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Die Autoren

Nikos Chilas, geboren 1944, war jahrzehntelang Korrespondent des griechischen öffentlich-rechtlichen Rundfunks ERT in Deutschland und Österreich. Von 1999 bis 2017 berichtete er für die griechische Tageszeitung To Vima. Zurzeit arbeitet er mit dem griechischen elektronischen Magazin Marginalia zusammen. Er war Mitbegründer von FaktenCheck:HELLAS.

Winfried Wolf, geboren 1949, ist Diplompolitologe, Verkehrswissenschaftler und Dr. phil. Er ist aktiv als Chefredakteur von Lunapark21 – Zeitschrift zur Kritik der globalen Ökonomie und verantwortlicher Redakteur von Zeitung gegen den Krieg – ZgK und FaktenCheck:EUROPA – FCE.

Vorwort

»Wir haben mitgefiebert, mitgelitten, mitgestritten: Damals, Ende Januar 2015, als der Wahlsieg von Syriza feststand und die Regierung des Merkel-Freundes Samaras endlich durch ein linkes Projekt abgelöst wurde. Damals im Frühjahr 2015, als Alexis Tsipras und Jannis Varoufakis die zerstörerische Politik der Troika anprangerten. Damals, im Juli, als es beim Referendum das überwältigende OXI gab. Spätestens als die griechische Regierung […] mehrheitlich einem dritten Memorandum mit der Verschärfung der Sparpolitik zustimmten, schieden sich die Geister. War es Verrat? Nur eine Kapitulation? Dann aber eine bedingungslose? Ist Syriza weiter eine linke Partei oder hat sie […] die Seiten gewechselt?“»

So hatte das Vorwort der ersten Ausgabe dieses Buches, verfasst im Februar 2016, begonnen. Das Fieber blieb. Und es blieben Leiden und Disput. In den zweieinhalb Jahren seither wurden offene Fragen beantwortet. Tsipras und Syriza haben sich zu Befürwortern einer desaströsen Sparpolitik gewandelt und das dritte Memorandum bis zum bitteren Ende vollstreckt. Der Austritt aus dem Programm im August 2018 ist nur für Tsipras eine »Erlösung«, wie er dies pathetisch formulierte. Die Mehrheit der griechischen Bevölkerung bleibt bis 2060 im Würgegriff der Troika, die aus der EU-Kommission, der Europäischen Zentralbank (EZB) und dem IWF besteht. In der griechischen »Schuldenkolonie« (Jannis Varoufakis) wird sich die Verarmung der Bevölkerung fortsetzen.

In den Jahren 2016 bis 2018 hat sich auch die Situation in der EU dramatisch verändert. Die Wirtschaftskrise lodert weiterhin unter der Oberfläche und könnte – auch angesichts der unkalkulierbaren Politik von Donald Trump – jederzeit neu aufbrechen. Zugleich hat sich die sogenannte »Flüchtlingskrise« zur neuen Zerreißprobe für die EU als Ganzes entwickelt. Die Maßnahmen gegen die Flüchtlinge, beginnend mit der Schließung der Balkanroute und mit dem EU-Türkei-Abkommen, erweisen sich als Bumerang. Die weitere Zementierung der EU-Außengrenzen führte zur Errichtung von Mauern zwischen den EU-Ländern. Der Fluch der bösen Tat verfolgt unerbittlich die Täter.

Auf diese neuen Entwicklungen gehen wir in der vorliegenden neuen Ausgabe des Buchs ein – allerdings aus Platzgründen oft in knappen und – wie wir hoffen – klaren Formulierungen.

Wir sind nicht nur leidenschaftliche Beobachter der Entwicklung in Griechenland und in der EU. Wir sind als Mitherausgeber der im März 2015 gegründeten Publikation Faktencheck:HELLAS auch praktisch engagiert in der Solidarität mit der griechischen Bevölkerung. Diese Zeitschrift erschien in fünf Ausgaben und am Ende in sechs Sprachen, darunter in einer griechischen Ausgabe als Beilage zur linken griechischen Tageszeitung EFSYN (Zeitung der Redakteure).1 Für die Kooperation mit dieser hervorragenden Zeitung bedanken wir uns vor allem bei Dimitris Psarras vom EFSYN-Redaktionsteam, für die Zusammenarbeit bei redaktionellen Themen sind wir Dorothee Vakalis in Thessaloniki zu großem Dank verpflichtet. Wir gehen davon aus, dass Rebellion und Krise in Griechenland im Zusammenhang mit der Krise der EU stehen und dass es zu einem Aufbrechen dieser Krise mit einem neuen »Fenster der Hoffnung« kommen wird.

Dieses Buch wäre nicht zustande gekommen, hätte es nicht die breite Solidarität mit der griechischen Bevölkerung und dabei jene Publikation FaktenCheck:HELLAS gegeben. Wir bedanken uns bei all denen, die am Zustandekommen dieser erstaunlichen Veröffentlichung mitgewirkt haben, namentlich bei Sebastian Gerhardt, Susanne Rohland, Nadja Rakowitz, Werner Rügemer, Karl Heinz Roth, Mag Wompel, Heino Berg, Margarita Tsomou und Joachim Römer, und bei denen, die die Zeitschrift ins Griechische (Nikoleta Charana), Spanische (Claudia Cabrera), Englische (Christian Bunke), Französische (Bernard Schmid) und ins Italienische (Martina Moog) übersetzten und bei den vielen Menschen, die das Projekt so engagiert unterstützt haben.

Wir bedanken uns bei Erika Kanelutti-Chilas, Andrea Marczinski und Hannes Hofbauer für Lektoratsarbeiten. Lange Gespräche wurden geführt mit: Christophoros Papadopoulos, Abgeordneter von Syriza, mit dem Ökonom Petros Rinaldos Rylmon, mit Panagiotis Lafazanis, Sprecher der Volkseinheit (LAE), und mit Nadja Valavani, der ehemaligen stellvertretenden griechischen Finanzministerin.

Όχι στην εκποίηση της ζωής μας! – Nein zum Ausverkauf unseres Lebens!

Das war die Parole, die in den Tagen des Referendums an vielen Mauern Athens prangte.

Sie gilt heute genauso wie damals.

Nikos Chilas und Winfried Wolf
Athen und Berlin, im September 2018

1. Die deutsche Ausgabe erreichte (alle fünf Ausgaben addiert) eine Auflage von 230.000 Exemplaren. FaktenCheck:HELLAS wurde weiterentwickelt zur Zeitschrift FaktenCheck:EUROPA, von der bisher vier Ausgaben erschienen.

Kapitel 1
Griechenland-Krise und Migrationskrise

Oder: Von der Hetzjagd auf ein neues, altes Gespenst

Nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik gehörte ihr Großvater zu einem Beratergremium der Regierung, das unermüdlich darauf hinwies, dass der endgültige Vertrag mit den Siegermächten niemals Friedensvertrag heißen dürfe, da sonst […] halb Europa mit Reparationsforderungen aufwarten würde. Er hatte Erfolg. Der Vertrag wurde in Zwei-plus-Vier-Vertrag umgetauft. Die Bundesregierung lehnte alle Reparationszahlungen ab. Ad Kalendas Graecas.

Ihr Großvater war aktives Mitglied in der Deutschen Gesellschaft für Politik des Auswärtigen, in der sich alte Nazis, die wichtigsten Industriellen und Banker mit ebenso wichtigen Politikern und Medienleuten verabredeten. Sie las einige der Vorträge, die ihr Großvater dort gehalten hatte: Kontrolle durch Kredite, […] Zahlungsbilanzunterschiede ein Mittel zur Steuerung auswärtiger Politik? […] Wenn sie in Berlin war, arbeitete sie an ihrem großen Plan. Ihrem neuen Leben. In ihrem Kopf formte sich langsam eine Idee. Sie würde den Zweck der Otto-Hartmann-Stiftung umwidmen. Sie würde sich fortan um die Opfer der deutschen Besatzung in Griechenland und Osteuropa und deren Nachfahren kümmern. Sie würde Projekte fördern, die das Anliegen der Opfer zur Sprache brachten. Medienpreise, Jugendaustausch, diese Dinge. Trotz der niedrigen Zinsen warf das Stiftungskapital Jahr für Jahr einen beachtlichen Betrag ab. Sie konnte etwas in Bewegung setzen. Sie arbeitete wie besessen an diesem Plan. »Ad Kalendas Graecas ist vorbei«, schrieb sie und listete die Verbrechen des Großvaters auf.

Wolfgang Schorlau, Der Große Plan1

Frankreich könnte froh sein, wenn jemand das Parlament zwingen würde, aber das ist schwierig, so ist die Demokratie […] Wenn Sie mit meinen französischen Freunden, ob mit [dem französischen Finanzminister] Michel Sapin oder mit [dem Wirtschaftsminister Frankreichs] Emmanuel Macron sprechen, dann haben sie lange Geschichten zu erzählen über ihre Schwierigkeiten, die öffentliche Meinung und das Parlament von der Notwendigkeit der Arbeitsmarktreform zu überzeugen.

Wolfgang Schäuble im April 20152

Am Anfang war es nur ein Spuk. Doch er versetzte Europa in Angst und Schrecken. »Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus«, schrieben Karl Marx und Friedrich Engels im Manifest der Kommunistischen Partei. »Alle Mächte des alten Europa haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dies Gespenst verbündet, der Papst und der Zar, Metternich und Guizot, französische Radikale und deutsche Polizisten.«3

Die Jagd war nicht leicht. Die Hetze ging oft ins Leere. Ein Gespenst ist schwer zu fassen. Allerdings ermöglichte das vage gehaltene Gründungsdokument, in dem die Heilige Allianz erklärte, »den menschlichen Einrichtungen Dauer verleihen« zu wollen, den Rundumschlag gegen jede Art fortschrittliche Position. »Wo ist die Opposition, die nicht von ihren regierenden Gegnern als kommunistisch verschrieen worden wäre?«, fragten die Verfasser des Manifestes.

Gleichwohl war es der Anfang einer neuen Ära der Hoffnung. Einer Ära der Rebellion von Proletariern, die »nichts zu verlieren (haben) als ihre Ketten.« Von Menschen, die »eine Welt zu gewinnen« hatten.4

Nach der Gründung der sozialdemokratischen Parteien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bekam das Gespenst Fleisch und Blut. Entsprechend handgreiflich wurde die Repression. Die Abschlachtung der Pariser Kommunarden 1871 ist ein beredtes Beispiel dafür. Sie wurde exekutiert durch ein Bündnis, wie es aktuell auch in der Eurokrise und in der griechischen Tragödie zur Anwendung kommt: einer Achse Berlin-Paris.

Das Muster, die demokratische Linke so früh, so oft und so gründlich wie nur möglich niederzuschlagen und damit die Hoffnung auf eine Gesellschaft der Solidarität und eine Welt ohne Ausbeutung auszulöschen, wurde seither noch unzählige Male angewandt. So mit der Ermordung hunderttausender Menschen in Indonesien 1965, mit dem Putsch der Obristen in Griechenland 1967 oder mit dem Militärputsch in Chile 1973.5

2015 war es wieder so weit. Erneut wurde das Gespenst identifiziert. Im hochverschuldeten Griechenland hatte eine linke Partei mit Namen Syriza die Regierung übernommen. Dies sollte nicht ohne Folgen bleiben. Die ersten, wenn auch zaghaften Reformen zugunsten der breiten Bevölkerung im Land sowie die Kampagne von Alexis Tsipras und Jannis Varoufakis gegen die Politik der Austerität, verharmlosend als »Sparpolitik« bezeichnet, deuteten auf ein großartiges linkes Experiment. Erneut keimten Hoffnungen in der Linken in Europa auf. Zum ersten Mal nach dem Zusammenbruch der Länder, die man als »real sozialistisch« bezeichnet hatte, wagte eine linke Kraft, den übermächtigen ökonomischen und politischen Interessen des neoliberalen Europas die Stirn zu bieten.

Die Allianz der Gläubiger blies ins Kriegshorn. Es kam zu einer neuen »heiligen Hetzjagd«. Das Kommando führte das deutsche Pendant zu Fürst Metternich – Wolfgang Schäuble. Wobei ein modernes, höchst effektives Waffenarsenal zum Einsatz kam: Anstelle der militärischen setzte die Heilige Allianz der Gläubiger ihre Finanz-Waffen ein. Die Finanztranchen aus dem zweiten Hilfsprogramm für Griechenland wurden eingestellt. Die finanzielle Unterstützung der griechischen Banken seitens der Europäischen Zentralbank wurde gekappt. Die Rebellen wurden in einem ermüdenden Marathon mit einem Dutzend Treffen der Eurogroup und mehreren EU-Gipfeln verschlissen. Das Oxi, das Nein von 61,2 Prozent der griechischen Bevölkerung zum Diktat der Heiligen Allianz, wurde zynisch ignoriert.

Nach zwei Wochen mit geschlossenen Banken kapitulierten die griechische Regierung und das Parlament in Athen. Im Finanzkrieg – einer Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln – obsiegten Schäuble, Dijsselbloem, Draghi und Juncker.

***

»Europa zerfällt«. So lautete Ende Januar 2016 der erste Satz eines Leitartikels in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Weiter im Text: »In rasender Geschwindigkeit verwittert das erträumte Europa, das nicht nur der Generation, die den Krieg er- und überlebte, Hoffnung und Leitstern war auf dem Weg in eine Zukunft der Freiheit, des Friedens und des Wohlstands.« Die Ursachen sieht der Autor in der Eurokrise und in der Migrationskrise: »Schon das Ringen um die Erhaltung der Währungsunion führte den Europäern vor Augen, wie weit die politischen Vorstellungen in der EU immer auseinander liegen können. […] In der Migrationskrise sind die Europäer zu allem Möglichen fähig, nur nicht zu einer gemeinsamen Politik.« Schließlich wird in dem Beitrag die deutsche Kanzlerin als »einsame Europäerin« charakterisiert, umgeben von einer Riege nationalistischer Zwerge: »Zu den bitteren Ergebnissen der Krise zählt, dass die meisten EU-Staaten nicht mehr der deutschen Führung folgen, die in der Euro-Krise noch murrend und knurrend akzeptiert worden war.«6

Könnte es sein, dass beides miteinander in doppelter Weise zusammenhängt? Zum einen wurde in der Euro- und Griechenland-Krise die »deutsche Führung« durchaus als Erpressung und Diktat wahrgenommen. Warum sollten die Erpressten auf Dauer dieser Art »Führung« folgen? Zum anderen dürfte sich die Einsicht verbreiten, dass in beiden Krisen seitens der Berliner Regierung eine Politik betrieben wird, mit der nicht die Ursachen der Krise bekämpft werden, sondern Öl ins Feuer gegossen und damit die Krise vertieft wird.

In der Euro-Krise im Allgemeinen und in der Griechenland-Krise im Besonderen wurde behauptet, man werde die »Krisenursachen« dadurch bekämpfen, dass ein Medikament mit Aufschrift austeritas verabreicht wird. Nomen est omen; das lateinische Wort übersetzt sich als »Strenge«, aber auch als »das finstere Wesen« und als »das Düstere«. Das Beispiel der historischen Weltwirtschaftskrise und aktuell das Beispiel aller Eurozonen-Peripherieländer, denen dieses Medikament zwangsverabreicht wurde, belegen die düsteren Auswirkungen dieser Wirtschaftspolitik: Die Sparpolitik vertieft erstens die Krise, erhöht zweitens die Schulden und steigert drittens Arbeitslosigkeit und Armut.

Auch bei der Migrationskrise heißt es gebetsmühlenartig, man werde nunmehr »die Fluchtursachen bekämpfen«. Tatsächlich boomt der Rüstungsexport in die Krisen- und Kriegsregionen, insbesondere derjenige seitens deutscher und französischer Hersteller von Kriegsmaterial. Die Zahl der Militärmächte, die in den syrischen Bürgerkrieg involviert und dort vor allem mit ihren Luftwaffen engagiert sind, hat sich seit 2014 vervielfacht. Seit Ende 2015 ist dort auch die deutsche Bundeswehr aktiv. Gleichzeitig hofiert die EU die türkische Regierung und gewährt dieser finanzielle Unterstützung in Hinblick auf ein gewünschtes Migrantenmanagement in Milliarden Euro Höhe. Dies erfolgt just zu einem Zeitpunkt, zu dem Ankara in den kurdischen Gebieten einen neuen Bürgerkrieg vom Zaum bricht. Anfang 2018 besetzten türkische Truppen im Norden Syriens Gebiete, in denen die kurdische Bevölkerung neue, fortschrittliche Strukturen errichtet hatte.

Die absehbare Folge von all dem wird sein: Die Zahl der Flüchtlinge, die in eine halbwegs sichere Europäische Union streben, wird zumindest nicht abnehmen. Möglicherweise wird sie nochmals größer werden. Für das Kapital hat das durchaus Vorteile; in Europa im Allgemeinen und in Deutschland im Besonderen gibt es zukünftig ein Heer von Billigarbeitskräften, dem eine neue Lohndumpingfunktion zukommt. Das dürfte auch der Grund dafür sein, warum Angela Merkels Geste von der Willkommenskultur und ihr Statement »Wir schaffen das« bis Anfang 2016 von keinem prominenten Vertreter der Konzerne und Banken kritisiert, wohl aber in der Öffentlichkeit immer kritischer gesehen wird.7

In ganz Europa verbreitet sich die Erkenntnis, dass sich mit den steigenden Flüchtlingszahlen die damit verbundenen Kosten für die Haushalte und politischen Belastungen erhöhen. Es wächst insbesondere die Angst, die Migrationskrise könne unkontrollierbar werden und in der politischen Landschaft zu erdrutschartigen Veränderungen führen. Die Folge ist eine nationalistische Rette-sich-wer-kann-Politik mit immer härteren, ausländerfeindlichen Gesetzen; an den dänischen Grenzen sollen die Sicherheitskräfte den Flüchtlingen jetzt Bargeld und Schmuck abnehmen dürfen, Eheringe sind davon bislang noch, großzügiger Weise, ausgenommen. Es werden immer längere und höhere Grenzzäune errichtet. Es kommt zu einer immer offener betriebenen Politik, die »Festung Europa« mit einer EU-Grenzschutztruppe, für die auch militärische Fähigkeiten geschaffen werden und die sogar in den EU-Grenzländern im Inneren eingesetzt werden sollen, zu »verteidigen«.

Das drohende Ergebnis wird in der Tageszeitung Die Welt unmissverständlich ausgebreitet: »Der Flüchtlingsstrom wird sich zunächst auf die Länder des Westbalkans verlagern. Es wird ein Rückstau entstehen und am Ende dürfte Griechenland, das beim Schutz der Außengrenzen so jämmerlich versagt hat, zu einem gigantischen Flüchtlingsdepot werden.«8 Möglicherweise unbeabsichtigt, doch objektiv geradezu passgenau formuliert das Flüchtlingshilfswerk UNHCR Vorschläge, wonach man in Thessaloniki ganze Flüchtlingsstädte für bis zu 60.000 Personen bauen sollte.9 Bei einem Treffen des Europäischen Rats der Innenminister am 25. und 26. Januar 2016 toppte dies der belgische Innenminister Jan Jambon und forderte die Errichtung eines Lagers für 400.000 Flüchtlinge in Athen.10

Dabei ist die zitierte Unterstellung, Griechenland habe »beim Schutz der Außengrenzen so jämmerlich versagt«, dumm, unverschämt und zynisch. Dumm, weil die griechischen Außengrenzen (noch weniger als zuvor die italienischen) angesichts hunderter griechischer Inseln, einige davon in Sichtweite der türkischen Küste, nicht »geschützt« werden können. Unverschämt, weil es nicht um den militärischen Schutz vor einer Invasion geht, sondern um einen humanen Umgang mit Menschen auf der Flucht. Zynisch, weil damit der griechischen Regierung und dem Militär des Landes kaum verhüllt nahegelegt wird, zur unmenschlichen Politik der »push backs« zurückzukehren, die seitens der damaligen griechischen Regierung unter Samaras und seitens der EU-Grenzschutzbehörde Frontex in der Ägäis bis Ende Januar 2015 praktiziert wurde. Das heißt im Klartext, Boote mit Flüchtlingen sollen wieder ins offene Meer zurückgestoßen und die Flüchtlinge daran gehindert werden, in der EU festen Boden zu betreten. Damit wird dazu aufgerufen, den Tod von hunderten, wenn nicht tausenden Menschen zu planen. Der damalige Migrationsminister Ioannis Mouzalas erklärte gegenüber dem TV-Sender Skai: »Eine solche Politik [der push backs; d. Verf.] ist illegal.« Der Sprecher des griechischen Außenministeriums empfahl der damaligen österreichischen Innenministerin Johanna Mikl-Leitner, die in besonders aggressiver Weise eine »harte Politik Athens in der Flüchtlingsfrage« einklagt, »ihre Worte weise zu wählen« und »mehr über den europäischen Geist als über Machtpolitik in Wien nachzudenken«» Nikos Xydakis, damaliger stellvertretender griechischer Außenminister, stellte klar: »Unser Land schützt seine eigenen und die europäischen Grenzen. Boote mit Flüchtlingen zu versenken, gehört nicht zu dieser Aufgabe.«11

Diese humanitäre Flüchtlingspolitik hat Griechenland mehr oder weniger konsequent weiter verfolgt12 – bis im März 2016 das EU-Türkei-Abkommen für die Flüchtlinge alles auf den Kopf stellte. Dadurch wurde die »Festung Europa« an ihrer südeuropäischen Flanke vollständig zugemauert: Die Flüchtlinge werden generell von der türkischen Polizei mit Hilfe der EU-Grenzpolizei Frontex und von NATO-Schiffen an der Grenze zu Griechenland festgehalten. Jährlich wird nur 72.000 von ihnen, zumeist Syrern, die Weiterreise nach Europa gestattet. Auf jene, denen es noch gelingt, mit Booten auf eine griechische Insel zu gelangen, warten schon die berüchtigten Hot Spots (Registrierzentren), wie jener auf Moria in Lesbos, wo sie auf unbestimmte Zeit interniert werden, nur um dann zumeist in die Türkei zurückbefördert zu werden.

Der »schmutzige Deal« (»Pro Asyl«) hat der Regierung Tsipras nicht wirklich genützt. Die Folge war die Faschisierung der Mittelschichten auf den Inseln, die ihre großen Verluste im Tourismusgeschäft nun den Flüchtlingen anlasten. Von deren unsagbarem Leid in den Internierungslagern war offiziell nicht mehr die Rede. Darüber sprachen andere. »Die Kliniken von Ärzte ohne Grenzen auf Lesbos, Chios und Samos sind überfüllt mit verzweifelten Menschen, die vor Krieg und Gewalt fliehen, und die fürchten, zurückgeschickt zu werden. [...] Jeden Tag behandeln unsere Mitarbeiter Wunden, […] die diese Politik [der EU] geschaffen hat. Nach den Behandlungen können sie nichts Anderes tun, als diese Menschen zurück in die gleichen Zelte, überfüllten Container und in den Schwebezustand zu schicken, die das Leid hervorrufen …«, sagte im März 2018 der Geschäftsführer von »Ärzte ohne Grenzen« in Deutschland, Florian Westphal.13 Die Außengrenzen der EU werden somit zunehmend Orte, an denen die UN-Charta und elementare Formen menschlichen Zusammenlebens außer Kraft gesetzt sind. »Die Isolierung der Geflüchteten […] und die Aussichtslosigkeit, den Flüchtlingsstatus zu bekommen oder zumindest aufs Festland gebracht zu werden […], treiben sie buchstäblich in den Wahnsinn. Die Anzahl der psychisch Kranken wächst ständig.«14

Es war die zweite Kapitulation von Alexis Tsipras vor den Gläubigern. Politisch unterscheidet sie sich nicht wesentlich von seinem ersten Kniefall im Juli 2015 in Zusammenhang mit dem dritten Memorandum. Moralisch ist sie aber die verwerflichste, denn sie setzt die Freiheit und das Leben von Abertausenden schutzberechtigten Menschen direkt aufs Spiel. Damit hat er den point of no return erreicht – eine Rückkehr zu der früheren, humanen Flüchtlingspolitik ist ihm, nach alldem, nicht mehr zuzutrauen.

Die aktuelle Situation in der EU fördert kaum eine Rückbesinnung: Die Flüchtlingsfrage hat die EU an den Rand der Spaltung gebracht. Angela Merkels Plan, die Flüchtlinge nach einem »gerechten« Schlüssel unter den europäischen Ländern aufzuteilen, kommt nicht voran. Schlimmer noch, der bis dato vermeintliche Vasall Österreich schloss seine Grenzen zu Bayern, um die Einreise von Flüchtlingen aus Deutschland zu verhindern. Im Gegenzug drohte der deutsche Innenminister, Horst Seehofer (CSU), entgegen dem Willen der Kanzlerin, ebenfalls mit nationalen Alleingängen. Der Ausweg, den Merkel fand, besteht darin, bilaterale Verträge mit Spanien, Italien und Griechenland zur Rücknahme von Flüchtlingen abzuschließen. Doch dies hat vorwiegend kosmetischen Charakter. Vor allem begünstigen all diese reaktionären und offen oder latent rassistischen Maßnahmen den bedrohlichen Aufstieg offen rechter und faschistischer Strömungen in der EU. Siehe Österreich und Kurz (ÖVP) bzw. Strache (FPÖ). Siehe Italien und Salvini (Lega). Siehe Deutschland, die AfD und Chemnitz 2018.

1. Wolfgang Schorlau, Der große Plan. Denglers neunter Fall, Köln 2018, S. 410f.

2. Nach: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. April 2015.

3. Karl Marx / Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in: Marx-Engels-Werke (MEW), Band 4, S. 461. François-Pierre-Guillaume Guizot war in den Jahren 1840 bis 1848 französischer Innenminister. Fürst von Metternich war in den Jahren 1821 bis 1848 österreichischer Staatskanzler und maßgeblicher Begründer der »Heiligen Allianz«. In der Heiligen Allianz schlossen sich die Monarchien Österreich, Preußen und Russland (und in der Folge die meisten anderen Königreiche Europas) zusammen, um ihre Macht gegen die bürgerliche Revolution, gegen liberale Bestrebungen und gegen das aufstrebende Proletariat zu verteidigen.

4. Ebenda, S. 461.

5. In diesen Zusammenhang gehört auch die Niederschlagung des »Prager Frühlings« durch den Einmarsch sowjetischer Truppen in Prag 1968. Wobei die »Hetzjagden«, die die »Heilige Allianz« von Moskaus Gnaden nach dem Zweiten Weltkrieg u. a. 1956 in Ungarn, 1968 in Warschau und im gleichen Jahr in Prag veranstaltet hatte, nie ein solches Ausmaß an Brutalität erreichten wie die angeführten Hetzjagden im Westen. Nehmen wir das Beispiel Indonesien, ein Ereignis, das in der Öffentlichkeit kaum präsent ist und das sich jüngst zum 50. Mal jährte: In den Jahren 1965/66 wurden in diesem Land zwischen 500.000 und 1.000.000 Menschen, die als Kommunisten bezeichnet wurden, vom westlich orientierten Militär ermordet. Die Kommunistische Partei war in diesem bevölkerungsreichen Land zu einem Hoffnungsträger geworden. Sie hatte die Politik der Blockneutralität unterstützt, die der langjährige indonesische Präsident Sukarno verfolgte. Der Massenmord war vom indonesischen General Suharto befehligt worden, der in der Folge fast zwei Jahrzehnte lang – bis 1998 – das Land diktatorisch regierte. Suharto war ein enger Verbündeter der USA und der bundesdeutschen Regierung.

6. Berthold Kohler, »Was auf dem Spiel steht«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. Januar 2016.

7. Setzt man für Westdeutschland bzw. Gesamtdeutschland über den langen Zeitraum von 1965 bis 2015 die Zahlen der Nettozuwanderung bzw. Nettoabwanderung in einen Bezug zur Höhe der Arbeitslosenquote, dann ergibt sich die folgende Relation: In Zeiten sehr hoher Arbeitslosigkeit ging die Zuwanderung zurück bzw. es gab eine Abwanderung. In Zeiten rückläufiger Arbeitslosenquoten nahm die Zuwanderung zu. 2005 hatte die deutsche Arbeitslosenquote 11,7 Prozent (mit der Rekordzahl von 4,9 Millionen offiziell registrierter Arbeitsloser) erreicht. Seitdem ist sie massiv rückläufig; Anfang 2016 liegt sie bei 2,8 Millionen oder 6,7 Prozent, was 57 Prozent des 2005er-Niveaus ausmacht. In den Jahren mit hoher Arbeitslosenquote lag die Zuwanderung nahe Null; 2007 und 2008 war sie sogar negativ (die Bevölkerungszahl in Deutschland war rückläufig!). Seit 2012 steigt sie wieder an. 2015 erreicht sie ein Rekordniveau. Dass die Arbeitslosenzahlen in Deutschland sich völlig konträr zu denen in den anderen EU-Staaten bewegen, ist bekannt. Die relativ niedrigere Arbeitslosenquote ist letztendlich auch ein Resultat der relativen wirtschaftlichen Stärke der deutschen Wirtschaft, was wiederum in den Nachbarländern die Arbeitslosenzahlen ansteigen lässt. Ganz offensichtlich folgt die Willkommensgeste, die die deutsche Kanzlerin im Sommer 2015 gegenüber den Flüchtlingen aussprach, auch einem kühlen Kalkül deutscher Interessenpolitik. Siehe ausführlich: Quartalslüge in: Lunapark21, Heft 31, S. 4f.

8. Christoph B. Schilz, »High Noon in Brüssel«, in: Die Welt vom 25. Januar 2016.

9. »Griechen fühlen sich als Sündenbock«, in: Süddeutsche Zeitung vom 27. Januar 2016.

10. Der Spiegel vom 26. Januar 2016.

11. Der Spiegel vom 26. Januar 2016.

12. »Griechenland lehrt Europa Menschlichkeit« befand bezeichnenderweise die britische Schauspielerin Vanessa Redgrave im Januar 2016 nach dem Besuch eines Flüchtlingslagers in Athen. (Der Spiegel vom 26. Januar 2016)

13. www.aerzte-ohne-grenzen.de

14. Nikos Chilas, Tsipras Marsch durch die Institutionen der Gläubiger, in: Lunapark21, Heft 41, Frühjahr 2018, S.23.