Der Geisterjäger 3 – Von allen Geistern gehetzt

Der Geisterjäger –3–

Von allen Geistern gehetzt

Roman von Andrew Hathaway

Mitternacht.

Die schweren Schritte eines Mannes hallten durch die menschenleere Straße. Vor dem Portal eines alten Hauses blieb er stehen.

Rick Masters, Privatdetektiv stand auf einem Messingschild neben dem Eingang. Der Mann rüttelte an der Tür. Sie war verschlossen.

Seine Gestalt begann zu flimmern, löste sich auf und war im nächsten Moment verschwunden. Vor den Augen zufälliger Beobachter verborgen, schälte sich im Inneren des Hauses eine Gestalt aus dem tiefen Schatten an der Tür und schritt auf die Treppe zu. Lautlos schlich der Mann nach oben, bis er sein Ziel erreicht hatte. Auch an der Wohnungstür verkündete ein Schild, daß hier der bekannte Londoner Privatdetektiv Rick Masters zu finden war.

Wieder verloren die Konturen des Mannes an Schärfe, zerflossen und wurden unsichtbar. Nur einen Augenblick später stand der Unheimliche in der Wohnung und schritt langsam auf das Bett zu, in dem der ahnungslose Privatdetektiv friedlich schlief.

*

Rick Masters hatte sein Telefon mit einer sehr nützlichen Vorrichtung versehen, mit einem automatischen Anrufbeantworter. Dieser sorgte da­für, daß er während des Schlafs nicht gestört wurde und trotzdem alle wichtigen Nachrichten erhielt, sobald er erwachte.

Der Anrufbeantworter enthielt aber auch eine Sicherheitsschaltung, damit Rick in dringenden Fällen direkt erreicht werden konnte. Wenn jemand lange genug wartete, schaltete sich die Automatik aus, das Telefon begann zu klingeln.

Genau das schreckte den Privatdetektiv morgens um sieben Uhr aus tiefstem Schlaf. Wütend starrte er zuerst auf die Uhr neben seinem Bett, dann auf das Telefon. Am liebsten hätte er sich auf die andere Seite gewälzt, doch da es sich um etwas Wichtiges handeln konnte, hob er ab und meldete sich.

»Sie haben so lange nichts mehr von sich hören lassen«, dröhnte die Stimme von Chefinspektor Hemp­shaw aus dem Hörer, »daß ich mich einmal nach Ihnen erkundigen möchte!«

»Muß das ausgerechnet morgens um sieben sein, Kenneth?« stöhnte der Privatdetektiv. »Sie wissen doch, daß ich kein Frühaufsteher…«

»Macht gar nichts«, wehrte der Chefinspektor lachend ab. »Mir genügt es, Ihre Stimme zu hören. Was tun Sie zur Zeit, Rick? Bearbeiten Sie wieder einen neuen Fall?«

Rick Masters, der oft mit Scotland Yard und speziell mit Chefinspektor Kenneth Hempshaw zusammenarbeitete, sammelte seine Gedanken. »Ich habe gar keinen Fall, Kenneth«, antwortete er. »Sie werden es nicht glauben, aber bei mir herrscht totale Flaute.«

»Dafür wird Mrs. Kent aber sehr dankbar sein«, bemerkte der Chefinspektor, der Ricks Freundin gut kannte und wußte, wie sehr sie stets unter Ricks Fällen zu leiden hatte. »Endlich haben Sie Zeit für sie.«

»Schon richtig«, gab Rick zu und lächelte, als er an den letzten Abend dachte. Hazel Kent war erst nach Mitternacht gegangen. »Sie hat…« Er stutzte, als er den Zettel bemerkte, der halb unter dem Telefon hervorlugte. Vielleicht eine Nachricht von Hazel, die sie für ihn zurückgelassen hatte, dachte er und zog das Stück Papier hervor.

»Was wollten Sie sagen, Rick?« drang die Stimme des Chefinspektors an sein Ohr, doch er hörte nicht hin. Seine Augen klebten an den Buchstaben, die gemalt auf den Zettel geschrieben waren. RICK MASTERS – DEINE TAGE SIND GEZÄHLT!

»Hallo, Rick, sind Sie noch da?« rief der Chefinspektor.

»Ja, ja, ich bin noch da«, gab er gedankenverloren zurück. »Kenneth, tut mir leid, ich habe keine Zeit mehr. Muß dringend etwas erledigen.«

»Zuerst sagten Sie, daß Sie kein Morgenmensch sind, und plötzlich werden Sie aktiv?« Hempshaw war ein zu guter Beobachter und Kriminalist, um nicht Verdacht zu schöpfen. »Was stimmt denn nicht?«

»Alles in Ordnung«, versicherte der Privatdetektiv hastig. »Ich melde mich wieder bei Ihnen, Kenneth!«

Damit legte er einfach auf, sprang aus dem Bett und untersuchte seine Wohnung. Sehr rasch stellte sich heraus, daß niemand während der Nacht eingedrungen war.

Und doch hatte er einen Zettel mit einer Drohung unter seinem Telefon gefunden! Es war nicht die Drohung selbst, die Rick irritierte.

Er war daran gewöhnt, immer wieder von Personen verfolgt zu werden, die er eines Verbrechens überführt hatte. Ihn schockierte vielmehr die Tatsache, daß dieses Blatt Papier auf rätselhafte Weise in seine Wohnung gelangt war.

Oder doch nicht so rätselhaft? Ein jungenhaftes Grinsen glitt über sein Gesicht. Erleichtert zündete er sich eine Zigarette an, ging zum Telefon und wählte die Nummer der Kent­Werke.

»Geben Sie mir Mrs. Kent«, verlangte er von der Telefonistin des Industriekonzerns, dem Hazel Kent nach dem Tode ihres Mannes vorstand. Über die Sekretärin wurde er mit seiner Freundin verbunden. »Du hast mir vielleicht einen Schreck eingejagt«, platzte er heraus, sobald sie in der Leitung war.

»Was habe ich?« fragte Hazel irritiert.

»Na, die Geschichte mit dem Zettel.« Rick mußte darüber lachen, daß er darauf hereingefallen war. »Du hast mir doch einen Zettel zurückgelassen, bevor du letzte Nacht gegangen bist.«

»Habe ich nicht«, erwiderte Hazel energisch. »Rick, was soll das? Ein schlechter Scherz?«

Schlagartig wurde er ernst. »Hazel, das ist sehr wichtig«, sagte er eindringlich. »Ich muß es genau wissen. Hast du mir unter das Telefon einen Zettel geschoben oder nicht?«

»Nein, natürlich nicht«, antwortete sie heftig. »Rick, was ist passiert? Komm, sag es mir und spiel nicht den Geheimnisvollen!«

»Ach, nichts weiter«, murmelte er. »Ich rufe dich wieder an, ja?«

»Halt, warte, ich habe…«, kam es noch aufgeregt aus dem Hörer, doch er legte bereits auf.

Besorgt starrte er auf das Stock Papier, das auf seinem Bett lag. Es war jemandem gelungen, bei verschlossenen Türen und Fenstern eine Botschaft, eine Drohung, neben sein Bett zu schmuggeln und wieder zu verschwinden. Vor einem solchen Gegner mußte er sich in acht nehmen!

*

Rick Masters hatte sich erst zur Hälfte rasiert, als vor dem Haus eine dezente, jedoch unüberhörbar ungeduldige Hupe ertönte. Er lief zum Wohnzimmerfenster, da er diesen Ton kannte, und sah unten Hazel Kents silbergrauen Rolls Royce. Sie sprang soeben heraus und lief auf das Haus zu.

Ihre Absätze hämmerten auf der Treppe, gleich darauf stürmte sie in seine Wohnung.

»Was ist passiert?« rief sie und blieb in der Badezimmertür stehen. Ihre grauen Augen musterten ihn eindringlich. Die schwarzen Haare hingen ihr vom schnellen Laufen in die Stirn.

»Du siehst blendend aus, Darling«, murmelte Rick und setzte seine Rasur fort.

»Lenk nicht ab«, befahl sie. »Meinst du, ich unterbreche eine Konferenz mit meinen leitenden Direktoren, nur um mir deine Komplimente anzuhören und mich mit ein paar freundlichen Worten abspeisen zu lassen?«

»Wenn du meine Komplimente nicht mehr hören willst, kann ich sie ja einer anderen sagen«, grinste Rick.

»Rick, Darling, du weißt doch, wie es gemeint war.« Hazel Kent betrat das Bad, schmiegte sich an ihn und küßte ihn flüchtig. »Ich mache mir Sorgen um dich. Schließlich bist du nicht irgend jemand, sondern der Mann, den ich liebe. Und außerdem bist du ein Privatdetektiv, der sich hauptsächlich mit Fällen beschäftigt, in denen Magie und Übersinnliches aller Art eine Rolle spielen. Du lebst gefährlich, und wir beide wissen das.«

Natürlich wußten sie es, hatten sie doch schon zusammen so manche bedrohliche Situation überstanden. Rick war daher klar, daß er seine Freundin nicht einfach wegschicken konnte.

»Komm mit«, sagte er nur, legte den Rasierapparat aus der Hand und ging voran in sein Schlafzimmer, in dem es wie nach einer Schlacht aussah. Ordnungsliebe war nicht gerade Ricks stärkste Seite. »Hier, lies das!«

Er gab ihr den Zettel und trat nervös ans Fenster. Diese Warnung oder Drohung, wie immer der Text gemeint war, beunruhigte ihn doch mehr, als er sich anfänglich hatte eingestehen wollen.

»Und weiter?« fragte Hazel und trat neben ihn. »Ist das alles?«

»Als du heute nacht von mir gegangen bist, war der Zettel noch nicht da«, erzählte der Privatdetektiv. »Aber heute morgen, als Chefinspektor Hempshaw anrief, lag er unter dem Telefon. Ich habe die Wohnung wie immer verschlossen, und es war bestimmt niemand an den Schlössern oder an den Fenstern.«

»Wie ist der Zettel dann in dein Zimmer gekommen?« fragte sie verblüfft.

»Das ist es eben.« Rick Masters zuckte unbehaglich die Schultern. »Ich dachte zuerst, du hättest dir einen Scherz erlaubt.«

»Auf keinen Fall!« versicherte sie noch einmal. »Rick, an welchem Fall arbeitest du derzeit?«

Er schüttelte den Kopf. »Daran habe ich auch schon gedacht, daß ich für jemanden eine Gefahr geworden bin. Aber ich habe im Moment keinen Fall, Hazel. Ich bin arbeitslos.«

»Und dein letzter Fall, in dem jemand über besondere Fähigkeiten und übersinnliche Kräfte verfügte?« bohrte sie weiter.

»Der letzte Fall mit übersinnlichen Phänomenen spielte sich in Edinburgh ab, aber das war eine harmlose Sache. Niemand würde mir deshalb nach dem Leben trachten.«

Hazel las den Zettel noch einmal durch. Sie nagte nachdenklich an ihrer Unterlippe, bis sie sich zu einem Entschluß durchgerungen hatte. »Rick, vielleicht ist es keine Drohung sondern eine Warnung?«

»Möglich.« Rick schien diese Erklärung nicht zu gefallen.

»Möchtest du nicht für einige Zeit zu mir ziehen?« bot Hazel an.

Rick lehnte ab. Er sah keinen Grund seine Wohnung zu verlassen. Sie sprachen noch eine Weile über die mysteriöse Nachricht, bis sich Hazel an etwas erinnerte.

»Wo ist eigentlich Dracula?« erkundigte sie sich nach dem Hund, den sie ihm vor einiger Zeit geschenkt hatte.

Rick Masters stutzte, sein Gesicht wurde weiß. »Ich habe keine Ahnung«, murmelte er und sprang auf. »Er muß noch in der Wohnung sein!«

Gemeinsam machten sie sich auf die Suche.

Sie fanden Dracula unter dem Bett. Er lag lang ausgestreckt in der hintersten Ecke und rührte sich nicht, als sie ihn riefen.

»Schnell, hilf mir!« keuchte Rick erschrocken.

Sie schoben das Bett von der Wand, Rick kletterte nach hinten und holte Dracula aus der Ecke. Schlaff hing der kleine Mischling in seiner Hand und blieb wie tot liegen, als Rick ihn auf die Matratze bettete.

»Ist er… Ist er…? setzte Hazel stockend an.

Rick Masters befühlte den Brustkorb des Tieres. »Nein, er lebt«, sagte er leise. »Aber – das ist merkwürdig… Als ob er betäubt wäre…«

»Ich rufe Dr. Tulley an«, entschied Hazel und griff zum Telefon.

Ihr Name veranlaßte Dr. Tulley, so schnell wie möglich zu kommen. Er warf einen kurzen Blick auf den Hund, untersuchte ihn flüchtig und wandte sich ernst an Rick Masters. »Wie lange befindet er sich schon in diesem Zustand?« fragte er.

Rick zuckte hilflos mit den Achseln. »Ich hatte ihn heute morgen völlig vergessen. Es hatten sich einige wichtige Dinge ereignet«, fügte er zu seiner Entschuldigung hinzu. »Es ist jetzt elf Uhr vormittags. Seit mindestens vier Stunden, Doktor.«

»Betäubt wurde er nicht«, erklärte der Tierarzt. »Weder durch einen Schlag noch durch Gift. Ich glaube auch nicht an eine Krankheit oder ein körperliches Versagen. Am besten, ich nehme den Hund in meine Praxis mit, damit ich ihn untersuchen kann.«

Schweren Herzens fügte sich Rick Masters in die Anordnungen des Arztes. Er hing an seinem Hund.

Hazel blieb noch eine Weile bei ihm, um ihn zu trösten und mit ihm den Fall durchzusprechen, dann mußte sie zurück in ihr Büro.

»Halte mich auf dem laufenden«, bat sie ihn, ehe sie ging. »Und sei vorsichtig!«

Rick nickte und küßte sie zerstreut. Er nahm es kaum wahr, daß sie die Wohnung verließ.

Für den Privatdetektiv stand fest, daß die Botschaft und der unerklärliche Zustand Draculas in einem Zusammenhang standen. Und damit war seiner Meinung nach erwiesen, daß er sich in höchster Gefahr befand.

Er hatte nur nicht die geringste Ahnung, von welcher Seite ihm diese Gefahr drohte und wie er ihr begegnen konnte!

*

Nachdem er die Papiere in seiner Brieftasche gesichtet und geordnet hatte, fuhr Rick Masters zu Scotland Yard. Seit Jahren arbeitete er mit der Londoner Kriminalpolizei zusammen. Er konnte sich jederzeit an Chefinspektor Hempshaw um Hilfe wenden. Schließlich hatte er dem Chefinspektor schon oft aus der Klemme geholfen, vor allem, wenn in einem Kriminalfall Übersinnliches mitspielte.

Die Wachen kannten ihn und ließen ihn ungehindert passieren. Er fuhr mit dem Lift nach oben und betrat das modern eingerichtete Büro des Chefinspektors.

Hempshaw saß über seinen Schreibtisch gebeugt und hob nur den Kopf, als der Privatdetektiv hereinkam. Über sein kantiges Gesicht flog ein breites Grinsen.

»Also doch!« rief er zufrieden.

»Was heißt, also doch?« fragte Rick gereizt und ließ sich auf den Besucherstuhl fallen.

»Ich wußte schon heute morgen, daß bei Ihnen etwas nicht stimmt, Rick«, erwiderte der Chefinspektor. »Auch wenn Sie nicht mit der Sprache herausrücken wollten. Ich habe es gemerkt. Wo brennt es?«

»Seltsame Besucher und bewußtlose Hunde«, entgegnete der Privatdetektiv und schloß eine ausführliche Erklärung an.

»Und was erscheint Ihnen an der Nachricht unter Ihrem Telefon so seltsam?« fragte der Chefinspektor verblüfft. »Sie haben bestimmt nicht richtig zugeschlossen.«

»Ausgeschlossen«, behauptete Rick überzeugt.

»Sie hätten meinen Experten die Untersuchung der Sicherungen Ihrer Wohnung überlassen sollen.« Der Chefinspektor hob gleichmütig die Schultern und ließ sie wieder sinken.

Zwar war Rick Masters nach wie vor davon überzeugt, daß er nichts übersehen hatte, aber er konnte Hempshaw nicht überzeugen. Der Chefinspektor war überhaupt ein großer Skeptiker, was übersinnliche Phänomene betraf. Er war und blieb eben Polizist.

»Und wie ist das mit Dracula?« fragte Rick kampflustig. »Haben Sie dafür auch eine Erklärung?«

»Ich bitte Sie, Rick!« Chefinspektor Hempshaw breitete die Arme aus und ließ die Hände auf die Schreibtischplatte fallen. »Kleinigkeit! Wieviel Gift liegt heutzutage auf den Straßen herum!«

»Tatsache bleibt, daß jemand einen Zettel in meine Wohnung geschmuggelt hat«, beharrte Rick.

»Jemand, der es gut mit Ihnen meint«, behauptete der Chefinspektor.

»Wieso denn das?« fuhr Rick gereizt auf. »Behaupten Sie vielleicht noch, daß es ein Freund war?«

»In gewisser Hinsicht schon.« Chef­inspektor Hempshaw war sich seiner Sache ganz sicher. »Wäre es nämlich ein Feind gewesen, hätte er sich nicht die Gelegenheit entgehen lassen. Dann säßen Sie jetzt nicht hier, sondern würden bereits im Leichenschauhaus liegen!«

Rick Masters fröstelte bei der Vorstellung. »Möglich, daß Sie recht haben«, gab er zu und zog seine Brieftasche hervor. »Kann ich telefonieren? Ich möchte den Tierarzt anrufen. Ich habe mir seine Telefonnummer notiert. Wo ist denn der Zettel? Ach, hier!«

Rick holte ein Stück Papier aus der Brieftasche und stockte. Seine Augen weiteten sich.