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Sabine Scholl
Die Füchsin spricht
Roman

Mit fünfzig Jahren können sich Füchse in Frauen verwandeln, mit hundert in Schönheiten oder in Zauberinnen.

Manche verwandeln sich auch in Männer und haben Verkehr mit Frauen. Sie können Dinge aus tausend Meilen Entfernung erkennen, beherrschen die Magie, täuschen die Menschen und verwirren ihre Sinne.

Mit tausend Jahren kommunizieren sie mit dem Himmel und werden zu Himmlischen Füchsen.

Taiping Yulan, 10. Jhdt., zitiert nach Web-Handbuch »Religion in Japan«, http://www.univie.ac.at/rel_jap/an/Religion-in-Japan

Sabine Scholl Die Füchsin spricht Roman

FÜR KAORI

© 2016 by Secession Verlag für Literatur, Zürich
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Alexander Weidel
Korrektorat: Patrick Schär
www.secession-verlag.com

Gestaltung und Satz:
Erik Spiekermann & Robert Grund, Berlin
Herstellung:
Renate Stefan, Berlin
Friedrich Pustet KG, Regensburg
Gesetzt aus FF Franziska, ff Real, Titantwelve
und Fira Mono
ISBN 978-3-905951-81-3
eISBN 978-3-905951-82-0

Eins

WEEPING SONG

Was heulst du?

Weiß nicht. Das ist wie ein Wasserfall, eine flüssige Wand. Es rinnt einfach …

Kikis lange Wimpern fangen Tränen.

Bind dir doch die Haare zusammen!

Nein, lass mich! Das sieht nicht gut aus. Ich brauche die im Gesicht.

Mach die Haare zurück! Das ist schlecht für deine Haut. Dieses scharfe Mittel, mit dem du färbst. Viel zu schwarz!

Aber ich nehme Tabletten gegen Unreinheiten.

Sie knallt die Tür zu, damit Toni merkt, dass sie nicht reden will. Dreht den Schlüssel im Schloss.

Kiki, ich komm rein.

Geht nicht. Zieh mich gerade an.

Kiki, es ist bereits Mittag.

Lass mich! Ich hab’s doch geschafft, mein Abitur. Sogar mit Erfolg.

Ich komm rein.

Nein!

Kiki steht vorm Kleiderschrank und kann sich nicht entscheiden. Hose oder Rock. Bluse oder Pulli, schwarz oder schwarz. Steckt die Stirnfransen mit Spangen hoch, betrachtet ihr Gesicht. Rote Flecken, schuppig flockige Haut. Sie cremt, das Rot wird stärker, Pusteln, sie taumelt zurück, schiebt eine Schlafbrille über die nassen Augen, wirft sich aufs Bett.

Kiki, lass mich rein!

Nein.

Toni drückt kurz die Klinke, gibt dann auf. Zieht sich zurück an den Schreibtisch, krempelt langsam die Ärmel ihrer Bluse hoch. Kämmt das weißblonde Haar mit den Fingern zurück, dreht die Strähne, verstärkt die Spannung, windet das Haar zu einem Knoten, befestigt ihn mit einem Bleistift im Nacken. Rutscht auf der Sitzfläche des Stuhls, sucht die richtige Haltung. Eine, die dem Rücken nicht schadet.

Sie muss eine Bewerbung schreiben, mit dicken Linien ihre Vorzüge unterstreichen, mit Großbuchstaben die Aufenthalte im Ausland herausheben. Worte finden, die ihre bisherige Arbeit mit den Anforderungen des Jobs zwangsläufig und überzeugend verbinden. Die Belüftung des Laptops surrt. Die Mülltonnen im Hof klappern. Sie zählt Leerflaschen mit, die klirrend in den Altglasbehälter krachen, und gibt bei der einundzwanzigsten auf. Aus Kikis Zimmer dröhnt Gesang.

This is a weeping song. Nick Cave? Die Gesänge bilden Zeitschleifen, Knoten, die sich nicht lösen. True weeping is yet to come.

Als nichts aus ihnen fließt, nimmt Toni ihre Fingerspitzen von der Tastatur. Starrt auf die leichten Wellen des blauen Bildschirmhintergrunds. Findet keine Worte. Schnappt ihre Schlüssel. Muss sich bewegen.

Zu Hause zeichnet Kiki die Tränen auf ihrer Wange mit einem schwarzen Schminkstift nach. Greift zum Handy, fotografiert, überträgt das Bild in den Rechner. Vergrößert, zerschneidet die Aufnahme, bis nur ein Flecken Haut bleibt mit schwarzer Schmiere in Tropfenform. Stellt ihr Werk ein, wartet, schaut zur Seite. Schnieft, schaut in den Spiegel.

Ping: ein erstes like, Rosie, ihre beste Freundin, wie immer online.

Ping, ihr Kommentar,

what’s up?

Kiki antwortet nicht, offenbart bloß einen winzigen Ausschnitt ihrer selbst.

Toni inzwischen auf der Parkbank, in der Nähe des Spielplatzes, in den Händen das Telefon. Von der Tochter entfreundet, kann sie lediglich die banalsten Meldungen einsehen, die Kiki versendet. Videos von Menschen und Tieren, die sie nicht kennt, wahllos aus dem Pool von Millionen Hoffnungen auf Aufmerksamkeit gegriffen. Während die Kleinkinder auf der Rutsche nach Mama schreien, streicht Toni über das Display auf der Suche nach schriftlichen Aussagen, an die sie sich halten könnte. Etwas, das Kiki von sich gibt, Signale, die die unsichtbaren Fäden berühren, welche sie mit der Mutter verbinden. Dann piepst das Telefon, eine Nachricht. Toni hofft, dass Kiki sich versöhnen will.

Liest stattdessen:

Hi, erwarte dich, zwischen

eins und halb vier. Fritz

DAS VERBORGENE ZIMMER

Toni schiebt die leicht knarrende Tür auf. Der Mann vor der Espressomaschine, sogar dafür hat er gesorgt, stellt seine Tasse ab, tritt ihr entgegen, lächelnd unter seinem immerblonden Schopf. Fasst sie am Arm, sein heller Singsang schmeichelt, hohe Stimme, die sie an Männern normalerweise nicht mag. Zum Ausgleich verfügt Fritz über breit trainierte Schultern, einen muskulösen Bauch, kräftige Schenkel, und seine Lippen sind erstaunlich weich.

Außerdem ist nicht die Stimme der Grund, weswegen sie ihn aufsucht, sondern das fassbare Fleisch. Der Geschmack frischen Kaffees dringt auf schnellstem Wege an ihr Herz. Der Puls beschleunigt und ihr Atem drängt an seinen.

Toni greift ihm unters T-Shirt, nestelt den Stoff hoch, erhitzt und feucht die Haut. Seine Achseln duften. Sie stöhnt in sein Ohr, als er in ihren Rockbund greift. Ihr Körper lässt sich befingern, entkleiden, entspricht seinem Dringen und vergisst sich an seinem Körper und er an ihr, die Augen geschlossen. Und jedes feinste Rühren seines Geschlechts wird zu einem blendenden Strahlen, das sich ausbreitet in ihr.

Als sie später nackt, keuchend, raum- und zeitvergessen übereinanderliegen, die Handys abgeschaltet, durchbricht aufgeregtes Läuten ihren Atem. Der Wecker, vom Liebhaber jedes Mal vorsorglich gestellt, bevor Toni ins Zimmer tritt, das sonst keiner der Angestellten kennt. Einzig Fritz überblickt die Gesamtheit des Universitätsgebäudes. Er ist Wärter in diesem jahrhundertealten riesigen Haus, das durch Zu- und Umbauten unübersichtliche Verwinkelungen und Querverbindungen erhalten hat, die nur Fritz auswendig läuft. Der über Schlüssel zu allen Zimmern verfügt.

So hatten sie sich getroffen. Toni – frisch die Stelle an der Universität angetreten, Begrüßungs- und Einweisungsgespräche überstanden – wurde auf der Suche nach einem Regal fürs Büro an Herrn Meister verwiesen und traf in der Lobby einen Mann, der ihr flüchtig bekannt vorkam, etwas kleiner als sie, aber mindestens so blond, der sie um vielfache Ecken leitete. Treppauf, treppab, wobei sie sein Hinterteil betrachtete und nachdachte, woher sie dieses und sein Gesicht mit markanten breiten Kieferknochen in Erinnerung hatte. Von früher. Früher hieß mittlerweile vor mindestens zwanzig, wenn nicht gar fünfundzwanzig Jahren, wenn sie ehrlich war.

Aber ehrlich will sie gar nicht sein. Gefragt nach ihrem Alter, schwindelt Toni und zieht, während sie erzählt, lieber ein paar Jahre ab. Obwohl dann einiges in den Anekdoten aus ihrem Leben nicht zusammenpasst. Besonders trickreich ist die Erwähnung von Songs und Bandnamen. Da ist leicht herauszufinden, wann diese bekannt wurden, und damit auf das wirkliche Alter der Erzählerin zu schließen. Aber gut. Mit Fritz tastete Toni sich vor allem an bestimmte Orte heran. Eine Bar, im Westen, war ja nicht anders möglich, ein gemeinsames Lokal, Café M, früher Mitropa, und dann Risiko, Dschungel wahrscheinlich. Zu einer Zeit, als jeder jeden grüßte, obwohl man sich bloß vom Sehen kannte. Als jeder eine Künstlergeschichte mit sich spazieren trug und hoffte, dass alle daran glaubten.

Nach dem geglückten Wiedererkennen und labyrinthischen Wegen durchs alte Gebäude der Universität gelangten Fritz und Toni ins Lager. Sie strich mit dem einstigen Thekennachbarn durch Reihen aufeinandergestapelter Schreibtische, ausrangierter Stühle, Glasvitrinen, Schaukästen verschiedener Längen und Breiten. Fixierte sich auf ein dunkles, aus schwerem Holz gefertigtes Regal. Das wollte sie haben. Fritz musterte sie, und die erste Verlegenheit, dass sie nun nicht mehr gleich waren, dass Tonis Position deutlich über seiner war, war rasch überwunden. Weil Toni nichts ahnte von Machtverhältnissen und Allianzen und wer mit wem in diesem Haus paktierte und daran nicht glaubte, naiv, wie sie war, erwiderte sie Fritz’ Grinsen. Wir sagen uns du, meinte sie. Wir kennen uns ja.

Gerne. Meine Leute bringen das Regal in dein Büro. Das tragen wir jetzt nicht sofort hoch.

Muss ich dabei sein?

Nein, nein, wir haben Schlüssel für alle Räume. Auch für deinen.

Danke. Wir sehen uns.

Ja, wenn du was brauchst, jederzeit.

Zum Abschied küssten sie sich bereits auf die Wangen.

Und schließlich die Überraschung, eine Woche später zu Semesterbeginn, dass Toni gar kein eigenes Büro hatte. Ihr Schreibtisch befand sich gegenüber demjenigen Werner Dietmanns. Das Bücherregal hat auf gar keinen Fall Platz, behauptete der, weil die Bilder seines Kindergartenfreundes an den Wänden hingen. Fritz zuckte daraufhin mit den Schultern und meinte, Kollege Dietmann ist länger im Haus, das heißt, er bestimmt. Ich mische mich nicht ein.

Aber ich brauche das Regal.

Musst ja nicht alle deine Bücher hierherschleppen, erwiderte Werner. Wir benötigen nämlich Platz für Sitzungen und Gespräche mit Studenten.

Und Studentinnen. Trotzte Toni.

Dietmann lachte. Der rötlichgelbe Schnauzer zitterte über seinen durch Barthaare halb verborgenen Lippen.

Meinetwegen. Ich habe nichts gegen das Binnen-I.

Er beugte sich mit breiten Schultern über seine Unterlagen. Wie auch Toni.

Sie versteht nicht, warum ihr Vertrag endet und nicht seiner.

Flüchtet in Fritz’ geheimes Zimmer wie in einen Schutzraum, sobald er Nachrichten schickt. Regelmäßig legt Toni sich zum Hausmeister aufs Sofa, mittags zur Pause, nachmittags zur Freistunde.

DER RÜCKEN

Toni bestellt das günstigste Mittagsmenü. Hauchdünne Scheiben Rote Bete in Balsamicoessenz mit Kräutern, dazu Kürbiskernbrot, eine leichte Suppe mit verschwindend kleinen Bröckchen Fisch. Kärglich, aber zum Sattwerden hat sie keine Zeit. Sie muss ins Seminar, wo sie zu spät eintrifft und sich dennoch allein im Klassenraum befindet. Nach und nach trudeln Studenten durch die Tür: Maria, Katharina, Isabelle, Lene, Marko, Lorenz, Jan, Paul, Robert und Iris verstauen Tabak, Trinkflaschen, raschelnde Tüten mit Brötchenresten, Rucksäcke, Jacken.

Sie schielt auf die zu kleinen Buchstaben ihrer Unterlagen. Dunkel verschwommene Flecken, zu vagen Ketten gereiht, greift unwillig nach der Brille. Altersweitsichtig, eine Frechheit, dieser Ausdruck, gehört geändert! Streicht am Text herum, der heute besprochen wird, eröffnet die Runde.

Sie rückt am Stuhl, der zu starr ist, zu hart. Lehnt sich zurück, dreht sich nach links. Ein stechender Schmerz auf der rechten unteren Seite antwortet ihrer Bewegung. Sie zuckt, zieht scharf Luft ein. Der Rücken meldet sich. Sie sitzt falsch. Ohnehin ist Sitzen meist falsch. Sie ruckelt, atmet tief ein, versucht sich auf das Gespräch zu konzentrieren.

Dann erneut elektrischer Schmerz rechts über der Hüfte. Tonis Berufskrankheit: zu Anfang des Studiums noch vor der mechanischen Schreibmaschine sitzend, in Konzentration krampfend, Beine übereinandergeschlagen, von unten gegen die Tischplatte gepresst. Flacher Atem, den Körper abgestellt während des Denkens. Dieses Lungern, Sich-Verdrehen, um die Gedanken auf Papier, aus dem Kopf heraus über die Tasten in die Maschine zu meißeln. Zehen zu einem Muskelbogen gespannt, und der Nacken, die Schultern werden hart im Stieren auf die Schlange von Wörtern.

Und später, endlich am Computer mit Fingerspitzenschlag, der nicht die Gelenke, dafür aber das Atmen, die Augen beeinträchtigt. Und immer, sobald es kritisch wird, zeitknapp oder konfliktbeladen, beansprucht eine bestimmte Stelle in ihrem Rücken Aufmerksamkeit, legt Toni lahm, verbringt sie auf den harten Boden. Sie hat schon Sprechstunden absolviert, flach auf dem Bürosofa, das eigentlich Werner Dietmann zum Mittagsschlaf dient. Schmerz macht sie gehunfähig, denkuntauglich.

Nun, als erste Maßnahme, prüft Toni, während sie versucht, der Diskussion zu folgen, die Position ihrer Beine.

Nur nicht übereinanderschlagen! Sperrt das Blut ab, verzieht die Muskeln bis in den Unterleib!

Sie rutscht auf der Sitzfläche des Stuhls vor, stellt die Beine gerade nebeneinander, konzentriert sich auf die Fußsohlen am Boden. Setzt fort. Nach einer weiteren halben Stunde Gespräch vergisst Toni abermals, wie sie sitzt, besinnt sich, öffnet die Schenkel.

Breit wie ein Bauer! Lautet die Anweisung des Physiotherapeuten. Sie stöhnt auf. Schmerz schießt blitzartig in die Schambeuge.

Sie braucht dringend eine Tablette. Bricht den Unterricht ab. Raunen, Rascheln, Tuscheln, Fenster aufgerissen, Frischluft.

Bis nächste Woche.

Sie quält sich die Treppen hinunter, braucht Auslauf. Humpelt ohne Jacke aus dem Gebäude, Muskeln verzogen. Noch wirkt die Tablette nicht, eine Runde gehen, bis sich die Verkrampfungen lösen. In ihrer Tasche zirpt es. sms von Kiki:

Wann kommstu? Träumte heut

nacht v oktopus. Kaufstu

tampons u haarfarbe? Bitte.

TINTENFISCH

Toni überquert die dicht befahrene Straße, läuft den Weg am Kanal entlang. Sorgt sich. Bereits als kleines Mädchen wurde Kiki nachts von Meeresmonstern verfolgt. Früh erfanden sie ein Gegenritual. Es war Georgs Idee, die Tintenfische in allen möglichen Zubereitungsformen zu verspeisen, um den Bann zu lösen, die Fressordnung umzukehren: Tintenfischbällchen am Spieß. Gefüllte Sepia. Frittierte Tentakelringe. Babyoktopusse. Gekochte und mit der Schere in Scheiben geschnittene Fangarme in Olivenöl, mit Paprika bestreut. Sie hatten alles probiert. Das Kind aß mit Vergnügen, was aus dem Meer kam. Und als sie zusammen in Japan lebten, gab es davon genug.

Gleichzeitig fürchtete Kiki starke Wellen und Algen, die sie beim Schwimmen berührten. Schreckte vor riesig runden, schwabbeligen, zuweilen Gift spritzenden Quallenklumpen zurück. Und so gern sie tauchte und schwamm, scheute sie dennoch den dunklen Grund unter Wasser.

Das sind nur Meerespflanzen, die das Wasser verfinstern. Das ist hier nicht so tief. Schau mal, die Gräser bewegen sich mit der Strömung. Nein, nein, da geht es hinunter. Ich hab Angst! Bitte, Mama, schwimmen wir zurück!

Kiki klammerte sich an Toni, schnallte erbarmungslos die Arme um ihren Hals. Das Kinderzappeln störte ihre Schwimmzüge, sodass sie selbst fast in Panik geriet. Sie hatte Mühe, mit Kiki am Rücken ans Ufer zu gelangen.

Und wie oft sie nachts von Schreien und Heulen gerufen worden war. Hilfe, Mama, der Kalamar! Der Kalamar frisst mich!

Das wild um sich schlagende Kind war schwer zu beruhigen, entwickelte unsägliche Kräfte, krampfte die Finger um ihre Hand, ließ Toni nicht los. Und sie durfte sich keinen Zentimeter von ihrem Bett fortbewegen, sonst schlief Kiki nicht mehr ein.

Das ist wie im Märchen, erklärte Georg dem Kind. Du kennst die alten Geschichten von der Jungfrau, die von einem Drachen entführt wird und in einem Schloss mit ihm lebt.

Kiki nickte, bereit, dem Vater alles zu glauben.

Kannst du mir einen zeichnen?

Georg reichte ihr Stifte. Seine Aufforderung war nicht uneigennützig. Damals arbeitete er für die Agentur, sollte den TV-Spot für einen Energy-Drink gestalten. Die Idee war gewesen, einen fliegenden Drachen zu animieren, eine archaische Form. Die beabsichtigte Georg sich aus der Einbildungskraft seiner Tochter zu borgen.

Und gleichzeitig hilft ihr das, die Angst zu überwinden.

Ja, vielleicht. Mir ist alles recht. Hauptsache, sie schläft durch. Ich wäre froh darum.

Du denkst nur an dich.

Du auch.

Da waren sie einander noch gut. Eine Familie.

Kikis Drache hatte acht Beine, zwei Schwänze, zwei Hälse mit feuerspeienden Köpfen. Auf dem Rücken des Untiers vier Flügel.

Meinst du nicht, dass du übertreibst?

So kann er schneller fliegen.

Aber er wird getötet vom Ritter. Georg beharrte auf der klassischen Geschichte.

Nicht wahr! Der Drache gewinnt. Behauptete Kiki. Der Drache gewinnt und fliegt mit der Prinzessin davon.

Der Geretteten zeichnete sie ein rot-violettes Kleid mit goldenen Tressen. Glitzerstifte waren Kikis Lieblingsinstrumente. Die goldgelb gemalten Zöpfe standen der Heldin vom Kopf ab wie riesig breite Schwingen, die Enden mit roten Schleifen verziert.

Schau, die Prinzessin fliegt auch.

Du bist dumm, Papa. Weil du nichts verstehst. Protestierte das Kind. Die Prinzessin ist genauso stark wie der Ritter, und der Drache ist ihr Freund.

Aha. Georg gab sich zufrieden.

Darf ich die Zeichnung haben?

Nein.

Kiki drückte das Blatt an ihre Brust.

Das ist meins. Ich will das in meinem Zimmer aufhängen.

Darf ich sie kopieren?

Hm, Kiki überlegte. Ich will fünfzig Euro.

Was?

Na, andere verdienen auch Geld mit Zeichnen. Hast du gesagt.

Also gut, fünf.

Stolz reichte Kiki ihm das Blatt. Er legte es auf die Glasplatte des Scanners und kramte in seinen Hosentaschen nach Münzen.

Obwohl das Team der Agentur die Sache mit dem Drachen später verwarf, hörte Kiki nicht auf, Ungeheuer zu erfinden, die sich mit den Wochen veränderten und zu Reptilien und Unterwassertieren wurden, zu Krokodilen, Echsen, Quallen und immer wieder Tintenfischen. Georg hatte die Wände ihrer Wohnung damit tapeziert. Die Zeichnungen kamen in unübersehbaren Mengen und enormer Geschwindigkeit aus Kiki. Sie visierte das Zeichenblatt, griff blindlings nach Stiften, legte ihre Zunge in den Mundwinkel und startete, setzte Strich nach Strich ohne Zögern und Überlegen. Die Zunge änderte ihren Standort von links nach rechts, von rechts nach links. Und Kiki wechselte die Rollen in ihren Zeichnungen. Erzählte Geschichten in Versionen. Einmal war sie der Drache, das Tier mit übernatürlichen Kräften, das keiner besiegte. Danach war sie der Ritter mit Rüstung und Schwert, der das Ungeheuer tötete. Und ein nächstes Mal Prinzessin, die Jungfrau, die mit dem Drachen farbige Landschaften und weite Meere überflog.

Wohin fliegst du, Kiki?

Fort.

Wohin fort?

Wo uns keiner findet.

Wo ist das?

In einer anderen Welt.

Und Mama und Papa?

Ihr könnt mich ja besuchen.

Und nun, in dieser Gegenwart, jenseits von Mama-Papa-Kind, will Kiki nichts sein, keine Rolle annehmen. Und in Toni rumort die sinnloseste, weil in endlosen Kehren immer auf sich selbst zurückweisende Frage:

Was habe ich falsch gemacht?

Was, in der Folge von unüberlegten Reaktionen, Gedankenlosigkeiten, Unterhaltungen nach der Trennung von Georg, als Toni kaum zuhörte, wenn Kiki loslegte zu erzählen?

Hatte das Kind das gespürt?

Sicher war ihr sprudelndes, unaufhaltsames Darstellen beschleunigt worden durch die Verlorenheit Tonis, deren Augenmerk sich in kaum sichtbaren Vorsprüngen der Raufasertapete verfing. Oder im länglichen Schatten des Messers, das auf dem Esstisch bereitlag, um ein Fleischstück zu zerteilen. Während Kiki redete, prahlte und strahlte. Und meist merkte Toni nur an einer Frage, die das Kind ihr stellte, dass eine kleine Geschichte beendet war und sie nun reagieren musste, als Mutter, einen Kommentar abgeben, aber welchen? Sie hatte nicht aufgepasst.

Dabei war der Neuanfang in Japan vielversprechend, nachdem Georg seine Professur angetreten hatte. Sie wohnten in einer Gegend, in der es zwischen den Nachkriegseinkaufspassagen noch einen kleinen Markt gab: Toni kaufte täglich frischen Fisch, es gab eine einfache Fleischerei, eine Bäckerei, einen Tofustand, Buden mit Obst und Gemüse aus der Region. Alles, was man brauchte.

Georg war begeistert: Das ist besser als in Berlin, wo du dafür in teure Supermärkte gehen musst.

Toni war entzückt. Sie besorgte japanische Kochbücher in englischer Sprache. Sie wollte Rezepte befolgen und lernen. Aber wegen der langen Strecken zur Universität gewöhnte sich Georg rasch daran, unterwegs zu essen, und Toni verlor die Freude. Und je mehr sie zurückwich, desto stärker wurde Georg von der Fremde angezogen. Und nun, nach acht Jahren als alleinerziehende Mutter, in denen Toni sich an diesen Zustand gewöhnt hatte, ihre Freundinnen in Berlin wiedergefunden, nachdem sie Zuversicht gewonnen hat, in ihrer Arbeit, dem Umgang mit Studenten, tritt Kiki auf der Stelle. Und Toni bleiben stumpfe Enden.

Als Kiki noch jünger war, konnten sie sich zumindest körperlich verständigen. Nach Albträumen kroch das Kind verängstigt zur Mutter ins Bett. Heute dreht Kiki die Deckenlampe an und hört laute Musik, um sich an die Oberfläche zurückzuholen. Bei grellem Licht schläft sie wieder ein, bis Toni vom Toben der Bässe erwacht, ins Zimmer tappt, Lampe und Anlage abdreht.

Und am Morgen danach schläft Kiki länger, liegt im Bett, wenn Toni die Wohnungstür bei ihrem Aufbruch zuknallt, um der Tochter zu melden, dass der Tag längst fortgeschritten ist. Und die Tür schreit: Kannst du endlich aufstehen?

To: bela@pumiland.de
From: georg@myownprivategarden.com

Mein lieber Freund,

es ist so weit. Ich harke. Endlich. Die schmale Fläche gestampfter Erde neben dem Betonhaus ist eigentlich für Parkplätze vorgesehen. Aber wir brauchen ja kein Auto. Die nötigen Einkäufe erledige ich zu Fuß. Auch Kos Schule befindet sich in Gehweite. Ryo nimmt den Zug, um zur Arbeit zu kommen. Frühmorgens fährt sie mit dem Rad die Reisfelder entlang zur Fernbahnstation und kommt spätabends zurück. Dieser Druck, dieser Stress an der Uni ist endlich von mir genommen. Je länger ich unterrichtete, desto mehr verlangten sie von mir, in Sitzungen dabei zu sein, an Gremien teilzunehmen, Berichte auf Japanisch zu verfassen. Aber meine Sprachkenntnisse reichten dazu noch lange nicht.

Und jetzt bin ich zurückgekommen auf das Wesentliche. Jetzt bin ich es, der für unseren Sohn sorgt.

Das Gelände für meinen künftigen Garten ist steinhart. Mit einer Harke breche ich durch die trockene obere Schicht, der Stiel des Werkzeugs ist zu kurz für meine Körpergröße. Ich muss mich ständig bücken, was die Arbeit umso anstrengender macht, obwohl ich gut in Form bin. Jeden Morgen laufe ich vier Kilometer den kleinen Fluss entlang, sommers wie winters, der Frühling ist kurz, der Herbst oft heiß. Aber zumindest spürst du hier draußen noch die Jahreszeiten. Nachmittags spiele ich oft Fußball mit meinem Sohn, der Sportplatz ist nicht weit, oder wir schwimmen im Hallenbad um die Wette. Trotzdem, die fest gepresste Erde ist eine Herausforderung, bringt mich zum Schwitzen. Ko arbeitet mit seinem ferngesteuerten Bagger, beschäftigt, die Schaufel mit Erde zu füllen, hochzuklappen und eine kleine Strecke dahinzuholpern, bevor er seine staubige Last auf einen Haufen entlädt. Jetzt, wo die kleinkindlichen Rundungen verschwinden, ähnelt die Form seines Gesichts der, die ich von alten Fotos von mir kenne. Kos Augen aber erinnern an die intensiven Blicke seiner Mutter. Während er mit dem Bagger spielt, produziert der Junge Maschinengeräusche, Rachenlaute, Summen, das Vibrieren der Töne in Bauch und Kehle scheint ihn zu beruhigen.

Ich schreibe dir, lieber Bela, weil ich dich als Freund nicht verlieren will, auch wenn wir uns in Osaka damals als zwei Paare kennengelernt haben. Aber ich finde nicht, dass man immer zwischen den Partnern wählen muss, wenn ein Paar sich trennt. Warum nicht mit beiden befreundet bleiben! Noch dazu leben Toni und ich mittlerweile auf verschiedenen Kontinenten. Und seit ich begonnen habe, zu graben und mich mit Pflanzen zu beschäftigen, muss ich öfter an dich und euren Bauernhof denken.

Bevor ich mit Toni und Kiki Berlin verließ, war ich begeistert von japanischen Gärten, wenn du dich erinnerst. Bei einer unserer ersten Begegnungen haben wir uns darüber unterhalten. In meiner Imagination breitete sich Japan als einzige durchkomponierte Anlage aus, mit Pflanzen zum Betrachten und Meditieren. Das ganze Land war in meinem Kopf ein Areal aus kontrolliertem Kies, geschrumpften und handhabbar gemachten Bäumen, sorgfältig aufeinander abgestimmtem Bachgeriesel, nach Farben geordnetem Blätterwerk und seine Bewohner ständig mit der Aufrechterhaltung von Schönheit beschäftigt, ständig das herstellend, was ich in Deutschland zu vermissen meinte.

Allein, nach der Ankunft in der Wirklichkeit Osakas staunte ich, aus wie viel Beton die Inseln bestanden, wie wenig Raum für Grün war, wie sehr der Krieg dieses romantische Japan zerstört hatte. Man findet es nur in knappen unbebauten Flächen, die gepflegt und bepflanzt und innig versorgt werden. Wer keinen eigenen Garten hat, zieht Pflanzen in Töpfen vorm Haus am Straßenrand oder in den schmalen Zwischenräumen.

Anfangs war das überhaupt kein Problem, anfangs waren wir vor allem überwältigt von den Notwendigkeiten eines Neuanfangs zu dritt. Nur habe ich mich um einiges rascher eingelebt als Toni.

Ryo, damals meine Assistentin, kannte Speisen, die die englischen Kochbücher nicht verzeichneten, weil sie entweder zu banal oder zu kompliziert und die Zutaten für Ausländer ohne Japanischkenntnisse schwer zu beschaffen waren. Ryo versorgte mich mit Reisomelett und Reisbällchen. Wir testeten in der Mittagspause die besten Nudelsuppenlokale in der Umgebung. Sie entwarf sogar einen Fragenkatalog: Aussehen, Geschmack, Suppentyp, Nudelsorte, Beschaffenheit der Einlage, Verhältnis von Leistung und Preis. Wer konnte da widerstehen? Ich wurde in ihre Welt gezogen und entfernte mich von meiner Familie.

Später, als wir schon ein Paar waren, reisten wir jedes Wochenende in kleine Ortschaften, um Spezialitäten zu testen, Flussschnecken, Muscheln, Eierspeisen, probierten uns in Märkten durch das Angebot und kehrten beladen mit raffinierten Essenspaketen für die Verwandten zurück, wie es Brauch war. Die Daheimgebliebenen sollten teilhaben am Vergnügen.

Je mehr Zeit ich mit Ryo verbrachte, desto weiter öffnete sich meine Umgebung: Orte, die ich bereits zu kennen glaubte, entdeckte ich neu. Dinge begannen in Ryos Anwesenheit zu sprechen, als träten sie aus der Flachheit, in der ich vorher mit Toni in Japan lebte. Wir verfügten bloß über zwei Blicke von Ausländern, die auf die japanische Umgebung fielen, um sie sich anzueignen und für das Leben passend zu machen. Seit ich mit Ryos Hilfe aber wirklich angekommen war, fiel das Adjektiv japanisch fort, die Front zwischen mir und dem Fremden wurde löchrig. Ich lernte, die Gegenwart zu lesen und nicht mit Orten zu vergleichen, von denen ich hierher aufgebrochen war.

Inzwischen wird mein Sohn bald acht. Und nun ist es meine Frau, die zur Arbeit fährt. Und ich bin Hausmann. Aber ich vermisse Kiki. Besonders in letzter Zeit. Ich mache mir Sorgen. Immerhin kann ich mit ihr skypen, kann versuchen, den schmalen Streifen Zeit zu erwischen, in dem wir miteinander sprechen. Meine Abendgedanken berühren dann Kikis Morgenlaune über den Bildschirm. Und ich schaue in eine Wohnung, die ich nicht kenne, sehe ihre neuesten Zeichnungen an der Wand.

Lieber Bela, eigentlich schreibe ich dir auch, weil ich eine verlässliche Verbindung nach Deutschland brauche. Einen Menschen, der sich auskennt in der Bewertung von Fakten zu unserem Atomproblem. Danke für die Links, die du mir dazu geschickt hast.

Lange wollte ich ja nichts mit Deutschland zu tun haben, um mich hier besser einzuleben. Aber seit der Katastrophe zweifle ich, dass die Fachleute alles im Griff haben. Denn bislang weiß keiner, wie man den Auswirkungen von Fukushima entgegnen soll. Zu lange hatte man versäumt, veraltete Techniken ausreichend zu überprüfen.

Nur die heiligen Schreine werden alle zwanzig Jahre erneuert und strahlen danach holzfrisch und hell. Der Kies knirscht weiterhin unter den hohen Sandalen der Priester, wenn wir zu Jahresanfang nach Ise pilgern, knirscht aber nun trauriger, kommt mir vor.

Und weil ich mich jetzt ums Essen kümmere und damit um die Gesundheit meines Sohnes, wollte ich seit dem Großen Beben und der Atomkatastrophe selbst Pflanzen ziehen. Mich nicht auf Beteuerungen verlassen.

Ryo glaubt weiterhin an einen guten Ausgang. Davon, dass Grenzwerte für radioaktive Belastung hinaufgesetzt und Messungen gefälscht werden, will sie nichts hören. Obwohl wir weit vom Zentrum des Atom-GAUs wohnen, entschloss ich mich, auf eine künftige Krise lieber vorbereitet zu sein. Wegen der Prognosen. Denn je länger die Region um Osaka von einem Beben verschont bleibt, desto wahrscheinlicher kommt das nächste bald. Jeder Tag kann der Tag der Katastrophe sein. Deswegen wollte ich unbedingt etwas außerhalb der Stadt ziehen, höher gelegen, entfernter vom dunkelrot gefärbten Gefahrenbereich.

Und hier bin ich, beschäftigt mit unserem Garten. Ich kann meinem Sohn beibringen, wie der Kohl wächst und was man dafür tun muss, dass er wächst.

In diesem Sinne alles Gute. Ich weiß, dass du nicht gern Briefe schreibst. Aber lass bitte von dir und Anniko hören.

Dein Freund Georg

ROMANTIK

Ach, Mama, ich möchte so gerne tauchen können oder einfach nur Tiere versorgen! Das wäre mein Traum!

Warum studierst du nicht Tiermedizin?

Zu viel Chemie und Biologie. Da war ich immer schon schlecht.

Dunkle Umrisse in grünlich trübem Wasser am Bildschirm, Amazonas, ein Flossenpaar, schwarzer Taucheranzug, Menschenkörper in Gummihaut, der Fische nicht schießt, sondern streichelt, die moosbedeckten Schuppen schruppt.

Ah, die sind so lieb. Schau mal, Mama!

Kiekst Kiki, Fingernägel knabbernd vor dem Fernseher. Braune Algenfetzen treiben dem schweren Manati direkt vors Maul. Das Baby in seinem Schatten saugt am Mutterbauch.

Toni zappt weiter.

Nein, Mama, lass!

Ein Bauernhof, ein Stall, Kätzchen im Heu. Grau-weiß-schwarze Fellkugeln mit riesigen Augen, feuchtdunklen Schnauzen.

Mammaaaaa, ich will die, ich will diese süßen, süßen Sweetie Kitty Cats. Hier bei mir zu Hause! Mamma, biiitteee!

Kikis verlangender, prüfender Blick zwischen Katzenschnäuzchen und Tonis Zehennagellack.

Mmaaammma, das sieht nicht gut aus! Der Lack splittert.

Toni zappt zurück.

Neinn, lass, bitte!

Die Schildkröte in der Wasserbrühe des Amazonas wartet stoisch, getarnt als Stein. Ein hübscher Glitzerfisch schwimmt ahnungslos. Der Felsen öffnet sein Maul, schnappt zu. Nur noch die glänzende Schwanzflosse des Opfers ragt wackelnd, sich wehrend, doch vergeblich aus dem grün bewachsenen Schlund.

Coooll!

Kiki mustert die Spitzen ihrer Haare. Streng.

Ich muss die wieder schneiden, Mammaaaaa. Die sind so ausgefranst. Oder ich färb mir diese kaputten Enden heller. Was meinst du? Ledrig weiche weiße Haut reißt auf. Eine längliche Schnauze schnuppert aus dem Oval und purzelt in den Sand. Krokodilchen schlüpfen. Gaivane! Schreit Kiki. Die sind so gutziguuuuu. Mama, schau!

Sie steht auf, raschelt in der Küche, füllt eine Schüssel, Schokokekse, lässt sich erneut in die Kissen fallen, knuspert, bebröselt das Sofa.

Ich werde wirklich zu dick.

Kiki beißt genüsslich, kaut süße Brocken. Lacht.

Du, Mama, echt, es wird Zeit, dass du mir hilfst! Ich muss färben.

Aber warum andauernd färben?

Weil meine natürliche Haarfarbe langweilig ist und hässlich.

Wieso? Du bist blond. Ich dachte, alle wollen blond sein?

Aber blond ist blöd, ich meine nicht bei dir Mama, dein Blond ist speziell, das ist ja auch echt. Aber meins: straßenkötermäßig, geht gar nicht.

Kiki prüft den Bildschirm ihres iPhones, Geschenk von Papa, schweift fort vom Amazonas und in die letzten Botschaften hinein. Sie tupft und streicht.

Ja, ja, YOLO, Kiki.

Die Tochter fährt auf.

Aber nicht du, Mama. Du kannst das nicht sagen.

Warum?

You only live once, das ist nur für uns. Bei dir aber: peinlich.

Tatsächlich kann Toni sich nur auf eine Sache wirklich konzentrieren, will feste Tasten an ihren Fingerkuppen spüren oder zumindest ein Geräusch, das ihr sagt, der Impuls ihres Tippens hat diesem Rechner befohlen, Buchstaben auf dem Bildschirm erscheinen zu lassen. Hinweis auf Täterschaft, eine Herkunft, die Kiki nicht braucht, weil sie mühelos mit Fingerspitzen hantiert, die geöffneten Fenster auseinanderschiebt, den Ausschnitt erweitert. YOLO bedeutet Nachrichten lesen, beantworten und Nachrichten sein, als Bild, als Film, als Wort, als Ton, und sich darin finden und nur verlieren, wenn der Akku schwächer wird.

Stimmt, eigentlich hast du recht. Ich bin dafür zu langsam. Mein Gehirn kommt der Technik nicht nach.

Aber Kiki hört längst nicht mehr. Vergisst die Tiere im Amazonas, sobald sie in Tiefen sinkt, in die Toni ihr nicht folgen kann. Vor den Monitoren schaut jede für sich in eine andere Welt. Toni, auf dem harten Teppich, im Versuch, ihren Sitzmuskeln Pause zu verschaffen, dringt in Gedanken durch den flachen Fernsehapparat, jenseits der Unterwasserwelt. Forscht nach Gründen für Kikis Erstarrung:

Der Umzug nach Japan, wo Georg Animation Studies lehrte. Kiki besuchte eine internationale Schule, Unterricht auf Englisch, in der Pause aber sprachen die Kinder auch japanisch. Nach zwei Jahren wollte Toni nicht weiter zu Hause sitzen, sondern selbst unterrichten, obwohl Georg als Professor genug verdiente. Ständig fuhr sie durch die Stadt, um hier und dort eine Stunde für wenig Lohn zu lehren. Sie wollte teilnehmen, nicht ausgeschlossen sein.

Einmal, während des Unterrichts, wurde der Stuhl, auf dem sie saß, weich. Seine Beine gaben nach wie Gummi, und sie spürte sich zur Seite rutschen. Ein Schwindel, glaubte sie und sah peinlich berührt in Gesichter mit aufgerissenen Augen. Sie wagte nicht aufzustehen, um nicht zu fallen. Berührte die hölzernen Stuhlbeine, die hart waren wie immer, und als sie erneut aufschaute, schrie eine Studentin: Erdbeben!Alle Mädchen krochen unter die Tische, Toni tat es ihnen nach. Kurz darauf war alles wieder ruhig. Die Studentinnen begannen zu kichern, und sie schämte sich, dass sie nicht vorbereitet gewesen war. Die unter der Spüle in der kleinen Wohnung bereitgelegte Broschüre in Plastikfolie mit Anweisungen zum Verhalten bei Katastrophen hatte sie nicht gelesen, um der Angst davor zu entgehen.

Bereits in Osaka sorgte Toni allein für Kiki, weil Georg erst mitternachts nach Hause kam, zu viele Verpflichtungen, Sitzungen, Vorträge an anderen Orten, sogar nach dem Unterrichten.

Wie kann das sein? Du hast in der Agentur in Berlin aufgehört, weil du hier mehr Zeit für uns haben wolltest.

Ist so, Toni. Ist so. Hat sich so entwickelt. Sei froh, dass ich vorwärtskomme, das ist für uns alle gut. Du weißt, wie viel Miete wir bezahlen. Und dann mit einem Mal die Ahnung, dass Georg nicht wegen hoher Lebenshaltungskosten so viel arbeitete.

Mama, Papa ist auf Skype!

Kiki springt vom Sofa auf, rennt in ihr Zimmer. Die Tür knallt. Toni bleibt allein. Statt dem Amazonas wird im Fernsehen nun Kanada bereist. Sie macht den Bildschirm aus. Schneidet die Bewegung des Wolfes ab, der im Schnee ein Reh verfolgt. Rettet das Kitz ins Dunkle. Nach Andeutungen von Kollegen, Bemerkungen, die ihnen herausrutschten oder die sie mutwillig in Tonis Gegenwart fallen ließen, nach vielsagenden Blicken, wenn sie angebliche Kongresse erwähnten, wurde Toni in Osaka klar, dass Georgs Obsession neben der Arbeit zugleich Ryo, seiner Assistentin, galt. Der Langgesichtigen mit ihrem laubroten struppigen Haar, die ihm japanisches Essen näherbrachte. Georg meinte, auf diese Weise tiefer in die Fremde zu gelangen, indem er mit Ryo zuerst aß, dann schlief und sich später von ihr dirigieren ließ: Toni warf er vor, sich nicht genügend für das Gastland zu engagieren. Sogar dass Kiki eine internationale Schule besuchte, war ihm nicht recht. Das Kind sollte sich anpassen, ausreichend Japanisch lernen, obwohl sie bereits besser sprach als er.

Toni hatte gehofft, dass diese Phase vorüberginge. Sie waren ja nicht nach Japan gekommen, um hier zu bleiben. Aber dann folgten die Wochenenden, die Georg mit seiner Geliebten an romantischen Wallfahrtsorten verbrachte. Ryo schrubbte ihm ausgiebig mit schwarzen Mineralien den Rücken, bevor sie in heiße Quellen sanken. Ryo goss ihm Bier nach, servierte Sake, wie es sich gehörte. Zumindest stellte Toni sich das in selbstquälerischen Momenten so vor, weil sie es aus Filmen so kannte.

Als dann die Nachricht kam, dass die Geliebte schwanger war, hatte sie bereits zu lange zugesehen, hatte Georg verloren und Kiki den Vater.

Toni stützt sich mit den Händen auf den Teppich, langsam, um sich nicht erneut zu verkrampfen. Erhebt sich, schlappt zum Schreibtisch. Das Gedicht, das ihr Sascha damals – nach der Rückkehr aus Japan zum Trost geschrieben hatte, liegt irgendwo in der Schublade. Sie hatten so gelacht. Über die Stelle mit den Reiskuchen, die Brüsten ähnelten. Und kurz hatte Toni ihre Wut auf Georg vergessen, wegen seines Verrats.

Sie kramt. Wenn sie das Gedicht nicht hier findet, dann vielleicht gespeichert im Computer. Nein, da ist das Blatt, handgeschrieben und an den Rändern verziert von der Freundin, dienen die Zeilen Toni als Talisman. Zum Abgewöhnen, wie Sascha es ausdrückte. Denn gegen Georgs Entdeckerfreude, wenn es um fremde Frauen ging, war Toni machtlos. »Die Japan« hatte Sascha seine Faszination betitelt:

Oh wie schön! Flüstert die ins Meer gekröselte Insel.

Wie Du in mich dringst und in meinen Eingeweiden wühlst und Bescheid Weißt über jede Windung meines Gehirns und meines Darms!

Oh wie bewundernswert, da Du Dich nicht in mir verrennst!

Ich bin Dein Gebiet und Du bist mein Gebieter!

Du entzifferst mich, oh Kundiger,

Liest die Zeichen von meiner blassen Haut!

Hock Dich über mich! Lass Deinen Strahl auf mich!

Meine Mochi verzehren sich nach Dir!

Und ich schmelze im Komparativ der Gefühle

Unter Deiner Tinte!

Tonis Blick fällt auf die Keksschüssel, die Kiki auf dem Teppich abgestellt hat, trägt sie in die Küche, spült sie aus, schleicht vor Kikis Tür. Aus dem Zimmer klingt die helle Stimme ihrer Tochter. Toni will nicht spionieren, versucht sich abzulenken, setzt sich zurück aufs Sofa. In der Mappe mit Saschas Gedicht befinden sich weitere Schriftstücke, Erinnerungen an Japan: der Folder ihres Batikkurses; ein Heftchen mit Wegbeschreibungen zu verschiedenen Tempeln in Kyoto; ein Kalenderblatt mit dem Stempel des Inari-Schreins, den Füchsen gewidmet, die seinen Eingang bewachen; ein Bogen selbst geschöpftes Papier mit eingearbeiteten Blütenblättern; eine Ansichtskarte des Atom-Doms von Hiroshima; ein Frühlingsbild, das eine Freundin ihr zum Abschied schenkte.

Sie betrachtet die weibliche Gestalt in bunten Gewändern, die sich in mehreren Schichten über den nackten Körper legen. Sie hebt die Röcke, enthüllt den Unterleib für ihren Liebhaber, befindet sich hinter einem durchsichtigen Paravent, und der Schatten ihres hockenden Körpers bildet einen Umriss, der einem Fuchs ähnelt. Kitsune heißt die Frau, die aus dem Wald kommt, eine Füchsin. Man erkennt sie an ihrem Schatten. Sie verführt einen Mann, hat oft sogar Kinder mit ihm, bleibt, bis ihre wahre Gestalt erkannt wird und sie dann fortmuss. Geliebte, Ehefrau und Mutter ist sie nur für eine begrenzte Zeit. Danach streift sie wieder als wildes Tier durch den Wald.

Toni bestaunt die saftige Frucht der deutlich gezeichneten Vulva, entblößt für den Besuch des Geliebten, dessen mächtig vergrößertes Organ. Sie bewundert die schwungvolle Darstellung des Ineinandergleitens beider Körper. Verliert sich in Reminiszenzen an Fritz. Blitzartige Szenen, meist Übergänge, wenn sie die Augen öffnet und die Versunkenheit verlässt, um den aus ihrem Körper gerutschten Schwanz wieder einzustecken, oder Fritz’ schneller Check am Kondom. Kleine Ungeschicklichkeiten, die im Gedächtnis bleiben, während das große Vergessen, in Orgasmuszeit gerechnet, ihr endlos vorkommt, sie will nie aufhören, nie …

Mama!

Toni schreckt hoch, steckt das Blatt zurück in die Mappe.

Kiki mit begeisterten Augen.

Ich hab mit Ko geredet, der ist so gewachsen, ich freue mich schon, wenn ich die endlich besuchen darf. Mama, wann kann ich??? Bitte!!! Na, ich weiß nicht, jetzt nach Fukushima, ist das nicht bedenklich wegen dem Essen und so?

Nein, nein. Papa hat mir schon so oft erzählt, dass die Tintenfische erstaunlicherweise gar nicht vergiftet sind von dem Atomzeug. Ein paar Fischsorten ja, aber die werden eh nicht verkauft. Nur der Oktopus …

Ja, aber da muss ich wirklich mit deinem Vater reden. Was ist mit den Kosten? Wer bezahlt den Flug und so weiter? Und du weißt, mit mir spricht er nicht so gern. Schlechtes Gewissen!

Pah, Mama, du bist so langweilig! Immer das Gleiche! Ewig nur Bücher lesen und sinnlose Artikel schreiben. Du willst nie die coolen Sachen machen. Und ich soll deshalb auch nichts dürfen. Spielverderberin! Ich dachte, die coolen Sachen sind für dich reserviert.

Pffffffhhh, verächtliches Fauchen, hässliche Blicke. Kiki dampft ab in Richtung Zimmer, schlägt die Tür zu.

Kiki vor dem Spiegel, kämmt die Stirnfransen, dicht über ihren Augen, holt die Wimpernzange, drückt die Härchen nach oben.

Nach oben, nach oben, schau nach oben, Kiki, das macht deine Augen größer!

Sie spreizt sie, soweit es geht, zieht Striche über ihren Lidrand. Steckt sich eine Schleife ins Haar auf die rechte Seite, die Kämme mit rosa Pflaumenblüten auf die linke und singt: Iki na BU-TSU ga kappo suru hirusagari kata wo butsukete mayu wo hisomeru gamen no naka ni ikujuu mo tsunagitometa yuujou to iu na no seimeisen muragaru HAIENA samryou HAIENA — muragaro HAIENA samryou HAIENA obieru HAIENA SABANNA ni hi wa ochiru — RURURU RARARA tameiki de nijimu yume no ato.

HAUSFRAUSEIN

Hausfrauen leben gefährlich. Ihre Arbeit mündet in die Arbeiten anderer, und in der Summe bleiben keine Zeiten, auf die sie rechnen können bei der Rente. Ernte und Rente ist übrigens ein Anagramm. Kein Wunder! Sascha hat sie darauf aufmerksam gemacht. Früher hatten wir kein Rentenproblem. Meinte die Freundin.

Früher waren wir unsterblich oder nur haltbar bis dreißig, höchstens vierzig. Unsere Idole waren jung gestorben und benötigten keine Altersversorgung. Aber mit fünfzig wollen wir nicht mehr abtreten, das haben wir längst verpasst. Jetzt möchten wir ewig leben.

Na, zumindest hast du keine Kinder.

Ja, das ist ein Vorteil.

Als Toni die Erziehungszeiten für Kiki ins Rentenfeststellungsformular eingetragen hatte, dachte sie, die Jahre würden ihr gutgeschrieben als Arbeit für die Gesellschaft. Und war erstaunt, als sie im Gegenteil abgezogen wurden. Als hätte sie untätig herumgelegen. Doch was für die Natur ist, verdient keinen Lohn. Kinder wachsen von allein, alte Menschen sterben irgendwo, Pflanzen verlangen bloß nach Regen, der Dreck des Haushaltens ist der Rede nicht wert. Alles, was außerhalb des Marktes geleistet wird, zählt nicht, wird daher weder bezahlt noch respektiert.

Deswegen war Toni so froh über den Job an der Universität, der ihr nach der Rückkehr Sicherheit bot, eine Teilnahme, von der sie bis zur Trennung von Georg nicht gewusst hatte, dass sie bedürftig danach war, und die sich nun als befristet herausstellt.

Zögerlich betritt sie das Treppenhaus, begrüßt von einem großformatigen Porträt Dietmanns: eine Preisverleihung, gefolgt von einer gerahmten Aufnahme seines Gesichts zusammen mit dem Rektor, gefolgt von einem Foto seines Zusammentreffens mit dem Dalai Lama. Wer ist dem eigentlich noch nicht begegnet?

Vorsichtig drückt Toni die Türklinke zum Büro. Seufzt erleichtert, weil versperrt, weil Dietmann nicht anwesend. Schließt auf, zumindest einen eigenen Schlüssel zum nichteigenen Büro haben sie ihr gegeben, öffnet die Fenster, brüllender Autolärm überschwemmt den Raum. Das Gebäude befindet sich neben einer Schnellstraße. Aber sie will den Geruch loswerden, der den Raum beherrscht, diese nach Rasierwasser oder Haargel riechende Luft. Weil Dietmann viel mehr Zeit als sie selbst im Büro verbringt, sind die Bezüge der Schreibtischstühle, die furnierten Tische, die Wände damit imprägniert. Sie beschließt, ihre Aufgaben rasch zu erledigen, bevor der Kollege auftaucht.

Toni fühlt sich bloß als Besucherin zwischen Möbeln, die dem Kollegen vor vielen Jahren zugeteilt wurden. Ihre Schreibtische stehen Front an Front, und bunte Mappen, dicht beschriebene Notizzettel, Post-its türmen sich auf Dietmanns Tischplatte, überborden, wuchern auf Tonis Seite. Sie schiebt sie leicht zurück, um Platz zu schaffen für ihre Unterlagen. Ordnet, steht auf, schlängelt sich zwischen am Boden lagernden Bücherstößen, Improvisation wegen der fehlenden Regale, umschifft Dietmanns Stehpult auf dem Weg zum Kopierer. Auch am Sekretariat schleicht sie vorbei, will nicht gesehen sein.

Überall ist sie bloß Gast. In Japan, weil sie fremd war, die Sprache nicht beherrschte. Weil ihr nicht gelungen war, eine dauerhafte Stelle zu bekommen. Weil sie nur als Ehefrau und Anhängsel Georgs dortbleiben durfte, hatte sie kein eigenes Visum.

Und später in Berlin, an der Universität, eine Art geheimer Gesellschaft, deren Regeln sie nicht versteht, weil sie fort gewesen war, die feinen Netze und Verbindungen sich verdichteten in ihrer Abwesenheit, und die sie nun nicht durchdringt.

Sie tippt den Code in die Kopiermaschine. Ihre Aufmerksamkeit verschwindet im Lärm des Sortierers, der ruckartig die Seiten aufnimmt und dabei jammert und pfeift, sodass sie Dietmann nicht bemerkt, der inzwischen das Büro betritt und bereits tief vorm Computer versunken kauert, als sie zurückkommt.

Er hebt seinen großen Kopf mit den rostbraun gefärbten Haaren, die sich deutlich abheben vom weiß nachwachsenden Grund. Dicke Koteletten ziehen sich längs seiner Ohren. Sein umfänglicher Schnauzer ist rötlich bis gelb, Reste einer Nikotinsucht, die er sich gesundheitlich nicht mehr leisten kann. Die vielen Haare im Gesicht verleihen ihm eine Autorität, wie sie gewichtige Lebewesen haben, einfach ihres Volumens wegen, ihrer Ausbreitung im Raum.

Hallo, wie geht’s?

Ja danke. Sehr beschäftigt.

Ich hab gehört, du bewirbst dich erneut?

Ja.

Wusste gar nicht, dass das geht. Ich dachte, wenn ein Vertrag nicht verlängert wird, so bedeutet das definitiv eine …

Er sucht nach einem Wort: … äh, Verabschiedung?

Sein violettes Hemd aus dünnem Cord korrekt gebügelt, wahrscheinlich seine Frau oder die Frau in der Wäscherei. Er schwitzt, Toni nimmt die dunkleren Flecken unter seinen Achseln wahr, schadenfroh. Warum eigentlich? Kann ihr egal sein und kontert.

Ich bin da anders informiert. Ich habe dem Rektor gesagt, dass ich mich bewerbe.

Dietmann schüttelt zweifelnd seine rötlichen Locken, wendet sich erneut dem Computerbildschirm zu und haut dann in die Tasten.

Toni beißt die Zähne zusammen. Will sich nicht ärgern über seinen Versuch, sie zu entmutigen, legt ihre Unterlagen fürs Seminar zurecht.

Bist du nachher noch hier?

Weiß nicht. Ich schließe jedenfalls ab, wenn ich gehe. Nimm deine Schlüssel mit!

Dietmann tippt breitfingrig und laut auf der alten Tastatur. Die Bartspitzen hängen ihm fast in die Mundwinkel. Er murmelt: Ok, schönen Tag noch.

Toni faucht eine Entgegnung, schließt die Glastür etwas zu lärmend und versucht sich auf den Gängen durch das alte Gebäude zu beruhigen. Schritt für Schritt, langsam, langsam, atmen, atmen, betritt die Toilette. Lässt eiskaltes Wasser über ihre Handgelenke rinnen, bevor sie sich sorgsam abtrocknet, die Fältchen unter ihren Augen im Spiegel prüfend. Als sie den Seminarraum betritt, erreicht sie eine Welt, in der das Vergangene von ihr abfällt, eine alte, unbrauchbare Haut. Den Konflikt mit Dietmann lässt sie außen vor. Der lange Tisch ist mit Kopien übersät, Teeflaschen, Thermoskannen, Tassen, Telefonen, aufgeregtes Schnattern. Sie rückt ihren Stuhl lange zurecht, rutscht auf den vorderen Teil der Sitzfläche, sucht die Brille und eröffnet das Gespräch.

Auch Lehren ist wie Hausfrausein. Tonis Fähigkeiten fließen in die Arbeiten anderer. Sie leitet ihr Wissen in die Texte der Studenten, liefert Instrumente, mit denen sie sich verbessern und eines Tages hoffentlich erfolgreich sind. Toni verschwendet sich. Sie macht das gern. Liebt aufwendige Lektüren, kleinteiliges Zerlegen, das Achten auf feinste Unterschiede, Nachspüren minimaler Änderungen, die eine Umstellung von Satzgliedern hervorruft. Sie genießt die Spannung beim Herauskitzeln dessen, was die Schreibenden dachten, dass sie schrieben, und von dem später nur ein Bruchteil auf den Papieren steht, die sie zur Diskussion vorlegen. Und Toni weiß, dass ihr diese Arbeit gelingt. Weshalb sie nicht einsieht, warum der Rektor meint, dass sie aufhören soll. Vielleicht steht doch Dietmann hinter dieser Entscheidung?

Als Toni aus dem Seminar kommt, ist Dietmann fort. Bloß eine Wolke Parfüm vermischt mit einer Note Achselschweiß steht in der Nähe seines Pults. Toni reißt neuerlich die Fenster auf, checkt Mails. Ist erschöpft vom vielen Denken und Reden, entdeckt eine Nachricht von Sascha.

Liebe Toni. I am back. Raus aus dem tunnel. Frei. Bereit