Buchcover

Walther von Hollander

Schicksale gebündelt

Ein Menschenpanorama
von heute

Saga

Leben Anton Kuballs, eines Gutsinspektors

In Hinterpommern, einen Tagesmarsch vom Meer und ebensoweit von der nächsten größeren Stadt, wurde er geboren. Das Haus lag abseits vom Dorf an einem der unzähligen Seen. Nach vorn hinaus waren Wiesen, Wasser und die freundlichen Äcker. Gleich hinter den Schlafzimmerfenstern aber begann der Hagenbruch, ein Waldmoor, eine Wildnis aus filzbärtigen Tannen, fauligen Weiden und undurchdringlichem Schilf.

Anton Kuball hieß der Vater. Anton Kuball wurde auch er getauft. Vor ihm waren nur zwei Schwestern geboren. Er war also der Erbe. Anna Kuball, die Mutter — wegen ihrer winzigen Hände und Füße und der mächtigen blonden Haarkrone die Moorprinzessin genannt —, Anna Kuball nährte ihren Jungen zwei Jahre lang, weil der Bauer es verlangte. Dann legte sie sich hin und starb. Der Arzt begriff nicht, warum.

Die Dörfler aber mieden fortan den Moorhof. In der Kirche blieb der Platz neben Kuballs leer, und in der Schule wollte keiner mit dem kleinen Anton sprechen, weil er „seine Mutter umgebracht hatte“.

Als der Junge sieben Jahre war, kam Lieschen Ferdes auf den Hof, ein vierschrötiges, bleichbackiges Frauenzimmer. Sie brauchte Wochen, um das verdreckte Haus in Ordnung zu bringen, Monate, um den Bauern zu verführen und Jahre, um seine Frau zu werden. Und auch dann blieb Anna Kuballs myrtengeschmücktes Bild über dem Ehebett hängen, und die Kinder nannten sie weiter Lieschen oder (wenn sie unter sich waren): dat Peerd.

Am Sonnabend vor der Konfirmation mußte der vierzehnjährige Anton notgedrungen zum Barbier. Denn er hatte einen starken rötlichen Flaumbart, der vor dem Altar gestört hätte. Er war 1,70 groß, nicht kleiner als irgendeiner der Bauern, die vor der Tür des Schaumschlägers warteten, daß sie gekratzt würden.

Am Sonntag wurde Anton zum erstenmal gefeiert. Der Pastor kam noch gegen Abend herein, legte ihm die Hand auf die Schulter und befahl ihm streng, seine übermäßigen Kräfte im Dienste des Nächsten zu verbrauchen.

Am Montag früh verließ er den Moorhof. Er ging heimlich davon. Denn er hatte ein schlechtes Gewissen, daß er sein Erbe im Stich ließ. Er hätte auch nicht genau sagen können, warum er es tat. Dat Peerd hatte eben Macht über den Bauern.

Anton hatte den schwarzen Anzug an mit der silbernen Kette über der Weste. Das Einsegnungshütchen schwebte auf dem obersten Teil des Kopfes, unter dem Arm trug er einen Pappkarton, der seinen Arbeitsanzug enthielt, ein bißchen Wäsche, doppeltes Schuhzeug und ein Bild seiner Mutter, der er noch in der letzten Nacht ein rotes Herz aufgetuscht hatte mit drei Pfeilen, die es durchbohrten. An einen Pfeil hatte er „ich“ geschrieben.

Er marschierte zwei Tage über die Höfe und fragte nach Arbeit. Es regnete. Der Pappkarton weichte auf. Am dritten Tag bekam er eine Stelle auf der Domäne Driesen, eine Wegstunde von der Kreisstadt. Weil er so groß war und die Arbeit verstand, nahm man ihn gleich als Knecht.

Die Pächtersleute mochten ihn gern. Der Mann, weil Anton ungeheuer viel arbeitete. Die Frau, weil er ungeheuer viel aß. Schade, daß er fast nichts sprach. Man braucht auf dem Lande ein bißchen Unterhaltung.

Mit achtzehn Jahren wurde Kuball Inspektor in Driesen. Er war eigentlich viel zu jung. Aber bei den ständigen Knechten und Mägden stand er seiner Kräfte und seines Jähzorns wegen in Achtung, und ehe die Saisonarbeiter anrückten, ließ er sich das Gesicht bis zu den Backenknochen mit seinem gelbroten Bart bewachsen, der recht schlecht zu der braunroten Gesichtshaut paßte.

Wenn er dann im Freien den grünen Hut tief in die Stirn rückte, konnte man ihn für dreißig halten. Im Zimmer verriet die kleine blasse Jungenstirn mit den Buckeln an der Seite und der Delle in der Mitte genau sein Alter.

Als er zwei Jahre später zur Musterung ging, war er 1,93 groß. Sein Brustumfang betrug 1,47. Er kam zu einem Garderegiment nach Berlin. Man prophezeite ihm eine glänzende Zukunft. Das Kreisblatt erinnerte in einer Notiz daran, daß er den Marschallstab im Tornister trage.

Es zeigte sich aber, daß Anton Kuball sich nicht fügen konnte. Er war zwar der beste Schütze, beim Gepäckmarsch nicht umzubringen, hölzern und doch stattlich beim Parademarsch, aber im ersten Jahre ohrfeigte er seinen Stubenältesten, weil er den „Ältesten-Anteil“ am Driesener Wurstpaket gewaltsam entnahm, und kurz vor der Entlassung schlug er seinen Unteroffizier lazarettfähig. Grundlos eigentlich, oder weil er betrunken war, oder, wie er vor dem Kriegsgericht aussagte, weil ihm mit dem Schnaps aller Kummer zu Kopfe stieg und er dreinschlagen mußte, einerlei, wer im Weg stand.

So kam er erst drei Monate später, als es hätte sein müssen, vom Militär los, ohne Kokarde, als Soldat zweiter Klasse. Natürlich nahm man ihn in Driesen, denn man hatte auf ihn gewartet. Sein Bart wuchs wieder, ja er wurde noch üppiger und hing bald zwei Handbreit, viereckig geschnitten, unter dem Kinn. Seine Stimme dröhnte mächtig auf den Feldern und in den Scheunen. Aber es war doch nicht mehr dasselbe. Der Pächter, ein alter Feldwebel der Landwehr, konnte Kuballs Schimpfereien auf das Militär nicht anhören, und die Pächterin nahm ihm übel, daß er nicht nur Sonnabends (wie sie das von ihrem Mann gewohnt war) betrunken nach Hause kam, sondern zuweilen mitten in der Woche die Treppe hinaufpolterte mit grobem Schimpfen auf das jämmerliche Leben, das ein Untergebener zu führen habe.

Leicht hätte es damals schon ein schlechtes Ende nehmen können. Aber es fand sich Meta Muhn, die Tochter des kleinen schwärzlichen Kätners Muhn, ein Mädchen, das fast so blonde Haare hatte wie die Moorprinzessin, Antons Mutter.

Meta Muhn wußte, daß Männer nach Schnaps und Tabak riechen, daß sie außen groß sind und innen klein und daß man sie leicht leiten kann, solange sie die Zügel nicht spüren. Sie wußte auch, daß es nur einen Inspektor in Driesen gab und sie sich sehr anstrengen mußte, um den zu bekommen.

So kam es zuerst zu einem Verhältnis, über das Vater Muhn gewaltig schrie, über das die Pächtersleute ihre Witze rissen und die Großbauern, die selbst noch manche ledige Tochter im Stall hatten. Das dauerte drei Jahre. Schließlich hatten sie es beide satt. Sie wußten nun, wie es sich im Kornfeld liebt, in der Wiese, im Waldbusch, gleich hinter Muhns Kate, auf der Spukinsel im schwarzen Kindersee, wo die Meisen zu Tausenden nisten und in Schwärmen aufflattern, wenn man landet. Sie kannten auch die Regennächte am Heuschober und die dunkle Winternacht in den Scheunen. Und sie wollten wie andere in einem Bett zusammenliegen, ruhig und ohne zu horchen, ob jemand kommt.

Kuball sah sich also nach einer anderen Stelle um. Denn er konnte als Inspektor nicht einen Kätner zum Schwiegervater haben, über den er sonst zu befehlen hatte. Meta fand es selbstverständlich, daß sie bei ihrem Aufstieg nicht ihre ganze Familie mitnehmen konnte, und es war ihr auch recht, daß die Hochzeit nicht in Driesen stattfand, denn hier hätte sie wohl ohne Kranz zum Altar gehen müssen.

Anton Kuball feierte seine Hochzeit auf dem Moorhof, als Gast auf seinem Erbe, hochachtungsvoll angeprostet von seinen Altersgenossen, die in zehn Jahren nicht so viel errackern konnten, wie er auf seiner neuen Stelle in einem Jahr bekam, mißtrauisch bedient von seinem Vater und Lieschen Ferdes, die glaubten, er sei gekommen, sich den Moorhof zu holen.

Aber sie brauchten keine Angst zu haben; es war ihm hier viel zu eng. Wenn er sich reckte, so stieß er ja durch die Wände, und er mußte sich hüten, richtig zu lachen, damit die Bruchbude nicht über die Gäste fiel. Außerdem war da immer noch der Hagenbruch, gleich hinter den Fenstern. Nichts als Holz und Vögel und Schilf und kaum Himmel darüber.

Er hätte Lieschen alles für ihren Jungen geschenkt, einen sechsjährigen Nachkömmling, der trotz guter Ernährung kein Fett ansetzen wollte, aber Meta erlaubte das nicht. Sicher war der Moorhof ein kümmerlicher Besitz, kaum größer als die Kate zu Hause, und der Eigentümer Anton verlor viel von seiner Gloriole. Aber wegschenken konnte man immer noch. Zu gelegener Zeit ließ sich vielleicht eine Abfindung herausholen.

Vater und Sohn tranken die ganze Hochzeitsnacht durch. Von den Gästen hielt keiner mit. Nur die beiden Frauen blieben sitzen, nickten bisweilen ein und fuhren auf, wenn die Männer zu sprechen anfingen.

So blieb alles in der Schwebe, und das einzige, was Anton Kuball mitnahm, war das Bild seiner Mutter, das über dem Ehebett hing. Der Alte gab es ihm gern. Denn der Streit darum wollte nicht aufhören, und er selber wußte nicht einmal mehr, ob Anna Kuball wirklioh so ausgesehen hatte. In seiner Erinnerung wenigstens ähnelte sie eher dem Peerd als der verblassenden Photographie.

Am 1. April 1908 zogen Anton und Meta Kuball in das Inspektorhaus des Ritterguts Brückenau im Kreise Schlawe. Es war ein freundliches Sechszimmerhaus, auf einer Landzunge im See gebaut. Nach drei Seiten sah man über Wasser weg in den Tannenwald. Vorn war man duroh den Obstund Gemüsegarten mit dem Lande verbunden, die Äcker lagen jenseits des Schlosses, das wie eine Burg dunkel und vieltürmig die Ebene beherrschte und im Winter den Inspektorsleuten die Sonne wegnahm. Zum Schloß führte ein vielfach gewundener Saumpfad, zur Chaussee kam man auf einem Sandweg, der den Berg in Sichelkrümmung umgriff und im Herbst und Winter kaum passierbar war. Man mußte dann zum Schloß hinaufsteigen und dort den Wagen nehmen oder über den See rudern und bis zur Station laufen.

Im zweiten Jahr schon begann Kuball das dreißigtausend Morgen große Gut selbständig zu verwalten. Der rückenmarkleidende Herr von Maltrup saß immer schlechter zu Pferd, ließ sich ein Jahr lang täglich im Rollstuhl durch den Park fahren, hockte, wenn die Sonne schien, auf der Terrasse, geierköpfig, die Zigarette zwischen den dicken, fleischigen Lippen, die schließlich allein lebendig blieben, und starb, nachdem er seiner Frau empfohlen hatte, Kuball als Inspektor zu halten, bis der fünfjährige Erbe mündig war.

Frau von Maltrup verdoppelte Kuballs Gehalt, lud die Inspektorsleute wöchentlich einen Abend zum Skat und kam zwei, dreimal die Woche tagsüber hinunter, um mit Meta Muhn über Weibersachen zu reden. Sie warb geradezu um die Inspektorsfrau. Sie wollte nach und nach eine gehorsame Freundin aus ihr machen. Aber es gelang nicht. Meta blieb zurückhaltend und mißtrauisch. Sie lernte, was sie lernen konnte: Messer und Gabel halten, eine Unterhaltung führen, ein bißchen modisch sein und auch ein bißchen kalt und kokett. Ja das letzte brauchte sie sicher am notwendigsten. Denn sie wußte sehr bald, daß sie ihren Anton nicht nur gegen die gewöhnlichen Mägde und Tagelöhnerinnen würde verteidigen müssen, sondern sogar gegen die hochmütige Gutsherrin. Und es schien ihr sicher, daß daher das Unglück kommen werde.

Sie hatte viel Zeit zum Nachdenken. Denn der Leute wegen mußte man ein Dienstmädchen halten, obwohl die Inspektorin dadurch nichts mehr zu tun hatte. Wochenlang war sie tagsüber allein, ritt Kuball in der Dämmerung weg und kam in der Dunkelheit wieder. Dreißigtausend Morgen! Er mußte überall sein. Die Leute fürchteten ihn. An der äußersten Grenze mußte man so arbeiten wie nahe beim Gut. Tief drinnen im Wald genau so wie auf den Wiesen. Hitze hielt den Inspektor nicht auf, und bei zwanzig Grad Kälte war er plötzlich da und holte die Tagelöhner aus den warmen Betten.

1912 hatte Anton Kuball die Einnahmen des Gutes verdoppelt. Frau von Maltrup beteiligte ihn mit zehn Prozent am Gewinn. Sein Eifer war dadurch nicht zu steigern. Aber damals fing es an, daß er ganz gern länger ausblieb, daß er auf dem Rückweg eine halbe Stunde lang noch unnütz durch die Wälder tappte, daß er müde und stumpfsinnig am Wasser saß oder auch noch im Wirtshaus abstieg. Und wenn er dann, den Bart zurechtstreichend, ein wenig betrunken sein Haus betrat, dann konnte es immer wieder kommen, daß er die Klagen Metas brutal abschnitt mit der gleichen Frage: „Warum hast du keine Kinder?“

„Warum hast du keine Kinder?“ Es war nicht auszudenken. Die Tagelöhner, deren Stuben von Kindern barsten, lachten über den Inspektor. Die Herrin erkundigte sich erstaunt. Meta fuhr heimlich in die Stadt — eine wahre Hetzjagd machte sie in ihrer Angst, daß der Mann vor ihr nach Hause kam —, aber der Arzt konnte nichts feststellen. Sie sei gesund für zehn Kinder.

Ein Jahr vor dem Krieg nahm sich Kuball die Magd. Er wollte schon zeigen, an wem es lag. Meta konnte sich nicht wehren. Sie zog nur in den oberen Stock und war nun auch nachts allein. Mit Klagen verliert man den Mann erst recht.

Sie wartete gespannt. Sie bewachte die Magd. Kein anderer Mann durfte in ihre Nähe. Im Frühjahr 1914 warf sie das Frauenzimmer hinaus. Anton Kuball bekam einen Zornanfall. Wer war hier Herr im Haus? Es zeigte sich, daß Meta Muhn, die Kätnerstochter, die Herrschaft in der Ehe angetreten hatte.

Der Krieg brach aus. Ein Jahr lang war Kuball unabkömmlich. Dann holten sie ihn doch zur Landwehr. Er tat sich bald so hervor, daß man ihm die Kokarde wiedergab. Einmal saß er drei Tage auf einem Baum im Rücken der Franzosen und schoß zwölf Mann ab. Dafür bekam er das E. K. I. Als Patrouillengänger wurde er eine Berühmtheit. Er holte die Feinde aus dem Graben, wie man sie brauchte. Tot oder lebendig. Einen Leutnant der Alpenjäger trug er wie ein kleines Kind im Galopp über die Drahtverhaue. Er wurde im Armeebefehl erwähnt und zum Feldwebel befördert. Frau von Maltrup schrieb ihm, daß sie stolz auf ihn sei. Nur bei seiner Frau galt er deshalb nicht mehr. Auf seinem letzten Urlaub, als sie auch mal ein bißchen viel getrunken hatte, sagte sie ihm ihre Meinung. „Du kannst die Menschen in Schrecken versetzen,“ sagte sie und hängte sich an seinen Hals, „aber mich nicht. Du kannst Menschen totmachen, aber ein Kind kriegst du nicht fertig.“

Danach weinte sie erbärmlich und ließ mit sich geschehen, was er wollte. Zum erstenmal wieder.

Das letzte Kriegsjahr war Anton wieder zu Haus. Die Revolution begann in Brückenau erst am 15. November 1918. Die Kätner und Tagelöhner zogen zum Hause Kuballs. Aber Meta, die allein zu Haus war, konnte nichts sagen. Auch Frau von Maltrup wußte nichts zu antworten. Revolution? Gegen Mittag kam Kuball. Er ließ die Leute nicht zu Wort kommen. Nein, in Brückenau fand keine Revolution statt. Die Kätner murrten. Ein paar Weiber schrien. Ein Tagelöhner schoß auf Kuball und durchlöcherte sein grünes Hütchen. Dafür bekam er eine Ohrfeige. Und dann war wieder alles beim alten. Später baute Kuball ein paar neue Häuser, erhöhte die Deputate und warf die Widerspenstigen hinaus. Sonst änderte sich nichts.

Jede Woche gab es den Skat. Man spielte um Hunderte, um Tausende und Millionen. Das einzige, was wuchs, waren Zahlen. Oder nein: Kurt von Maltrup wuchs auch. 1922 war er fünfzehn, seine Mutter achtundvierzig Jahre. Kuball fünfundvierzig. Die Gutsherrin hatte graues Haar. Sie war völlig vereinsamt. Manchmal, wenn Kuball bis spät in den Abend blieb, weil viel zu besprechen war, ließ sie alten Burgunder kommen. Zwei bis vier Flaschen.

„Warum haben Sie keine Kinder?“ fragte sie immer wieder ihren Inspektor. Und als er den Sinn ihrer Frage immer noch nicht verstand, fügte sie endlich hinzu: „Wenigstens kann mein Junge verlangen, daß er keinen Bruder kriegt.“

Da erst begriff Kuball. Aber er war schon so blind geworden, daß er nicht mehr erkennen mußte, wie er um seiner Unfruchtbarkeit willen genommen wurde, daß er nicht merkte, wie die Frauen nach knapp einem Jahr stillen und zähen Kampfes sich einigten, ohne Aussprache, ohne Wort. Jeden Dienstag und Freitag hatte der Inspektor die Besprechungen. Donnerstag war Skatabend, und am Sonntag fuhr man gemeinsam im kleinen Auto nach Schlawe, um ein Kino zu besuchen.

Das Trinken mußte Kuball einstellen, oder er durfte wenigstens nicht betrunken sein. Schreien, Fluchen und mit gewaltigen Stiefeln auftreten konnte er im Freien. Er mußte nun beiden gehorchen: Frau von Maltrup, weil sie die Herrin blieb, die Frau aus der anderen Welt mit Bad, Seife, Parfüms und einer Menge erstaunlicher Bücher, die das Blut zur Siedehitze trieben, Meta, weil er sie belog und betrog, und beiden, weil er nach einem unerforschlichen Gesetz kein ganzer Mann war, trotzdem er breit war für zwei, Kraft hatte für zwei und nun auch lebte wie zwei Männer.

So blieb ihm nichts, als sich immer mehr in die Arbeit zu verrennen. Die Försterstelle besetzte er nicht neu. Das konnte er besser wie jeder Förster. Zwei Schimmel hatte er nun, weil ein Pferd es nicht aushielt. Die Arbeiter stöhnten unter seiner Bedrückung. Sie blieben, weil sie höhere Löhne bekamen. Aber der Haß wurde immer größer, und bald rächte man sich durch Vergiftung von Vieh, bald durch einen Lärm, den man der Meta machte, wenn sie allein war, durch Beschmieren des Zauns oder Umhacken junger Obstbäume.

Die Frauen begannen für ihn zu fürchten. Meta sagte deutlich, er solle sich nicht für Frau von Maltrup umschießen lassen, und die Gutsherrin versuchte, hinter seinem Rücken ein bißchen auszugleichen. Aber das Ende war nicht mehr abzuwenden.

Ein Jahr und noch ein Jahr, dann fing der Alkohol wieder an, den Inspektor zu trösten. Konnte er mit niemandem über seine Not sprechen, so erleichterte es ihn, im Rausch sich selbst anzureden und unbeantwortete Fragen in die Dunkelheit hinauszubellen.

In einer Mondnacht sah Meta Muhn ihn im Boot über den See treiben. Anton Kuball stand stocksteif. Die eine Hand bewegte mühsam das Ruder. Dann wankte das Boot, kippte, und Kuball fiel wie ein Sack ins Wasser.

Meta schrie laut. Aber niemand hörte sie. Sie ruderte auf den See, aber sie fand nur das treibende Boot. Sie fuhr zurück, stieg aus, saß still die ganze Nacht am Fenster. Sie sagte auch am anderen Tage nichts. Sie machte nur schließlich auf das Boot aufmerksam, das herrenlos trieb.

Drei Tage später fand man Kuball. Er war mit Stricken fest umschnürt. Die Mordkommission verhaftete acht Tagelöhner und mußte sie wieder laufen lassen. Meta sagte nichts. Sie atmete nur auf, als niemandem der Prozeß gemacht werden konnte. Sie hatte für ihren Anton wenigstens das christliche Begräbnis gerettet.

Mit großer Musik, Fahnen und vorangetragenem Ordenskissen wurde Anton Kuball zur letzten Ruhe geleitet. Arm in Arm mit Meta ging Frau von Maltrup hinter dem Sarg. Aber nur Meta durfte den Witwenschleier tragen.

Zwei Jahre lang blieb sie noch in Brückenau. Innig befreundet mit der Gutsherrin. Dann starben im gleichen Jahr Anton Kuballs Vater und dessen kümmerlicher Nachkomme, Lieschens Sohn. Meta Kuball zahlte Lieschen Ferdes eine Abfindung und zog als Herrin auf Anton Kuballs Erbe ein.

So kam das Bild der Moorprinzessin wieder an seinen Platz, und drunter hängte Meta das kleine Bildchen, auf das Anton in der Nacht nach seiner Konfirmation das rote, von drei Pfeilen durchbohrte Herz getuscht hatte. Das „Ich“, das Anton an einen der Pfeile kritzelte, war fast ausgelöscht. Meta hätte auch nicht wissen können, was es bedeutete und daß von dieser ersten Selbstanklage her eigentlich schicksalsstreng das Leben Anton Kuballs in den Freitod führte. Ja vielleicht war alles andere Leben, das voll Schuld und Verstrickung schien, nur Schnörkel, Ausdeutung und Umweg.

Unglaubhafter Lebenslauf einer Diebin

1

Am 22. Mai des Jahres 1901 macht die Probierdame Elli Ritter, eine stattliche Vertreterin der 46er Größe, mit ihrer Freundin Bischof einen Ausflug nach Werder bei Berlin.

Es versteht sich von selbst, daß dieser Blütensonntag verregnet. Ein heftiger Ostwind zerrt an den langen Röcken der Frauen, verbiegt die federgeschmückten Strohhüte, bläst die Regenschirme zu Tüten um.

In dem Fruchtweinlokal von Möstmann sind nur noch wenige Stühle frei. Unsere Damen setzen sich zu zwei blauhaarigen Südländern. Der eine schenkt Erdbeerwein ein, lacht Elli an und zeigt dabei ein blendend weißes, starkes Tiergebiß. Sprechen kann man nicht miteinander, aber der Lärm der Blechkapellen und der humorbeflissenen Berliner ist ohnehin so groß, daß man sich am besten im Tanz verständigt.

Um elf Uhr ist die Bischof mit ihrem Kavalier verschwunden. Kurz nach zwölf steht Fräulein Ritter in einem fremden Hotelzimmer vor dem Spiegel. Der Hut ist verrutscht, das Kostüm verregnet. Das Gesicht gedunsen und erstaunt.

Der Südländer betritt das Zimmer in einem lila seidenen Pyjama. Elli hat noch nie einen so bunt verkleideten Mann gesehen. Lachend und erschüttert zugleich wirft sie sich ihm an den Hals.

Am andern Morgen findet sie sich allein. Sie greift erschreckt nach ihrer Handtasche. Es sind fünfzig Mark mehr drin als am Abend vorher. Etwas verlegen fährt sie zur Arbeit. In der überfüllten Elektrischen schläft sie ein. Sie träumt von einem Maulwurf mit Menschengesicht. Spitzschnäuzig, samtfellig. Als sie am Hausvogteiplatz aussteigt, merkt sie, daß sie das Gesicht des Fremden vergessen hat.

2

Zwei Monate später stellt Elli Ritter fest, daß es vernünftiger ist, zu heiraten. Sie nimmt den Uhrmacher Willi Besser, einen kleinen rothaarigen Mann mit erstaunten Augen und träumerischen Bewegungen. Er ist ein Grübler und Bastler, der jede Erfindung mühsam noch mal erfindet und mit dem Welträtsel von Häckel unter dem Kopfkissen schläft. Sie nimmt ihn, weil er einen kleinen Laden in der Grünstraße hat. Er läßt sich von ihr zum Traualtar ziehen, weil er ihre Größe und Breite anziehend findet.

Vom ersten Tage an gibt es Streit. Besser verdient nicht genug. Elli will nach ihrer Verheiratung nicht arbeiten. Beide hatten es sich anders gedacht. Der kleine Tiftler findet die schnell fortschreitende Schwangerschaft unnatürlich. Er kauft sich geheimnisvolle Broschüren, die er nachts im Laden beim Schein der Straßenlaterne liest. Er läßt seine Frau untersuchen und begleitet den jungen Arzt heftig redend bis zum Spittelmarkt.

Am 25. Februar 1902 wird ein schwarzhaariges, bronzehäutiges Mädchen geboren. Willi Besser legt es in die Wiege und schaukelt es, bis es schreit, schaukelt weiter, weil es schreit. Er sieht sich im Spiegel sitzen, ein kleines, trauriges Männchen. Er würde gern bleiben. Hätte Elli nur was gesagt. Er kennt das Leben. Er ist kein Unmensch. Aber so?

Um drei Uhr steht er seufzend auf, packt im Laden seine paar Sachen und sein Handwerkszeug zusammen, legt einen Zettel auf Ellis Nachttisch, bindet dem Kind ein Beutelchen um den Hals, in dem ein Zwanzigmarkstück ist, und geht ab.

Elli ruft am andern Morgen ungeduldig. Die Nachbarin kommt. Die Frauen sehen den Zettel. Elli breitet das Dokument auseinander und liest feierlich: „Det jloobste alleene nich“.

3

Elli Besser ist zu füllig geworden, um noch „als Probierdame zu gehen“. Sie näht für Gwinner & Co. Mäntel. Die Nähmaschine rattert im Laden. Nebenbei läuft ein kleiner Handel mit Streichhölzern, Zigaretten und billigem Parfüm. Die Tochter Käthe wächst in diesem Laden auf. Ein paar Uhren hängen noch an den Wänden, unverkäufliche Stücke und solche, die in der Reparatur vergessen wurden. Dazu ein kleines Bild Bessers. Elli hat seinen Abschiedszettel druntergepappt, der langsam gilbt. „Det jloobste alleene nich“ ist das erste, was Käthe entziffert, als sie lesen lernt.

Das kleine Mädchen hat keine Spielkameraden. Sie ist schweigsam, zu Tränen und Zorn geneigt. Sie findet es schön, daß sie eine dunklere Haut hat als die anderen, und kann nicht begreifen, daß man sie verächtlich den „Mohrenkopp“ nennt.

Elli Besser verfolgt gespannt das Größerwerden ihrer Tochter. Langsam steigt das Gesicht des Südländers wieder aus dem blinden Hotelspiegel auf. Stirn, Augen, Haarfarbe, Hautfarbe, später auch das herrliche weiße Tiergebiß — alles ist von ihm. Als habe er das Kind ohne den Umweg über die Mutter in die Welt gesetzt.

Käthe lernt, daß sie eigentlich „irgendwo im Süden“ zu Hause ist und nichts im Laden und in der dunklen Kochstube dahinter zu suchen hat. Sie wird durch die Warenhäuser geschleppt. Kann bald Billiges von Teurem unterscheiden. Reiche und Arme werden ihr vorgestellt als Faule und Fleißige. Fleiß, Armut und Dummheit scheinen dasselbe zu sein. Ziemlich spät lernt sie die Natur kennen, oder wenigstens jene nächste Umgebung Berlins — das Wasser, die Kiefern und die Brombeergebüsche —, von der die Reichen sich ein Stück zu eigenem Gebrauch abschneiden, um es mit Blumen und Häusern zu bepflanzen.

4

Mit dreizehn Jahren kommt Käthe aus der Schule. Sie will schnell Geld verdienen, hängt sich einen kleinen Bauchladen um und verkauft in der Friedrichstraße die billigen Parfüms, Streichhölzer und Zigaretten aus dem Laden der Mutter.

Trotzdem sie sich schäbig anzieht, sieht sie entzückend aus. Ein Madönnchen, das zarte Gesicht von buntem Tuch eingerahmt, ein schmaler Körper, dessen frühreife Fraulichkeit aus den Kinderlumpen scheint.

Sie verkauft ausgezeichnet. „Unsre südliche Jöre“ wird der Liebling der Kleingewerbler dieser Straße. Die Nachtportiers, die Kellner, die Dirnen schieben ihr Kunden zu oder kaufen bei ihr zu ermäßigten Preisen. Die Anzüglichkeiten der flanierenden Männer scheint sie nicht zu verstehen. Sie verkauft wirklich nur ihre Ware.

Eines Tages greift ein betrunkener alter Herr sie tätlich an. Käthe zertrümmert in einem Zornanfall mit ihrem Laden den steifen Hut des Alten und bearbeitet seinen kahlen Schädel mit einem aufgerafften Pflasterstein. Es entsteht ein Riesenauflauf. Käthe und ihr Angreifer müssen auf die Polizeiwache. Etliche Passanten drängen nach. Bezeugen die Berechtigung der Abwehr. Am heftigsten gestikuliert zu ihren Gunsten Professor Dr. Selbiger aus Dresden, ein spitzbärtiger Menschenfreund, durch Paßkarte als Oberrealschuldirektor ausgewiesen.

Acht Tage später reist Käthe, durch Selbiger mittels einer bedeutenden Summe vom Mutterherzen losgerissen, nach Dresden, wo sie in einer Villa halbwegs Hellerau von der runden, freundlichen Frau Selbiger und ihrem eckigen Sohn Thomas in Empfang genommen wird.

5

Käthe bewohnt ein Zimmer im zweiten Stockwerk mit Blick über den großen Garten ins Elbtal. Sie führt das Leben einer höheren Tochter, verschärft durch das allseitige Ringen um ihre Bildung, gemildert durch die Liberalität des Ehepaares Selbiger und durch den soliden Reichtum des Haushaltes.

Die Dresdner Kulturbestrebungen haben für Käthe kein Interesse. Die sozialen Bemühungen Selbigers sind ihr schleierhaft. Sprachen und Naturwissenschaften lernt sie leicht. Sport macht ihr Spaß. Im Tennis wird sie Meisterin von Dresden. Sie ist kurzberockt und überschlank, bevor die Mode das wünscht.

Der Krieg geht an der Villa fast unbemerkt vorüber. 1917 stirbt Elli Besser, die Mutter. Käthe nimmt es zur Kenntnis.

Beim Ausbruch der Revolution ist der achtzehnjährige Thomas auf seiten der Aufrührer, während Käthe dafür ist, den Besitz zu verteidigen. Sie streitet mit Thomas nächtelang. Entdeckt, daß er ein hübscher Bursche geworden ist. An seiner Menschenliebe entzündet sich eine heftige Leidenschaft. Als die Eltern im Sommer verreisen, bleiben die beiden allein im großen Haus, finden sich, führen vier Wochen eine verliebte, spielerische Kinderehe. Sie verbergen den rückkehrenden Eltern nichts. Es ist ihnen klar, daß sie heiraten werden.

Selbigers rasen, als sei die schlimmste Blutschande geschehen. Käthe wird mit drei Koffern, einem Billett Zweiter und hundert Mark bar nach Berlin entlassen. Thomas Selbiger bindet sich einen Stein um den Hals und versucht sich in der Elbe zu ertränken. Man zieht ihn rechtzeitig heraus. Er fiebert wochenlang, schreit nach Käthe. Liegt dann einen Monat, ohne zu sprechen, still im Bett. Hat schließlich heraus, daß es wirklich gut ist, wenn er Käthe nicht heiratet, trotzdem er nie wieder eine Geliebte von so natürlicher Süßigkeit finden wird. Weiß aber auch, daß man so nicht liberal sein kann, so nicht menschenfreundlich wie Professor Dr. Selbiger, sein Vater. Thomas reist nach Hamburg, kommt durch Empfehlung auf einem Dampfer unter, reist anderthalb Jahr zur See und stirbt in Java an der Malaria, ein Jahr bevor Käthe dorthin kommt.

6

Käthe geht als Zimmermädchen in ein Hotel. Das schlimmste ist, daß sie mit zwei andern Mädchen zusammen schlafen muß, zwei unsauberen, dummen Dingern, die nur von Männern und von Trinkgeld sprechen und nicht dulden, daß man nachts ein Fenster aufmacht.

Manchmal wird Käthe wach, weil sie sich nach ihrem Dresdener Zimmer sehnt, nach dem Geruch des Gartens und dem Blick ins Elbtal. An Selbigers denkt sie weder im Guten noch im Bösen.

Ein Jahr geht herum. Ein zweites. Der Winter 1922/23 beginnt. Die Inflationswelle schwemmt immer mehr Ausländer nach Berlin. Sie sind gewöhnt, daß sie für ihr gutes Geld alles kaufen können. Käthe Besser ist so schön geworden, daß nur die Plumpsten ihr Dollars und Gulden anbieten. Aber schöne Kleider könnte sie bekommen, ein Auto, Schmuck, ein Landhaus bei Friedrichshagen, wenn sie es nur acht Tage mit Mister Veryman bewohnen würde.

Sie will das alles nicht. Sie will auch nicht die Freundin des Chefs werden. Aber er ist schließlich bereit, sie zu heiraten. Sie soll nur beschwören, daß sie nie jemand anderen geliebt hat. Sie denkt ernsthaft nach. Das mit Thomas war doch etwas, was man nicht mit einer so ernsten Heirat vergleichen kann. Sie geht in die Wohnung hinunter, um ja zu sagen, steht im Dunkeln, riecht Samtmöbel, kalten Zigarrenrauch, Leder, staubige Strohblumen. — Nein — da kriegt sie auch keine Luft. Es hat keinen Zweck.

„Ich will nichts beschwören,“ sagt sie am andern Tag dem Chef, „weder meine Liebe, noch meine Unschuld, noch sonstwas. Ich weiß nichts.“

Sie wird zum nächsten Ersten gekündigt. Acht Tage bevor sie gehen muß, bezieht Herr Frans van Stejn, ein vierzigjähriger holländischer Kaffeehändler, das schönste Zimmer in Käthes Etage.

Gleich am ersten Morgen läßt er seine Brieftasche liegen. Käthe hebt sie auf. Das Bild einer fetten, unfreundlichen Dame fällt heraus. Käthe schiebt es zurück. Sie sieht die Scheine dicht an dicht liegen. Sie möchte gern einen herausziehen und einstecken. Es ist fast unmöglich, daß der Fremde einen Verlust merkt. Sie zupft den Schein ein klein wenig hervor, klappt dann eilig die Tasche zu und streckt sie erschreckt dem Holländer entgegen, der atemlos in der Tür steht.

Herr van Stejn verbeugt sich blaß und aufgeregt. Er hat ganz gut gesehen, daß sie stehlen wollte. Aber er lügt es eiligst weg. Wie schön ist diese Frau! Endlich nach all den blassen Gesichtern ein bronzebraunes wie auf Java!

Stejn ist so groß, daß er sich ein wenig auf die Knie niederlassen muß, um den Glanz der dunkelgelben Augen zu bewundern, die zarten schwarzen Brauen und das helle Rot der Lippen.

„Ich liebe Sie“, sagt er leise und trocken, hebt sie auf und trägt sie wie ein Kind im Zimmer hin und her. Käthe Besser sagt nichts. Ihr ist aber, als könne sie nach Jahren der Schlaflosigkeit endlich einschlafen.

7

Die nächsten zweieinhalb Jahre lebte Käthe Besser ganz einsam in Surubaja auf Java. Frans van Stejn hat fünf Minuten von seinem Haus, beschattet von Palmen und Bananenbäumen, versteckt in einem dornigen Unterholz, eine kleine Sommervilla. Dort wohnt Käthe, bedient von drei Boys und zwei eingeborenen Mädchen.

Tagsüber vervollkommnet sie sich im Englischen, Französischen und Spanischen, liest bald in allen Sprachen die Zeitung, streicht an, was für den Kaffeehandel wichtig ist. Manchmal geht sie unter Mittag ans Meer, wenn nur Eingeborene am Wasser sind, und sieht den Schwammtauchern zu, den Korallenfängern und den Fischern. Von einem der Boys lernt sie klettern. Mit einem Strick und bloßen Füßen stemmt man sich die glatten Palmenstämme hinauf. Es gibt nichts Schöneres, als sich mit der Palme vom Mittagswind wiegen lassen. Der Freund darf von diesen Kunststücken nichts wissen. Er würde ihr klarmachen, daß die Europäerwürde in den Tropen etwas Besonderes ist.

Frans van Stejn kommt abends oder spätestens nachts um eins. Er ist immer weiß gekleidet, manchmal trägt er den Tropenanzug mit den weißen Leinengamaschen und dem Korkhelm, manchmal den weißen Smoking, weiße Perlmutterlackschuhe und einen hellen Strohhut. Er ist immer freundlich, höflich und ziemlich schweigsam. Manchmal packt er zu, als wolle er wehtun. Aber wenn Käthe aufschreit, ist er beschämt und zärtlich. Sie leben still und nett miteinander. Langsam kommt heraus, daß Stejn zum erstenmal liebt und nicht weiß, wie er sich dazu stellen soll. Im Herbst 1926 rücken die Entscheidungen an ihn heran, die er so lange hat von sich weghalten können.

Sein Gesicht, das sonst immer jungenhaft freundlich und rosig war, wird gelb und überanstrengt. Seine Frau ist unterwegs. Er muß es eines Tages doch Käthe sagen. Denn sie wird in wenigen Wochen eintreffen. Er zieht ihr Bild aus der Brieftasche und zeigt es. Käthe hat es schon im Hotel gesehen. Aber sie betrachtet es mit neuer Anteilnahme.

Der Kaffeehändler schwört, daß er sich scheiden lassen will. Frau van Stejn ist geldgierig, also wird es gehen. Stejn kann nicht mehr ohne Käthe leben. Er will sie nur noch eines fragen, bevor sie ganz einig sein werden. Er wird es ihr sehr bald sagen. Noch kann er es nicht. Immer wieder träumt er davon, wie er sie zuerst sah. Mit zwei Fingern einen Schein zupfend. Wollte sie ihn bestehlen? Er wagt doch nicht, zu fragen. Wenn sie nun ja sagt? Er kann doch nicht eine Diebin heiraten und kann auch nicht von ihr lassen, wenn sie eine Diebin war. „Mein liebes Teufelchen“, sagt er dann immer zum Schluß und schläft in ihren Armen ein.

Fünf Tage vor der Ankunft Frau van Stejns bekommt er das Sumpffieber. Er schreit und schlägt um sich. „Hast du mich im Hotel bestehlen wollen?“ ruft er und küßt die Finger, die den Schein gezupft haben. Käthe nickt. Er will etwas aufschreiben. Er vergißt es nur immer wieder. „Teufelchen soll alles erben“, kritzelt er dann, bevor er stirbt.

Als Frau van Stejn ankommt, ist ihr Mann schon begraben. Sie findet beim Ordnen des Nachlasses eine Seite des Tagebuchs in Schönschrift vollbeschrieben: „Käthe ist eine Diebin. Käthe ist eine Diebin.“

Das scheint ihr Handhabe genug, gegen die Geliebte des Mannes vorzugehen. Sie läßt durch die Polizei Käthes gesamten Besitz sicherstellen. In der Sommervilla bleiben nur ein paar Kleider, ein Koffer, die französische, die englische und die spanische Grammatik.

Ein Anwalt bietet Käthe seine Hilfe an. Sie ist ganz erstaunt. Sie will sich nicht wehren. Wenn Frans nicht besser vorgesorgt hat, soll es ihr nicht besser gehen. Was sie machen will? Sie will nach Berlin zurück. Frans vergessen. Vergeblich sucht der Anwalt ihr klarzumachen, daß sie doch ohne Mittel niemals nach Berlin kommen kann.

8

Im Mai 1927 läuft der Dampfer „Güteborg“, Kapitän Fredrichsen, Surubaja an. Er hat die Route Ceylon, Aden, Port Said, Neapel, Hamburg, Kopenhagen.

Eine Stunde vor der Abfahrt betritt Käthe Besser das Schiff in einem crêmegelben Spitzenkostüm, tief verschleiert. Der Boy, der sie auf die Palme klettern lehrte, trägt den bescheidenen Handkoffer.

Sie läßt sich beim Kapitän melden, steht schmal und klein in der Kajüte. Sie will ohne Geld nach Deutschland. Fredrichsen zuckt die Achseln. Käthe schlägt den Schleier zurück. Der Kapitän errötet. Welche Augen! Er liebt sie schon. Er ist zu allem bereit, wenn sie ihn nur wiederlieben will.

Käthe sieht sich kummervoll den alten Seemann an. Das rostbraune, gefurchte Gesicht mit dem weißen Schnurrbart, die breiten Schultern, die sich schon nach innen krümmen, die behaarten Hände. Dann schließt sie die Augen müde, öffnet und schließt sie noch einmal. Mausgrau blinken die Augendeckel im bronzenen Gesicht. Dann entblößen sich langsam die Zähne. Wahrhaftig: da es sein muß, lächelt sie.

Käthe lebt in der engen Kajüte. Man hört tags Menschen laufen, Musik, Geschrei. Wasser sieht sie vorbeigehen und ab und zu ein anderes Schiff. Spätabends darf sie eine Stunde neben dem Kapitän oben im Steuerhaus sitzen. Fredrichsen ist rasend vor Liebe und Eifersucht. Wenn er nachts zu ihr kommt, schwankt er in seiner Erregung wie ein Betrunkener.

Wochen gehen hin. Man kommt nach Aden. Das Schiff stolpert langsam durchs Rote Meer. Draußen, drinnen, tags, nachts ist es bleiern heiß. Käthe liegt auf nassen Laken in der Kajüte. Nie, denkt sie, wird das vorübergehen. Es wird bleiben, wenn es auch vorbei ist.

Als das Schiff eines Nachts für zwei Stunden in Suakin anlegt, geht sie in einem Anfall von Verrücktheit von Bord. Läuft sinnlos wie im Traum durch die elenden Hafengassen, wird von Fredrichsen eingeholt, zurückgetragen. Er schlägt sie, nimmt ihr die Kleider weg. Weint. Gut, denkt sie, gut, gut. Jetzt heißt es wirklich: Sterben oder Leben. Und sie wählt Leben, indem sie dem Peiniger stöhnend die Arme um den Nacken legt.

9

In Port Said endlich gelingt ihr die Flucht. Sie hat ihr blaues Reisekostüm an, ein weißes Hütchen unter dem Arm und ein Damentäschchen mit Kamm, Zahnbürste und wenigen Gulden. Hinter einer alten Dame betritt sie den Dampfer „Menno“, der mit Kaffee, Bananen und wenigen Passagieren nach Hamburg abgeht. Es gelingt ihr, unten im Verladeraum, sich hinter Kaffeesäcken ein Lager zurechtzumachen. Das Knirschen der Bohnen, der grünfeuchte Geruch erinnern sie an Frans van Stejn. Sie nährt sich von unreifen Bananen. Ein bis zwei täglich genügen ihr. Vierzehn Tage vor Hamburg, auf der Höhe von Neapel, wird sie von dem Obermaat Karl Drübbecke entdeckt, der mal im stillen hinter Kaffeesäcken ausschlafen will.

Drübbecke kämpft einen schweren Kampf. Er möchte die Hilflosigkeit nicht ausnützen, wenn nur die Person nicht so schön wäre. Käthe weiß, daß sie nichts anderes zur Bezahlung hat als sich selbst, und ist bereit, diesen Preis immer wieder zu zahlen.

Drübbecke besorgt ihr eine Hängematte, eine Decke, ein Kerzenstümpfchen, ein Buch „Aus den dunklen Häusern Belgiens“. Er bringt ihr jeden Tag Essen. Er sitzt jede Nacht eine Stunde bei ihr und sieht zu, wie sie schläft. Woher sie kommt, wohin sie geht, fragt er nicht. Er bietet ihr die Heirat an. Ihretwegen will er gern wieder zurück nach Mecklenburg und Knecht werden. Er versteht, daß sie ablehnt.

Als die „Menno“ in die Elbe einfährt, als sie nach soviel Wochen des Schaukelns sanft und seidig dahinstreicht, schenkt Käthe Besser dem Obermaat Karl Drübbecke dankbar und leicht das, was sie ihm von vornherein schuldig zu sein glaubte.

Fast bis Hamburg hält Drübbecke eine leise weinende Frau in den Armen. Er ist verwirrt. War er dennoch gemein? Er kann nicht wissen, daß Käthe durch Drübbeckes Sanftheit wieder Mut hat, ihr Schicksal zu tragen.

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Am 12. Oktober 1927, nachmittags halb sechs Uhr, kommt Käthe Besser an Drübbeckes Arm die St. Pauli-Landungsbrücke herauf. Es ist warm, leicht nebelig und schon etwas dämmerig. Käthe küßt den Matrosen und geht eiligst am Ufer entlang nach der Stadt zu.

Brenkenott, ein gutangezogener Herr, der hier herumspaziert, eigentlich nur, um ein wenig die ausländische Luft der fremden Dampfer zu atmen, an der Geschäftigkeit den eigenen Müßiggang zu ermessen und natürlich auch, um nach jenem Compagnon zu suchen, den er für seine nächtlichen Arbeiten braucht, Brenkenott folgt ihr in zwei Meter Entfernung. Er ist entzückt, wie lautlos und federnd sie geht. Aber er wartet, bis man in die Gegend der Schaufenster kommt, aus deren Spiegelscheiben ihm ein junges bronzebraunes Mädchen entgegengeht, das nun doch immer unsicherer wird, hilflos Straßenschilder liest, die außer ihrem Namen nichts verraten, und in einem Augenblick der Schwäche an einem elektrischen Mast Stütze sucht.

Brenkenott zieht höflich den Hut — es zeigt sich, daß seine Haare auch schon licht werden und an den Schläfen grau —, er reicht ihr den Arm. Sie besteigen ein Auto. Zehn Minuten später verlangt Brenkenott im Atlantic für seine weinende Verwandte ein Zimmer neben seinem.

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