamburg. Ihre Romane »Lola auf der Erbse« (2008) und »Samsons Reise« (2011) wurden mit diversen Preisen ausgezeichnet und in mehrere Sprachen übersetzt. »Lola auf der Erbse« ist 2014 u. a. mit Christiane Paul verfilmt worden (Prädikat: Besonders wertvoll) und auch als Hörbuch erhältlich. Zuletzt ist der Roman »Die geheime Welt der Suni Stern« (2015) erschienen. Mehr unter www.annettemierswa.de

Die Illustratorin

Nina Dullek, Illustratorin und Autorin, wurde 1975 geboren. Sie ist mit ihrem Traummann verheiratet und stolze Mutter von zwei Töchtern und einem Sohn. Als Illustratorin wurde Nina Dulleck zweimal entdeckt. Das erste Mal in der zweiten Klasse: Ihre Lehrerin setzte sie davon in Kenntnis, dass der Verkauf von selbst gemalten Bildern in der Schule verboten ist. Das zweite Mal mit 16 Jahren von einem Verleger, der mit der kommerziellen Nutzung ihrer Werke keine Probleme hatte. Mehr auf www.ninadulleck.de

Annette Mierswa

Mit Bildern von Nina Dulleck

 
 
 
 

Inhalt

Der tätowierte Schrank

Die Ravioli-Bedrohung

In der Höhle des Löwen

Zwei gefrorene Klumpen Erde

Ein starker Gummibandmoment

Der Schießtermin

Die Fiesta

Impressum

»Man muss an das Beste im Menschen glauben …
Man muss dem Besseren Gelegenheit geben, sich zu entfalten …«

 José Martí, kubanischer Schriftsteller

Es ist stockdunkel und ich renne die Juliusstraße entlang. Etwas ist hinter mir her. Ich höre jemanden schnell atmen. Nur mein Herzschlag ist lauter, ein Wummern wie bei unserer Waschmaschine im Schleudergang. Das Atmen kommt näher. Ich werfe mich hinter die Hecke eines Vorgartens. Als ich durch die Zweige blicke, taucht genau vor mir ein Männergesicht auf. Ich schreie. Der Mann öffnet den Mund und – bellt.

Ich wache auf. Der Mann ist weg, die Hecke auch. Sternchen steht vor meinem Bett und kläfft, die Beinchen gestrafft, die Ohren aufgerichtet. Er ist der süßeste Pudel der Welt. Mit seinen weißen Locken sieht er aus wie eine Wolke. Ich nenne ihn trotzdem Sternchen, denn er ist das jüngste Mitglied der Familie Stern. Und außerdem ist alles heller geworden, seit ich ihn habe, als hätte er in mir drin ein Licht angeknipst, das nicht mehr ausgeht. Ich blinzele und gucke auf den Wecker. Es ist sieben Uhr morgens an meinem sechzigsten Tag in Kleinputzingen, das eigentlich Trutzigen heißt. Aber weil es so putzig klein ist, im Vergleich zu Hamburg, wo ich noch vor Kurzem gewohnt habe, finde ich Kleinputzingen passender. Draußen ist es hell, die Vögel zwitschern. Sternchen bellt immer noch. Er starrt auf das gekippte Fenster über meinem Bett. Ich höre, wie Türen knallen, richte mich auf und sehe hinaus auf die Straße. Direkt vor unserm Haus parkt ein riesiger Laster. Zwei Männer stehen davor und rauchen. Der eine hat rote Haare und kratzt sich am Nacken, der andere hat einen kugelrunden Kopf und blickt auf unser Haus. Jetzt sieht er mich und winkt.

»Guten Morgen, meine Taube.« Mama kommt herein. »Sternchen hat dich ja schon geweckt. Was hat er denn?« Sie sieht auch aus dem Fenster. »Ach, das scheint ein Möbelwagen zu sein. Vielleicht die neuen Mieter?«

»Die sehen aber nicht wie eine Familie aus. Und dann rauchen sie auch noch.«

Mama lacht. »Nein, die werden hier sicher nicht einziehen. Ich nehme mal an, das sind die Möbelpacker.« Sie gibt mir einen liebevollen Klaps. »So, jetzt aber schnell!«

Ich sehe mir die Männer noch einen Moment an. Sie werfen die Zigarettenstummel auf den Boden und treten sie aus. Mist, dass ich ausgerechnet jetzt wegmuss. Hätten die nicht einen Tag früher kommen können? Da war Theresa noch da, meine Freundin aus Hamburg, die mich in den Ferien besucht hat. Jetzt ist die alte Frau Rübchen schon seit mindestens zwei Wochen ins Heim gezogen und ich warte die ganze Zeit auf neue Mieter. Und dann kommen die ausgerechnet heute, am ersten Schultag nach den Herbstferien. Frau Rübchen hat uns, bevor sie ging, einen Schlüssel für die Wohnung gegeben, falls es einen Rohrbruch gibt oder jemand die Feuermelder kontrollieren will. Ich habe mich mit Theresa in die Wohnung geschlichen, um sie mir anzusehen. Die Wände waren noch nicht gestrichen. Man konnte überall helle rechteckige Flecken sehen, wo mal Bilder gehangen haben. Ich erinnere mich sogar noch an ein Gemälde, das über dem Sofa hing, von einer wunderschönen Frau in einem weißen Kleid.

Frau Rübchen hatte erklärt, dass ein Maler sie »porträtiert« habe, als sie noch jung gewesen sei. Ich konnte es gar nicht glauben, weil ich Frau Rübchen nur mit runzliger Haut kenne und sie ganz gebückt geht. Außerdem hat sie immer weite Hosen und weite Pullis an.

Und dann bin ich ein bisschen traurig geworden. Aber Frau Rübchen hat gelacht und gesagt, dass es ihr gar nichts ausmachen würde und dass sie ein gutes Leben hatte. Ob sie das Gemälde wohl in ihrem Heimzimmer aufgehängt hat? Die Wohnung oben ist jedenfalls leer. Nur auf dem Balkon steht noch ein vertrockneter Rosenstrauch.

Als Theresa und ich in der Wohnung waren, haben wir auf dem Boden in der Vorratskammer ein Foto entdeckt, von einer Frau mit einem kleinen Mädchen auf dem Schoß. Ich habe es in mein Buch geklebt und danebengeschrieben: Frau Rübchen mit Tochter? Das war es schon. Es ist nie jemand gekommen, um die Wohnung zu streichen. Und jetzt steht endlich ein Möbelwagen vor der Tür. Und ich kann nicht forschen! Das ist nämlich mein liebstes Hobby. Ich beobachte Menschen und schreibe alles auf, wie eine Detektivin.

»Suni, beeil dich. Du willst doch nicht zu spät kommen, oder?«, ruft Mama.

Kurz darauf gehe ich los. Sternchen bleibt zu Hause. Die Männer stehen immer noch vor dem Laster. Die Laderampe ist geöffnet und heruntergefahren.

»Hallo«, sage ich.

»Hallo, kleines Fräulein«, sagt der mit den roten Haaren.

»Bringt ihr die Möbel von der neuen Familie?«, frage ich.

Die Männer sehen sich an und grinsen. »Ja, die Möbel von der neuen Familie.«

Die Worte »Möbel« und »Familie« betont der Mann ganz komisch. Und jetzt lachen sie.

»Wie heißen die denn?«

Der Mann mit dem runden Kopf sieht auf ein Blatt, das er in der Hand hält, und kneift die Augen zusammen. »Hm, so was wie ›Ravioli‹.« Er guckt mich an. »Du hast nicht zufällig jemanden im Haus gesehen? Wir warten nämlich schon eine ganze Weile auf den Spaßvogel.«

»Spaßvogel?«

Der Rothaarige drückt seinem Kollegen den Ellenbogen in die Seite.

»Ich meine natürlich, auf den Herrn Ravioli.« Er macht ganz spitze Lippen dabei.

»Nö. Niemanden gesehen und keine auffälligen Geräusche im Haus.«

»Na, dann müssen wir wohl oder übel noch warten. Ich hoffe, er hat eine gute Entschuldigung. Wir haben nämlich noch mehr zu tun.«

»Rauchen?« Ich zeige auf die Kippen am Boden. Die beiden Männer sehen sich an, dann sehen sie mich an.

»Nein, du Naseweis«, sagt der Rothaarige, »das erledigen wir so nebenbei.«

Ein furchtbar lautes Kreischen dringt aus dem Lkw.

»Keriko! Keriko!«

Ich gehe hinter dem Laster vorbei, um einen Blick hineinzuwerfen, und sehe zwei Schaukelstühle und einen Karton, auf den viele rote Ausrufezeichen gemalt worden sind. Alles andere ist eingewickelt, in diese Noppen-Plastikfolie, mit der man so schöne Knallgeräusche machen kann.

»Keriko! Keriko!«, kreischt es noch einmal. Und da sehe ich einen großen Käfig hinter den Schaukelstühlen und bunte Federn.

»Ja, das Federvieh wirst du nun wohl häufiger hören.« Der Rothaarige wackelt mit dem Kopf. »Kikeriki!« Er lacht und sein Gesicht wird fast so rot wie seine Haare.

»Sie kennen sich aber nicht besonders gut aus in der Fauna«, sage ich und freue mich, dass Papa mir gerade erklärt hat, dass Fauna Tierreich heißt. Er ist nämlich Biologielehrer und muss es wissen. »Das sind Pa-pa-gei-en.«

Jetzt ist das Gesicht des Mannes wirklich so rot wie seine Haare. »Und die plappern offensichtlich genauso viel wie du.«

Tom kommt auf mich zu. Er wohnt im Nachbarhaus. Wir sind seit zwanzig Tagen zusammen, also irgendwie. Ich weiß auch nicht, ob man das so nennen kann. Jedenfalls nimmt er manchmal meine Hand. Und wenn wir ganz nah beieinandersitzen und er mich aus seinen froschgrünen Augen ansieht, dann kribbelt es in meinem Bauch. Er geht in die Sechste, und ich weiß von Rosita, dem peruanischen Au-pair-Mädchen, dass er in Englisch und Deutsch ganz schlechte Noten hat. Er selbst redet nie darüber.

»Hi«, sage ich, als Tom vor mir steht.

Er sieht sich um. »Na, zum Glück kommt der kleine Monsterstern nicht mit in die Schule.«

»Oh Tom, Sternchen ist so süß und lieb. Vor dem kann man keine Angst haben.«

Tom verzieht das Gesicht. Er hat nämlich eine Hundephobie, also Angst vor Hunden. Aber bei Sternchen kommt es mir doch komisch vor, weil der fast wie ein kuscheliges Stofftier aussieht.

Wir gehen ein paar Schritte die Pappelallee entlang. Ein klappriges Auto, in dem sich ungefähr zehn Menschen zusammenquetschen, fährt mit lauter Musik an uns vorbei und bremst genau vor der 45. Das sind sie! Ich drehe mich um, aber Tom zieht mich um die Ecke in die Juliusstraße.

»Suni, wir sind echt spät dran. Du musst doch nicht jedem Verrückten in diesem Kaff hinterherspionieren, oder?«

»Das müssen die neuen Mieter sein, die in die Wohnung über uns ziehen.«

»Na, dann hast du ja noch genügend Zeit, sie zu ›erforschen‹.«

»Was ist denn mit dir los?«

»Das erzähl ich dir nach der Schule, falls es stimmt, was meine Mutter gesagt hat.«

»Was denn?«

»Nach der Schule!«

»Okay, okay, hab’s kapiert. Mann, bist du schlecht drauf.«

Im Klassenzimmer halte ich sofort nach Stella Ausschau. Seit drei Wochen ist sie hier meine beste Freundin. In den ganzen Ferien hat sie in einer Bäckerei mitgeholfen, weil sie sich das gleiche Fernglas, wie ich es habe, kaufen möchte und sie ihren Handyvertrag selbst zahlen muss. Sie sitzt an einem Tisch an der Wand und winkt mir stürmisch zu.

»Suniiiii!« Sie zieht mich auf den Platz neben sich und strahlt mich an. »Jetzt geht es wieder looos.«

»Was?«

Sie lässt ihren Blick durch den Raum wandern. »Na, die ›Forschungsarbeit‹.« Dabei kneift sie ein Auge zu.

»Ach so, ja klar.«

Seit wir zusammen meinen Nachbarn Herrn Bock beobachtet haben, ist sie ganz wild darauf, weitere Verdächtige auszuspähen. Obwohl wir beim Bock, der übrigens Horst heißt, was ich aber langweilig finde, furchtbar danebenlagen. Papa meinte, man müsse das Forschen genauso üben wie Bio oder Deutsch. Also machen wir weiter.

Nach den Schulferien dürfen wir uns immer neue Plätze im Klassenzimmer aussuchen. Isabelle sitzt jetzt genau vor uns. Ihre Haare scheinen noch länger zu sein als vor den Ferien und fallen über die Stuhllehne bis zur Sitzfläche hinunter. Sie ist immer total abweisend und kühl. Nur ihre Augen sind ganz warm und man kann ein bisschen in sie hineinsehen und dann ist da etwas Schönes. Aber meist sieht sie weg.

Hinter uns ist noch frei. Tabea und Nadine kommen herein, herausgeputzt wie immer. Sie sind die beiden Shopping-Queens der Klasse und haben ständig etwas an meinen Klamotten auszusetzen. Die sind mir nämlich ziemlich schnurz. Eigentlich war Stella mit den beiden gut befreundet, aber seit sie lieber forscht, statt shoppen zu gehen, funktioniert das nicht mehr. Tabea und Nadine haben die gleichen knalligen Turnschuhe an und offensichtlich auch den gleichen Lipgloss aufgetragen, der rosa schimmert. Beide haben sich große Taschen über die Schultern gehängt. Sie bleiben vorne stehen und blicken sich im Raum um.

Mich überkommt eine ganz fürchterliche Vorahnung. Hektisch hebe ich meine Schultasche auf und flüstere Stella zu: »Schnell, wir müssen einen Tisch weiter nach hinten.«

Aber es ist zu spät. Tabea und Nadine ziehen gerade an uns vorbei und werfen ihre Taschen auf den Tisch hinter uns.

»Na, das ist doch ein schnuckeliges Plätzchen«, sagt Tabea laut. »Sollen wir mal die Aussicht fotografieren, für den Club?«

»Club« spricht sie englisch aus, also das »u« wie ein »a«.

»Welcher Club?«, flüstert mir Stella zu.

Ich kann überhaupt nichts sagen. Das hier ist DIE Katastrophe. Ausgerechnet die beiden Shopping-Monster genau hinter uns. Nicht nur, dass sie uns die ganze Zeit über nerven werden, es ist auch fast unmöglich, sie zu beobachten. Im Gegenteil, sie werden UNS beobachten und vielleicht unzählige Fotos posten. Ich sehe mich im Raum um, aber es ist kein anderer Tisch mehr frei, nur noch einzelne Plätze.

»Hoffen wir mal auf ein Wunder.«

Die Tür geht auf und Frau Fölz kommt herein, unsere Klassenlehrerin. Sie hat die Haare blond gefärbt. Eine einzige lange Strähne hängt ihr ins Gesicht.

»Cool«, sagt Stella.

»Guten Morgen, liebe fünfte Klasse.« Sie bleibt stehen und wartet. Alle stehen auf.

»Guten Morgen, Frau Fölz.«

»Ich habe noch jemanden mitgebracht«, sagt sie und winkt zur Tür.

Ein Mädchen kommt herein, besser gesagt ein Knallbonbon. So was habe ich noch nicht gesehen. Sie hat eine pinke Leggins an, grün-rosa Turnschuhe, ein knallenges neongelbes Sportoberteil, das den Bauch frei lässt, und sie ist doppelt so stark geschminkt wie Tabea und Nadine, mit grellpinkem Lippenstift und schwarz getuschten endlos langen Wimpern. Ihre Haare sehen aus wie eine Perücke, sie sind lang, sehr wellig und hellblond, während ihre Hautfarbe etwas dunkler ist. Der absolute Wahnsinn sind ihre Fingernägel. Die sind bestimmt doppelt so lang wie meine und jeder einzelne ist mehrfarbig lackiert. Das kann ich sogar von meinem Platz aus sehen. Eine Tasche hat sie nicht dabei, nur ein Minibeutelchen, wahrscheinlich für ihr Handy. Alle sind so still, dass man allein das Quietschen ihrer Turnschuhe auf dem Linoleumboden hört. Sie sieht gelangweilt mit halb geöffneten Augen auf einen unbestimmten Punkt im Raum und sagt: »Hi.«

»Das ist Yolanda«, sagt Frau Fölz, »sie ist gerade erst nach Trutzigen gezogen, aus Berlin, und wird nun unsere Klasse bereichern.« Sie nickt Yolanda zu. »Vielleicht willst du dich ja selbst vorstellen, hm?«

Yolanda wirft Frau Fölz einen vorwurfsvollen Blick zu und zieht eine gezupfte Augenbraue in die Höhe.

»Warum?«

»Weil die anderen dich dann ein wenig kennenlernen können.«

»Warum?«

Frau Fölz pustet nervös die Haarsträhne aus dem Gesicht. »Also gut, vielleicht kommst du erst einmal in Ruhe an und suchst dir einen Platz. Später kannst du uns ja noch etwas über Berlin erzählen.« Sie lässt ihren Blick durch den Raum schweifen und lächelt dann Lilly an, neben der noch frei ist. »Sieh mal, da …«

Aber Yolanda steuert schon auf Isabelle zu und fläzt sich neben sie, ohne ein Wort zu sagen.

»Ah, neben Isabelle, das ist auch ein guter Platz.«

Alle in der Klasse scheinen gemeinsam die Luft anzuhalten. Neben Isabelle sitzt NIE jemand. Das ist ein ungeschriebenes Gesetz. Und plötzlich kommt Bewegung in den Laden. Die meisten sehen Yolanda an, aber viele flüstern auch mit ihren Sitznachbarn. Isabelle scheint noch starrer zu sein, seit dieses fremdartige Wesen neben ihr gelandet ist. Nicht ein Haar von ihr bewegt sich. Von hinten spüre ich fast die Stielaugen des Shopping-Clubs. Ich wette, Tabea und Nadine kugeln sich die Hälse aus, um ihre neue Konkurrentin unter die Lupe zu nehmen. Ich muss grinsen. Neben Yolanda kommen sie sich bestimmt vor wie farblose Blumen, die gerade verwelken. Das verspricht interessant zu werden.

»Ja, ja, ja«, jubelt Stella, »das ist der Hauptgewinn.« Sie kriegt sich gar nicht mehr ein. »Ich bin gespannt, wo sie wohnt.«

»Stella, jetzt beruhig dich mal.«

»Sei doch nicht so langweilig. Die hat bestimmt was zu verbergen.«

»Irgendwas hat doch jeder zu verbergen, oder?« Ich zwinkere übertrieben, denn Stella hatte im letzten Schuljahr eine ganze Reihe Geheimnisse.

»Ach Suni, du bist doch auch neugierig, oder?«

»Ja, klar. Aber lass uns vorsichtig sein, okay?«

»Na sicher!« Stella klopft mir auf die Schulter. »Du kennst mich doch.«

Oh Mann!

Also fest steht, dass Yolanda so was von gar nicht in unsere Klasse passt. Außerdem sieht sie auch noch aus wie fünfzehn. Aber ich muss auch an das denken, was Mama mal zu mir gesagt hat: »Unter viel Schminke steckt manchmal viel Angst.« Ich glaube, es heißt so viel wie: Es kann sein, dass Yolanda innen drin ganz anders ist, als ich denke, dass sie etwas versteckt unter der Schminke, wie ein Schauspieler, der ein Kostüm anhat. So war es ja auch bei Stella. Es gibt also viel zu tun.

In der Pause kommt Tom angeschlurft. Er sieht an mir vorbei die graue Wand an.

»Was ist denn los?«

»Herr Hubert hat mich in die erste Reihe gesetzt. Damit ich mich besser ›konzentrieren‹ kann, meint er. So ein Scheiß.«

»Da hatten wir einen besseren Start, mit Yo-lan-da«, sagt Stella und betont die Silben, als wäre der Name ein Schlachtruf, »unserer interessanten neuen Mitschülerin.« Sie hält mir eine flache Hand entgegen, damit ich einschlage.

»Und was ist an der so toll? Ist sie euer neues Opfer oder was?«

Yolanda wackelt mit wippendem Po an uns vorüber und richtet ihren Blick superkurz auf Tom, der sie mit offenem Mund anstarrt und zu vergessen scheint, wer er ist und was er gerade sagen wollte.

»TOM!!!« Ich boxe ihn in die Seite. Er sieht mich verträumt an.

»Hä?«

»Um auf deine Frage zu antworten: JA, wobei ›Opfer‹ nicht ganz richtig ist. Ich würde eher sagen, wir gucken mal, ob sie Hilfe braucht. Bei der Kleiderwahl auf jeden Fall!« Ich nicke in ihre Richtung. Yolanda lehnt sich mit herausgestreckter Brust an eine Mauer und macht mit ihrem Handy Fotos von sich selbst.

»DAS ist Yolanda?« Toms Augen scheinen hervorzuquellen. »Die ist doch viel zu …«

»Ja, das ist sie. Viel zu viel – von allem.« Ich seufze etwas zu laut.

»Wiederholt sie die Fünfte?«

»Na, ich schätze, bestimmt schon zum dritten Mal.«

Stella kichert.

Tom streckt den Rücken durch und streicht sich durch die Haare. »Mädels, ich glaube, ihr braucht wieder meine Hilfe. Die ist mit Sicherheit gefährlich.«

Ich blicke hilflos zu Stella, die sofort schaltet. »Mein lieber Tom, ich glaube, das ist nichts für dich. Bei diesem Fall muss man einen kühlen Kopf bewahren.«

Inzwischen ist Yolanda nicht mehr alleine. Neben ihr steht Rico, der coolste Typ der Unterstufe, mit seinem Kumpel Helle. Sie gehen in die Siebte. Rico stützt sich mit einer Hand lässig an der Mauer ab und lässt in der anderen ein Schlüsselbund kreisen.

Ich sehe, dass Tom die drei beobachtet, und fühle, wie es in mir drin dunkel wird, als würde ein Gewitter aufziehen. Ich mag nicht, dass er sie so ansieht. Das tut weh. Warum tut das so weh? Er macht ja nichts, sieht einfach nur hin. Aber wie! Als wäre da gerade eine wunderschöne Blume aufgeblüht. Ich werde ganz wütend und traurig und weiß gar nicht, was ich machen soll.

»Wie wär’s, wenn wir nach der Schule zu Toni gehen und einen leckeren Eisbecher schlürfen«, sagt Stella.

Tom ist wieder bei uns. »Ja, gute Idee.«

Ich kann gar nichts sagen, nicke nur stumm.

Nach der Schule treffen wir uns am Ausgang.

»Wir müssen noch schnell Sternchen abholen. Der ist schon die ganze Zeit allein zu Hause«, sage ich.

Tom stöhnt auf. »Du und Sternchen, das ist wie ’ne Packung klebriges Kaugummi. Man kriegt euch ja kaum auseinander.«

»Warum auch?«

»Hm.«

Als wir in die Pappelallee einbiegen, sehe ich sofort, dass der Laster noch da steht. Aber die Laderampe ist geschlossen. Dafür sind alle Fenster im ersten Stock weit geöffnet und eine lustige Musik ist zu hören. Ich gehe ein Mal um den Laster herum. Vielleicht kann man irgendwo hineingucken. Aber mir fällt nur auf, dass der klapprige Wagen weg ist, der heute Morgen an Tom und mir vorbeigefahren ist.

Aha, und an der Stelle, wo die beiden Männer gestanden haben, liegen jetzt zwölf Zigarettenkippen. Da haben sie ja noch einiges »nebenbei« gemacht.

»Hallo, Schätzchen.«

Die »Ach wie süß« erschreckt mich fast zu Tode. Sie wohnt im Dachgeschoss und ist immer ein bisschen »überkandidelt«. Das sagt Papa dazu. Aber sie macht köstliche kleine Öfchen, die heißen eigentlich »Petifu« und sind französische Minikuchen. Sie kommt ganz nah heran und flüstert.

»Hast du den neuen Mieter schon gesehen?«

»Nein.«

Sie rollt mit den Augen. »Er hat bei mir geklingelt, hat drei Mal lange gedrückt. Ich dachte schon, es sei was ganz Dringendes.«

Sie wackelt mit dem Kopf. Ihre Ohrstecker, heute kleine Kätzchen mit rosa Schleifchen, wippen wie wild hin und her.

»Und dann steht dieser … na, dieser komische Mann vor mir, versucht die ganze Zeit, in meine Wohnung hineinzusehen, sagt, er heiße … ach, irgendwas mit ›R‹, was Ausländisches … und er freue sich auf eine gute Nachbarschaft. Dann hat er mich umarmt, mir eine Flasche RUM geschenkt und gesagt, ich könne am Samstag zur ›Fiesta‹ kommen, eine Art Party, mit Musik.«

»Äh, klingt nett.«

»Nett?«, kreischt sie. »Rum? Fiesta? … Und dann diese Vertraulichkeit!« Sie legt eine Hand auf meinen Arm. »Suni, nimm dich vor dem in Acht! Ich befürchte das Schlimmste.«

Sie streicht sich nervös eine Locke aus dem Gesicht, die sich aus ihrer Turmfrisur gelöst hat. Die Musik im ersten Stock wird noch lauter.

»Und dieser schreckliche Lärm.« Die »Ach wie süß« hält sich die Hände an die Schläfen, als hätte sie Kopfschmerzen. »Und das in unserem Haus!« Kopfschüttelnd geht sie davon.

Boah, ist das spannend. Ich würde am liebsten sofort zu den Raviolis hochdüsen und mir alles ansehen. Aber Stella und Tom warten. Und dann dreht Tom durch. Der ist eh schon so komisch heute. Und das Gewitter in mir drin ist auch noch nicht weg.

Als wir in die Wohnung kommen, quietscht Sternchen vor Freude. Er hüpft an mir hoch und wedelt mit dem Schwanz. Er sieht so süß aus mit seinen weißen Wuschelhaaren. Und seine Augen sind braun und tief. Er schläft neben meinem Bett und vor der Schule gehe ich noch mit ihm spazieren. Ich muss jetzt zwar immer eine halbe Stunde früher aufstehen, aber das ist es wert. Ich nehme Sternchen auf den Arm und drücke ihn fest an mich. Tom steht im Türrahmen und rührt sich nicht.

»Jetzt streichle ihn doch auch mal«, bitte ich ihn.

»Ich streichle nur, wen ich gerne mag.« Er grinst mich an.

»Können wir jetzt looos?« Stella hat die Leine in der Hand und macht sie an Sternchens Halsband fest, der aufgeregt zu zappeln anfängt. Ich lasse ihn herunter und er hüpft kläffend im Kreis herum.

In der Eisdiele ist unser Lieblingstisch frei. Toni, der italienische Kellner, ist sofort bei uns.

»Ah, bellissima, die beiden Stellas.«

»Drei«, sage ich.

»Drei?«

»Ja, hier ist noch ein Sternchen.« Ich zeige auf meinen Hund, der gleich mit dem Schwanz wedelt.

»Ah so. Da seid ihr ja bald eine ganze via lattea … eine Milchstraße.« Er lacht. »Ihr wollt bestimmt Erdbeerbecher?« Dann sieht er Tom an. »Und der junge cavaliere?«

»Zwei Kugeln Stracciatella, mit Schokosoße.«

Toni verbeugt sich tief und fliegt davon.

»Also«, sagt Stella, »wo fangen wir an?«

»Damit«, sage ich, mit Blick auf Yolanda, die auf das Venezia zusteuert, mit einem Kerl, der aussieht wie ein Schrank. Er ist riesig, mit breiten Schultern und Lederjacke. Auf dem einen Arm hat er ein komisches Tattoo, das ich nicht so genau erkennen kann, und an den Händen zwei große Ringe. An einer Leine trottet ein bulliger Rottweiler, einer von den gefährlichen Hunden, die schnell zubeißen. Yolanda wirkt neben ihnen wie geschrumpft. Sternchen springt auf und knurrt. Der Rottweiler bellt ein einziges Mal, aber so laut, dass Sternchen den Schwanz einzieht und winselnd auf Toms Schoß hopst. Der bekommt zwar einen Riesenschreck, schließt aber instinktiv seine Arme um mein kleines Hündchen. Als er bemerkt, dass ich ihn anlächle, schiebt er Sternchen schnell von seinem Schoß und klopft seine Hose sauber. Yolanda ist so mit ihrem Begleiter beschäftigt, dass sie uns gar nicht bemerkt und sich mit dem Schrank direkt neben uns an den nächsten Tisch setzt.

»Yolanda«, dröhnt Schranks Stimme, als würde er durch ein Mikro sprechen, »damit das mit uns gut geht, sollten wir ein paar Dinge klären.« Er beugt sich zu ihr und spricht etwas leiser weiter. »Und um gleich Klartext zu reden: Wenn du wieder abhaust, wird das Konsequenzen haben.« Er streichelt seinen Hund, der ihm die Hand ableckt. »Wir fangen hier noch einmal von vorne an, okay? Und das geht nur, wenn wir zusammenarbeiten.«

Toni kommt und macht seine Begrüßungsverbeugung.

»Einen ordentlich starken Kaffee«, sagt Schrank.

»Und die Signorina?«

»Gibt es Fruchteis ohne Zucker?«

»Aber Signorina, Eis soll schön süß sein, oder? Also ist es mit Zucker, claro?«

»Aber Saft aus 100 Prozent Frucht, ohne Zusätze?«

Toni kratzt sich mit dem Stift am Kopf. »Äh. Ich frage den Chef.«

Stella und ich trauen uns kaum zu reden, weil die beiden so nah dran sind. Aber Tom scheint das nichts auszumachen. Im Gegenteil. Er streckt seine Brust raus und sagt besonders laut: »So Mädels, los geht’s. Ich schlage vor, wir teilen uns auf. Ihr konzentriert euch auf die Raviolis. Und ich guck mir mal die nähere Umgebung an.«

Tom klatscht in die Hände. Stella und ich zucken zusammen und Yolanda dreht sich zu uns um und reißt die Augen auf. Sie blickt jeden von uns einmal fassungslos an und widmet sich dann wieder Schrank.

»Kennst du die Kinder?«, fragt der.

Hey, Moment mal, der meint uns. Yolanda wird sichtlich nervös und schüttelt den Kopf. Das wird ja immer besser. Stella hat es auch bemerkt und kann es nicht lassen, die Dinge schleunigst klarzustellen.

»Hi, Yolanda«, sagt sie superfreundlich. »Hausaufgaben schon gemacht?«

Yolanda wirft ihr einen bösen Blick zu und steht auf. »Komm, wir suchen uns einen anderen Tisch. Das scheint die Spielecke zu sein.«