Buchcover

Walter von Hollander

Perlhuhnfedern

Erzählungen von
Walter von Hollander

Saga

Diese Geschichten, vier an der Zahl, sind wie ein pas de deux der Muse Erato und des Gottes Eros, nach einer bald zärtlichen, bald wehmütigen, bald leidenschaftlichen, bald verhaltenen Weise voller Anmut, so sinnfällig und selbstverständlich wie die Schritte und Sprünge, das Gleiten und Schweben Tanzender, in einem von goldenen Zirkel umrissenen Raum.

Perlhuhnfedern

Ich war ein paar Tage draußen gewesen bei Brödersdorff. Die Häuser sind da heilgeblieben. Aber die Menschen ... nein, die Menschen sind nicht heil. Irgend etwas, irgendwen hat jeder verloren. Brödersdorff zum Beispiel trauert um seine Frau, die vor dem Einmarsch der Russen sich vergiftet hat, um seine Stellung im Auswärtigen Amt, um seinen Obstgarten, der verwüstet ist und um seine Bibliothek, die irgendwer weggeschleppt hat. «Ich kann dir nichts mitgeben», sagte er beim Abschied ... «höchstens hier ...» und er reichte mir ein paar Perlhuhnfedern. «Du warst doch immer für das Bunte und Überflüssige, und vielleicht hast du jemanden, dem du das schenken kannst.»

Ich antwortete: «Nein, ich habe niemanden.»

Ich besah mir die Federn, während der Zug sich langsam wieder in das Trümmerfeld Berlins hineinschob. Sie waren flaumig – grau am Kiel, schwarzblau, mit einem bläulichen Schimmer im Fächer, mit weißen, großen Punkten die größeren, mit leichten Pünktchen und Strichen die kleineren. Lasierend, durchscheinend waren sie. Hob man sie gegen das Fenster, konnte man die trübe Trümmerlandschaft draußen wie durch einen Schleier sehen.

Am Bahnhof Friedrichstraße steckte ich sie in meine Brieftasche. Nein ... ich hatte wirklich niemanden in Berlin, dem ich so luftige, lustige Gebilde schenken konnte.

Am nächsten Nachmittag traf ich Gesine mitten auf dem Lützowplatz. Zwischen den Trümmern ging außer uns beiden kein Mensch. Sie winkte und stand dann fast erschrocken vor mir. Wir hatten uns vier Jahre nicht gesehen. Seit 43, seit damals, als wir zusammen in der Landgrafenstraße auf den Dachsparren des brennenden Nachbarhauses reitend ihr Haus retteten. «Ich habe dir Perlhuhnfedern mitgebracht», sagte ich statt einer Begrüßung. Denn jetzt, nicht wahr, ist es immer sehr aufregend, jemandem nach Jahren zu begegnen. Weiß der Teufel, was er alles erlebt hat. Schönes ist es meistens nicht.

«Danke», sagte Gesine, nahm ihr schwarzes, etwas spitzes Hütchen ab, hielt die Federn dran und nickte beifällig. «Famos, daß du wußtest, was für einen Hut ich jetzt trage.»

Wir setzten uns auf ein paar Trümmerbrocken.

Die Sonne schien gerade. Die Steine verdampften den Herbstregen. «Die haben es gut», sagte Gesine, «... können rauchen.» Ich hatte noch ein paar Zigaretten bei mir. Gesine rauchte inbrünstig, nachdem sie die Zigarette in ihre lange Bernsteinspitze gesteckt hatte.

«Die Spitze hast du gerettet», stellte ich fest.

Sie nickte, kramte in ihrer Leinentasche, die sie an einem Jagdriemen über der Schulter trug. «Ich habe doch immer Stecknadeln bei mir», murmelte sie, die Zigarettenspitze zwischen den Zähnen schwingend.

«Und sonst? Was hast du sonst gerettet?»

Sie sah mich mit ihrem hellen und schnellen Blick an. «Siehst du, da sind zwei Stecknadeln.» Sie zeigte sie mir triumphierend. «Also hast du nicht viel gerettet?» fragte ich hartnäckig. Sie steckte die Perlhuhnfedern fest, pustete in den weichen Flaum des Kiels und nickte befriedigt: «Mich habe ich gerettet mit Haut und Haar.»

«Deine Haare sind hübscher geworden. Lockerer. Hellbraun wie junge Kastanien.»

«Gute Friseuse», sagte sie und setzte sich das Hütchen mit einem Ruck auf den Kopf. «Schade, daß kein Spiegel da ist.»

Ich reichte ihr meinen handtellergroßen Taschenspiegel. Es war ein alter Reklamespiegel von Urbin. Auf der Rückseite sprach ein schwarzer Mann die lapidaren Worte: ‹Ich hab’s: Urbin!› (Jüngeren Menschen muß man wohl erklären, daß Urbin eine Schuhwichse war, die man ‹damals› in jeder Drogerie für 20 Pfennig kaufen konnte. Aber Gesine wußte sicher, was Urbin war. Sie war ja schon 28.) Sie probierte in dem winzigen Spiegel den Hut, indem sie sich hin und her den Hals verrenkte. «Nett, daß du an die Perlhuhnfedern gedacht hast. Geh’n wir?»

Sie holte mit ihrer Stecknadel den letzten Rest der Zigarette aus der Spitze und tat ihn in ihr achatenes Zigarettenbüchschen. «Sieh da», sagte ich, «das Achatene hat es auch überstanden.»

Sie antwortete nicht, aber ich sah wohl, wie ein Schatten des Unmuts oder der Trauer über ihr Gesicht zog. Vielleicht kam es nur, weil die Sonne gerade weg war. Die Steine hörten zu rauchen auf, und eine schwarze Wolkenwand schob sich über die Trümmer der Häuser. Ich wollte in die Wichmannstraße einbiegen, aber sie zog mich geradeaus durch die Nettelbeckstraße. Es ist ja einerlei. In der Gegend sehen alle Straßen gleich aus. Gleich niedergewalzt, gleich zermalmt.

«Du magst noch immer nicht durch die Landgrafenstraße gehen?» fragte ich. Sie ging noch schneller.

«Man kann hier eigentlich nirgends gehen», flüsterte sie. «Überall ... Na, du weißt ja.»

«Ja, überall ... bis der Krieg kam, haben wir doch eigentlich ganz glücklich gelebt. Was?»

«Es geht. Manchmal ja. Meist ... Ich glaube, du hast das mal gesagt. Oder war es Grünhagen? Na, einerlei ... ‹Die Lawine schiebt sich ganz langsam näher. Wir werden zermalmt und zermahlen.› So sehr fröhlich seid ihr also nicht gewesen. Und ich bestimmt nicht. Du weißt: Vater hatte es schwer. ‹Mein Herz ist ein Bleiklumpen›, sagte er immer. ‹Grau, schwer und unbeweglich!›»

Ich wollte sie ablenken und sagte harmlos: «Da drüben in der Courbièrestraße wohnte doch Carlo?»

«Ja, komm schnell. Er wohnt noch da.»

Ich blieb einen Augenblick stehen und sah über die leeren Fassaden, die geordneten Ziegelhaufen.

«Aber da steht doch kein Haus mehr?»

Der Regen setzte mit wilden Stößen ein. Er kam direkt vom Westen her. Gesine beugte ihm den Kopf entgegen. Wir gingen untergehakt hundert, zweihundert Meter und sprachen darüber, daß es in diesem Jahr so wenig geregnet habe, daß dies der erste tüchtige Regen sei, daß die Flüsse nun vielleicht doch wieder anstiegen, die Kähne wieder spreeaufwärts fahren würden, um Kohlen in die Stadt zu bringen und Licht für die langen, mageren Abende. Plötzlich blieb sie stehen und flüsterte: «Carlo liegt da noch. Unter den Trümmern.»

«Entschuldige!» sagte ich etwas töricht.

«Ich weiß es genau, aber ganz sicher weiß ich es nicht», sagte sie und ging langsam gegen den Regen gebeugt weiter. Ihr Gesicht war ganz naß. Aber nicht von Tränen. «Um sieben rief er mich noch an. Es war schon Voralarm. Ich sollte nachher ’rüberkommen. Ich sagte: Ich komme. Aber ich konnte nicht. Nebenan brannte das Haus. Du weißt ja.» Und nach einer Weile: «Unten wohnte doch Lewenow, der Bildhauer. Der ist in seinem Atelier geblieben. Zwei Gipsrösser kippten über ihn. Aber es war noch genug Platz drunter zum Atmen. Drei Stunden später war er draußen. Der einzige.»

«Und Carlo? ... Wußte denn Lewenow, daß er zu Hause war?»

Sie zuckte die Achseln. «Nein, niemand hat ihn gesehen. Niemand. Aber ich weiß es.»

«Du? Es könnte doch sein ...»

«Nein, nein. Ich weiß es. Manchmal gehe ich ja hin. Ich habe auch später da gearbeitet.»

«Wie gearbeitet? Als Trümmerfrau?»

«Ja, als Trümmerfrau. Es sieht im Hof jetzt ganz aufgeräumt aus. Du glaubst gar nicht, wie einsam es da ist hinter den Trümmerkulissen. Viele Spatzen. Ab und zu eine Katze. Manchmal kam auch ein kleiner, blanker Dackel und jagte die Katze. Es war sehr heiß in diesem Sommer. Aber ein bißchen Schatten gab’s auch. Ein Holunderbusch hat geblüht. Nachher waren Beeren dran. Kein Mensch hat sie geerntet.»

«Auch du nicht?»

«Natürlich ... ich schon. Zwei Flaschen Fliedersaft habe ich eingekocht. Ganz gut. Im vorigen Winter war ich so krank, und meine Wirtin sagte immer: ‹Wenn Sie bloß Fliedersaft hätten, Fräulein!› Habe ich nun. Du siehst: es geht steil bergan.»

Ich hätte eigentlich vom Wittenbergsplatz nach Dahlen fahren müssen. Professor Reinicke, der Sinologe, erwartete mich. Er wollte mir seine Frau vorstellen, eine Chinesin, die unter unsäglichen Schwierigkeiten in sechs Monaten von Peking nach Berlin gekommen war. ‹Ein wahres Wunder›, hatte Reinicke am Telefon gesagt. ‹Fünfundachtzig Vorschriften und zwölfhundert Grenzen. Aber sie ist doch gekommen.› Ich war sehr neugierig gewesen auf diese kleine, tapfere Chinesin, die um des bärtigen 60jährigen Professors willen viele tausend Kilometer gereist war, die alle Mächte der Welt nicht hatten hindern können, dorthin zu fahren, wohin sie wollte ...

Ich erzählte Gesine diese Geschichte, und sie meinte, eine so tapfere Frau dürfe ich nun nicht enttäuschen und müsse unbedingt hinfahren. Aber sie sah so einsam aus in diesem Augenblick, daß ich sagte: «Die Perlhuhnfedern müssen wir zwischen Löschpapier trocknen. Sonst schimmeln sie.»

Sie lächelte. «Ja, komm mit. Ein bißchen Tee hab’ ich noch. Und Nudeln. Ißt du gerne Nudeln?»

«Ja, natürlich. Ich glaube, es gibt keinen Menschen, der heutzutage nicht gerne Nudeln ißt.»

«Ob du gerne Nudeln ißt, will ich wissen.»

Lachend gingen wir weiter.

Gesine wohnte in der Brandenburgischen Straße. Das Vorderhaus war ausgebrannt. Man ging über einen Hinterhof, in dem ein alter Springbrunnen war, vollgefüllt mit Mörtel und zerschossenen Mauerbrocken, so als hätte das verrostete Rohr Trümmer ausgespien statt Wasser. Das Zimmer war winzig mit einem einzigen Fenster, und die Hälfte des Zimmers war noch dazu mit Holz verschalt und von innen mit Pappe verklebt. Eine recht harte, schmale Couchette, ein altmodisches Möbel aus der Zeit der Vatermörder, schien als Bett zu dienen, ein wackliger Nachttisch in der dunkelsten Ecke vertrat den Waschtisch.

An einer roten Seidenkordel hing ein kleines Büchergestell mit häßlichen Mahagonistützen, und an dem halbblinden Fenster stand der kleine, zierliche Biedermeiersekretär, das einzige hübsche Stück des Zimmers. Ein bißchen Holz war neben dem kanadischen Holzfällerofen geschichtet.

Frau Mandler, die pompöse Zimmerwirtin, kniete vor dem Öfchen, pustete aus dicken Wangen in das schlecht glimmende Holz und schwabbelte dazwischen wirres Zeug über Gesine, die in die Küche gegangen war, um die Nudeln zu kochen. Es ginge nicht, sagte sie pustend, hustend und redend zugleich, daß so ein junges Mädchen immer zu Hause säße. «Unsereiner», krächzte sie und sah mich mit dem schnellen gierigen Blick einer fetten Ratte an, «unsereiner hat ja auch was vom Leben gehabt, nicht wahr?»

Merkwürdig, daß Frau Mandler glaubte, ich hätte das gleiche vom Leben gehabt wie sie selbst. «Es muß jeder nach seiner Fasson selig werden», sagte ich abwehrend.

«Das ist keine Fasson, überhaupt keine», pustete die Mandler, «den Tag über im Bücherladen, und abends sitzt sie hier im Stuhl und sagt gar nichts, und nachts träumt sie, daß ich’s in meinem Zimmer höre.»

Das Feuer flammte auf. Frau Mandler erhob sich stöhnend. Sie beugte sich zu mir und flüsterte: «Sie ruft nach wem. Aber was hat das für’n Zweck? Tot ist tot. Damit muß sich nun mal jeder abfinden.»

Endlich ging sie. Ich nahm Gesines nasses Hütchen, um die Perlhuhnfedern zwischen Löschpapier zu legen, wie ich es ihr versprochen hatte. Ich nahm zwei Blätter vom Löscher, dabei fiel mein Blick auf Carlos Bild. Ja ... das war er. Lachend saß er auf der Bank irgendeiner Strandpromenade. Der Seewind hatte ihm die Haare in die Luft geweht. Er trug Shorts, weiße Leinenschuhe, ein weißes Hemd mit offenem Kragen. Er war das sehr anziehende Bild eines lustigen, jungen Mannes. Ich hatte ihn nicht sehr gut gekannt. Er war eigentlich Anwalt und schrieb seltsame, kleine Geschichten, witzig, pointiert und etwas grausam. Sagen wir besser, unmenschlich. Er schrieb so, wie das Leben schon damals war und wie es sich immer mehr entwickelte. Völlig gefühllos. Ich glaube nicht, daß er erwartet hatte, daß irgend jemand um ihn trauern würde.

Ich legte die Perlhuhnfedern zwischen die Löschblätter. Ich saß neben dem Ofen und tat bedächtig Sägespäne aufs Feuer. Stück für Stück, wie sich das für einen winzigen Berliner Zimmerofen gehört. Endlich kam Gesine. Sie deckte den kleinen Kacheltisch, den sie ‹meine Möbel› nannte. Es war das einzige Stück, das sie sich gekauft hatte. «Nicht übermäßig hübsch, aber sehr teuer», sagte sie.

Bevor sie sich setzte, legte sie Carlos Bild um. Ich weiß nicht, ob ich es nicht ansehen sollte oder ob Carlos uns nicht sehen sollte. Ich persönlich habe Angst vor Fotografien und mag nicht, daß sie mir immer zusehen. Ich kannte eine sehr nette Frau, die ihren Mann oft betrog. Sie hängte immer das Bild des Mannes zu, wenn sie einen Liebhaber empfing. Ich kann das sehr gut verstehen.