Der Geisterjäger 7 – Im Steinbruch der Hölle

Der Geisterjäger –7–

Im Steinbruch der Hölle

Roman von Andrew Hathaway

Polizist in einer Großstadt war ein schwerer Beruf. Polizist im dichtesten Londoner Nebel war das schlimmste.

Das fand wenigstens der junge Constable Angus Jefferson. Langsam ging er durch die stille Straße. Seine Schritte wurden von dem wattegleichen Nebel geschluckt.

Unter einer Laterne blieb er stehen. Constable Angus Jefferson wußte nicht, daß er nur einen Schritt nach links machen mußte, um einen Mörder zu berühren.

Einen Mörder, der von dämonischen Kräften getrieben wurde.

Einen Mörder, der in den nächsten Minuten nach den Gesetzen der Schwarzen Magie eine Hinrichtung vollziehen sollte.

*

Die Augen des Mörders durchdrangen mühelos den Nebel, der für Menschen eine undurchsichtige Wand bildete. Er sah den Constable auf sich zukommen und drückte sich hinter eine Hecke.

Der Constable blieb unter der Laterne stehen und sah sich um. Es war völlig sinnlos. Er konnte nichts erkennen, und diesen Mörder konnte er schon gar nicht entdecken.

Dieser Mörder stand mit schwarzmagischen Kräften in Verbindung, wurde von ihnen gelenkt und vorwärts gepeitscht. Er mußte sich nach ihnen richten.

Er hatte gar keine andere Wahl. Er mußte diesen Mord ausführen.

Der Constable war ein Hindernis, wenn auch kein ernstes. Da dieser junge Mann völlig ahnungslos war, konnte er nichts tun, um ein Menschenleben zu retten.

Tatsächlich ging Angus Jefferson nach einigen Minuten weiter.

Es war gespenstisch still in der Straße im Londoner Stadtteil Mayfair. Die Menschen wagten sich nicht aus ihren Häusern. Zu Fuß wollte ohnedies niemand gehen, dafür waren die Zeiten zu unsicher. Und eine Fahrt mit dem Auto kam überhaupt nicht in Frage. Die Scheinwerfer drangen höchstens zwei Schritte weit. Danach wurde das Licht vom Nebel verschluckt.

Die Feuchtigkeit hing zwischen den Zweigen, durch die sich der Mörder schob. Er näherte sich lautlos dem Villengebäude, das von der Hecke vor neugierigen Blicken geschützt wurde.

Im ganzen Haus schien kein Licht zu brennen. Das täuschte. Sämtliche Lampen waren eingeschaltet. Der Besitzer des Gebäudes, Bankier Thomas Croft, hatte es angeordnet.

Thomas Croft, siebenundfünfzig, ein untersetzter, zu Kurzatmigkeit neigender Mann, hatte seinem Hauspersonal allerdings auch eingeschärft, die Fensterläden zu verriegeln und die Türen unter keinen Umständen zu öffnen.

Der aufgedunsene Mann mit den wäßrigen hellblauen Augen hatte einen besonderen Grund, den er niemandem mitgeteilt hatte. Eine Person ausgenommen, aber an die dachte er in diesen Minuten nicht mehr.

Unten in der Halle des einstöckigen Hauses saßen zwei bewaffnete Leibwächter. Bankier Croft hatte sie bei einer privaten Firma gemietet. Mit ihren Karatekenntnissen und Schießkünsten sollten sie ihn vor seinem Mörder schützen.

Thomas Croft zweifelte nicht daran, daß dieser Killer den dichten Nebel ausnutzte. Sein Feind bluffte nicht. Er hatte Croft den Tod geschworen und würde sich an seinen Schwur halten.

Im Laufe der Jahre hatte sich Thomas Croft eine so große Menschenkenntnis durch seinen Beruf angeeignet, daß er zwischen leeren Drohungen und ernstzunehmenden Ankündigungen unterscheiden konnte.

Die Festsetzung seiner Hinrichtung für diese Nacht war sehr ernst zu nehmen.

Trotzdem war Bankier Thomas Croft davon überzeugt, daß dieser Mord nicht stattfinden konnte. Das Haus war hermetisch abgeschlossen. Die Leibwächter und sein zahlreiches Personal verhinderten das Eindringen des Mörders. Und Croft hatte sich zusätzlich in seinem Arbeitszimmer eingeschlossen.

Es besaß nur ein Fenster und eine Tür, beide verschlossen und doppelt gesichert. Vor dem Fenster hatte er einen eisernen Rolladen heruntergelassen und von innen verriegelt.

Wer sollte in dieses Gebäude eindringen? Und einen schweren Mörser oder eine Fliegerbombe würde der Killer kaum einsetzen.

Dennoch zitterten Thomas Croft die Hände, als er sich einen doppelten Whisky eingoß. Er saß hinter seinem Schreibtisch und starrte auf die grüne Schreibunterlage. Hier hatte er viele Stunden seines Lebens verbracht.

Wenn es nach dem Willen eines Unbekannten ging, sollte er hier auch sein Leben beschließen.

»Niemals werde ich mich beugen!« zischte Thomas Croft. Er hatte bereits Alkohol getrunken und dadurch Mut bekommen. Falschen Mut. »Und wenn dieser Kerl mit der Hölle im Bund steht! Ich gebe nicht nach.«

Er setzte das Glas an die Lippen und kippte den Whisky auf einen Zug hinunter, seufzte tief und spürte das Brennen, das sich in seinem Magen ausbreitete. Wohlige Wärme stieg in seinem Körper auf und nebelte seinen Verstand ein.

Deshalb blieb er auch ganz still sitzen, als er seinen Mörder erblickte. Er starrte fassungslos auf die Waffe, und als ihn der erste Schlag traf, war es schon zu spät.

Er konnte nicht mehr entkommen.

Die verzweifelten Schreie des Eingeschlossenen gellten durch das Haus.

Leibwächter und Bedienstete stürzten in den ersten Stock und versuchten, die Tür des Arbeitszimmers aufzubrechen. Ohne Werkzeug war das unmöglich. Die Tür war von innen abgeschlossen, und es gab keinen zweiten Zugang zu diesem Raum.

Es schellte Sturm an der Haustür. Ein zitterndes und weinendes Hausmädchen öffnete.

Constable Angus Jefferson stürmte herein. Von dem Butler, einem würdigen älteren Mann, erfuhr er, was geschehen war, und gab über sein tragbares Funkgerät Alarm.

Der Constable besaß dann auch so viel Verstand, aus dem Keller eine Hacke und einen Spaten zu holen. Damit hebelte er die Tür auf, hinter der es inzwischen still geworden war.

Noch bevor der erste Streifenwagen bei der Villa im vornehmen Londoner Stadtteil Mayfair eintraf, platzte die Tür auf. Der Polizist hielt die anderen zurück.

Auf den ersten Blick war klar, daß dem Hausherrn nicht mehr zu helfen war. Seine Leiche lag auf dem wertvollen Perserteppich.

Nicht nur der Polizist, auch die beiden Leibwächter wurden grün im Gesicht und torkelten stöhnend zurück. Der Butler brach mit einem Herzinfarkt zusammen.

Diesen Anblick konnten auch die stärksten Nerven nicht ertragen.

*

»Bei diesem Wetter ist man froh, wenn man das Haus nicht verlassen muß«, stellte Rick Masters fest. Er stand am Fenster des Speisezimmers. Er und seine Freundin Hazel Kent hatten soeben ein Diner abgeschlossen, das sich über vier Stunden hingezogen hatte.

Pierre, Hazels französischer Koch, hatte sich wieder einmal selbst übertroffen.

»Richten Sie Pierre aus, daß es ausgezeichnet war, Seton«, sagte Hazel Kent zu ihrem Butler. »Und vielen Dank, daß Sie so lange wachgeblieben sind.«

»Madam!« Butler Seton, im Dienst ergraut, verneigte sich und zog sich zurück.

Gleich darauf hörte man das Klingeln des Telefons in der Halle.

»Wer ruft denn noch so spät an?« fragte Rick erstaunt und wandte sich von dem Ausblick in den Nebel ab. »Doch hoffentlich nicht für mich?«

»Hast du hinterlassen, wo du bist?« fragte Hazel mit aufkeimendem Mißtrauen.

»Das nicht, aber wenn es der Chefinspektor ist, weiß er, wo er mich finden kann, wenn ich nicht zu Hause bin.«

Rick Masters war ein bekannter Privat- und Geisterdetektiv, der oft mit Scotland Yard zusammenarbeitete. Daher war die Idee gar nicht so absurd, daß ihm der Anruf gelten könnte.

Normalerweise hätte der Butler im Speisezimmer erscheinen und melden müssen, wer für wen anrief. Als er es nicht tat, stand Hazel auf und ging zur Tür.

»Seton, was war es?« fragte sie in die Halle hinaus.

»Verzeihung, Mrs. Kent, privat für mich«, ertönte die merkwürdig unsichere und schwankende Stimme des Butlers. »Es war nur eine Ausnahme. Entschuldigen Sie die Störung.«

Rick konnte zwar nicht den Butler, wohl aber seine Freundin sehen. Sie runzelte die Stirn.

»Kommen Sie schon, Setan!« forderte sie ihren Butler auf. »Da stimmt doch etwas nicht. Kommen Sie herein! Sie sind ja ganz blaß! Setzen Sie sich, Rick, bitte!«

Der Geisterdetektiv verstand den Wink und schenkte Kognak in einen bauchigen Schwenker ein. Er reichte Hazel das Glas, die es an Setons Lippen setzte.

Der Butler war sichtlich mitgenommen. Zusammengesunken kauerte er auf einem der mit gelber Seide bespannten Stühle. Seine Hände zitterten so heftig, daß Hazel für ihn das Glas halten mußte.

»Danke, Mrs. Kent, es geht schon wieder«, murmelte er und wollte aufstehen, aber Hazel Kent drückte ihn energisch nieder.

»Kommt gar nicht in Frage, Seton! Erst erholen Sie sich. Was ist denn passiert?«

Der nicht mehr ganz junge Butler seufzte schwer. »Ich habe soeben erfahren, daß einer meiner Kollegen und Freunde vor fünf Minuten einen Herzinfarkt erlitten hat. Er ist tot.«

»Das tut mir leid«, sagte Hazel aufrichtig. »War das so überraschend?«

»Allerdings! Francis war zwar einige Jahre älter als ich, aber er war nicht krank! Ein Schock hat den Infarkt ausgelöst. Sein Herr ist ermordet worden. Ein Stubenmädchen hat mich angerufen. Sie konnte kaum sprechen vor Aufregung. Der Mord muß besonders schrecklich gewesen sein.«

Nun schenkte Rick auch für sich und seine Freundin Kognak ein. Hazel nahm das Glas dankend an.

»Kenne ich den Arbeitgeber Ihres Freundes?« fragte sie.

»Nein, Mrs. Kent, Sie hatten nie etwas mit Mr. Croft zu tun«, erwiderte der Butler.

»Thomas Croft?« rief Rick. Er richtete sich so hastig auf, daß er beinahe den Kognak verschüttet hätte. »Der Bankier Thomas Croft?«

Butler Seton nickte steif. »Ja, Croft in Mayfair.«

Rick ließ sich mit einem tiefen Seufzer auf seinen Stuhl zurücksinken.

»Thomas Croft!« Er schüttelte den Kopf. »Also doch!«

»Was heißt das?« Hazel kam zu ihm und blieb vor ihm stehen. Sie musterte ihn aufmerksam mit ihren klaren grauen Augen. »Rick, hast du denn irgend etwas mit diesem Mr. Croft zu tun?«

Der Geisterdetektiv nickte. »Er kam vor vierzehn Tagen zu mir. Er behauptete, er werde erpreßt. Ich habe ihn an die Polizei verwiesen. Du weißt, daß ich keine gewöhnlichen Fälle mehr übernehme. Und jetzt ist er tot.«

»Bringen Sie bitte… nein, Seton, bleiben Sie sitzen, ich hole Mr. Masters Jacke selbst.« Hazel ging in die Halle. Sie kannte ihren Freund gut genug, um zu wissen, daß er sich dieses Falles annehmen würde.

Rick nickte ihr dankbar zu, als sie ihm die Lederjacke entgegenstreckte. »Ich nehme Dracula mit, Darling«, sagte er und zog sie in seine Arme. »Hinterher fahre ich nach Hause. Warte nicht auf mich.«

»Ich weiß.« Hazel bemühte sich, ihre Enttäuschung zu verbergen. Ihr Freund ging vollständig in seinem Beruf auf. »Viel Erfolg, und paß auf dich auf.«

»Wenigstens hat man uns das gemeinsame Essen gegönnt.« Rick küßte sie und grinste verlegen. »Danke«, sagte er. Damit bedankte er sich nicht nur für das köstliche Essen, sondern auch für Hazels Verständnis. Sie war die erste Frau in seinem Leben, die es akzeptierte, daß für ihn sein Beruf das wichtigste war.

Er rief nach Dracula, seinem kleinen Mischlingshund, der ihn auf Schritt und Tritt begleitete. Gemeinsam stiegen sie in den Wagen des Geisterdetektivs und machten sich auf den Weg.

Es wurde eine beschwerliche Fahrt von Westminster, wo Hazel Kent das wunderschöne, viktorianische Stadthaus besaß, nach Mayfair. Fast nur im Schrittempo tastete sich der Geisterdetektiv mit seinem Wagen durch die ausgestorbenen Straßen.

Er war ausnahmsweise bereit, einen Kriminalfall zu übernehmen, in dem keine übersinnlichen Kräfte mitspielten. Er fand, daß er es nachträglich Mr. Croft schuldig war.

Es stand keineswegs fest, daß Rick Masters den Bankier hätte retten können. Aber das Gegenteil war auch nicht klar.

Rick nahm sich vor, den Mörder zu finden, auch wenn er diesmal ohne Auftrag und auf eigene Kosten arbeiten mußte.

*

Vor der Villa des Bankiers standen die Wagen der Mordkommission von Scotland Yard. Ihre Blaulichter, die sich langsam auf den Dächern drehten, kennzeichneten sie schon auf größere Entfernung. Ansonsten war der Nebel noch immer so schlimm wie am frühen Abend.

Rick stellte seinen Morgan, einen offenen Sportwagen im Oldtimerlook aber mit moderner Technik, hinter den Streifenwagen ab. Damit kein anderer Wagen auffuhr, montierte er neben der Windschutzscheibe ein abnehmbares Blaulicht. Er durfte es in Notfällen benutzen, weil er oft offiziell für Scotland Yard unterwegs war. Dann kam es gelegentlich auf Sekunden an.

Die Polizisten kannten den Geisterdetektiv und ließen ihn passieren. Er lief die Auffahrt hinauf. Die Villa tauchte aus dem Nebel auf, düster und drohend. Auf sein Klingeln öffnete ein uniformierter Polizist.

Rick betrat eine andere Welt. Hier drinnen war es trocken, warm und hell. Sämtliche Lichter brannten, als würde ein Fest gefeiert.

Auf der Treppe zum resten Stock kamen Rick zwei Männer entgegen, die er sehr gut kannte. Sie blieben stehen, als sie ihn erblickten.

»Rick?« rief Chefinspektor Kenneth Hempshaw überrascht. »Was tun Sie hier?«

»Hallo, Rick!« rief der zweite Mann, ein weißhaariger, hagerer Mann mit einer dicken Brille mit Goldrand und Lachfalten in den Augenwinkeln. »Sie können es wohl nicht lassen, Ihre Nase in anderer Leute Angelegenheiten zu stecken?«

Der zweite Mann war Dr. Sterling, Polizeiarzt beim Yard und seit vielen Jahren in Hempshaws Kommission tätig. Im Yard war er wegen seiner spitzen Zunge berüchtigt.

»Seltsam!« Hempshaw kam die restlichen Stufen herunter und blieb vor dem Geisterdetektiv stehen. »Ich wollte Sie soeben anrufen und Sie um Hilfe bitten.«

»Im Mordfall Croft?« fragte Rick überrascht. Nun war die Reihe an ihm, über dieses Zusammentreffen zu staunen. »Ist es einer meiner Spezialfälle?«

Hempshaw legte sich nicht fest. »Es ist immerhin sehr rätselhaft«, räumte er ein und warf einen mißtrauischen Blick zu Dracula, dem kleinen Hund mit den überdimensionalen Ohren. Rick hielt ihn vorsichtshalber auf dem Arm, weil Dracula leidenschaftlich gern den Chefinspektor in das Hosenbein biß.

Rick schilderte zuerst, wieso er so schnell von dem Mord erfahren hatte.

»Croft hat nicht gesagt, wer ihn erpreßt?« forschte Hampshaw, nachdem der Geisterdetektiv geendet hatte.

Rick schüttelte bedauernd den Kopf. »Dann wären wir einen ganzen Schritt weiter. Es ging um eine hohe Summe, und Croft hatte keine Lust zu zahlen. Ich sagte ihm, daß ich mich um solche Fälle nicht mehr kümmere und daß er zur Polizei gehen soll. Er wäre bei Scotland Yard gut aufgehoben.«

»Danke für die Blumen«, erwiderte der Chefinspektor. »Er kam nicht zu uns, aber er umgab sich mit privaten Wächtern und verwandelte sein Haus in eine Festung. Sehen Sie sich den Toten an, dann werden Sie mich verstehen, wieso ich den Fall rätselhaft finde.«

Sie stiegen die Treppe wieder hinauf. Dr. Sterling schloß sich an.

»Sie werden sehen, Rick«, prophezeite er, »an diesem Mord beißen Sie sich die Zähne aus.«

»Da wäre ich an Ihrer Stelle nicht so sicher, Doc«, erwiderte Rick. »Ich habe bisher noch jeden Fall gelöst.«

»Abwarten.« Das war der einzige lakonische Kommentar des alten Polizeiarztes, und er machte Rick stutzig. Offenbar handelte es sich tatsächlich um ein sehr kniffliges Problem.

»Der Hausherr hatte sich in seinem Arbeitszimmer im ersten Stock eingeschlossen«, erklärte der Chefinspektor, während sie über den Korridor schritten. »Das Personal und die Leibwächter mußten zusammen mit einem Constable die Tür aufbrechen. Es besteht also kein Zweifel daran, daß sie tatsächlich von innen abgeschlossen war.«

Der Chefinspektor deutete auf eine schwere, kunstvoll verzierte Tür mit Kassettenmuster. Das Schloß war herausgebrochen, auch die oberste Angel hing nur mehr lose in ihrer Verankerung.

Hempshaw traf noch keine Anstalten, den Raum zu betreten, in dem die Männer der Spurensicherung an der Arbeit waren.