Roman einer frau
Saga
Januar 1946
Zum ersten Male hörte ich ihre Stimme im Rundfunk. Es muß kurz nach dem großen Zusammenbruch gewesen sein, Ende 1945 also. Sie sang ein kleines, freches Loblied auf die verehrungswürdigen Dunkelmänner, auf die Schwarzhändler, die Geber aller Gaben, die einzigen, die das Leben des Durchschnittsmenschen noch lebenswert machten. (Diesen Durchschnittsmenschen nannte man damals den Normalverbraucher, und er war die vielverspottete Zentralfigur der Witzecken in den dünnen Einheitszeitungen.) Das Lied selbst war musikalisch-geistreich einem bekannten Choral nachgebildet, und die Orgelklänge lösten sich in freche Jazzrhythmen auf. Die Stimme der Sängerin war klein, geschmeidig, ungewöhnlich hell, um plötzlich in fast baritonale Tiefen hinabzutauchen. Sie sang spritzig und witzig, mit einer unüberhörbaren Melancholie als Unterton. Ihren Namen konnte ich bei dieser Sendung nicht verstehen.
Ein Vierteljahr später sah ich sie dann in einem Kabarett, in Düsseldorf, glaube ich, oder in Frankfurt. Ich weiß es nicht mehr. Doch – es muß Frankfurt gewesen sein. Denn ein Freund, der dicke Journalist Rabner, führte mich hin.
Das Kabarett war in einer Kellerkneipe untergebracht, zu der man über Ruinen und halbzerborstene Treppen hinunterklettern mußte. Der kahle Raum, nicht größer als ein großes Wohnzimmer, hatte im Kriege als Bombenkeller gedient. Die Angst saß noch in den nassen Wänden. Die dichtgedrängten Zuschauer heizten, und das Wasser perlte aus dem rohen Putz. Das Programm? Nun: die Lustigkeit der kleinen Sketsche und Parodien war recht angreiferisch. Die regierenden Politiker wurden verspottet, die gefallenen Größen hart und gellend verhöhnt, die Besatzungen und ihre Veronikas, die mit Zigaretten billig eingekauften deutschen Frauen, wurden vertraulich angerempelt. Dazwischen also trat sie auf: Lucia Bernhöven. Sie schien eine Mittelpunktsfigur des Ensembles zu sein; denn sie wurde von erwartungsvollem Beifall der Stammgäste begrüßt. Sie stand während dieses Beifalls lächelnd und zurückhaltend auf dem winzigen Podium: ziemlich groß, breitschultrig, schmalhüftig, mit hellblonden, pferdesträhnigen Haaren, die glatt dem wohlgeformten langen Schädel anlagen und durch einen unmodernen Knoten im Nacken zusammengefaßt wurden. Sonst hätte man sie auch für dreißig oder für noch jünger halten können. Sie trug ein enganliegendes Brokatkleid, ziemlich ausgeschnitten. Um den Hals hatte sie eine breite, unechte goldene Kette geschlungen, an der ein handtellergroßes Herz aus blutrotem Glas hing. Eine Dame, eine richtige, echte Dame – das war mein erster Eindruck –, durch wer weiß was für einen tückischen und falschen Wind auf dieses Podium geweht, das im Rauch der unzähligen Zigaretten wie in einem Nebel fast verschwand.
Nebelhaft und verschleiert setzte auch ihre Stimme ein, der merkwürdig helle Sopran, der dann gleich in jene männliche, baritonale Tiefe hinabsank, die mir beim ersten Hören aufgefallen war und an der ich sie wiedererkannte. Das Chanson aber, das sie sang, war von einer graziösen, oberflächlichen Heiterkeit, und der Refrain, der in einem Marschrhythmus gesungen wurde, hieß:
Wenn es so weitergeht ...
Dann geht’s nicht weiter ...
Es ist nicht heiter,
Wenn man im Dunklen steht.
Die wir im Dunklen stehen,
Wir Narren, wir Genarrten,
Wir wissen, es wird schon weitergehen.
Wir haben gelernt zu warten.
Man sieht, es war kein besonders geistvolles Lied. Aber es entsprach wohl dem galgenhumorigen, ironisch-ungemütlichen Gemütszustand jener Jahre im Niemandsland, da die Brücken alle eingestürzt waren und man noch nicht wußte, ob man jemals wieder an die andere, die hellere Seite des Flusses würde gelangen können. Freilich hatte die Bernhöven eine ungewöhnliche, schwer beschreibbare Darstellungskraft. Sie stand statuenhaft unbeweglich und maskenhaft lächelnd auf dem Podium, grau-weiß geschminkt, mit grellen Karmoisinlippen, die Augendeckel, die sie zuweilen wie Vorhänge über die milchhellen blitzenden Augen senkte, schwarz gefärbt. Gegen diese Starrheit bildete ihre lebendige, wechselreiche Stimme einen erregenden Gegensatz. Es war eine kleine Naturstimme, in einer mir unbekannten Technik ausgebildet und von einer ungewöhnlichen Kraft und Süße. Ja ... diese Süßigkeit und dazu eine große Herzlichkeit mochten wohl den starken Erfolg ihres eigentlich banalen Liedes erklären.
Der Beifall war heftig. Lucia dankte mit einem vergnügten Lächeln, mit einem mädchenhaften Knicksen, verschwand hinter den Kulissen aus Sackleinewand, tauchte wieder auf, winkte ab und sagte: »Ich habe ein anderes Lied. Leider paßt es nicht her. Wenn Sie es trotzdem hören wollen ...« Und indem sie den zustimmenden Beifall durch eine fast unwirsche Handbewegung wegwischte, begann sie ihr neues Lied. Es war ein einfaches, etwas melancholisches Lied, zu einer eintönigen Melodie gesungen. Sie sang es sehr vielfarbig bei aller Einfachheit des Ausdruckes. Ihr Gesicht war ganz verändert. Das Maskenhafte war abgefallen, und obwohl sie nur mit der rechten Hand ein paar illustrierende Bewegungen machte, war das eine genaue Darstellung dessen, was sie sang, die Darstellung des Herbstes, der Vergänglichkeit, des Sturmes. Das Lied aber, das sie mir erst sehr viel später schickte, lautete:
Bunt wie das Laub im Herbst
Ist unser Leben,
Grau wie der Nebel im Wald.
Aber manchmal auch blau wie der helle Himmel,
Wenn der Mittag herabscheint.
Bunt wie das Laub im Herbst
Ist unser Leben,
Vergänglich wie Laub und am Boden verflatternd.
Aber manchmal auch kühn und behende segelnd
Auf dem Rücken der Stürme.
Bunt wie das Laub im Herbst
Ist unser Leben.
Ungewiß bleibt, woher die Reise – wohin.
Der Sturm weiß es allein, der uns treibt.
Oder weiß er es auch nicht
Woher ... wohin?
Die Wirkung dieses Liedes war merkwürdig. Es gab fast keinen Beifall. Aber die buntgemischte Zuhörerschaft schien ergriffen. Denn sie stimmte durch eine lange Stille zu.
Mein Freund Rabner stand auf. »Wir können gehen«, sagte er, »was noch kommt, ist das Übliche. Finanzamt und Besatzungsmächte. Wir wollen ihr guten Tag sagen.« »Kennst du sie denn?« fragte ich naiv. Denn es gibt keine Frau von Bedeutung, die Rabner nicht kennt. Er zog auch nur beleidigt seine Augenbrauen hoch, die wie schwarze Schutzerker über seinen fensterhellen, farblosen flinken Augen standen, und drängte sich hinaus, indem er mit seinem gewaltigen weichen Bauch die Bankgenossen wegschob. Ich wollte nicht mitgehen. Aber bei Rabner nützen keine Proteste. Er lief eilig vor mir her, durch ein paar offene Kellergänge, in die ein kalter Nebelregen sprühte, klopfte donnernd an eine eiserne Tür und zog mich in die Garderobe hinein.
Es war ein winziger gewölbter Raum mit schmutzigen Wänden, ehemals wohl der Kartoffelkeller des zerstörten Hauses. An der Wand zwei Tische, zwei Spiegel darüber, zwei trübe elektrische Birnen. Ein Schrank in der Ecke. Die Bernhöven saß in einem kostbaren, am Kragen von Schminkspuren verfärbten alten Kimono vor dem Spiegel. Sie rieb sich gerade die letzten Spuren der Fettcreme vom Gesicht. Sie lächelte im Spiegel meinen Freund Rabner an und hob winkend die Hand, ohne sich umzudrehen. Ich wurde vorgestellt. Sie nickte mir im Spiegel zu. »Ein schönes Lied, das letzte«, sagte sie stolz und spöttisch, »eigene Anfertigung.« »Die Verse sind nicht besonders«, schrie Rabner, »höchstens die Musik ... aber die ist nicht von Ihnen.« Sie erhob sich, verbarg sich hinter den geöffneten Schranktüren, warf ihren Kimono ab und trat gleich darauf, den Kopf noch in der Halsöffnung eines schwarzen Tuchkleides, wieder auf uns zu. Während sie heraustauchte, das Kleid zurechtzog und an dem widerspenstigen Reißverschluß zerrte, sagte sie: »Ja ... die Musik ist schon gut. Aber mein Lied ist schön. Wenigstens heute.« Sie wandte sich mit einem verschmitzten Lächeln erklärend an mich: »Vielleicht ist es eine vergängliche Schönheit. Und morgen gilt ganz etwas anderes, was Unechteres, glaube ich.« Und wieder zu Rabner: »Ich sollte bald mal was Liebliches singen, was frisch Parfümiertes. Was meinen Sie, Rabner? – Sanfte Tränen, in seidene Tücher hineingeweint.« Rabner lachte dröhnend: »Tränen wird man Ihnen kaum abnehmen, Eure Lieblichkeit. Und woher seidene Tücher in dieser lumpigen Zeit.« Sie sah mit einem schrägen, fixen Blick zu ihm hinüber. Dann sagte sie merkwürdig hart: »Ja ... woher die Tücher? Das weiß ich auch nicht.« Und indem sie uns beide unterhakte, etwas burschikos: »Gehen wir noch einen trinken. Ich hab’ was Gutes auf meiner Bude.« Rabner entschuldigte sich wortreich. Er hätte Nachtdienst. »Gut«, sagte sie höchst natürlich, »wenn es Sie nicht langweilt, kommen Sie noch auf einen Schluck zu mir hinauf.«
Ich war über diese unerwartete Einladung etwas überrascht. Sie merkte es und sagte lachend: »Wir können auch in irgendein ungemütliches Lokal gehen und alkoholfreies Bier trinken. Aber bei mir ist es angenehmer. Ich möchte noch was reden. Einerlei, mit wem.« Nach dieser Unliebenswürdigkeit mochte ich nicht ablehnen, und so wanderten wir schweigend durch ein paar Trümmerstraßen. Immer noch sprühte der leise, durchdringende Nieselregen. Aber der Mond stand hinter den Wolken und verbreitete eine sanfte Dämmerung, in der die Ruinen geglättet schienen und fast wie eine romantische Burglandschaft die Straßen begleiteten.
Die Pension, in der die Bernhöven wohnte, lag in einem ehemaligen Hinterhaus. Das Vorderhaus war von Bomben zerstört, und so sah man schon die Lichter blinken, während wir den von aufgestapelten Ziegeln begleiteten Weg gingen. Ein mit Mauerbrocken gefüllter Springbrunnen, über dem unverletzt eine fischschwänzige Seejungfrau thronte, erinnerte daran, daß hier mal ein hochherrschaftliches Haus nach dem Bürgergeschmack der neunziger Jahre gestanden haben mußte. »Nett ... nicht wahr?« lächelte die Bernhöven. »Diese Böcklinzeiten, in denen Fischleiber und Fischweiber die Gefährlichkeit der Natur symbolisierten. Möchten Sie da gelebt haben? Ich vielleicht.« Sie schloß das Haus auf, knipste die Treppenbeleuchtung an und lief wieselflink die Treppen hinauf. Dabei rief sie: »Sie dürfen langsam nachkommen. Ich mache nur einen Wettlauf mit dem Geiz des Hauswirtes. Dreißig Sekunden hat man nur für jede Treppe. Sonst steht man im Dunkeln.« Tatsächlich erlosch gerade das Licht, wurde gleich wieder angesteckt, und ich hörte die eiligen, schlanken Schritte schon wieder die nächsten Treppen hinauflaufen. So geschah es noch dreimal, bis ich die Atemlose oben im vierten Stock einholte. »Gesiegt«, pustete sie befriedigt und schwang ihr Schlüsselbund. »Schneller als der Geiz ist der Ehrgeiz.«
Drinnen wurden wir von der weißhaarigen Pensionsinhaberin freundlich begrüßt. Frau Bernhöven stellte sie als »Mammi« Trömner vor. Sie war eine zierlich-betuliche alte Dame, deren Humor in vielen kleinen Fältchen um die Augenwinkel nistete. »Nett von Ihnen, daß Sie meiner Lucia noch ein bißchen Gesellschaft leisten«, sagte sie zu mir, »ich werde Euch noch einen Kaffee kochen.«
Das Zimmer war ein ziemlich kleines, mit Möbeln vollgestelltes Viereck. Zwei häßliche Sessel standen drin, mit schäbigem Blumenmusterüberzug, ein zierlicher Biedermeierschrank mit halb abgeblättertem Furnier. Über dem Waschtisch hing ein Empirespiegel mit trübem, wassergrünem Glas. Ein pompöses Bett, sichtlich die Hälfte eines ehelichen Schlafzimmers aus der Gründerzeit, nahm ein Drittel des Zimmers ein. Schräg vor den Fenstern stand ein rohgezimmerter Tannentisch. Eine Vase darauf mit einem üppigen Strauß gelber Rosen, ein paar Bücher dazu, eine Schreibmappe und einige Fotografien in Standrähmchen. Das Ganze war ebenso geschmacklos wie gemütlich. Zudem bullerte und knackte in dem runden Kanonenofen neben der Tür ein lustiges Feuer.
Aus einer hochgestellten Kiste, die durch ein paar Fächer und einen bunten Vorhang zu einem Schränkchen befördert war, holte Lucia drei Gläser und eine fast volle Ginflasche heraus. Sie schenkte ein, schob mir Zigaretten zu – nein, sie selbst rauche nicht, das sei eine überwundene Jugendsünde, und das bißchen Stimme wolle auch geschont sein –, prostete mir zu, trank das Glas in einem Zuge leer, schenkte sich neu ein und trank es wieder aus. Sie lachte: »Keine Angst ... ich trinke schnell, aber wenig. Ich muß immer fix einen Vorhang ziehen zwischen unserem Keller ... na, und dem übrigen. Zehn Minuten Arbeit am Tag. Und davon kann man leben. Ulkig, nicht wahr?«
»Und was machen Sie mit den übrigen dreiundzwanzig Stunden und fünfzig Minuten?« fragte ich. Sie lehnte sich in ihren Sessel zurück. Ein Schatten floh über ihr Gesicht, schnell, wie der Schatten einer Wolke über eine blumige, windbewegte Bergwiese streift. Ich sah, daß sie ein bewegtes, naturnahes Gesicht hatte, in dem sich wetterhaft und wetterwechselnd ihre Gefühle spiegelten und es ständig und jäh veränderten.
Sie hatte ziemlich lange geschwiegen. »Ja, die übrigen dreiundzwanzig Stunden«, sagte sie jetzt zögernd, »es sind übrigens nur zweiundzwanzig. Denn ich muß ja hin und her gehen, mich schminken und abschminken, ein bißchen proben, ein bißchen mit den Kollegen schwätzen. Und dann gehen vier oder fünf Stunden für den Schlaf ab ... nein, mehr nicht. Ich schlafe so rasend tief und so vollkommen bewußtlos, daß ich nicht mehr brauche. Mehr wäre schade. Und eine Stunde brauch’ ich zum Briefschreiben, eine halbe zum Essen ... bleiben ... haben Sie mitgerechnet? ... fünfzehneinhalb Stunden zu beliebiger Verwendung.«
Ich proteste ihr zu. Sie verneigte sich anmutig. Aber sie trank nicht mehr. »Schenken Sie mir fünf von Ihren überflüssigen Stunden«, sagte ich, »ich könnte sie verdammt gut brauchen, und für die übrigen Stunden würden sich auch noch genug Bedürftige finden.« Sie wiegte den schönen Kopf bedauernd: »Sie enttäuschen mich. Ich hab’ mal was von Ihnen gelesen, so was Trocken-Weises, daß ein anständiger Mensch für alle schönen Dinge des Lebens Zeit haben müsse. War also Theorie, wie alle Weisheiten, und Sie gehören zu den Überarbeiteten und Überlasteten, die aus der Hetze so ’ne Art neue Moral machen. Und außerdem sich vom vollgeschriebenen Terminkalender die Entschuldigungszettel abreißen für ihre Herzenssünden.«
»Hübsch gesagt«, lachte ich. Und sie erwiderte recht ärgerlich: »Hübsch gesagt. Nett formuliert, nicht wahr? Ich will aber gar nichts Hübsches sagen. Ich will die Wahrheit sagen, daß Sie es nur wissen. Das, was wirklich ist. Nicht mehr, nicht weniger.« »Da haben Sie sich allerhand vorgenommen«, spottete ich, »das möchten wir nämlich alle. Mindestens jeder, der schreibt. Aber wir kriegen es nicht raus, was wirklich ist.«
»Warum nicht?« fragte sie heftig und trommelte mit den Fäusten auf die alten Sessellehnen, daß der Staub von vielen Jahren herausstob. »Warum denn nicht? Wir sind bloß feige.«
In diesem Augenblick kam Mammi Trömner herein. Sie kam, ohne anzuklopfen, indem sie einfach mit dem Ellenbogen die Türklinke herunterdrückte und die Tür dann mit dem Absatz krachend zustieß. Sie trug das Tablett mit dem Kaffeegeschirr, mit einem Bleikristallschälchen, in dem Kekse lagen, mit einem Käsebrot, das, wie sie streng sagte, nur und allein für »unsere« Lucia bestimmt und unteilbar sei. Sie kramte mit kleinen heiteren Bemerkungen über die Freuden und die Sorgen, die ihr Lucia bereitete, das Geschirr auf den Tisch, zwei Tassen nur. Sie selbst wolle keinen Kaffee, weil sie sonst Herzklopfen kriegen würde. Herzklopfen sei nur für junge Leute ein Genuß, für alte lediglich ein »unbehagliches Gelärme«. Aber einen Gin nahm sie gern. Sie setzte sich, das Glas in der Hand, auf das Bett und schlürfte den Schnaps mit kleinen, genießerischen Schlucken. Dabei schwätzte sie etwas monoton, aber mit dem Charme, den manche alte Damen besitzen, die wenig erlebt, aber viel gelesen haben und begeisterte Zuschauer des Lebenstheaters geworden sind. »Ist sie nicht eine große Künstlerin, unsere Lucia?« rief sie, »was sie da aus diesem Lied macht. Herrlich! Und gedichtet hat sie es auch. Aber sie müßte natürlich ganz was anderes tun.«
»Kochen zum Beispiel«, warf Lucia ein, »da bin ich wirklich begabt. Eine große Kochkünstlerin ... leider im Moment bei der Kartennahrung ein Maler ohne Hände.«
»Ja, kochen zum Beispiel«, kicherte Mammi Trömner und goß sich einen zweiten Schnaps ein, »oder meinetwegen auch heiraten. Eine Ehe führen. Das ist ja heutzutage das Schwierigste. Aber das würde sie auch schaffen. Verstehen Sie die Männer? Daß dieses Juwel, unsere Lucia, nicht verheiratet ist!«
Lucia lachte wieder ihr helles, klingendes Lachen: »Ich bin ja noch verheiratet.« Und die Trömner: »Beinahe geschieden, und da stehen noch nicht zehn Männer an, um dieses Juwel – jawohl, ich wiederhole das – heimzutragen?« Und Lucia friedlich: »Würden Sie einen der Männer heiraten, die heute noch frei rumlaufen?« Frau Trömner hob beide Hände zum Himmel, schüttete dabei etwas Schnaps auf die Decke und versuchte unter Bedauernsrufen den Fleck wegzuwischen: »Um Himmels willen – nein, ich bin froh, daß ich im vorigen Jahrhundert geheiratet habe und rechtzeitig Witwe wurde. Mit den heutigen Männern ... das wäre Selbstmord.«
»Und mir muten Sie den Selbstmord zu, Mammi«, seufzte Lucia. »Das nennen Sie Liebe.«
»Nun, meinetwegen«, sagte die alte Dame, »dann gehen Sie eben wieder zum Film und werden dieses Mal berühmt, sammeln Millionen und ziehen sich auf ein Schloß zurück.«
»Und was mach’ ich dann auf dem Schloß ... außer durch die Zimmer wallen und die Dienerschaft befehligen, Hunde dressieren und Jagden reiten?« fragte Lucia schelmisch.
»Abends schreiben Sie dann«, sagte Frau Trömner. Und zu mir gewandt: »Sie schreibt nämlich. Was ... das weiß ich nicht. Sie zeigt es niemandem. Vielleicht, wenn Sie sie bitten ...« Damit trank sie ihren Schnaps aus und ging formlos, grußlos hinaus.
»So, Sie schreiben?« fragte ich mehr aus Höflichkeit als aus Neugierde. Denn aus bösen Erfahrungen habe ich eine panische Angst vor Manuskripten, die irgendwelche Anfänger in ihren Schubladen bergen und einem zur Unzeit ins Haus schicken.
»Ich habe Sie ganz ohne Nebenabsichten hergelockt«, antwortete Lucia, »das können Sie mir glauben. Ich wollte nur nicht allein sein, weil ... nun, es ist einerlei, warum. Aber jetzt scheint es mir, daß ich Sie wirklich hierhergebeten habe, um mit Ihnen darüber zu sprechen. Übers Schreiben. Sie verstehen doch was davon. Gelesen habe ich nur hier und da was von Ihnen.«
»Theoretisches über das Leben und über die Frauen und über die Ehe«, sagte ich. »Ja, so ungefähr«, nickte sie, »aber das macht nichts. Ich wollte nicht über Sie sprechen, sondern über mich. Dazu geben Sie mir bitte noch einen Schnaps.«
Ich schenkte ein und spottete: »Gehört soviel Mut dazu?«
Sie kippte den Schnaps schnell hinunter und sagte dabei: »Ja ... ’ne ganze Menge Mut.«
Sie stand mit einem Seufzer auf, trat an den Tisch und legte mit schnellen, etwas fahrigen Bewegungen die Fotografien in den Standrähmchen um. Dadurch wurde ich erst auf die Bilder aufmerksam. Soviel ich sehen konnte, waren es die Bilder von zwei Männern und zwei Kindern. Unter den Büchern holte sie eine große Schreibmappe hervor, kam zurück und setzte sich wieder. »Nein, es geht nicht«, sagte sie mehr zu sich, »was für ein Blödsinn.«
»Also ist es ein Selbstporträt, eine Selbstbiographie oder so was Ähnliches?« fragte ich. Sie nickte: »Alle Frauen, die schreiben, schreiben Selbstbiographien. Die meisten Männer übrigens auch. Was sie erlebt haben, was sie gesehen haben, was sie gedacht, gefühlt, na, und vor allem, was sie gelitten haben. Höchst langweilig. Kein Mensch interessiert sich für die Halsschmerzen des anderen. Ist es nicht so?«
»Es sei denn, er liebte ihn«, sagte ich, weil ich sie in ihrem Monolog unterbrechen wollte. Sie sprach nämlich nicht eigentlich zu mir, sondern zu sich selbst, und es war die Fortsetzung vieler Selbstgespräche in einer nicht durchbrechbaren Einsamkeit.
Lucia nickte. Dann sah sie mich wieder mit ihrem durchdringenden, spöttisch-leuchtenden Blick an: »Und wer sich für die Halsschmerzen des Geliebten interessiert, der tut’s aus Ärger und Eifersucht. Die Halsschmerzen lenken den Geliebten doch von der Liebe ab, ja, sie sind ein Raub an der Liebe. Daher der Kummer.« »Liebe als Egoismus zu zweien ... da ist was dran«, sagte ich, eigentlich mehr, um die etwas zäh gewordene Unterhaltung fortzuspinnen. Die Bernhöven aber fuhr mir ziemlich ärgerlich ins Wort. Sie wollte keine Konversation mit mir treiben. Dazu sei meine Zeit zu schade und ihre auch. An geistreichen Anmerkungen zum Leben, an halbgaren Aphorismen mangle es ihr nicht. Die könne sie am laufenden Band produzieren. Das war eigentlich eine ziemliche Unverschämtheit. Denn ich hatte mich ihr ja wahrhaftig nicht aufgedrängt. Sie hatte mich aufgelesen und mitgeschleppt. Und ich sagte ihr das deutlich.
Sie hörte sich das freundlich an. »Nun geben Sie mir doch noch einen Schnaps«, sagte sie, »wir kommen langsam in das Stadium ehrlichen Gespräches.«
Ich schenkte ihr ein, und wir stießen miteinander an. »Wenn ich grob sein muß«, sagte ich ihr, »so bin ich durchaus nicht ehrlich, sondern höchstens gereizt und nervös«, und reichte ihr die Hand zur Versöhnung. »Und nun wollen wir anständig und kameradschaftlich miteinander reden. So geradeaus, wie es nur Menschen vermögen, die sich nicht kennen.«
Sie nickte, behielt meine Hand in der ihren, betrachtete einen Augenblick neugierig die Linien der Innenfläche, ließ plötzlich los und ging zum Ofen, um ihn polternd und rackelnd wieder in Gang zu setzen. Sie kam zurück, setzte sich auf die Lehne ihres Sessels und sagte vorsichtig tastend: »Finden Sie nicht, daß man sich in den ersten Minuten des Kennenlernens am besten kennt? Da hat man noch die Übersicht über das Ganze, den ersten, frischen Eindruck. Die vielen ablenkenden Einzelheiten sieht man noch nicht. Vorhin, als Sie hereinkamen, mit einem Blick das Zimmer abtaxierten und es mit mir verglichen ... wußten Sie da nicht ziemlich genau, wer ich bin?«
Ich mußte das zugeben. Sie war mir, je länger wir miteinander gesprochen hatten, um so unklarer geworden. Die scharfen Konturen ihres Bildes waren schon wieder etwas verwischt. Jetzt hätte ich nur noch einzelne Charakterzüge beschreiben können, sehr vage Eindrücke von allerlei Gegensätzlichkeiten. Ungebärdig etwa und sehr beherrscht, unkonventionell und an den Formen hängend. Einsam und sehr an das Leben gebunden. Sehr empfindsam und dem Groben zugeneigt. Aber auch äußerlich sehr gegensätzlich: sekundenlang erregend schön, anziehend, ja verführerisch, und gleich darauf wieder durchschnittlich aussehend, etwas zu männlich und betont uneitel. »Sie haben recht«, sagte ich, »ich kenne Sie nicht mehr. Wir können also ruhig von unbekannt zu unbekannt sprechen. Sie können mir z. B. was vorlesen. Ich werde es anhören, meine Meinung sagen und es wieder vergessen. Wahrscheinlich werden wir uns nie wiedersehen.«
Sie lächelte ein liebliches Lächeln, und ich mußte an Rabners, des Journalisten, Anrede »Eure Lieblichkeit« denken. »Wahrscheinlich nicht«, sagte sie, »denn sicherlich sind Sie darin ebenso wie ich: Sie suchen keine Freundschaften. Sie suchen überhaupt keinen Menschen mehr. Aber das Pech will’s, wenn man sie nicht sucht, findet man sie, ja, man stolpert über sie. Hoffentlich erschreckt es Sie nicht, wenn ich Ihnen sage: Wir sind bereits befreundet. Ob wir wollen oder nicht. Stimmt’s?«
Und da ich nicht gleich zustimmte, trat sie zu mir, legte mir die Hände auf die Schulter und setzte sehr herzlich hinzu: »Es ist, ich schwör’ es Ihnen, keine Liebeserklärung, obwohl man sich ja auch in Sekunden hoffnungslos oder hoffnungsvoll ineinander verlieben kann. Es ist wortwörtlich eine Freundschaftserklärung, und Sie können nicht umhin, zuzustimmen. Also trinken Sie auf unsere Freundschaft.« Ich prostete ihr zu. Sie hatte recht. Wir waren befreundet, und wir sind es bis auf den heutigen Tag geblieben, obwohl wir uns nur selten sehen, obgleich wir uns niemals besonders drum bemüht haben, uns zu treffen oder zu sprechen. Es ist eine verläßliche, gute und fruchtbare Freundschaft geworden.
Wir hatten wohl fünf Minuten friedlich miteinander geschwiegen. Sie aß ihr Käsebrot recht unachtsam, und ich rauchte vor mich hin. Dann bat ich sie, sie möchte mir nun endlich vorlesen. Aber sie lehnte das ab. Nein, sie könne es nicht. Aber vielleicht würde sie mir etwas schicken. Es seien auch erst hundert oder hundertzwanzig Seiten, Anfänge, Versuche, ein ewiges Ringen mit der Unehrlichkeit, mit der Beschönigung, mit den überlieferten Gefühlen, mit dem, was sein sollte und in der Tat nicht ist. »Was wirklich ist«, sagte ich, »das ist also der Titel.« »Der Arbeitstitel«, verbesserte sie mich, »wie man das bei schlechten Filmen sagt, wenn man nicht weiß, was man eigentlich ausdrücken will. Die Richtschnur oder, wenn Sie wollen, der Ariadnefaden im Labyrinth. Es ist soviel Unsinn über die Frauen zusammengeschrieben worden, und dieser Unsinn hat soviel Unheil angerichtet, und da dachte ich ... naja, da dachte ich eben ...«
»Sie dachten, Sie könnten den Frauen helfen, wenn Sie einmal schrieben, was wirklich ist.«
»Nein, das überlasse ich Ihnen«, lachte sie, »ich wollte mir selbst helfen. Eine männliche Münchhausenillusion – sich am eigenen Zopf aus dem Sumpf holen. So einfach ist das nicht. Zunächst schlägt man um sich und sinkt immer hübsch weiter hinein.«
Sie schloß die Mappe auf. Da lagen vier große Briefumschläge, jeder beschriftet mit einem Kapiteltitel. Sie nahm zwei Umschläge heraus. »Sehen Sie ... das ist ordentlich der Reihe nach erzählt. Das Mutterhaus zum Beispiel. Ja, es war kein Vaterhaus. Mein Vater war mir fremd wie ein Fidschiinsulaner. Er war wohl auch so primitiv. Und hier haben Sie die Studienjahre. Erste Liebe inklusive. Ich hab’ sogar meinen Doktor gemacht. Summa cum laude. Zu meinem größten Erstaunen. Über Rilke natürlich. War damals so. Und hier ...« Sie packte die Umschläge plötzlich ärgerlich zusammen und schloß die Mappe. »Nein, das ist eben nicht richtig. Es geschieht gar nicht alles so hübsch und wohlgeordnet hintereinander. Oder doch nur im Anfang. Nachher – das finde ich so unheimlich –, nachher ist das Vergangene, das Gelebte, immer gegenwärtig. Oder ist es nicht so?«
Sie wischte sich über die Augen. »Ich bin sehr müde, lieber Freund«, sagte sie und erhob sich. »Wir müssen uns trennen. Schade. Es war schön mit Ihnen. Wie es eben immer schön ist, wenn man über sich selbst schwätzt.«
Sie zog sich ihren Mantel an und begleitete mich hinunter, das heißt, sie lief mir genau so voran, wie sie es beim Kommen getan hatte, um den Geiz des Hauswirtes zu überlisten. Draußen zog sie aus ihrem Mantel einen der großen Briefumschläge. Sie sagte: »Immerhin ... lesen Sie es. Es ist die Geschichte einer Jugendliebe. Von fernher gesehen. Und da dürfen Sie schon mitschauen.«
Damit umarmte sie mich herzlich und war gleich im Hause verschwunden. Ich sah noch, wie die Hausbeleuchtung ein paarmal an und aus ging. Sie war also immer noch dabei, den Geiz des Hauswirts zu überlisten.
Als ich nachher in einem kalten Hotelzimmer in meinem klammen Bett den Briefumschlag öffnete, fielen mir dreißig Blätter in Quartformat entgegen, schönes, glattes Friedenspapier, das sie mit einer exakten und schwungvollen Schrift vollgemalt hatte.
Ja, die Blätter waren eigentlich nicht beschrieben, sondern glichen eher kleinen Gemälden aus Schriftzeichen. Wie die Zeilen sehr genau voneinander abgesetzt waren, wie die Absätze gegeneinandergestellt, wie die Buchstaben mal aneinandergereiht waren, mal flüchtig auseinanderliefen ... das gab jeder Seite ein anderes, ein eigenwilliges Gesicht. Das reizte zum Lesen. Ich begann trotz meiner Müdigkeit gleich mit diesem Manuskript. Der Titel des Kapitels lautete:
»Jenaer Frühling 1920 – durch zwei Feuer gesehen«. Unerwarteterweise schrieb sie nicht in der Ichform, sondern in der allein epischen dritten Form. Das hatte ich am wenigsten erwartet.