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Inhalt

Georg Klein

Unsere wirklichste Wirklichkeit. Rainer Werner Fassbinders Fernsehzweiteiler »Welt am Draht«

Michael Töteberg

Fassbindertheater

Senta Siewert

Entgrenzungsfilme. Fassbinder, Akin, Roehler und die Medienkunst

Ilka Brombach

Kritik und Ästhetizismus. Rekonstruktion einer künstlerischen Position des deutschen Autorenfilms

Chris Tedjasukmana

Negative Solidarität. Zur Aktualität Rainer Werner Fassbinders

Johannes Binotto

Mit doppeltem Boden. Fassbinders Happy Ends und Hollywoods Hoffnung

Michael Grisko

Sozialutopie statt Sentimentalität oder Mut machen mit Volkskunst. Rainer Werner Fassbinders Familienserie »Acht Stunden sind kein Tag«

Karl Kröhnke

Ein Liebesversuch. Die Ehe des Herrn Bolwieser

Werner C. Barg

Fassbinders Verzweiflung. Die Wiederentdeckung eines (fast) vergessenen Meisterwerks aus filmphilosophischer Perspektive: »Despair – Eine Reise ins Licht«

Alexandra Vasa

Eine libidinöse Ökonomie. Tausch und Gabe in Fassbinders »Berlin Alexanderplatz«

Volker Woltersdorff

»Grundsätzlich ist jeder homosexuell, und deshalb ist es kein Problem«. Homosexuelle Minderheiten und Fassbinders Filme

Manfred Hermes

Der zweite Tod von RWF

Michael Töteberg

Bibliografie

Zeittafel

Notizen

TEXT+KRITIK


TEXT+KRITIK. Zeitschrift für Literatur.

Begründet von Heinz Ludwig Arnold

Redaktion:
Steffen Martus, Axel Ruckaberle,
Michael Scheffel, Claudia Stockinger und Michael Töteberg
Leitung der Redaktion: Hermann Korte
Tuckermannweg 10, 37085 Göttingen,
Telefon: (0551) 5 61 53, Telefax: (0551) 5 71 96

Print ISBN 978-3-86916-436-6
E-ISBN 978-3-86916-438-0

Umschlaggestaltung: Thomas Scheer
Umschlagabbildung: bpk/Digne Meller Marcovicz (Foto 1969)

Preis für dieses E-Book € 31,99

E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara

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[2|3] Georg Klein

Unsere wirklichste Wirklichkeit

Rainer Werner Fassbinders Fernsehzweiteiler »Welt am Draht«

Dekorierte Räume

Der Film hebt an, aber sein Held lässt auf sich warten. Jener Fred Stiller, dessen Such- und Irrgang wir eine Handvoll Handlungstage lang begleiten werden, hat sich, das erfahren wir beiläufig, eine Auszeit von seiner Welt genommen. Immerhin sein Name fällt. Aber gute achteinhalb Minuten sind wir, ohne uns auf eine Hauptfigur fokussieren zu können, also ohne identifikatorischen Halt, am Hauptort des kommenden Geschehens, im Institut für Kybernetik und Zukunftsforschung.

Wir verfolgen die Interaktion von fünf Männern in Anzügen. Ihre Dialoge weisen sie als Funktionsträger, als Ministerialbeamte und leitende Institutsmitarbeiter aus. Eine Interessenkonstellation wird umrissen. Der technische Direktor des Instituts verhält sich auffällig, offensichtlich hat er mit psychischen Problemen zu kämpfen. Er verliert die Kontrolle, es kommt zu einem tödlichen Stromunfall im Rechnerbereich des Gebäudes.

Recht konventionell sind damit Eckpunkte der kommenden Handlung gesetzt. Ein Spannungsmoment greift, ein Konflikt wird angedeutet. Der Plot nimmt auch ohne zentralen Protagonisten an Fahrt auf. Die Darsteller spielen das alles so routiniert, wie sie es andernorts, im untergegangenen bundesdeutschen Trivialkino und auf der Bühne, gelernt haben. Aber man müsste blind sein, um dies für die dominante Illusionsleistung des Filmanfangs zu halten.

Die entscheidende erste Überwältigung, die der Zuschauer einst vor dem Röhrenfernseher genießen durfte und heute vor dem weit schärferen Flachbildschirm erleiden darf, vollzieht sich nicht in der Anteilnahme am Spiel der Figuren und in den Erwartungen, die eine geläufige Spannungsmechanik suggeriert. Der zwingende Zugriff auf die Phantasie des Betrachters geschieht, wortlos und das Geschehen grundierend, durch die Visualisierung des Handlungsraums. Denn wo sind wir eigentlich? Soll dieses seltsame Institut ernstlich ein Gehäuse technologischer Zukunft darstellen?

Wenig kann in den notorisch erzählenden Künsten, also in der Literatur und im Film, so ernüchternd altbacken und illusionsbrechend wirken wie der Versuch, die kommenden Dinge, also die Mode, die Möbel und vor allem die zukünftigen Apparate, in Szene zu setzen. Die literarische Vorlage [3|4]von »Welt am Draht«, der Roman »Simulacron-3« aus dem Jahre 1964, ist in diesem Punkt längst vom Gang der tatsächlichen Entwicklung überholt worden. Wie sich der amerikanische Science-Fiction-Autor Daniel F. Galouye (1920–1976) exemplarische Gerätschaften einer kommenden Lebens- und Arbeitswelt vorgestellt hat, wirkt heute in nicht wenigen Fällen unfreiwillig komisch. Denn gerade was als zukünftiges Ambiente imaginiert wird, offenbart fast zwangsläufig das prognostische Ungeschick des Genres.

Der Film übernimmt, abgesehen von den im Institut benutzten Videotelefonen, keine der im Roman beschriebenen futuristischen Errungenschaften. Wahrscheinlich haben Fritz Müller-Scherz und Rainer Werner Fassbinder, die Autoren des Drehbuchs, allein schon aus Kostengründen von Plattformen, die die Schwerkraft unterdrücken, von den im SF-Film fast obligatorischen Flugautos und von den aufwendigen Rollbandsystemen abgesehen, die bei Galouye die ganze Stadt durchziehen. Wichtiger als dieser Verzicht ist aber, wie »Welt am Draht« dem Haupthandlungsort, den Innenräumen des Instituts, entschieden offensiv eine eigentümliche Aura verleiht.

Kurt Raab hat als Ausstatter aus vorgefundenen Locations, ergänzenden Bauten und einer Fülle von kleinteiligem Dekor ein Interieur geschaffen, das beständig zwischen einer großspurigen Weite und einer beklemmenden Verstelltheit pendelt. Was da prunkt, glitzert und spiegelt, kann bereits durch sein schieres Arrangement eine bühnenartige Wirkung zeitigen und wird durch die aufwendige Kameraarbeit von Michael Ballhaus vollends zu einer Wirklichkeit eigenen Rangs.

Das Realismus-Konzept, das hier erfolgreich greift, evoziert allerdings keinerlei Zukünftigkeit. Stattdessen erlebt der Zuschauer eine kunstreich, fast verkünstelt arrangierte Gegenwart, deren im Einzelnen durchaus vertraute Elemente sich zu einem Gehäuse exklusiver Natur fügen. Wer mag, kann sich dem einfach hingeben und die exquisiten Details und die geschmeidig fließende Raffinesse ihrer Bildwerdung genießen. Aber die visuelle Immersion, das filmische Eingesaugtwerden, offenbart nach und nach auch einen Preis. Wer Ja zu diesem Kunstraum sagt, wird allmählich spüren, wie den Figuren des Films dieses hochdekorierte Ambiente, die dingliche Verdichtung ihrer Welt, klaustrophobisch zu schaffen macht.

Missliche Körper

Fred Stiller tritt auf, und der Bildraum füllt sich auf eine neue Weise mit Körpern. Die Routiniers des Anfangs werden um ein gutes halbes Dutzend Haupt- und Randfiguren ergänzt, deren Darsteller sich nicht mehr an die Regeln eines gängigen psychologischen Realismus halten. Stattdessen spie[4|5]len sie mehr oder minder à la Fassbinder, und wer als Zuschauer keine älteren Filme dieses Regisseurs kennt, wird sich instinktiv oder mit bewusster Denkanstrengung irgendeinen Reim auf dieses unerwartet bizarre Agieren machen müssen, um nicht unversehens aus dem siebten Himmel der Illusion zu stürzen.

Das apathische Vor-sich-hin-Sprechen, das träge, fast somnambule Gebaren und das statuarische Nichts-als-Herumstehen werden ein Stück weit von der Szenerie aufgefangen. Denn der Ort, an dem Stillers Chef Siskin eine Party gibt, lässt zumindest eine gewisse Exzentrik plausibel erscheinen, irgendein situationsbedingtes Sonderverhalten, das mit Drogeneinwirkung oder den Anforderungen des hier üblichen, gedämpft sexualisierten Rollenspiels zu tun haben könnte.

Aber die Artifizialität, die Ausstattung und Kamera weiterhin grandios kompakt gewährleisten, wird in der Führung der Darsteller nicht mit der gleichen Konsequenz durchgehalten. Einige der Akteure stecken unübersehbar fest im Niemandsland zwischen ihrem außerfilmischen So-Sein und dem allenfalls skizzierten Spielraum einer fiktiven Figürlichkeit. Sie fallen nicht aus irgendeiner Rolle, aber sie finden auch nicht glaubwürdig in eine solche hinein und verharren folglich, quälend unentschieden, im Feld des darstellerischen Dilletantismus. Wer Wert auf ästhetische Kohärenz legt, hat nun unter Umständen das Pech, sich, freundlich oder zunehmend ungnädig, über den Regisseur dieses Lichtspiels und seine Mutwilligkeiten wundern zu müssen.

Dieses Dilemma, die schwankende Konsistenz von Fassbinders Realismus-Konzept, wird im Weiteren auf eine paradoxe Weise durch seinen Hauptdarsteller Klaus Löwitsch aufgehoben. Fred Stiller ist, so behauptet es die weitgehend getreu aus dem Roman übernommene Handlung, ein hochkarätiger Computerfachmann, ein genialer Programmierer und Systementwickler. Er arbeitet und lebt seit Jahren für ein hyperkomplexes mathematisch-kybernetisches Projekt. Er müsste also jener Typus von Intelligenzbestie sein, den man später, irgendwann in unserem jetzigen Jahrhundert, einen Nerd zu nennen begonnen hat.

Schon physiognomisch scheint Löwitsch für einen derart hochspezialisierten Kopfmenschen eine eklatante Fehlbesetzung zu sein. Und die Art, wie er seine Rolle interpretiert, nimmt vollends Abstand von allem, was die behauptete Profession an Habitus erwarten lässt. Dieser Stiller gibt sich ausgesprochen kerlig, derb, bisweilen fast roh. Seine Mimik ist holzschnittartig, seine Intonation bellend rau. Und in schnellem Takt spiegeln ihm mehrere der weiblichen Figuren, dass sie sein vulgäres Gebaren als sexuelles Signal aufnehmen und seine animalische Attitüde attraktiv finden.

Im Lauf des Geschehens ist Löwitsch/Stiller dann derjenige, der regelmäßig nackte Haut, vor allem seinen durchtrainierten Oberkörper präsentieren [5|6]darf. Er rennt, schwimmt, klettert, gibt den agilen Muskelmann, aber er raucht und säuft auch, sobald sich eine Gelegenheit hierzu bietet. Er schlägt einen Mann zu Boden und der Frau, die er angeblich liebt, ins Gesicht. Fast comicartig plakativ steht er für maskuline Energie in ruheloser Bewegung, und diesem Klischee des dynamischen Kraftprotzes sind Frauenfiguren beigesellt, die eine träge, schläfrige, halb paralysierte, manchmal morbide oder sogar moribunde Sinnlichkeit zelebrieren.

Die Stilisierung des körperlichen Ausdrucks wird von Maske, Frisur und Kostüm gesteigert und nicht selten bis ins Groteske überzeichnet. Ein Großteil der Figuren wirkt, gemessen an dem, wie man sich eine Sekretärin, einen Kriminalbeamten, eine Kellnerin oder einen Koch vorzustellen bereit ist, falsch oder gefälscht, ohne dass sich ein Konzept offenbaren würde, das dieses Verkehrt-Sein mit dem Geschehen, den genregetreu mysteriösen Ereignissen um den Großcomputer Simulacron, synchronisieren würde.

Die Kluft zwischen der manchmal fast surrealen Zurichtung der Gestalten und den Anforderungen des Plots kann der Aktionismus der Figur Stiller nicht logisch, weder psychologisch noch handlungslogisch, schließen. Aber das Körperspiel von Löwitsch, der immer häufiger schwankt, schließlich stürzt, um sich wieder hochzurappeln, stiftet dennoch, gleich den ruhelosen Bewegungen eines Taumelkäfers auf einer Wasseroberfläche, eine hypnotische Art von Fortgang, ein alogisch zwingendes Nacheinander. Von Stillers erstem Auftreten an gibt es keinen Handlungsstrang, der ohne seine Teilhabe verläuft, und fast keine Szene, in der er nicht auftritt. Sein krisenhafter Wach-/Schlafrhythmus taktet den Fortgang des Geschehens, seine labile Gestimmtheit bestimmt den Gang der erzählten Zeit.

»Bist du krank?«, fragt ein kleiner Junge, dem der gehetzte Stiller über den Weg läuft. Ja, dieses angeblich hochintelligente Kraftpaket, dieser zunehmend von Kopfschmerzattacken gehandicapte Durchblicker ist wie nicht wenige, die seinem Körper mit ihren Körpern nahe kommen, zweifellos irgendwie krank. Aber was fehlt ihm, dem zwanghaft Mobilen, und auch den anderen, die in ihren Kostümen puppenhaft erstarrt sind oder in reduzierten Bewegungsmustern wie in einer Choreografie gefangen wirken?

Augenscheinlich hat es mit ihrem Gefühl für die Wirklichkeit ihrer Leiber zu tun. Keiner ist in seinem Körper wirklich zuhause, keine trägt ein Kostüm, das die Kostümiertheit des jeweiligen Leibes vergessen machen könnte. Und offensichtlich gibt sich der Regisseur des Ganzen, manchmal tückisch feinsinnig, nicht selten aber auch penetrant plakativ, große Mühe, uns, die nicht aufhören wollen, nach einer halbwegs kommoden Identifikationsmöglichkeit und gleichzeitig nach Objekten unseres Begehrens zu suchen, mit diesem Fehlgefühl, mit diesem chronischen Missempfinden zu infizieren.

[6|7]The Greater Simulator

Gerade wenn uns ein Erzähltext oder ein Film keinen Künstler als tragende Figur präsentiert, lohnt es sich, nach einem solchen Ausschau zu halten. Früh wird in »Welt am Draht« behauptet, dass Genie und Wahnsinn aneinandergrenzen würden – ein rhetorischer Allgemeinplatz, der im bürgerlichen Kunstkult gern zur Charakterisierung kreativer Ausnahmegestalten herangezogen wird. Der Institutsleiter Siskin verwendet ihn entschuldigend für Professor Vollmer, den Konstrukteur von Simulacron, der unmittelbar vor seinem Tod wirr über ein geheimes Wissen orakelt, das er keinem zweiten zumuten kann. Fred Stiller, der Vollmer als technischer Direktor nachfolgt, tritt bald auch in puncto Wahnsinn in dessen Fußstapfen. Was er wahrzunehmen und allmählich auch zu begreifen glaubt, gerät zunehmend in Widerspruch zu dem, was seine Mitwelt als wirklich anerkennen will.

Dass Interpretationen der Realität derart auseinanderdriften, ist ein erzählerischer Topos der trivialen Spannungsliteratur und des Genre-Kinos. Und wie zu erwarten, mag auch »Welt am Draht« die wahren Hintergründe nicht lange im Dunkeln halten: Es gibt außer Stillers Umwelt und der Modellwelt, die sein Team im Computer simuliert, noch eine dritte Daseinsebene, die der vordergründig wirklichen insgeheim übergeordnet ist und diese am elektronischen Gängelband führt. Folglich existiert ›da oben‹ auch noch ein weiterer Superwissenschaftler, der dasjenige kreiert hat, was Stiller bislang für die wahre Wirklichkeit gehalten hat, und der in dieses technologische Kunstwerk weiterhin wie in eine nie abgeschlossene Inszenierung, korrigierend und manipulierend, eingreift.

Den Spekulationen, die Stiller über diesen »Master Simulator« oder »Grea­ter Simulator« anstellt, räumt die Buchvorlage großen Raum ein. Und aus dem, was sich dort die Hauptfigur nach und nach zusammenreimt, ergibt sich ein Charakterbild mit zwei wesentlichen Zügen: Dieser »Steuermann«, wie er in der deutschen Übersetzung heißt, ist größenwahnsinnig und sadistisch. Er anerkennt keine Regel, die seine Allmacht über seine Geschöpfe einschränken würde, und er liebt es, die von ihm programmierten Menschen-zweiter-Ordnung einfallsreich zu quälen und an ihrem Seelenweh und Körperleid via Empathieschaltung teilzuhaben. Die Raffinesse, mit der er dabei im Roman verfahren darf, hat durchaus kreatives Format. Er ist also nicht bloß ein völlig skrupelloser Wissenschaftler, sondern auch ein virtuoser Artist in Sachen Qual, ein subtiler Zeremonienmeister des negativen Mitempfindens.

Der Film hält sich in dieser Hinsicht auffällig zurück. Gleich dem Helden des Romans wird auch Stiller mit Kopfschmerzen und Schwindelanfällen traktiert und muss die eine oder andere spektakuläre Attacke auf sein virtuelles Leben überstehen. Aber der Verursacher, jener Greater Simulator, bleibt undeutlich. Erst sehr spät ist von ihm die Rede. Vor allem fehlt der [7|8]Gefahr, die von ihm ausgeht, der intime Terror, zu dem der ausgefuchste Sadist des Buches fähig ist. Fast könnte man von Diskretion sprechen. Der Film nimmt Rücksicht auf jenen bösen Künstler, den der geniale Wissenschaftler in sich birgt. Offenbar will derjenige, der in »Welt am Draht« Regie führt, denjenigen, der Fred Stillers Welt entworfen hat und einfallsreich manipuliert, nicht allzu deutlich als einen moralisch fragwürdigen Kreativen kenntlich werden lassen.

Horror der Immanenz

Stiller und der Greater Simulator sind Doppelgänger. Sie gleichen sich äußerlich bis aufs Haar, denn der Meisterprogrammierer der erstrangigen Wirklichkeit hat jenen Fred Stiller, mit dessen Agieren wir uns irgendwann zwangsläufig zu identifizieren begonnen haben, nach seinem leiblichen Vorbild erschaffen. Allerdings werden wir den bösen Überweltler nie filmisch dargeboten bekommen. Löwitsch erhält keine Gelegenheit, dieses dämonische Alter Ego des guten Stiller zu spielen. Garantin ihrer bildlichen Übereinstimmung bleibt bis zuletzt die weibliche Hauptfigur Eva, die zwischen beiden Welten pendelt und sich in den simulierten Stiller verliebt hat, nachdem dessen gleichnamiger Schöpfer, Evas vormaliger Liebhaber, sich, berauscht von seiner Macht, in einen megalomanen Bösewicht verwandelt hat. Das ist eine heikle Dreieckskonstellation, und nachdem sie aufgedeckt ist, hat der Romanautor Galouye seine liebe Not mit ihren erotischen und moralischen Implikationen. Denn schließlich muss das, was hier libidinös vonstatten geht, irgendwie auf den Nenner der romantischen Liebe gebracht werden, deren US-amerikanische Version Anfang der 1960er Jahre noch ein recht prüdes Konstrukt darstellt.

Im Film ist das anders. Die tranceartige Laszivität, mit der Mascha Rabben ihre Eva spielt, lässt sie mehr als eine Art Medium denn als einen in feste Individualität gegossenen Charakter erscheinen. Selbst als sie als Einzige splitternackt vor die Kamera muss und Fassbinder damit eine Nagelprobe auf ihre figürliche Festigkeit veranstaltet, zerreißt der vage Schleier dieser Medialität nicht.

Eva ist als Assistentin des großen Simulators selbst Programmiererin, und der Code, den sie schließlich schreibt, führt in eine merkwürdige Fusion der Gegensätze, in eine Aufhebung der Widersprüche, fast in eine Art Erlösung. Wie sie es genau bewerkstelligt, dass sich der Stiller der simulierten Welt zu ihr nach oben in die wirkliche Welt rettet, wirkt im Film ähnlich notdürftig zurechtgebastelt wie im Roman. Beide Erzählwelten behelfen sich mit der Annahme, dass die avancierte Computertechnik alles Geistig-Emotionale fein säuberlich vom jeweiligen Trägerkörper trennen kann. In gewisser Weise [8|9]feiert der alte Körper-Seele-Dualismus eine technologische Auferstehung. Und der Schmerz, der in Buch wie Film als Kopfweh so überzeugend die unaufhebbare Verwachsenheit des Mentalen mit dem Leiblichen versinnbildlicht, hat in irgendein Nichts, in ein narratives Off, zu verschwinden.

Der gute Stiller erwacht im Körper seines bösen Schöpfers. Dessen Identität ist in einen toten, zudem eh bloß simulierten Körper entsorgt worden, und das neu in Besitz genommene wirkliche Fleisch hat anscheinend keinerlei Verunreinigung durch Größenwahnsinn und Bosheit erlitten. Dies ist im Film, der so entschieden auf die Misslichkeit der Körper gesetzt hat, eine besonders kühne Behauptung. Der Roman lässt den Transferierten ans Fenster springen und – siehe da! – draußen findet sich prompt eine beruhigend vertraute, also mit ihrer Simulation übereinstimmende Welt. Geist, Körper und Welt sind im Einklang. Eva liebt Fred. Mehr Happy End geht nicht.

»Welt am Draht« scheint vordergründig in ein vergleichbar harmonisches Finale zu finden. Stiller kommt unversehrt und schmerzfrei zu sich. Er, der im letzten Bild der simulierten Welt mit blutüberströmter Brust fast eine Art Christus-Travestie bot, trägt nun in der wirklichen Welt einen dicken, grauen Rollkragenpullover. Das kuriose Kleidungsstück muss die Kluft sein, mit der sein Doppelgänger und Schöpfer zuletzt zur Arbeit an den Rechnern angetreten ist.

Auch bei Fassbinder eilt dieser frisch inkarnierte und komisch keusch kostümierte Stiller ans Fenster. Wir sehen allerdings nicht, was sich seinem Blick durchs Glas darbietet. Stattdessen bindet die Kamera von Michael Ballhaus uns und das selig erleichterte Paar in einen konsequent begrenzten Raum ein. Die Figuren und unser Auge sind in einem Quader aus Wänden, Jalousien, Vorhängen und Teppichboden gefangen. Als Stiller an die Klinke der Tür greift, erweist sich diese als verriegelt. In einem Film, der zuvor regelmäßig auf das fatale Eingeschlossensein in die Kästen der Rechner verwiesen hat, sind diese angeblich Geretteten auf die bislang visuell stringenteste Weise einem eng umrissenen Innen unterworfen.

Wir verstehen, dass sich dieser gerettete Stiller nun mit dem fleischlichen Gehäuse behelfen wird, aus dem sein dämonischer Schöpfer technisch exorziert wurde. Das Spiel mit mehreren Ebenen scheint aufgehoben. Denn der große Simulator, der böse Künstler ist ausgelöscht. Sein Werk, die Doppelung, die unheilvolle Spiegelung des Daseins, scheint für Fred Stiller und seine Eva nun keine Bedeutung mehr zu haben. Aber die Welt, die da übrig bleibt, bedeutet für die vom kreativen Übel Befreiten kein Universum mit beglückend offenen Horizonten. Auf den bizarr künstlichen Terror der Simulationen folgt das öde Schrecknis einer einzigen Dimension. In einem endgültig leibhaftigen Körper und mit diesem in einer einzigen Welt, in unserer unausweichlich wirklichsten Welt, gefangen zu sein, das ist und bleibt der wahre Horror existenzieller Immanenz.