Der Geisterjäger 9 – Die Eisdämonen

Der Geisterjäger –9–

Die Eisdämonen

Roman von Andrew Hathaway

Die Männer standen im heulenden Schneesturm. Gebannt sahen sie der mächtigen Gestalt entgegen, die auf sie zutorkelte.

In dicke Pelze eingehüllt, näherte sich ein Fremder der Forschungsstation. Seine Schritte waren unsicher, als wäre er am Ende seiner Kräfte.

Die Männer kämpften sich durch den Sturm vor. Sie wollten dem Unbekannten helfen.

Noch ehe sie ihn erreichten, stürzte er und rührte sich nicht mehr.

Erschrocken beugten sie sich über den Unbekannten und prallten zurück.

Vor ihnen lag ein kompletter Fellanzug mit Kapuze und Stiefeln. Aber dieser Fellanzug war leer… Vollkommen leer.

*

»Manchmal fällt mir dieses Londoner Wetter ganz schön auf die Nerven«, sagte Rick Masters gereizt. »Regen, Regen und noch einmal Regen. Ein wenig Abwechslung wäre nicht schlecht.«

»Was wollen Sie, Rick?« Chefinspektor Hempshaw runzelte die Stirn. »Sie leben nun einmal in London. Der englische Winter bringt Regen mit sich.«

»Und der englische Frühling und der englische Sommer und der englische Herbst, das wollten Sie doch sagen, nicht wahr?« Der Geisterdetektiv Rick Masters musterte seinen Freund von Scotland Yard mit einem ungeduldigen Blick. »Am liebsten würde ich meine Sachen packen und irgendwo in der Südsee ein paar Monate Urlaub machen.«

»Was hindert Sie daran?« erkundigte sich der Chefinspektor.

»Mein Bankkonto.« Rick grinste. »Es erlebt wieder einmal eine ganz große Ebbe. Wovon soll ich einen Urlaub bezahlen?«

»Lassen Sie sich von Rick nichts vormachen«, warf Hazel Kent ein, Ricks Freundin. »Es ist gar nicht das Wetter!«

Rick sah sie überrascht an. »Ach nein?« fragte er. »Was denn? Ich sage nur, was ich mir denke, und ich mag dieses Wetter nicht.«

Hazel lächelte dem Chefinspektor zu. »In Wirklichkeit kommt Ricks schlechte Laune daher, daß er schon lange keinen seiner speziellen Fälle mehr bekommen hat. Sie wissen schon, Fälle mit übersinnlichen Phänomenen. Er platzt vor Langeweile. Das ist es.«

»Ich gebe mich geschlagen«, seufzte der Geisterdetektiv.

Mehr brauchte er im Moment nicht zu sagen. Die Kellner brachten die Vorspeise, so daß sich Rick und seine Freunde dem Essen widmen konnten. Hazel Kent hatte in eines der besten Restaurants von London eingeladen, weil sie sich davon eine Aufmunterung ihres Freundes erhoffte. Chefinspektor Hempshaw nahm daran teil, weil er seit Jahren mit Rick zusammenarbeitete und sie einander immer halfen.

»Warum wollen Sie sich nicht um ein paar normale Kriminalfälle kümmern?« nahm der Chefinspektor nach einiger Zeit den Faden wieder auf. »Ich hätte eine Menge Arbeit.«

»Und er zahlt?« Rick prostete Hempshaw zu. »Ich bin Privatdetektiv. Ich brauche einen zahlenden Auftraggeber, sonst komme ich nie zu meinem Urlaub in der Südsee.«

»Fälle mit magischen Einflüssen übernimmst du auch ohne Bezahlung«, erinnerte ihn Hazel Kent.

»Das ist richtig«, räumte er ein. »Aber diese Fälle muß ich einfach übernehmen. Wer sollte es außer mir sonst tun?«

»Sie sind berechnend und geldgierig«, behauptete Chefinspektor Hempshaw.

Er meinte den Vorwurf nicht ernst, und sie unterhielten sich gut. Das Essen war ausgezeichnet, und Hazel erreichte ihren Zweck. Ihr Freund war blendender Laune, als sie das Restaurant verließen.

»Kommt doch noch zu mir«, schlug Rick vor und nahm Dracula auf den Arm.

Dracula, sein kleiner Hund, wollte nämlich Hempshaws Hose zerreißen. Zwischen dem Hund und dem Chefinspektor herrschte eine Abneigung, für die niemand einen Grund angeben konnte. Um Unheil vorzubeugen, trennte Rick die beiden lieber.

Hazel Kent war mit Ricks Vorschlag einverstanden, und auch Hempshaw hatte nichts dagegen einzuwenden.

Eine Viertelstunde später war Hazel auf sich selbst wütend. »Hätte ich nur nicht ja gesagt!« rief sie, als Rick in seinem Wohnbüro in der Londoner City ein Telegramm vorfand. »Der Abend ist geplatzt.«

»Das nicht«, antwortete Rick und überflog den Text des Telegramms noch einmal.

»Aber gleich morgen früh mache ich mich auf den Weg.«

»Und wohin?« erkundigte sich Chefinspektor Hempshaw.

Rick sah ihn erstaunt an. »In die Antarktis, wohin denn sonst?«

Hazel starrte ihren Freund verblüfft an. Dann brach sie in schallendes Lachen aus. »Na bitte, das ist dein Urlaub in der Südsee. Ein wenig weit südlich, findest du nicht? Aber auf jeden Fall hast du dort anderes Wetter als in London.«

»Stimmt«, murmelte Rick.

Er hatte sich seinen Urlaub etwas anders vorgestellt. Aber schließlich ging es nicht um Urlaub, sondern um einen wichtigen Fall, um übersinnliche Phänomene und Geister und Dämonen. Da gab es für Rick Masters kein Zögern. Auch nicht, wenn er zum Südpol reisen mußte.

*

Zwei Personen waren für ›Charly‹ verantwortlich. Sie hießen Mervin Sanders und Lilian Harper. ›Charly‹ hieß in Wirklichkeit sehr nüchtern CXM 304, und war eine wissenschaftliche Forschungsstation in der Antarktis. Da die insgesamt neunundzwanzig Köpfe zählende Besatzung diese Buchstaben-Zahlen-Kombination nicht mochte, hatten die Wissenschaftler ihre Station auf den klingenden Namen ›Charly‹ getauft.

In der Besprechung zwischen Mervin Sanders und Lilian Harper ging es nun um die Sicherheit von Charly.

»Sie glauben wirklich, Mervin, daß Sie das Richtige tun?« fragte Lilian Harper.

Sie war Anfang dreißig und eine kühle, blonde Schönheit mit dunklen Augen und einer Figur, die ihr bei einem Berufswechsel sofort eine Stelle als Mannequin eingetragen hätte. Sie war Biologin und die stellvertretende Leiterin der Station ›Charly‹ CXM 304.

»Ich bin davon überzeugt, Lilian«, erwiderte Mervin Sanders. Er paßte zu seiner stets beherrschten Stellvertreterin wie die Faust aufs Auge, temperamentvoll, leicht aufbrausend. Auf seinem Kopf und an seinem Kinn wucherten ungezügelt rote Haare. »Ich habe unsere vorgesetzte Dienststelle benachrichtigt«, erklärte der Meteorologe. »Sie haben versprochen, sofort einen geeigneten Mann zu schicken.«

»Das meine ich nicht, Mervin, und das wissen Sie auch ganz genau.« Lilian Harper hob unwillig die Augenbrauen. »Warum weichen Sie mir aus? Ich interessiere mich für diesen Rick Masters. Sie wissen, daß unsere Arbeit hier sehr wichtig und teilweise geheim ist.«

»Ich habe das Ministerium um Erlaubnis gebeten, und niemand hat etwas gegen Rick Masters einzuwenden.« Sanders lachte zufrieden. »Was sagen Sie jetzt?«

»Alles in Ordnung.« Lilian Harper ließ sich nicht anmerken, was sie dachte. »Andererseits halte ich nichts davon. Was soll ein Privatdetektiv in unserer Station? Und was sollen diese düsteren Andeutungen, er sei Experte für übersinnliche Phänomene? Welche übersinnlichen Phänomene, wenn ich fragen darf?«

Mervin Sanders starrte sie verblüfft an. »Das Auftauchen dieses merkwürdigen Fellanzugs, der von allein gehen konnte. Ist das kein übersinnliches Phänomen?«

Seine Stellvertreterin machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich war nicht dabei, ich habe es nicht mit eigenen Augen gesehen«, erklärte sie eisig. »Wer weiß, was wirklich passiert ist. Vielleicht hat der Sturm diesen leeren Fellanzug vor sich hergetrieben. Ich weiß doch, wie schlecht die Sicht an diesem Tag war.«

Mervin Sanders bemühte sich, den aufkeimenden Ärger zu unterdrücken. »Ich wünschte, Sie hätten es gesehen!« rief er temperamentvoll.

Lilian Harper stand auf und deutete damit an, daß sie das Thema nicht weiter verfolgen wollten.

»Der Anzug liegt noch im Depot«, erklärte Sanders. »Ich habe ihn für Rick Masters aufgehoben. Wollen Sie ihn prüfen?«

Lilian warf ihm einen forschenden Blick zu. Sie merkte, daß sie in ihrem Unglauben einen Schritt zu weit gegangen war. Um wieder einzulenken, nickte sie.

Fünf Minuten später betrat sie mit dem Leiter der Station einen der Lagerräume von ›Charly‹. Sanders schaltete das Licht ein und sah sich um.

»Der Anzug ist weg«, murmelte er verblüfft.

In diesem Moment heulte eine Alarmsirene auf. Durchdringend jaulte der auf- und abschwellende Ton durch die kahlen Gänge der Station.

Mit zwei Sprüngen war Mervin Sanders am nächsten Wandtelefon und riß den Hörer ans Ohr. Mit bebenden Fingern wählte er die Nummer der Zentrale.

»Was ist los?« schrie er, als er den Wachhabenden an den Apparat bekam.

»Keine Ahnung«, antwortete der Kollege. »Ich weiß nur, daß Sandra halb erwürgt in ihrer Unterkunft liegt und daß dieser verhexte Fellanzug aus ihrem Zimmer gekommen ist.«

Mervin Sanders ließ entgeistert den Hörer sinken und starrte seine Stellvertreterin an.

Sie nahm ihm den Hörer aus der Hand und ließ sich ebenfalls von dem wachhabenden Wissenschaftler schildern, was geschehen war.

Wortlos legte sie auf. Als sie sich zu Mervin Sanders umdrehte, war in ihrem Gesicht deutlich geschrieben, was sie dachte.

Hier sind alle übergeschnappt!

Sie sollte sich bitter täuschen…

*

Rick Masters schob Entscheidungen nie auf die lange Bank. Nachdem er das Telegramm seines alten Freundes Mervin Sanders aus der Antarktis erhalten hatte, stand für ihn fest, daß er diesen Auftrag übernahm.

Bereits am nächsten Morgen nahm er Kontakt zu der vorgesetzten Dienststelle seines Freundes auf und erfuhr zu seiner Überraschung, daß ihn die Behörden mit aller Kraft unterstützten.

»Sie brauchen nur einen Wunsch zu äußern, und er ist schon erfüllt«, versprach ihm der zuständige Mann.

»Gut«, sagte Rick zufrieden. »Dann möchte ich so schnell wie möglich reisen. Am besten schon gestern.«

Der Wunsch wurde erfüllt. Rick wurde streckenweise sogar mit Sondermaschinen der Luftwaffe befördert. Darüber wunderte er sich zwar, stellte jedoch keine Fragen. Er würde schon noch früh genug in der Forschungsstation alles Nötige erfahren.

Er kam um zwölf Uhr Ortszeit mit einem Hubschrauber an, der wegen des ununterbrochen tobenden Schneesturms kaum landen konnte. Der Pilot vollbrachte eine Meisterleistung, indem er eine nur wenige Minuten dauernde Pause des Sturms abwartete und den riesigen Vogel auf das Eis setzte.

Rick Masters war ja nicht gerade auf sommerliche Temperaturen vorbereitet, obwohl auf der südlichen Halbkugel Sommer herrschte, aber dieser eisige Sturm ließ doch seinen Atem stocken. Sobald er ins Freie sprang, glaubte er auf der Stelle zu erstarren. Er packte seinen Koffer, den ihm der Pilot aus der Maschine reichte und stolperte zum Eingang von CXM 304. Zu seiner Erleichterung öffnete sich die Tür, noch ehe er sich nach einer Klingel oder etwas Ähnlichem umsehen mußte.

Keuchend taumelte er in den Vorraum und holte tief Luft, als ihm Wärme entgegenschlug.

Eine hübsche junge Frau tauchte vor ihm auf. Sie mußte offensichtlich ein lautes Lachen unterdrücken.

»Willkommen in ›Charly‹, Mr. Masters«, sagte sie freundlich. »Kommen Sie mit dem Wetter nicht zurecht?«

Der Geisterdetektiv musterte sie, als käme sie von einem anderen Stern. »Da fragen Sie noch?« rief er. »Wer ist Charly?«

»Diese Station«, erklärte ihm die Wissenschaftlerin. Er wußte bereits, daß sich hier nur Fachleute aufhielten. Hilfspersonal gab es keines. Jeder mußte zupacken. »Sie haben übrigens Glück, Mr. Masters. Sie haben eine Hitzewelle erwischt.«

Rick grinste gequält, schüttelte den Schnee von dem dicken Pelz, den sie ihm bereits in London gegeben hatten, und er wollte noch etwas fragen, als ihn ein schrill jaulender Ton unterbrach.

»Alarm?« fragte er hastig.

Die junge Frau nickte und stürzte ans Telefon. Rick wartete ungeduldig, bis sie mit der Zentrale gesprochen hatte.

»Eine Kollegin ist fast erwürgt worden!« rief die Wissenschaftlerin. »Von dem leeren Fellmantel!«

Rick starrte sie schon wieder völlig entgeistert an. Er hatte keine Ahnung, was sich bisher in der Station abgespielt hatte.

»Wo ist die Zentrale?« rief er nur.

Sie zeigte ihm die Richtung.

Der Geisterdetektiv hetzte los. Seinen Koffer ließ er stehen. Jetzt ging es um Sekunden.

*

Rick Masters fand die Zentrale der Forschungsstation ohne Schwierigkeiten. Er brauchte nicht einmal jemanden von der Besatzung zu fragen.

Die Leute liefen aufgeregt durcheinander, schienen jedoch nicht zu wissen, was sie tun sollten.

Schon beim Anflug hatte Rick gesehen, daß die Station in Form einer riesigen Kuppel gebaut war. Die nach innen führenden Gänge endeten alle bei der Zentrale von ›Charly‹. Das war einfach.

Er erreichte eine rot gestrichene Tür und stieß sie auf, ohne vorher anzuklopfen. Ungefähr ein Dutzend Personen waren versammelt. Sie fuhren herum, als die Eisentür hart gegen die Wand schlug.

»Rick!« Mervin Sanders drängte sich zwischen den anderen durch und kam mit ausgestreckten Armen auf den Geisterdetektiv zu. »Genau im richtigen Moment! Leute, das ist Rick Masters aus London!«

Rick nickte nur flüchtig in die Runde. »Was ist passiert?« Er verzichtete auf eine lange Begrüßung.

»Wir haben ein Problem.« Mervin Sanders sprach gehetzt. »Ein Fremder kam auf unsere Station zu. Sah so aus, als wäre er verletzt oder erschöpft. Wir wollten ihm helfen, doch dann fanden wir nur einen leeren Fellanzug, so ein Ding, wie du selbst anhast. Wir haben den Anzug in unser Lager gebracht. Jetzt ist er verschwunden. Sandra wurde überfallen und gewürgt. Sie behauptet, daß es dieser leere Fellanzug gewesen sei. Zwei andere behaupten, sie hätten den Overall durch die Station gehen sehen. Klingt verrückt, nicht wahr?«

Ehe Rick antworten konnte, drängte sich eine blonde, kühl wirkende Frau vor. »Ich bin Lilian Harper, Mervins Stellvertreterin«, stellte sie sich vor. »Meiner Meinung nach klingt es nicht nur verrückt, es ist auch verrückt! Vielleicht haben wir einen Mann unter uns, der sich den Overall angezogen hat und uns damit erschrecken will.«

»Ein schlechter Scherz, wenn dabei jemand gewürgt wird, meinen Sie nicht auch?« konterte Rick. »Ganz gleich, was dahintersteckt, wir müssen den Overall und seinen Inhalt finden.«

»Ich glaube nicht an übersinnliche Phänomene«, sagte Lilian Harper scharf. Sie wollte die Fronten von Anfang an klären.

Rick lächelte kühl zurück. »Das hätten Sie nicht sagen müssen, Madam. Ich habe es bereits an Ihrem Gesicht gesehen. Aber ich mache Ihnen einen Vorschlag. Sie begleiten mich. Dann werden wir ja sehen, wer oder was in dem Overall steckt. Einverstanden?«

Jetzt konnte Lilian Harper keinen Rückzieher mehr machen. Sie nickte und schloß sich dem Geisterdetektiv und Mervin Sanders an, die sich sofort auf einen Rundgang machten.

*

Solange Rick Masters nicht mit eigenen Augen festgestellt hatte, daß magische Kräfte am Werk waren, blieb er mißtrauisch. Schon mehrmals hatte man versucht, ihm einen Streich zu spielen. Angeblich magische Einflüsse hatten sich später als harmlos erwiesen.

Deshalb blieb Rick auch jetzt skeptisch, obwohl vieles dafür sprach, daß es sich um Übersinnliches handelte. Er konnte sich nicht vorstellen, daß der Regierungsapparat so viel Geld für ihn ausgegeben hatte, wenn es nicht wirklich ernst wäre. In London lag bereits ein Scheck in seinem Wohnbüro, den er nach seiner Rückkehr und dem erfolgreichen Abschluß des Falles einlösen konnte. Und dieser Scheck war auch ganz beachtlich.

Übersinnlich oder nicht, auf alle Fälle war eine Frau gewürgt worden. Selbst wenn es sich um eine rein kriminalistische Angelegenheit handelte, war sie ernst genug. Und wenn Rick schon da war, wollte er sich auch darum kümmern.

»Ist jemand bewaffnet?« erkundigte er sich.