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mare

Alice Greenway

Schmale

Pfade

Roman

Aus dem Englischen

von Klaus Modick

mare

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
unter http://dnb.ddb.de abrufbar.

Die englische Originalausgabe erschien 2014
unter dem Titel The Bird Skinner bei Atlantic Monthly Press,
an imprint of Grove / Atlantic, Inc., New York
Copyright ©2014 by Alice Greenway

©2016 by mareverlag, Hamburg

Covergestaltung Nadja Zobel / Petra Koßmann, mareverlag, Hamburg
Abbildung: plainpicture / Spitta + Hellwig

Typografie (Hardcover) Farnschläder & Mahlstedt, Hamburg
Datenkonvertierung eBook bookwire

ISBN eBook: 978-3-86648-323-1
ISBN Hardcover-Ausgabe: 978-3-86648-232-6

www.mare.de

Für meine Mutter und meinen Vater,
in Erinnerung an meinen Großvater

Macht euch auf, ihr Leute von Gele,
ihr Leute von Lavalava,
ihr Leute von Vonjavonja,
ihr Leute von Elosagana.

Zieht hinauf nach Aku, bemannt vier Kanus;

zieht hinunter nach Yombavuru,

lasst vier Kanus zu Wasser;

zieht hinunter nach None,

lasst vier Aalbretter zu Wasser,

bereitet vier berauschende Nächte vor;

werft vier Ankertaue aus.

Ruft, Leute von Gele,

ruft, Leute von Lavalava,

ruft, Leute von Vonjavonja,

ruft, Leute von Elosagana;

lasst ihn herabkommen

und das Muschelhorn blasen,

herabkommen und das Netz auswerfen,

lasst ihn herabkommen.

Geht nach Mala Kinda, schöpft viermal Wasser;
geht nach Mbulolo, schöpft viermal Wasser;
geht nach Patu Lavata, werft vier Ankertaue aus.
Schwimmt, auf dem Rücken liegend,
aufs offene Meer hinaus;
schwimmt, auf dem Rücken liegend,
nach Lolo te Pome.

Geht zum Sitzenden Stein und wartet,
auf dass sie euch nach Santo geleiten mögen.


 Totengebet von den Salomonen.

 Nach: A. M. Hocart, Der Totenkult

 in Eddystone auf den Salomonen.

 1922

Prolog

Darüber geredet haben sie erst hinterher, am Ende des Sommers, nachdem die Sommergäste abgereist waren und man auf der Insel wieder frei atmen konnte. Sie redeten langsam, zögernd, in jenem gedehnten Tonfall, den man unten im Osten immer seltener zu hören bekommt, mit langen Pausen zwischen kurzen Äußerungen, als blieben die meisten Dinge am Ende lieber ungesagt.

Unten auf der Werft, wo sich der junge Floyd mit einem Defekt an der Elektrik herumschlug, eine Bilgenpumpe wiederbelebte, eine Kardanwelle justierte, die die Maschine fürchterlich ins Rütteln brachte; unten am Stadthafen, wo sie am Ende eines langen Tags ihre Boote abspritzten, sich aus Schlechtwetterjacken, Watstiefeln, Ölzeug und Gummihandschuhen schälten wie sich häutende Hummer; und dort unten war es auch, in Elliots Paralyzo, der einzigen Kneipe der Insel, wo sie den Schaum von ihrem Bier schlürften – und über Jim redeten.

Der alte Mann – wie ein uralter Bock oder wie ein alter, verletzter Hund, der im Wald nach einer vertrauten Höhle sucht. Wie Curtis’ Hund, der sich erst vor einer Woche den ganzen Weg bis zum Ufer geschleppt hatte, um da zwischen einem Haufen von Reusen herumzustreunen und seine Lieblingsgerüche zu schnuppern: salzige Seile, vergammelter Hering, sonnengebleichtes Holz, urzeitlicher Duft des vom Meeresgrund gehievten Schlamms. So, wie der Hund dalag, sah er aus, als sehnte er sich danach, noch ein letztes Mal mit hinausgenommen zu werden. Obwohl Curtis, selber gebeugt, lahm, rheumatisch, seit Jahren nicht mehr nach Hummern gefischt hatte.

»Der Alte muss es geahnt haben«, bemerkte Elliot und wischte über den langen Holztresen.

1973. Damals war es nicht üblich, dass Sommergäste schon vor dem ersten Juli eintrafen oder bis nach Labor Day blieben. Vom Inselleben angezogen, hingen vielleicht noch ein oder zwei Jugendliche herum und weigerten sich, nach Hause zu fahren. Aber größtenteils folgten die Sommergäste einem jahreszeitlichen Rhythmus. Sie fielen wie Zugvögelschwärme ein, und eine Generation folgte der nächsten. Zumeist Leute aus Boston, New York, Philadelphia. Zwei Monate lang besetzten sie fast jeden Felsen in der Penobscot Bay, und da konnte man sie dann sehen, wie sie über die Inseln wieselten und kraxelten, selbst noch bei dichtem Nebel Handtücher und Decken ausbreiteten, üppige Picknicks mit Käse, Brötchen, Muschelsuppe in Thermostöpfen, Hummersalat und Blaubeerkuchen auspackten. In der Passage, dem Gezeitenkanal zwischen Fox Island und Carvers Island, wimmelten sie hin und her in ihren Dingis mit Gaffelbetakelung, ihren hölzernen Herreshoffs, flitzten mit ihren flachbödigen Walbooten herum, verhedderten sich mit ihren Schrauben in den Leinen der Hummerkörbe.

An Land konnten sie noch lästiger werden. Echauffierten sich über ungestrichene Häuser, ungemähte Felder, ungeflickte Leitungen. Stolzierten in ihrem Sommergefieder auf und ab, fochten uralte, hoch entwickelte Revierkämpfe aus – und schwirrten wieder ab.

Es war also ungewöhnlich, dass Jim gegen Ende des Winters aufkreuzte. Heimlich, still und leise – sodass die Insulaner gar nicht recht sagen konnten, wie er aufgetaucht war. Er landete einfach wie ein vom Kurs abgekommener Vogel und blieb, als die Segelboote noch auf dem Ufer lagen. Der März brachte einen späten Sturm mit ein bis zwei Metern Schnee. Schnee türmte sich auf den Ladeflächen der Pick-ups und wurde zu beiden Straßenseiten gepflügt, wie ein Scheitel in weißem Haar.

»Sarah hätt’ den nich’ mitbringen könn’«, meint Floyd. Elliot schenkt den Männern, die sich für heute Abend auf den Heimweg machen, eine letzte Runde ein. »Sein’ Rollstuhl hätt’ sie ja nie und nimmer in ihre Karre gekriegt.«

Sarah ist die Erste, die einen kompakten Mitsubishi mit Fließheck fährt, während alle anderen auf Ford- und Chevy-Pick-ups schwören. »Ich nehm an, dass du Reis in den Vergaser kippst«, zieht Floyd sie gern auf.

Wenn es nicht Sarah war, musste es Stillman gewesen sein, ihr alter Herr, Hummerfischer, Hafenmeister und Verwalter von Jims Familiensommerhaus. Noch schweigsamer und undurchschaubarer als alle anderen.

Sie erinnerten sich noch an die Ankunft des Mädchens. Obwohl sie erst später, Mitte Juli, mit den letzten Sommergästen eingetroffen war, sodass sie ihnen eigentlich nur wegen ihrer Hautfarbe auffiel. Was nichts Besonderes heißen soll, bloß dass damals nicht so viele Schwarze an der Küste Maines lebten oder auch nur zu Besuch kamen. Ein Bursche, der draußen vor Stonington Hummer fing. Ein paar Matrosen, die auf den großen Schiffen arbeiteten und die Touristen aus Boston, Bar Harbor oder Damariscotta die Küste Neuenglands hochund runterschipperten.

Aber dieses Mädchen war anders. Nicht bloß schwarz, sondern pechschwarz, schwarz wie Bootsöl. Als wäre sie direkt aus Afrika gekommen. Mit dem großen Heiligenschein ihrer Haare und einem Kleid mit aufgedruckten, knallbunten Blumen, Hibiskusblüten wohl, wie jemand meinte, und einem altmodischen Lederkoffer mit Schnallen, der so aussah wie einer, den man vielleicht noch ganz hinten auf Muttis Dachboden findet. Noch sonderbarer war’s, dass sie bei Jim einzog.

Stillman kutschierte Jim runter zum Fähranleger. Viele von ihnen sahen zum ersten Mal mit eigenen Augen, dass der Alte ein Bein verloren hatte. Es war tatsächlich knapp oberhalb des Knies amputiert. Mit einer Krücke kam er allein zurecht, lehnte an Stillmans Laster und rauchte Kette.

»Guadalcanal«, ruft Curtis vom anderen Ende der Theke. Vornübergebeugt und triefäugig sieht er älter aus als sein toter Hund. Curtis war ein Kriegsveteran, hochdekoriert, nur dass die meisten vergessen hatten, wofür eigentlich.

»Was hast du gesagt?«, fragt Elliot und greift nach dem Glas, das Curtis über die Theke schiebt.

»Sie kam von Guadalcanal«, wiederholt er, die Worte genuschelt, aber eindringlich.

Guadalcanal also – nicht aus Afrika.

Sommerhaus bei Winterende

Einige der Männer, die schon
früher mit ihm gesegelt waren,
äußerten jedoch Mitleid,
ihn so behindert zu sehen.

Die Schatzinsel

Fox Island, Penobscot Bay, Maine, Juli 1973

Jim klemmt den Stuhl in den Küchendurchgang, um das Fliegengitter offen zu halten, und steckt sich die dritte oder vierte Zigarette an. Die Ärzte haben ihm gesagt, dass er aufhören soll. Das Trinken reduzieren, stark reduzieren, und das Rauchen völlig aufgeben. Zum Teufel damit. Das Bein ist sowieso weg. Das Nikotin macht ihn kribbelig und hypernervös. Eine schwer abzuschüttelnde Gereiztheit klebt so fest an ihm wie er selbst am Rollstuhl. Die Wahrheit ist, dass er einen Drink gebrauchen könnte, aber er wird einstweilen noch verzichten. Es ist das Mindeste, was er tun kann – dem Mädchen nicht halb betrunken zu begegnen.

»Immer sachte, immer sachte«, murmelt er laut vor sich hin. Er schließt die Augen und lenkt seine Konzentration auf Vogelstimmen. Das hat er sich schon als Junge angewöhnt. Eine bombensichere Methode, seine Gefühle im Griff zu behalten oder abzuschotten, so wie er es gernhat. Möwen – das Leitmotiv der Insel, Lachen oder Weinen, wie man’s nimmt. Das Geschimpfe eines Blauhähers. Das scharfe Zwitschern eines Rotkehlchens. Krähen patrouillieren unten bei Stillmans Haus über die Felder, ihre Stimmen kratzig, heiser wie Raucher und gebrochen wie pubertierende Jungs. Es gibt keinen Missklang – es ist ja Mittsommer und zwölf Uhr mittags –, aber aus dem nahen Wald kann er das dünne Kommher-Pfeifen einer Phœbe hören, das Quäken des Fischadlers, der hoch über der Landzunge kreist.

Da sind auch noch andere Geräusche. Das leise Nageln des Diesels von Adam MacDonalds spät auslaufendem Hummerboot. Einen Augenblick später schwappt die Bugwelle gegen die Holzpfosten und lässt den Anleger ächzen.

Jim klemmt sich die Zigarette zwischen die Zähne und schiebt sich aus der Tür über den holprigen Rasen an der Hausecke entlang. Von hier aus kann er über die abfallende Wiese zum Ufer blicken, wo die Ebbe mit Seegras und Seepocken übersäte Felsen freilegt, und über das braungrüne Wasser der Indian Cove ans Ende des Gezeitenkanals bis zum offenen Blau der Penobscot Bay. Im tiefsten Wasser der Bucht schaukelt eine Reihe von Stillmans orangen und gelben Hummerreusen an gefierten Leinen.

»Da oben kannst du nicht wohnen«, protestierte sein Sohn Fergus, als Jim seine Absicht verkündete, hier ins alte Sommerhaus in Maine zu ziehen. »Da bist du zu sehr abgeschnitten.«

»Verdammt richtig, ich bin abgeschnitten«, blaffte Jim. Er sah an seinem Stumpf herunter. Wenn das Bein oberhalb des Knies abgetrennt wird, bezeichnet man das als transfemoralen Schnitt. Dieser erschwert das Anpassen eines Holzbeins beziehungsweise einer Prothese, wie die Ärzte es zu nennen pflegen, obwohl Jim sich sowieso geweigert hat, eine zu tragen.

»Was passiert, wenn du hinfällst? Was, wenn du hängen bleibst?« Fergus wurde ungewöhnlich dünnhäutig. Vielleicht fühlte er sich schuldig, weil er es gewesen war, der Jim zum Arzt geschleppt hatte: Er war für die Operation seines Vaters eingetreten. Er beschwor Jim, vernünftig zu sein, eine Pflegerin oder Haushälterin einzustellen, bat ihn inständig, an Ort und Stelle zu bleiben, zumindest bis zum Sommer.

»Was, wenn ich hier hängen bleibe?«, fauchte Jim und knallte seine Krücke auf den Fußboden. Krüppel zu sein hatte immerhin den einen Vorteil, mit dem Krückstock Krach schlagen zu können.

In Wahrheit war er bereits hängen geblieben. Seit dem Krieg war er hängen geblieben.

Als ihm das Museum in New York freundlicherweise eine Stelle anbot, hatte er wieder angefangen zu arbeiten. Während der letzten dreißig Jahre beschäftigte – eher begrub – er sich dort mit dem Abfassen von Berichten über die Entdeckungen anderer Leute. Zuletzt war er damit befasst gewesen, in seiner Abteilung die Einzelproben von Arten zu katalogisieren, Präparate also, die als Erstes benutzt werden, um neue Arten und Unterarten zu bestimmen: das Standardverfahren, mit dem alle Neuentdeckungen abgeglichen werden. Das Museum verfügte über 6300 Proben, die in etwa ein Drittel aller weltweit bekannten Vogelarten abdeckten.

Es war akribische, detailgenaue Arbeit, bei der man staubige Archive durchforsten und unleserliche Beschriftungen entziffern musste, die manchmal auf Französisch oder Deutsch gekritzelt waren. Die Arbeit erforderte enzyklopädische Kenntnisse. Dennoch war sie sekundär, bürokratisch.

Irgendwelchen eigenen Forschungen war er nicht nachgegangen. Er war nicht gereist, es sei denn, man wollte das tägliche Pendeln von Greenwich in die Stadt und zurück als Reisen bezeichnen. Schließlich wirkte seine eigene Haut eingemottet und vertrocknet. Eine verschrumpelte Spezies, konserviert in Alkohol – in seinem Fall Gin. Sein einziges Buch, sein einziger wertvoller wissenschaftlicher Beitrag, Ausgerottete und aussterbende Vögel Ozeaniens, erschienen 1960, war selbst ein Kompendium des Verlusts, eine Absage an das Leben und die lebendigen Dinge.

Plötzlich zum Amputierten geworden, konnte er nicht mehr durch die Stadt streifen. Er schaffte es nicht mehr allein ins Museum. Er ging auch nie wieder hin, nicht einmal, um sich zu verabschieden oder seine Sachen abzuholen. Er konnte die Vorstellung nicht ertragen, dass ihm jemand die Tür aufhalten und dabei auf die leere Stelle an seinem Bein glotzen würde.

»Und bloß keine Scheißpflegerin!«, blaffte er Fergus an. Von denen hatte er im Krankenhaus genug gehabt. Genug Störungen und Rumgestochere, genug Ge- und Verbote, genug Hätscheleien. Erlaubten ihm nicht mal einen Scheißdrink. Trotzig dreht er jetzt die Zigarette zwischen den Fingern und verbindet das vor seinem geistigen Auge mit einer gewissen Freiheit.

Zu Beginn des Frühjahrs fragte Jim sich, ob Fergus nicht doch recht gehabt hatte, was den Umzug nach Maine betraf. Er musterte sich im Spiegel, rot geränderte Augen, dichte Bartstoppeln auf den farblosen Wangen, die tiefen Falten auf der Stirn, auf einer Gesichtsseite die Narbe eines Angelhakens. Sein Haar war dicht, zerzaust und ungeschnitten. Seine Lippen blau angelaufen. Er fragte sich, ob er sich zu Tode soff. Falls ja, musste es doch einen einfacheren Weg geben.

Er schnippt die Zigarettenkippe weg, zertritt sie mit seinem hellblauen Leinenschuh im Gras. Seit Wochen hat er zum ersten Mal wieder einen Schuh an.

Im Winter, Herrgott noch mal, lebte er wie ein Bär. Wickelte sich in einen großen Pelzmantel, den er in einem der Wandschränke fand. Stapelte Federbetten und kratzige Wolldecken aufs Bett, das ungemacht und zerwühlt wie ein Rattennest war. Schlief. Trank. Hielt die Öfen in Gang. Flaschen und Korken unterm Bett. Leere Corned-Beef-Dosen, aus denen Schimmel wuchs, wenn das Wetter umschlug. Überall wie Zelte aufgeschlagene Bücher. Halb gerauchte, auf dem Küchentisch ausgedrückte Zigaretten. Reine Glückssache, dass er das verdammte Haus noch nicht abgefackelt hatte.

Alles war anders als bei seinen Aufenthalten im Sommer. Die Insel lag unterm Schnee eines wüsten Sturms begraben. Schwer beladene Fichten- und Tannenzweige beugten sich tief über die weiß verhüllten Felsen. Birkengeäst zitterte wie kaltes Gerippe. In der Bucht kauerten Möwen missvergnügt auf geborstenen Eisschollen. Eines Tages erschien eine frühe Schneegans mit ihren schwarzen Flügelspitzen auf dem Weg in die Arktis, um dort den Sommer zu verbringen. Chen caerulescens notierte er in einem Buch, das er seit einiger Zeit führte, eine Liste der Vögel in der Indian Cove.

In der Nacht jagte ein Paar Virginia-Uhus über der Landzunge und füllte das Haus mit seinen fagottartigen Rufen. Trauerenten und Schwärme von Eiderenten ließen sich auf der grauen See treiben. Als die Temperatur unter null fiel, stieg Seenebel vom Wasser auf und verschleierte die Insel wie eine Fata Morgana. Er blickte zu der dünnen Schneehaube, die die Balustrade vor seinem Schlafzimmer säumte, und erinnerte sich daran, dass Helen sich immer gewünscht hatte, Weihnachten hier zu verbringen. Dazu gekommen war es nie.

Das Haus war kalt. Egal, wie viele Feuer man machte und wie lange man sie brennen ließ – warm wurde es nie. Weiträumig, luftig, gebaut für den Sommer, war das Haus nicht isoliert und ohne Zentralheizung. Stattdessen verfügte es über ein Zimmerlabyrinth für Gäste, entfernte Verwandte und Personal. Der ursprüngliche Besitzer entstammte jener Bostoner Elite, die sich selbst als die Stadtflüchtigen bezeichnete: Geschäftsleute, Banker, Anwälte, Architekten, die um die Jahrhundertwende an dieser Küste auftauchten und, wie vor ihnen Emerson und Thoreau – wie jetzt auch Jim –, auf der Suche nach dem einfachen Leben waren. Nur dass für sie die Natur mit Dienstmädchen, Köchinnen und Verwandten bequem gepolstert war.

Die Kälte drang an Stellen ein, wo man nicht damit gerechnet hätte, direkt durch die Schindeln und mit Schiefer verkleideten Wandbretter, direkt durch die Glasscheiben der seewärts weisenden Fenster, direkt unter den Bodendielen, weil an der Vorderfront unter der großen Veranda, die über den Rasen hinausragte, der Wind einfallen konnte.

Als Jim ankam, schleppte Stillman altes Brennholz aus dem Keller herauf, und sie mühten sich damit ab, den großen gusseisernen Herd in der Küche zu befeuern. Das Ofenrohr war mit einem Vogelnest aus dem Vorjahr verstopft, das schließlich in den Herd fiel und in Flammen aufging. Jim schämte sich, dass er sich nicht selber helfen konnte, während er seinem alten Freund aus Kindertagen dabei zusah, wie er Feuer im dunkel getäfelten Wohnzimmer und dann oben in seinem Schlafzimmer machte.

Er quälte sich mit seiner Krücke treppauf, humpelte auf einem Bein durch den langen Flur und schloss die Türen der anderen Schlafzimmer, während Stillman zusammengerollte Matten vor den Schwellen platzierte, um die Zugluft zu stoppen. Wenn das Holz erst aufgeschichtet war, konnte Jim die Feuer allein schüren. Der Ofen war heiß, aber wenn man sich auch nur ein Stück weit von ihm entfernte, konnte man seinen eigenen Atem sehen.

Er erinnerte sich noch, wie Stillman eine Feldmausfamilie entdeckte, die eins der großen Sofas im Wohnzimmer erobert hatte. »Lass sie in Ruhe«, sagte Jim. Sie machten es sich hier wohl schon seit Generationen als Winterquartier gemütlich. Bestimmt taten Mäuse entlang des Gezeitenkanals überall das Gleiche.

Dann kam das Frühjahr mit seiner grausamen Spezialität: Schlamm.

»Ach ja, Schlammzeit«, sagte Sarah munter und sachlich, als sie Jims Fußspuren vor der Küchentür sah. Tiefe, matschige Furchen. »Schlamm, Lupinen, Flieder, und das dauert bis Juni.« Als es eben milde genug war, nach draußen zu gehen, blieben die Räder des Rollstuhls stecken. Er humpelte mit der Krücke zurück ins Haus, fand ein Seil, mit dem sich der Rollstuhl wieder hereinziehen ließ, bevor Sarah ihn finden konnte – ein saumäßiges Malheur.

Sarah, Stillmans unverheiratete Tochter, starkknochig, willensstark, sommersprossig, dreißig. Sie versorgt Jim einmal pro Woche mit Lebensmitteln: Eier, Speck, Milch, Zigaretten, Corned Beef. Eine Flasche Scotch oder Gin, wenn er darum bittet. Wenn sie etwas Gesünderes oder anderes vorschlägt, lehnt er ab. Sie ist zweifellos auch Fergus’ Spionin, kontrolliert, ob Jim noch am Leben ist. Sie bringt ihm seine Zeitungen: die Rockland Courier Gazette und die New York Times vom Vortag mit Nachrichten über Watergate und Vietnam; Erskine Childers’ Sohn zum irischen Präsidenten gewählt; Papua-Neuguineas erster Premierminister; Frankreich testet seine Atombomben auf dem Mururoa-Atoll. Großer Gott, hatten die denn immer noch nicht genug?

Der Schlamm durfte einen nicht stören. Man konnte ja alle Fenster und Türen öffnen. Man konnte in der Sonne sitzen. Man konnte riechen, wie die ganze Insel sich erwärmte, auftaute. Vergammelter Seetang, fermentiertes Laub, nasses Gras. Dem Geräusch von Schmelzwasser lauschen, das von den Dachrinnen des Hauses tropft und hinunter zum Meer rinnt. Er räumte auf. Er beugte sich im Rollstuhl vor, um die Dosen und Zeitungen in große schwarze Säcke zu fegen, die Sarah zur Müllkippe in der Mitte der Insel brachte.

Er beobachtete Zugvögel, und dann kamen die Sommervögel in Schwärmen. Zuerst kamen, wie eine militärische Vorhut mit ihren roten und gelben Epauletten, rotflügelige Amselmännchen; dann die Samenfresser, gelbe Goldfinken und Spatzen. Gefolgt von den Insekten fressenden Hüttensängern, Phœben, Schwalben und Grasmücken. Die Amselweibchen, die Drosseln und orange Pirole. Fliederduft flutete durch die Küchentür.

Im Mai konnte Jim draußen weit genug gehen, um Körner und trockenes Brot auf den Vogeltisch zu legen. Zuerst brauchte er beide Krücken und hantierte vorsichtig mit ihnen, um nicht auszurutschen und sich nicht noch einmal zum Trottel zu machen, obwohl nur Sarah es gesehen hätte. Dann gelang es ihm, mit einer Krücke zurechtzukommen. Der Boden wurde fest genug, um mit dem Rollstuhl ums Haus fahren zu können, und später kam Stillman und befestigte mit zerkleinerten Muscheln einen schmalen Pfad, auf dem er direkt bis ans Ufer fahren konnte. Er begann zu arbeiten, rang sich einen lange aufgeschobenen Artikel ab, der fürs Natural History Magazine des Museums vorgesehen war.

Herrgott, ja, ihm gefällt es hier. Er lässt sich von dem Ort trösten, von all den vertrauten Geräuschen und Gerüchen der Kindheit – wäre da bloß nicht dieses verdammte Mädchen im Anmarsch.

»Wer kommt denn vorbei?«, fragt Stillman und geht hinter seinem Pick-up-Truck herum. Es ist das erste Mal, dass Jim gebeten hat, ihn in die Stadt zu fahren, aber Stillman, von Natur aus unaufdringlich, bemerkt an ihm keinerlei äußere Aufregung.

»Weiß der Teufel«, erwidert Jim. Er hievt sich in die Fahrerkabine, zieht sich an der offenen Tür hoch. Stillman ist klug genug, keine Hilfe anzubieten. »Du kannst den Rollstuhl hierlassen. Ich werde nicht aussteigen«, sagt Jim.

Vor zwei Wochen hatte Stillman den Brief vorbeigebracht. Damit blieb Jim, verdammt noch mal, kaum die Chance zu antworten. Er erinnert sich noch an den Umschlag. Er war mit großen, bunten Briefmarken so beklebt, wie eine Flaschenpost mit Seepocken und Napfschnecken übersät ist.

»Bei Gott, der is’ so mit Briefmarken zugepflastert, dass man gar nicht sagen kann, wo er herkommt«, bemerkte Stillman.

Jim nickte, obwohl er es gleich wusste. Er konnte jeden einzelnen Vogel auf den Briefmarken identifizieren: den salomonischen Weißkakadu, den Ultramarinliest, Sanfords Seeadler. Herrgott, ja, Finschs Pygmäenpapagei – ein Vogel, den er selbst gesammelt hatte. Amtliche Stempel markierten den Weg des Briefs von Honiara über Port Moresby und Brisbane nach Washington, D. C. Dann von seinem Bruder Cecil aus Greenwich an Jim weitergeleitet.

Darin – ein Schreiben auf Briefpapier des Innenministeriums, mit eingeprägtem Adler, unterzeichnet von einer Konsulatsbeamtin, was auch immer das ist, die den eigenartigen Namen Sethie Bloom trägt. Wir wissen, dass Sie Ms. Baketi gern bei sich aufnehmen werden (den Teufel wird er tun!). Sie wird einen Monat (einen ganzen verdammten Monat!) vor Beginn ihrer medizinischen Ausbildung eintreffen … (heute!), damit ihr genügend Zeit bleibt, sich in den Vereinigten Staaten einzuleben.

Jim begreift nicht, wie sich jemand in seiner Gegenwart in etwas einleben könnte.

Was zum Teufel soll er mit einer Medizinstudentin von den Salomonen anfangen? Er ist zu alt, zu betrunken, um jemanden bei sich aufzunehmen. Außerdem ist er ein Krüppel. Herrgott noch mal, er hätte sofort zurücktelegrafieren müssen, als der Brief ankam. Nein Stop Nehme sie nicht auf Stop Er glaubt immer noch nicht, jemals Ja gesagt zu haben.

Im Briefumschlag lag noch etwas anderes. Als er ihn hochhielt, fielen zwei zusammengefaltete Zeitungsartikel heraus. Einer zeigte das Foto eines Mädchens mit einem riesigen Haarschopf, das einen ganzen Kopf größer war als der weiße, bebrillte Lehrer neben ihr.

Mädchen aus New Georgia geht nach New York.

Topstudentin der Schule King George VI, Studentin der Medizinschule von Fidschi, gewinnt erstes Medizinstipendium in den Vereinigten Staaten.

Die Nachricht war der Aufmacher im offiziellen British Solomon Islands Protectorate Newsletter und brachte es zudem auf einen zweiseitigen Artikel in einem offenbar eher populären Lokalblättchen namens Tok Tok. Behauptete sich da gegen Geschichten über Pläne zur Feier des Unabhängigkeitstags von Fidschi, einen Artikel über Kastom-Magie und das Foto eines örtlichen Krokodiljägers.

»Herrgott noch mal«, flucht Jim laut. Er spuckt ein loses Tabakstückchen aus.

Stillman sieht, wie Jim seinen Fuß über einen Hammer hebt, eine Seilrolle, eine Schraubzwinge, die auf dem Boden der Fahrerkabine herumliegen, und wünscht sich, besser aufgeräumt zu haben. Als sie auf der Straße durch den Wald in die Stadt fahren, schielt er zu Jim hinüber, der grimmig geradeaus schaut und auf dem Filter einer ungerauchten Zigarette kaut.

Je weiter sie sich von der Bucht entfernen, desto zerbrechlicher sieht Jim aus. Sein Hemd ist sauber und gebügelt, dank Sarah, die seine Klamotten aufs Festland schickt, wo sie einmal pro Woche gewaschen werden. Trotzdem bringt er es immer noch fertig, zerzaust auszusehen, spindeldürr, die Augen blutunterlaufen. Die Narbe auf seiner Wange, wo ihn, wie Stillman sich erinnert, ein anderer Junge mit einem Angelhaken erwischt hatte. Das fehlende Bein. Alter Mann.

Dabei sind sie praktisch gleichaltrig. Als sie klein waren, haben sie zusammen gespielt. Jim hatte die große Familie, das große Sommerhaus. Er hatte den Zigarre rauchenden Großvater, Kapitän eines Schoners mit Teakdecks und glitzernden Messingarmaturen, der den halben Gezeitenkanal auszufüllen schien. Aber Stillman wohnte in der Nähe der Schilfbänke, die ihre bevorzugten Jagdgründe waren. Er durfte seinem Papa beim Einholen der Hummer helfen. Und das Beste war, dass er auf der Insel bleiben durfte, wenn Jim wieder abreiste – er wusste, dass ihn alle Sommerjungs darum beneideten. Auch während des Kriegs schätzte er sich glücklicher, weil er nach Frankreich geschickt wurde, während Jim, wie er hörte, in den Pazifik zog.

Die Umstände haben sie voneinander getrennt. Dennoch spürt Stillman die unausgesprochene Kameradschaft der Kindheit – sich gemeinsam durch die Rohrkolben drücken, heißer Matsch, der zwischen ihren Zehen aufquillt, der breitkrempige Sommerhut, den seine Mutter ihm unterm Kinn festband. Sie suchten nach Fröschen und Vogelnestern, Krebsen und Junikäfern, Gartenschlangen und den kleinen, kugelrunden Quallen, die im Mühlteich trieben. Jim verbreitete stets eine wilde Entschlossenheit, bestand darauf, dass sie sich wissenschaftliche Namen merkten, und brachte sich dann selber das Präparieren bei. Stillman reichte es, die Viecher zu fangen; dann ließ er sie wieder laufen.

Der Anblick von Jim, der steif und unbequem in seinem Laster sitzt, weckt in Stillman Beschützerinstinkte und macht ihn skeptisch gegenüber den munter aussehenden Gruppen von Sommergästen, die sich auf dem kleinen Platz vor dem Fähranleger einfinden. Als er einbiegt, merkt er, dass er unter etwas leidet, was wohl ein längst überwunden geglaubter pubertärer Widerwille gegen diese Männer mit ihren 200-PS-Maschinen, ihrem Geld und ihrer Freizeit sein muss; und gegen diese Frauen mit ihren schönen Beinen. Und dann diese Gefühle gegenüber Jims Familie, dass sie den Alten sich selbst überlassen und ihre Verantwortung auf Sarah und ihn abwälzen.

Solche Gedanken überraschen Stillman. Er lebt ja auch allein, und das gefällt ihm. Und außerdem, sind diese Leute nicht von Jims Schlag?

Zum Teufel damit. Sie hatten alle ihre Probleme, ihre Mühen, ihr Glück. Insulaner oder Sommergäste, Hummerfischer oder Investmentbanker: Solche Unterschiede macht er schon lange nicht mehr. Esther, seine Frau, ist vor zwanzig Jahren gestorben, nach einem langen Kampf gegen den Krebs. Er hatte auch einen Sohn; er ist ertrunken. Es gibt keinen Grund, Mitleid mit Jim zu haben. Allerdings hat Stillman noch Sarah, die unten an der Straße wohnt, und das ist tröstlich – egal, wie sehr er über sie meckert.

Er parkt absichtlich so, dass Jim freies Blickfeld auf die einlaufende Fähre hat, ohne aus dem Laster aussteigen zu müssen.

»Das Boot kommt erst in zehn Minuten«, sagt er und beschließt, bei Floyd an der Werft vorbeizuschauen, ob der das Maschinenteil, das Stillman vor ein paar Tagen abgegeben hat, reparieren konnte. »Wenn sie anlegt, bin ich wieder da.«

Jim verzieht sein Gesicht zu einem gespenstischen Lächeln, dreht die unangezündete Zigarette zwischen den Fingern. Und Stillman hat Gewissensbisse und macht sich Vorwürfe: das gleiche Gefühl wie vor Jahren, als er Sarah an der Inselschule ablieferte.

Es ist ein Jammer, dass Jims Frau Helen nicht mehr da ist. Sie war fröhlich und lebenslustig und ohne Dünkel, erinnerte sich an jeden Namen, egal, wer man war, auch wenn man ihr nur ein Mal begegnet war. Groß und königlich mit ihrer Löwenmähne. Das Gegenteil von Jim, der ein echter Insulaner ist – mürrisch wie alle anderen.

Ein Foto von Helen steht auf Jims Nachttisch. Stillman hat es gesehen, als er Feuerholz nach oben geschleppt hat, und ihm ist aufgefallen, dass der Rahmen zur Wand gedreht war. Tja, kein Wunder, wenn der Alte es nicht ertragen konnte, sie anzusehen: Sie war eine Schönheit. Er erinnert sich daran, wie Helen Jim umarmte. Es war eine von außen sichtbare Liebe, etwas, das Stillman überraschend selten zu sein schien. Seine und Esthers Liebe war wegen ihrer langen Krankheit heikler, privater, angespannter gewesen.

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Leute winken. Aufgeregte Kinder umkurven auf Fahrrädern den Parkplatz, klettern auf die Poller am Ende der Pier und lehnen sich weit übers Wasser hinaus.

Jim stößt die Wagentür auf, lässt die Sonne hereinfluten, nestelt dann in seiner Brusttasche nach dem Feuerzeug. Das Flämmchen tanzt unkontrollierbar vor seinem Gesicht. Er weiß nicht, ob das Händezittern seiner Nervosität geschuldet ist, dem Alter, dem Saufen gestern Abend oder allen dreien zusammen. Er zieht den Rauch ein und versucht, sich zu sammeln. Spürt, wie die Finger an seinen Lippen zittern.

Die Fähre bläst ihr Schiffshorn, als sie in den Gezeitenkanal einläuft und dann die rote Spitztonne umrundet, um Post Man’s Ledge auszuweichen. Ihre Größe und ihr strahlendes Weiß lassen die Jachten klein erscheinen, diese Flotte der näher an Land vertäuten Herreshoffs und Dingis, und schüttelt schließlich die Hummerboote an ihren Liegeplätzen. An der Bugreling drängt sich eine Gruppe Passagiere. Unter ihnen erkennt er das große schwarze Mädchen und sieht schnell weg. Noch ist er nicht bereit. Aber wird er es je sein?

Als er sich mithilfe der Krücke aus der Fahrerkabine hangelt, bleibt ein kleines Mädchen in einem leichten Sommerkleid stehen und starrt mit offenem Mund auf sein amputiertes Bein. Er glotzt zurück, bis die Mutter das Mädchen wegzieht. Herrgott, er sieht deplatziert aus hier, und ihr wird es genauso ergehen. Das Meer wird zu weißem Schaum aufgerührt, als die Motoren der Fähre in den Rückwärtsgang schalten. Die Pier knarrt. Zwei Eiderenten paddeln hektisch aus dem Weg. Eine Seeschwalbe zieht vorbei.

Vor den Passagieren müssen die Fahrzeuge an Land. Jim ist dankbar für die Extraminuten, solange ein Wagen nach dem anderen hinausrollt und auf der Metallrampe ein Kattschank-Kattschank verursacht, das ihn ablenkt. Volvo-Kombis, ein paar Subarus, Fords, die Dächer hoch bepackt mit Koffern, Kühlboxen, Seesäcken, Fahrräder auf den Heckklappen, erinnern Jim an einen Flüchtlingsstrom, der vor einer Katastrophe flieht – die Okies der Großen Depression. Heiße, schwitzende Kinder recken Köpfe und Arme aus den Fenstern. Mittendrin transportiert ein Sattelzug Baumstämme. Während sie sich leert, steigt die Fähre im Wasser höher. Er atmet heißen Asphalt ein, Seesalz, Fisch, Benzin, Auspuffgase. Lauscht den Möwen.

Sie ist groß, breitschultrig, sieht sogar in ihrem Kleid mit den großen, leuchtend bunten Blumen so athletisch aus wie Tosca. Die Haare dicht um den Kopf gelegt zu einem großen Kranz wie der Afrolook, der vor ein paar Jahren in New York angesagt war. Sie ist pechschwarz. Das hat den anderen Passagieren zweifellos zu denken gegeben. Es sollte Jim eigentlich nicht überraschen, tut es aber. Gott, wer will ihm das verübeln? Während der letzten Monate hat er kaum jemanden gesehen, und schon gar keine Negerin. Nicht Negerin, korrigiert er sich selbst, sondern eine Melanesierin aus der Südsee.

Außerdem muss ihr jemand gesagt haben, dass sie nach einem Krüppel Ausschau halten soll, kommt sie doch direkt auf ihn zu. Sie hat den gleichen durchdringenden Blick unter schweren Lidern, die gleiche Hakennase wie ihr Vater. Nun ist sie da, stellt sich in perfektem Englisch vor, und Jim fragt sich, ob sie das geübt hat.

»Sind Sie Mr. Jim? Ich bin Cadillac.«

Herrgott, sie heißt also wirklich so, es ist kein Tipp- oder Schreibfehler im Brief der Konsulatsbeamtin. Tosca, dessen Name ihm von einem Opern liebenden Koprahändler verpasst wurde, zeugt Cadillac. Wonach benannt? Nach dem Auto, einem Popsong, einer Sehnsucht nach amerikanischer Großzügigkeit? Einem Zufall?

Sie streckt ihm die Hand entgegen, und Jim zuckt zurück, eine Bewegung, die er sogleich bereut, aber nicht verhindern kann. Er mag es nicht, wenn man ihn berührt. Um seine Grobheit zu kaschieren, lässt er die Zigarette fallen. Dann zwingt er sich dazu, ihr die Hand zu schütteln.

Sie hat wenig Gepäck. Einen kleinen Lederkoffer mit Schnallen, der so aussieht, als hätte ihn ein Missionar ihr geliehen. Eine zusammengerollte, aus Pandanusfasern gewebte Matte, wie sie die Insulaner auf den Salomonen für so ziemlich alles benutzen: als Unterschlupf, Matratze, Regenmantel, Hochzeitsgeschenk. Gut – je weniger sie hat, desto leichter wird es sein, sie wieder zurückzuschicken. »Willkommen«, sagt Jim und nickt kurz. Er würde ihr gern den Koffer abnehmen, aber sie sieht ja, wie es um ihn bestellt ist.

»Mr. Jim, he stop close up ’long sea, no ’long bush«, hat Tosca gesagt, Jim lebe nah am Meer, nicht im Busch, und so zu erklären versucht, wo Jim wohnt, um seine Tochter zu beruhigen, und zwar nicht nur hinsichtlich der Geografie. Die Salzwasserleute der Salomonen fühlten sich ihren Brüdern im Busch traditionell überlegen, hielten sich für schlauer, sauberer und auch kämpferischer – Nachkommen der Kopfjäger eben. Diese Art Vorurteil wurde allerdings von Cadillacs Lehrern abgelehnt. Es konnte an ihrer Schule sogar zu Prügeleien führen.

Als sie auf der großen Veranda von Jims Haus steht und über die Bucht blickt, sieht Cadillac, dass ihr Vater recht hatte. Da ist das Meer, fast so weit entfernt wie die strohgedeckte Plattform des Hauses ihrer Mutter in Enogai vom Wasser des Kula-Golfs.

Tief atmet sie die Seeluft ein – froh, wieder im Freien angekommen zu sein nach den Tagen, die sie eingepfercht in Flugzeugen verbracht hat. New York war überfüllt gewesen mit seinen viel zu hohen Gebäuden, die sie an aufgestapelte Hühnerkäfige erinnerten. Alles war da senkrecht, nirgends eine Horizontlinie der See oder des Himmels, an der sie sich hätte orientieren können; allein schon daran hochzublicken ließ sie schwindelig werden. Es gab auch so viele Menschen, dass sie das Gefühl hatte, sich gar nicht richtig bewegen zu können.

Hier auf Jims Veranda überkommt sie der kindliche Drang, ihre Kleider auszuziehen, zum Wasser zu laufen und hineinzuspringen. Sie würde es auch machen, hätte Ms. Sethie, die Konsulatsbeamtin, sie nicht eindringlich vor der Wassertemperatur gewarnt.

Fox Islands, Eagle Islands, Burnt Islands, Penobscot Bay: Tosca hatte sich noch nach all den Jahren an die Namen von Jims Meer erinnert. Mit dem Zeh hatte er eine Karte in den Sand gezeichnet. Einige der Inseln seien groß und gebirgig wie New Georgia, hatte er gesagt. Andere seien winzige Orte wie die Inseln der Wanawana. Der Gezeitenkanal, hatte er erklärt, sei wie eine Fahrrinne durch die Riffe. Als sei hier alles fast wie zu Hause oder zumindest vertraut, aber sie sieht, dass das nicht stimmt. Das Blau von Jims Meer ist ein dunkles Indigo, und die Untiefen sind braungrün, anders als die helleren Blautöne New Georgias. Die Bäume sind spitz, mit Nadeln, und duften süß. Die Felsen an der Küste glatt, breit und rosa. Und erst das Gras!

Sie erinnert sich, wie sie durch den Drahtzaun des Honiara Golf Club auf Gras geschaut hat. Die Rasenflächen lagen entlang des flachen Geländes, das die Amerikaner als zweite Landepiste genutzt hatten. Von hier aus waren ihre Kampfflugzeuge gestartet, um den großen japanischen Admiral Yamamoto abzuschießen, denselben Mann, hatte Tosca erklärt, der die Bombardierung Pearl Harbors und kurz darauf die Invasion Guadalcanals geplant hatte.

Sie erinnert sich an die großen, rotgesichtigen britischen und australischen Golfer mit ihren Hüten und Hemden und weißen, zu den fetten rosa Knien hochgezogenen Socken. So ähnlich hatte sie sich Jim vorgestellt. Nicht so, wie er ist. Dünn und mager sieht er eher aus wie die alten Männer von Guadalcanal mit ihren nackten Oberkörpern, die die schweren Schlägertaschen schleppen, oder die sehnigen Müllsucher, die Kriegsschrott einsammeln.

Sie dreht sich um, will etwas sagen, überlegt es sich dann aber anders. »Mr. Jim, him nambawan man«, hat ihr Vater gesagt, ein guter Mann sei dieser Jim, »alsem brother bilong me«, wie ein Bruder sei er ihm gewesen. Das will sie gern glauben und in Jim einen freundlichen Onkel sehen, dem man mit großem Respekt begegnet. Sie ist mit Geschichten aus dem Krieg aufgewachsen, Geschichten über Merika Soldia, in denen Jim eine Hauptrolle spielte.

Hinter ihr hält er die Fliegengittertür auf, als sei er unschlüssig, ob er hinaus- oder wieder hineingehen soll. Er hat eine Krücke unter die Achsel geklemmt und blinzelt in die Sonne.

Tja, was hat sie denn erwartet? Einen hübschen, jungen Marinesoldaten in Uniform, der immer noch sein Gewehr oder ein Funkgerät mit sich herumträgt? Einen schlammbespritzten GI aus den Kriegsfilmen, die in Point Cruz gezeigt werden? Das Kino dort eine alte Nissenhütte aus dem Krieg, auf deren Dach plötzliche Regenschauer so laut wie Maschinengewehrfeuer explodierten.

Sie kann sich nicht erinnern, dass ihr Vater Jim als jungen Mann beschrieben hätte. Tosca hat von ihm immer als älterem Mann und Lehrer gesprochen.

Sie sieht seinen stechenden Blick, das zerzauste Haar, die über der Krücke abgewinkelte Schulter, die Narbe auf seiner Wange und kann nicht anders, als an einen bösartigen Hund zu denken, einen der lahmenden Streuner, denen man auf dem Markt in Honiara begegnet. Einen, vor dem man auf der Hut sein muss. Sie registriert, dass er seinen Schuh ausgezogen hat und wie er jetzt das Bein seiner Kakihose unter dem Stumpf verknotet.

Sie schlüpft aus ihren Sandalen, geht die Verandastufen hinab, spürt die trockene Holzmaserung unter ihren Füßen. Dann das ganz kurze Gras, kühl und üppig zwischen ihren Zehen.

Sie sieht zum Meer, lacht und lässt die Arme schwingen. Eine mädchenhafte Freude, die Jim plötzlich an Helen erinnert. Grummelnd macht er auf der Krücke kehrt und geht wieder ins Haus. Jetzt hat er sich aber bestimmt mal einen Drink verdient.

Die Laysan-Ralle,
Porzanula palmeri

Der kleine, sandfarbene Laufvogel mit grünen, spindeldürren Beinen und Füßen und pfiffigen roten Augen – von Flügelspitze zu Flügelspitze nicht größer als achtzehn Zentimeter – war fast federlos. Wenn man sich nicht bewegte, hüpfte er direkt auf die Schuhe zu und zupfte energisch am Schnürsenkel, weil es ja etwas Leckeres hätte sein können: ein Wurm vielleicht oder eine Larvenart.

Jim hatte Rallen auf Midway gesehen, dem winzigen Atoll mitten in der Südsee, das von den Japanern auf eine derart vehemente Art und Weise verteidigt wurde, dass man später von der wichtigsten Seeschlacht des Pazifikkriegs sprach – der Wendepunkt des Seekriegs, so wie Guadalcanal der Ort war, an dem die Amerikaner die Japaner auf dem Land zurückdrängten. Bei Sonnenuntergang stimmten die Vögel einen schrillen Chor an und erzeugten einen Klang, den ein Naturforscher mit einer Handvoll Murmeln verglich, die auf einem Dach herumrollen.

Er erinnert sich daran, wie so ein Vogel, wenn man eine Schale mit Wasser nach draußen stellte, hineinsprang und ein Bad nahm – so zutraulich, als wären es Pfützen oder Regenwassertümpel. H. C. Palmer, ein von Rothschild beauftragter Sammler, der den Vogel 1891 entdeckt hatte, notierte, dass die Ralle direkt in einen auf dem Boden aufgespannten Kescher hineinlaufe – derart neugierig war sie. Porzanula palmeri: Die Gattung war nach ihr benannt. Ornithologen sowie der seltene Fregattvogel waren die einzigen Feinde der Ralle, was zur Erklärung ihrer Furchtlosigkeit beitrug.

P. palmeri verfügten über gewisse menschliche Eigenschaften. Mutig bis zur Dummheit, grundlos schreckhaft. Wenn man ein Geräusch oder eine hektische Bewegung machte, rannte sie so schnell sie konnte davon; wie ein Mädchen, das seine Röcke anhebt, schlug sie mit den Flügeln, um über kleine Felsen und Steine zu hüpfen. Darüber musste man einfach lächeln, auch wenn man in Midway dabei gewesen war oder Schiffe im Korallenmeer hatte versinken sehen oder wenn man wie Jim noch ganz frisch war und begierig herauszufinden, wie man das alles aushalten sollte. Darüber machten sich alle Sorgen – wie sie es ertragen würden.

Noch mehr zu lachen gab es, wenn die Ralle abrupt stoppte und zur Seite abbog, wenn sie zufällig eine Fliege oder Motte erspäht hatte. Eine Gelegenheit zum Fressen ließ sie nie aus – ebenfalls etwas, wofür Menschen Sympathie aufbrachten. Aufgeplustert und mit vollem Bauch vergaß der Vogel anschließend jeden Grund zur Panik und schlenderte herum oder kam direkt zu einem zurück. Vielleicht machte das den Männern Mut, wenn die kleine Kreatur so schnell ihre Angst überwand und keck wieder Haltung annahm: die Möglichkeit des Vergessens.

Um die Geschichte der Ralle zu erzählen, müsste man bei den Guanohändlern der Nordpazifischen Dünger- und Phosphat-Gesellschaft beginnen, die das kleine Eiland Laysan von Königin Lili’uokalani mieteten, der letzten Herrscherin Hawaiis, bevor die Inseln von den Vereinigten Staaten annektiert wurden. Nachdem vierzehn Jahre lang Vogelscheiße abgebaut worden war, entwickelte ein törichter Schiffskapitän die neue Idee, auf den Inseln Kaninchen zu züchten: englische weiße Kaninchen und belgische Hasen. Das Resultat war eine ökologische Katastrophe. Die Kaninchen machten sich unverzüglich ans Werk und besetzten die Bodennester der Sturmvögel und Sturmtaucher, vertrieben sie und vertilgten dann alles Fressbare. Für die Ralle war die Situation noch schlimmer, weil sie nicht wegfliegen konnte. Bald war nichts mehr übrig außer einer Handvoll halb verhungerter Kaninchen. Sie wurden von durchziehenden Naturforschern abgeknallt.

Der Zufall wollte es, dass ein Rallenpaar nach Midway gebracht worden war, wo sie sich vermehrten. Zuerst lebten sie in fröhlicher Koexistenz mit den Arbeitern der Commercial Pacific Cable Company, die, weil sie sonst kaum etwas zu tun hatten, Bäume pflanzten und das grasige Atoll in ein tropisches Miniaturparadies verwandelten. Später dann mit reichen amerikanischen Touristen, die mit Pan American’s China Clippers einflogen und im Gooneybird Lodge übernachteten, benannt nach einer anderen gefährdeten Vogelart, dem Albatros.

Und jetzt wurde Geschichte geschrieben – Präsident Theodore Roosevelt schickte einundzwanzig Marinesoldaten nach Midway, und zwar nicht nur, um die Funkstation zu schützen, sondern auch die Vögel. Besonders den Albatros, weil skrupellose Federnjäger einfach zu den Nestern marschierten und die Vögel mit Knüppeln totschlugen.

Der Albatros überlebte knapp, nicht aber die Ralle. 1943 oder 1944 dürften Seeleute, die sich an den Possen der kleinen Vögel ergötzt hatten, festgestellt haben, dass es kein einziges Paar mehr gab. Denn die Schlacht um Midway, die den Beginn des Seesiegs der US-Marine markierte, bedeutete auch für die Ralle den Anfang vom Ende.

Wie so oft waren Ratten die Hauptschuldigen, eingeschleppt auf Landungsbooten der Marine, die direkt an den Anlegern festmachten. Eine weitere Ursache war die Zerstörung des Lebensraums, weil die Marinepioniere die Norfolk-Kiefern und Kasuarinen, die von den Kabelarbeitern gepflanzt worden waren, abholzten und den Boden planierten, um Landebahnen und Kais zu bauen. Noch schlimmer war für die Ralle, dass die Marine wegen der Mückenplage das Gras kurz hielt. Gras bot den kleinen Vögeln Schutz, und ohne Gras wurden sie zu Tode gegrillt, weil die Temperaturen am Boden 65 Grad erreichten.

Die Laysan-Ralle war nur ein kleines, normalerweise unbemerktes Opfer des Kriegs, aufgerieben vom Hass zwischen den Amerikanern und Japanern, hatte Jim in seinem Buch Ausgerottete und aussterbende Vögel Ozeaniens geschrieben. Ihr Fall war besonders tragisch, insofern der Vogel gleich zwei Mal ausgerottet wurde. Erst auf Laysan, dann auf Midway.

Manche dieser Tode waren schrecklich und manche nur einsam.

Jim weiß nicht recht, warum er gerade jetzt an die Ralle denkt. Das Mädchen muss ihn wohl an den Ort oder auch an den Vogel selbst erinnern, mit ihrer offenen, leichten Art, wegen der man sich Sorgen machen könnte. Es ist aber wohl eher eine Art Gedankenlosigkeit. Er schenkt sich einen Gin Tonic ein.

Eine Vitrine voller Alkenvögel, American Museum of Natural History, New York, Juli 1973

»Das hört sich nicht gut an mit Jims Bein«, sagt Mann, der Direktor der Ornithologischen Abteilung, tritt von hinten an Michael heran und legt ihm schwer eine Hand auf die Schulter.

Es ist heiß und stickig in diesem Seminarraum im sechsten Stock, wo soeben die monatliche Sitzung der Abteilung zu Ende gegangen ist. Michael ist, wie Amerikaner gern sagen, abgedriftet. Irgendwann während einer Präsentation über die Sichuan-Buschwachtel und vor dem unausweichlichen Geschacher um den Etat. Es ist wirklich unglaublich, dass diese Männer, die ferne Berge erklimmen und durch dichte Urwälder streifen, um seltene Vögel ausfindig zu machen, Probleme damit haben, sich Glühbirnen und Büroklammern zu teilen.

»Nein, gar nicht gut«, stimmt Michael zu, bemüht, sich seine Gefühle nicht anmerken zu lassen, und verblüfft, warum Mann ausgerechnet jetzt Jim erwähnt – ein halbes Jahr nach seinem plötzlichen Abgang. Während er sich aus dem Ledersessel hochrappelt und die Leinenhose glatt streicht, erinnert er sich deutlich daran, dass ihm ein Stein vom Herzen fiel, als er die Nachricht bekam, Jim würde wohl nicht mehr zurückkommen. Nicht dass er ihm oder sonst wem eine Amputation gewünscht hätte, natürlich nicht. Und auch kein anderes Gebrechen. Aber in Jims Alter und angesichts seines Alkoholproblems – war es da für den alten Herrn nicht höchste Zeit zu gehen? Das Bein war nur der letzte Schlag. Hatten sie ihm nicht schon mit Farrell, dem Mittelamerika-Experten, so etwas wie einen Aufpasser vor die Nase gesetzt?