Buchcover

Walter von Hollander

Komödie der Liebe

Eine beinah tragische ehegeschichte

Saga

1

Hammachers sind leicht zu finden. Dort, wo Geschäfts- und Wohnviertel des neuen Berliner Westens zusammenstoßen, am Olivaer Platz nämlich, geht man die Bayerische Straße hinunter, biegt rechts in die Pommersche Straße, und hat schon das Haus vor sich: ein modernes Mietshaus mit langer, schlichter Front, einen nüchternen hellen Bau mit unzähligen Fenstern, ohne Verzierungen und ohne Reize. Man könnte das Haus mit den Nachbarhäusern verwechseln. Nach der Brandenburgischen Straße zu steht der gleiche rechteckige Kasten und drüben an der Württembergischen nochmal derselbe. Sie sind alle vom gleichen Bauunternehmer, vom gleichen Wohnungshändler hergestellt. Auf Hammachers weist ein ziemlich großes Schild hin, ein modernes Schild in Gold, Rot und Blau, mit zackig auseinandergezogenen Buchstaben: Hans Hammacher, Architekt, B.D.A., 3. Stock, Fahrstuhl.

Ich rate Ihnen, den Fahrstuhl zu benutzen. Denn die Aufgänge — drei gibt es — sind zwar lustig bunt, mit knallig lackierten Geländern und Stufen, aber die Treppen sind steil und in jedem Stock finden Sie dasselbe: eine Wohnung in der Mitte mit einer Flügeltür und je eine Wohnung rechts und links, zu denen eine gewöhnliche Sperrholztür führt. Fahren Sie vorbei an Grosse, Hein und Rollweg, an Opitz, Vellower und Dr. Pfirsig, an Nodewaldt, von Rimnitz und Durlake, so finden Sie oben links Professor Bödau von der Akademie, in der Mitte Daun, Prokurist, und rechts Hammachers. Sie müssen zwei-, dreimal klingeln. Denn das Dienstmädchen Hedwig ist langsam und eitel. Sie muß die Haube zurechtrücken, die blaue Schürze ablegen, die weiße vorbinden, die Brille in die Tasche stecken und das Kinn etwas vorschieben, wie Herr Hammacher das tut. Dann erst kann sie aufmachen.

Sie müssen nun nicht eine originelle Wohnung erwarten, weil Hammacher als Architekt einen guten Ruf hat und als radikaler Wohnungsreformer gilt. Er hatte sich wohl darauf gefreut, mal nach eigenem Geschmack einzurichten, ohne Rücksicht auf die verfluchten Auftraggeber.

„Das wird eine tolle Sache“, sagte er zu seiner Frau, und schlug sich aufs Knie, „eine tolle Sache. Da tobe ich mich aus.“

Als es aber so weit war, hatte er keine Zeit, nicht eben viel Geld, war einrichtungsmüde. Es kamen auch einige Möbel von einem Auftrag zurück, weil der Auftraggeber gestorben war, eine Junggeselleneinrichtung. Man brauchte nur ein Tischchen dazu und einen Spiegel. Fertig. Später würde man sehen. Später ...

Später: das ist drei Jahre her. Die tolle Sache läßt noch auf sich warten. Es sei denn, man nimmt die blauen langen Kisten dafür, die sargähnlich im Flur stehen, und in denen sich die Bettkissen und Bettdecken von ihrer Nachtarbeit ausruhen. Das meiste andere ist wie in jeder Einhundertfünfzig-Mark-Wohnung von Leuten mit modernem Geschmack. Die Raumeinteilung die übliche: gleich rechts die Küche, das Bad, das Mädchenzimmer. Links kommt Hammachers Schlafzimmer, einfenstrig, hofzu, grau gestrichen, mit einem Kasten als Schrank für Wäsche und Kleider und einer breiten Pritsche mit Matratze drüber zum Schlafen.

Anschließend das Zimmer der Frau Hammacher. Das müßte eigentlich zart und schlank möbliert sein. Aber hier war der Großteil der Möbeln des verstorbenen Junggesellen unterzubringen. Der Diwan ist zwei Meter fünfzig im Quadrat, ruht auf beindicken Klötzen. Im Kleiderschrank könnten drei Kinder bequem Verstecken spielen (aber Hammachers haben keine Kinder), der Riesensessel wird Jahrhunderte überdauern. Man ist bedrückt, man kriegt keine Luft, man flüchtet ins große Zimmer und atmet auf.

Es ist fast leer. In diesem Augenblick, in dem Sie eintreten (es ist zehn Uhr abends) sehen Sie nichts als die große Stehlampe, die vor den nachtschwarzen Fensterscheiben brennt. Links in der Ecke dämmert das überflüssige, das längst schon stumme Klavier, ein Blüthnerflügel aus Ellen Hammachers Elternhaus. Ein Gummibaum ist daneben aufgepflanzt, ein Kakteenständer mit einer Unzahl Töpfchen bestellt. Rechts finden Sie den dritten der breiten niedrigen Diwane, über dessen Rand zwei große gelbe Schuhe ragen, kräftige Schuhe mit gerieften Kreppsohlen drunter, die an dem Hacken zu fransen beginnen, Hans Hammachers Schuhe. Vom Licht abgekehrt steht ein Klubsessel da, drin sitzt Ellen Hammacher. Aber man kann von ihr nur das Buch sehen, das sie liest, ein paar weiße Manschetten ihres Kleides und ein wenig vom Schopf ihres glatten blonden Haares, das an dem Wirbel aufzustehen pflegt. Sonst? Ja natürlich, ein Bücherschrank ist da, ein ebenerdiger, mit Schiebetüren aus Glas. Es gibt ein paar nicht sehr kostbare Perser und vor allem ein riesengroßes Grammophon mit einem Plattenständer für zweihundert Platten. Eine Platte ist gerade abgeschnurrt. Die Musik hängt noch in den dämmrigen Ecken. Pause. Es ist vollkommen still.

Dann kommt Hammachers Hand zum Vorschein, sein breites gutes Jungensgesicht. Er zieht aus dem Plattenständer eine neue Platte, legt sie auf, setzt eine neue Nadel ein, dreht die Kurbel des Grammophons. Der Apparat zirpt leise „Oh, Mädchen, mein Mädchen“.

Hammacher steckt zwei Zigaretten an, reicht eine seiner Frau hinüber. Sie blasen zwei Rauchringe so, daß Ellens zierlicher Ring durch Hammachers Rauchrad hindurchschlüpft.

Sie lächeln sich an. Die Erzählung beginnt.

2

Die Erzählung beginnt. Es ist der zweite September 1928. Ein heißer Tag. Hammachers haben ihren gemütlichen Abend. Sie haben die Flurtüre abgeschlossen, die Kette vorgelegt, wie gegen Diebe, und das Telefon im Flur gestöpselt, damit Hedwig die Gespräche erledigen kann.

„Nein, die Herrschaften bedauern, nicht zu sprechen zu sein“, flötet sie zehn-, zwölfmal den Abend über in den Apparat.

Also: Hammachers haben ihren gemütlichen Abend. Ellen liest einen langweiligen englischen Roman, um ihre Sprachkenntnisse aufzufrischen. Hans Hammacher liegt auf dem Rücken, und wenn er nicht raucht und keine Praline ißt, so pfeift er die Melodien des Grammophons mit. Er pfeift pianissimo und zwitschert wie ein Kanarienroller. Könnte sein Geld als Kunstpfeifer machen. Er würde gern den ganzen Abend so pfeifen. Denn er hat den ganzen Tag gesprochen. Mit Lieferanten und Bestellern. Rauh und süß, je nach dem Partner.

Er kann aber Ellen nicht den ganzen Abend anschweigen, und so sagt er in einer Musikpause, das heißt, er spricht es mit seiner seltsam leisen und tonlosen Stimme schnell vor sich hin: „Breuel will doch bauen. Aber ein Blockhaus. ‚Nee, Breuel‘, habe ich ihm versetzt. ‚Wenn Sie ein Blockhaus haben wollen, so ein echtes, dann suchen Se sich einen Indianer und nich en Architekten. Ich versteh mich nicht auf Blockhäuser.‘“

„Breuel — ein Blockhaus? Er sagt, er käme doch nie ’raus. Weekend hätte er im vorigen Jahr fünfmal gemacht. Für fünfmal reichte es. ‚Reicht, Herr Generaldirektor,‘ habe ich geantwortet, reicht für fünfmal, reicht aber nicht für Hollandia-Margarinewerke. Kann er doch wirklich nich machen, oder ...?“

Ellen Hammacher dreht ihr Buch um und legt es auf die Knie. „Wenn er normal wäre, Hans, brauchte er doch nicht mal ein Blockhaus. Aber weil Breuel eben Breuel ist, hast du recht. Bau ihm man ein Wochenendpalast hin. Neusachlich, mit Fransen und Maschinen.“

Hammachers vertiefen sich in das Thema. Sie erfinden ein drehbares Dach, das die Sonne einfängt und durch Sonnenröhren ins Zimmer leitet, einen Turn- und Schleudersaal, in dem man von den Wänden geknufft, geworfen und geschleudert wird, ein Regenzimmer für heiße Sommer und ein alpines Zimmer mit Höhensonne, Höhenwind, künstlichem Kuhläuten und tongefilmten Kurgastgeplauder. Sie lachen, daß dem Architekten die breiten Backen weh tun und Ellen, den Mund weit aufgerissen, quer über dem Klubsessel liegt, und mit den Beinen schlagen muß, um Luft zu bekommen.

„Was für Ideen“, ruft sie vergnügt, „mein Gott, was für ein Blödsinn.“

Aber es tut gut zu lachen. Seit vierzehn Tagen, seit sie aus Müritz zurück sind, haben sie nicht mehr gelacht. Es vergeht einem wie die Gesichtsbräune vergeht und schon dem echten Berliner Grau Platz macht.

„Gott sei Dank“, sagt Ellen, „daß wir mal lachen. Ich dachte, das ginge nun so weiter. Telefon. Hetze. Menschen. Gram und Gries und Griesgram.“

Sie steht auf, zieht das Kleid zurecht, ein schwarzes glattes Crêpe-Satinkleid mit weißen Manschetten und weißem Kragen, ein Kleid, das sehr schlank und groß macht. „Nochmal die Tucker“, sagt sie, und legt die neue Sophie Tucker-Platte auf. „Deubel, heult die schön.“

Sie versucht, den rauhen, kehligen Schreigesang nachzumachen. Aber es kommt nur ein kleines Vogelfiepen heraus. Sie flattert dazu auch vogelähnlich mit den Armen vor den nachtschwarzen Fensterscheiben, so daß es aussieht, als wollten zwei Manschetten und ein Kragen in die Nacht fliegen.

Sie steckt den Kopf zum Fenster hinaus. Ein kühlerer Wind kommt aus dem Preußenpark mit etwas lauem Duft drin. Über Dahlem weg sieht man eine Wolkenwand unter den Sternen. „Sie bauen drüben doch“, ruft sie hinaus. (Hammacher kann es nicht hören.) „Sie haben schon ausgeschachtet. Sie werden uns den Park wegbauen.“ Sie kommt zurückgelaufen, wirft sich neben den Mann auf den Diwan, schmiegt den schmalen Kopf unter seinen Arm.

Schnapp, sagt das Grammophon und steht still. „Sie werden uns das bißchen Aussicht wegbauen, Hans“, klagt Ellen.

Hammacher antwortet nicht. Sein großer starker Arm preßt ihr den Brustkorb zusammen. Seine breite Hand streicht über ihrem Herzen hin und her. Ellen kann das gar nicht vertragen. Ihr wird immer banger und enger. Ich hätte doch noch in Müritz bleiben sollen, denkt sie, das Wasser da wird nie zugebaut. Jetzt sind auch alle Kurgäste weg. Man könnte nackt am Strande laufen.

Sie dreht sich langsam und vorsichtig aus dem Arm des Mannes, kniet vor dem Plattenschrank, um eine neue Musik herauszusuchen, hat plötzlich das Scharren, Tuten und Singen der fremden Musiker so entsetzlich satt, steht auf und geht schnell in ihr Zimmer hinüber.

Vor dem Hause läßt ein Motorradfahrer ungestraft seinen Motor knallen und schießen. Ellen Hammacher schließt ihre Fenster mit einem Ruck, zieht sich aus, legt das Kleid sorgfältig glatt und schlüpft in den Pyjama mit den unten breiten Zimmermannshosen.

Sie will ins große Zimmer zurückgehen, weiß aber nicht, was sie sagen soll. Sie hat sich doch eigentlich albern benommen, am besten wäre, sie ginge und erklärte alles. Wie? Was? Sie bauen drüben und du sollst nicht so hin- und herstreicheln, kein Grammophon mehr bitte und die Motorradfahrer müssen abgeschafft werden. Nein — sie legt sich lieber ins Bett, schlägt die rosa Karlsbader Decke so eng um sich, daß sie wie ein Strich in der riesigen Diwandecke liegt und wartet. Ich muß dieses doch aushalten, sagt sie sich. Ich konnte ja gar nicht in Müritz bleiben. Ich lasse ihn nicht allein hier. Da sind ... Nun, einerlei, es sind genug, die ihn haben wollen.

Johannes Hammacher sitzt gebückt im großen Zimmer auf dem Diwan. Er reibt sich die Augen, schüttelt sich, gähnt leise. Ihm ist unbehaglich zumute. Was ist das nur wieder? Warum weint sie und weint nicht? Klagt und man kann nichts fassen von ihren Klagen. Ach — er hat sich tagsüber genug mit Faßbarem zu plagen. Er haut sich mit der rechten Hand übers Knie, daß es knallt, schnellt auf, stapft durchs Zimmer, reißt die Schlafzimmertür auf und ruft leise: „Ellen?“ Lauter: „Ellen?“ Freundlich: „Elle? Ellen?“ Räuspernd: „Ellen!“ Ungeduldig: „E-l-l-e-e-n!“

Er wirft die Tür hinter sich zu, tastet nach ihr, faßt zuerst ihre Füße, schüttelt ihre Beine. „Nein, nein!“ ruft er, „das laß nur! Nein — jetzt sage mal. Das ist doch. Ich kann doch nicht dafür, daß sie bauen.“

Und Ellen, die schon geschlafen hat (denn sie leidet leicht unter Müdigkeiten), läßt sich gern von ihm hochreißen, hin- und herschwingen. Sie hat die Hände in seine Schultern geschlagen, hält sich ganz fest, hat das Ohr an seinem Herzen, und während das Herz des Mannes zu ihrer Freude langsam zu hämmern anfängt, dann schneller und schneller, flüstert sie: „Nein, nein. Ja, ja. Nein, nein. Ja, ja.“ Aber er versteht es nicht. Das ist um elf Uhr.

Um elf Uhr zehn, um elf Uhr dreißig, um elf Uhr fünfzig läutet das Telefon. Beim ersten Schrillen zucken Hammachers zusammen, dann aber lassen sie es läuten, zwei Minuten, drei Minuten. Einerlei, sie wollen mit niemandem sprechen.

„Laßt uns nur in Ruh“, sagt die Frau und lehnt sich fest gegen seine Schulter, um einzuschlafen.

„Nein, es ist bestimmt nur Römer mit was Geschäftlichem“, sagt der Mann, „nein, wir wollen es gar nicht wissen.“

Um zwölf Uhr, als er immer noch nicht schlafen kann, sammelt er seine Kleider, geht in sein Zimmer, steht nackt am Fenster. Er wäscht sich mit der lauwarmen Nachtluft, reibt, massiert sich. Er macht das so katzengeschmeidig und katzenleise, wie man es dem massiven Mannskerl nicht zugetraut hätte, ein paar Rumpfbeugen, schleudert die Arme und Beine, springt — in der Nachtdämmerung sieht das sehr merkwürdig aus — ein bißchen Seil, steht dann am Fenster und starrt in den Preußenpark.

Das Gewitter ist noch nicht näher gekommen. Die Bäume stehen ohne Atem. Es riecht ein wenig nach Laub, nach Benzin und nach Herbstboden.

Eng, denkt Hammacher, und hat eine Faust gegen die Wand gestemmt, als wollte er sie wegschieben. Eng, eng, wiederholt er, und hebt die andere Hand an den Hals, als müsse er sich würgen.

Er dreht sich schnell um und legt sich ins Bett. Eng, eng, denkt er, und alles so komisch und unverständlich.

Er legt sich auf den Rücken, die Hände so unter den Kopf, daß die Ellenbogen in die Luft starren, die Augen geschlossen.

Eng, eng, denkt er immer wieder, und ich passe nicht in die Stadt. Es fällt ihm nichts ein, was dieses beklemmende Unbehagen, dieses anrückende Unglück sonst erklären könnte.

Bis er wieder an den Park denkt. Richtig, die Bäume bauen sie uns weg. Richtig, sie schachten schon aus. Bald werden wir in fremde Fenster hineinglotzen. Er lächelt befriedigt. Es ist wohl schlimm, aber es ist gut, daß er weiß, woher diese Beklemmung kommt. Er schläft ein, liegt still und starr wie ein Toter.

Bald danach kommt der Mond. Geht erst durch Hammachers Zimmer, dicht an seinem müden Gesicht vorbei, wandert dann über die Hauswand in Ellens Zimmer, kriecht über das schwarze Crêpe-Satinkleid hinweg, steigt ins Bett.

Ellens Gesicht rückt, sowie der Mond es erreicht, in den Schatten. Ihre Hände aber, kleine ineinandergekrampfte Hände, bleiben im Licht liegen. Ein paarmal heben sie sich und fallen, so ineinandergefügt wie sie waren, nieder, als wollten sie auch das Mondlicht festhalten, als dürften sie nichts loslassen, was sie einmal gefaßt haben.

3

Für Ira Schnee, Tochter des verstorbenen Oberstleutnants Schnee und seiner gleichfalls verstorbenen Gemahlin Irene, geborene von Pfeiffer, für die Malerin, Kunstgewerblerin und Kunstgewerbeverkäuferin Ira Schnee verläuft dieser gleiche Abend äußerst ungemütlich.

Sie sitzt in ihrem kleinen Zimmer zwischen dem Berliner Zimmer und der Küche der Ramnitzschen Wohnung in der Bleibtreustraße. Sitzt und wartet.

Es ist alles fertig. Zwei Teetassen stehen da wie immer, Brötchen mit feingewiegtem Schinken, eine halbe Flasche Asbach-Uralt, englische Zigaretten, eine Schale mit Weintrauben und Bananen, fast ertrunken in roten Weinblättern und dunklen Astern.

Ira Schnee hat die Nägel gekürzt, gerieben, gefettet und sorgfältig poliert. Sie glänzen wie Asphalt bei Regen. Sie hat die maisgelben Haare wieder und wieder gebürstet, sie sind vorn glatt wie ein Dackelfell (und hängen in die Stirn hinein) und stehen hinten ab wie eine Sprungfedermatratze.

Wenn unten im Hof Schritte gehen, beugt Ira sich weit aus dem Fenster. Die Beine sind dann allein im Zimmer, gute, gerade Beine, an den Waden übertrainiert, von Stunden in einer modernen Tanzschule.

Um einhalbzehn ist Ira ganz verwelkt vom Warten. Sie hat auch eine Weintraube halb leer gezupft und muß sie hinter dem Wandschirm auf dem Bett verstecken. Um dreiviertelzehn läutet es endlich zweimal an der Hintertür. Ira fegt über den engen Flur, daß die Tafttüten an ihrem Rock segelartig knallen.

„Ja, Sie haben recht behalten, Berta“, sagt sie strahlend, und knallt der teilnehmenden Köchin die Küchentür vor der Nase zu.

„Komm nur“, flüstert sie, und zieht den zögernden Freund mit ein paar schnellen Schritten ins Zimmer. „Komm nur, es ist nur Berta da.“

Sie bleiben bleich voreinander stehen. Der Freund hat die Hände in der Jacke des Sportanzuges. Er trägt den Kopf ein bißchen gesenkt, die Stimme ist heiser vor Verlegenheit.

Ira legt eine Hand auf die Lehne ihres Stuhles. Sie möchte sich die Haare schnell struppig machen und die Fingernägel stumpf. Was von acht bis dreiviertelzehn rumort und gebohrt hat, was sie zwei Wochen lang geahnt und seit zwei Stunden gewußt hat, das ist nun Tatsache.

Da steht der Freund: breitbeinig, hübsch, kurzsichtig, nicht mehr erreichbar, trotzdem sie nur die Hand ausstrecken müßte, um ihn anzufassen. Sie will die Hand heben. Sie haben sich doch noch nicht begrüßt. Aber es geht nicht. Aus. Aus.

„Was ist? Warum kommst du jetzt erst?“

Sie kann nichts weiter sagen. Sie setzt sich. Sinkt ein wenig zusammen. Der Rücken wird so schwach, die Schultern krümmen sich nach vorn.

„Ich bin dir eine Erklärung schuldig“, sagt der Freund.

„Ja“, nickt Ira.

„Ich habe mich verlobt.“

„Man kann es sich denken“, nickt Ira.

„Du hast es nicht erwartet?“

Keine Antwort.

„Ich muß es dir anständigerweise erklären.“

Ira hebt den Kopf und sieht den Freund an. Freundinnen sagten früher, sie hätte unsagbar hochmütige Augen. Der ganze Hochmut liegt aber daran, daß sie ein klein wenig kurzsichtig ist, daß die Augenlider ungewöhnlich lang sind und die Wimpern sehr seidig. Eigentlich ist ihr Blick im allgemeinen eher wehmütig.

„Willst du dich nicht setzen“, fragt Ira.

Nein, der Freund will sich nicht setzen. Er findet Sitzen bei Verabschiedungen undelikat. Es ist ungefähr so wie bei Kartelltragen. Womöglich bietet sie ihm noch Obst und Kognak an, dazu ist die Sache viel zu ernst.

„Ich hätte dich gern geheiratet“, sagt er nun schnell, „aber wir hätten solange warten müssen.“

Sie ist also reich, denkt Ira. Na gut. Da kann ich nicht mit.

„Ja, und ich kann nicht so lange ohne Frau leben“, zischt er aufgeregt, „ich kann es nicht.“

Er zieht die Hände aus den Taschen und läßt sie schlaff auf die Schenkel fallen.

„Ich kann es nicht. Kann es nicht. Kann es nicht.“

„Ja, aber“, wundert sich Ira, „ja aber, das habe ich doch gar nicht von dir verlangt. Wir waren doch ...“

Sie wird rot und winkt ab. Der Freund tritt einen halben Schritt näher. Er biegt einen Finger auf dem Tisch so krumm, daß er weiß wird und das Geschirr zu zittern anfängt. Er kommt nun endlich zu seiner Rede, die er sich den ganzen Tag einstudiert hat. Er spricht scharf und dozierend, haut ein paarmal mit der flachen Hand durch die Luft, als müsse er die Gegengründe mit einem Beil zerstückeln. Gut, daß Ira den Jargon ihrer Kreise noch kennt. Sonst würde sie kein Wort verstehen. Weil sie sich nämlich mit ihm eingelassen hat, deshalb kann der Freund sie nicht heiraten. Oder er müßte sich wenigstens mit ihr verloben und sie in der Verlobungszeit meiden. Die Verlobungszeit aber müßte lange dauern, weil der Freund erst vor dem Referendar steht. Eine lange Enthaltsamkeit hält er nicht aus, also mußte er sich mit einer anderen verloben.

Diese Erklärungen dauern bis fünf Minuten nach zehn. Ira sagt nichts, bittet nichts, weint nicht. Sie weiß, gegen diese Argumente gibt es keine Logik, keinen Beweis, keinen Grund. Wie konnte sie sich nur mit einem solchen Menschen einlassen. Solche Jungens heiratet man, aber man schläft nicht mit ihnen.

„Gut also“, sagt sie endlich, und steht auf. Sie öffnet die Tür ihres kleinen Zimmers, sie begleitet ihn zur Hintertür. Ach richtig, sie muß ihn ja noch hinunter begleiten, ihm den Hausschlüssel abnehmen. Auf der Hintertreppe treffen sie den Portier mit einem Dienstmädchen.

„Adieu“, sagt Ira, und gibt ihm wider Willen doch noch die Hand.

„Adieu“, sagt der Freund, und will ihr die Hand küssen.

„Nein, ich bin nicht verheiratet“, wehrt Ira wütend, und schlägt ihm die Tür vor der Nase zu.

Sie läuft hinauf. Die Tafttüten rauschen bei jedem Schritt. Der Portier und das Dienstmädchen sind verschwunden. Nur Berta steckt noch den dicken Kopf zur Küchentür hinaus. Aber sie fährt zurück, weil das Fräulein „ganz wilde Augen macht“. Ira reißt sich das Kleid herunter, die Wäsche, steht im Nachthemd eine Weile, stumpfsinnig vor Müdigkeit, wirft sich rückwärts aufs Bett und drückt den Kopf in die Kissen. Am Hals, in den Haaren, spürt sie etwas kühles, klebriges, feuchtes. Sie tastet, zieht die abgegessene Weintraube heraus, deren restliche Beeren nun zerquetscht sind. Sie betrachtet aufmerksam das Malheur, das der armen Weintraube zugestoßen ist, und beginnt erbärmlich zu schluchzen.

Sie weint lange. Nicht eigentlich über den Verlust des Freundes (Himmel, da könnte sie ja als Ersatz jeden ihrer Vettern nehmen, die sind alle ganz genau wie der Freund, es sei denn, die eine Nase ist größer, die andere kleiner, die Hände dicker oder dünner). Nein, sie weint erst über ihre Dummheit, dann über die Aussichtslosigkeit ihres Lebens, dann darüber, daß sie allein steht, dann über das Leben ihrer Mutter, die neben einem saufenden Offizier zusammengeschrumpft und schließlich gestorben ist.

Sie weint über ihre Stellung bei Prinz & Priester und gibt ehrlich zu, daß sie eigentlich keine Kunstgewerblerin mehr ist, sondern längst schon eine ganz gewöhnliche, eine recht talentlose Verkäuferin.

Sie weint, bis ihr wirklich endgültig leichter ist, und sie, mit geschwollenen Augen, mit dickem Kopf, aber dünnem leichtem Körper sanft einschläft.