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FAKE IT TILL YOU MAKE IT

Handbuch für Industrieschauspieler

„Handbuch für den Herren“

Todd Allington

„Sei, was Du scheinen willst.“

Sokrates

VORWORT

Lieber Leser,

der nachfolgende Text könnte Ihr Verständnis und Ihren Glauben an die Arbeitswelt nachhaltig in seinen Grundfesten erschüttern. Dies schreibe ich vorweg als Warnung an Sie, denn wenn Sie nach dieser Lektüre wieder an Ihren alten Arbeitsplatz zurückkehren, wird die Welt für Sie eine andere sein. Sie werden Ihre Kollegen und Ihr Arbeitsumfeld in anderem Licht sehen und Sie werden feststellen, dass auch dort nicht alles Gold ist, was glänzt.

Lange habe ich mit mir gerungen, ob ich den Tarnmantel, der die Industrieschauspielerbranche umhüllt, so schamlos zerreißen darf. Nach vielen Einzelinterviews mit erfahrenen Industrieschauspielern, Geschäftsführern und Mitarbeitern des mittleren und gehobenen Managements kam ich jedoch zu dem Entschluss, dass ich mit diesem Werk einen wichtigen Beitrag zur Volksgesundheit und Armutsbekämpfung leisten kann. Denn die erfreuliche Erkenntnis nach meiner Recherche war, dass Industrieschauspieler einerseits von der sich immer mehr ausbreitenden Berufskrankheit „Burn-out“ verschont bleiben und andererseits auch viel seltener Opfer von Altersarmut werden. Zwei erfreuliche Aspekte, die Ihr zukünftiges Leben, lieber Leser, nach Studium der nachfolgenden Kapitel leichter und erträglicher gestalten wird.

Dieses Handbuch richtet sich vornehmlich an alle Angestellten und Beamten, die in den industrialisierten Ländern ca. fünfundachtzig Prozent der arbeitenden Bevölkerung ausmachen. Diese Betroffenen fristen ihr Dasein in Firmen, Behörden und Konzernmühlen, bis sie sich erschöpft und ausgebrannt in die Frühpension oder Rente retten. Doch auch der selbstständige Unternehmer mag in diesem Werk wertvolle Hinweise über das Innenleben solcher Beschäftigungsapparate finden, denn sie begleiten ihn als Auftraggeber oder Auftragnehmer, Aufsichts- oder Genehmigungsbehörde auf seinem geschäftlichen Weg in den angestrebten Unternehmer-Reichtum.

Da sich das Handwerkszeug der Industrieschauspielkunst bei Frauen und Männern in einigen Bereichen erheblich unterscheidet, habe ich mich entschlossen, das Handbuch geschlechterspezifisch jeweils für die Dame und den Herren zu verfassen. Es ist beiden Geschlechtern freigestellt, auch die jeweils andere Version zu studieren. Für ein holistisches Verständnis der Arbeitswelt empfehle ich es sogar, denn es verschafft dem Leser bisher unbekannte Einblicke in die perfiden Praktiken der geschlechtlichen Opposition.

Genug der Vorworte. Tauchen wir ein in die faszinierende Welt der Gaukler, Illusionskünstler und Business-Surfer, allgemein bekannt als Industrieschauspieler.

INHALTSVERZEICHNIS

TEIL 1: DIE METAMORPHOSE ZUM INDUSTRIESCHAUSPIELER

Viele Wege führen nach oben. Je nach Kulturkreis und Region haben Menschen unterschiedliche Ansätze für ihre Zielerreichung entwickelt. In der westlichen Welt wurden „Ohne Fleiß kein Preis“ und „Von nichts kommt nichts“ zu unseren Karriere-Parolen. Für den Berufstyp „fleißiges Arbeitsbienchen“ hilfreich erscheinende Berufs-Mantras. Aber die Welt besteht nicht nur aus Arbeitsbienchen. Der Pragmatiker folgt den Regeln der Natur. Wie auch das Wasser sucht er den Weg des geringsten Widerstandes. Denn beruflicher Erfolg setzt nicht voraus, dass man dafür hart arbeiten muss. Mit Einfallsreichtum und Fantasie kann man das Ziel ressourcensparend erreichen. Vorausgesetzt, dass man weiß, wie der Karriere-Hase läuft und wo das Ziel ist. Es bedarf daher einer gut durchdachten Strategie, um mit minimalem Aufwand das Maximale herauszuholen. Gute Pferde springen knapp.

Nur wenige Menschen erfüllt ihre Arbeit voll und ganz, und einige verfolgen dabei sogar humanitäre, philosophische oder religiöse Ziele. Der gemeine Lohnsoldat verrichtet jedoch seinen Job, um einfach nur seine Rechnungen bezahlen zu können. Es ist sogar wissenschaftlich erwiesen (Quelle 1), dass die wenigsten Mitarbeiter einen Sinn in ihrer Arbeit sehen und sich zur Selbstverwirklichung in private Tätigkeiten flüchten. Statistisch gesehen beschäftigt sich ein Angestellter zwei bis drei Stunden am Tag mit rein privaten Dingen. Das bedeutet, dass fast ein Drittel aller Angestellten täglich mehrere Stunden Arbeitszeit zum Privatvergnügen nutzt. Daher ist es nicht überraschend, dass in den USA sechzig Prozent aller Online-Einkäufe und siebzig Prozent aller Besuche pornografischer Webseiten zu Bürozeiten stattfinden. Europa verzeichnet eine ähnliche Tendenz.

Sie müssen daher kein schlechtes Gewissen haben, wenn Sie ohne erkennbares Talent mit durchschnittlicher Motivation Ihr Karriereglück auf dem Arbeitsmarkt versuchen möchten. Dort ist jede Menge Platz für Sie. Leisten Sie nicht mehr als nötig, denn Erfolg ist ohne Burn-out möglich. Mit einer gesunden Work-Life-Balance dazu. Wie eine solche Karriere funktioniert, werden Sie auf den folgenden Seiten erfahren.

Das Wort Karriere kommt aus dem Lateinischen (carrus = Wagen) und bedeutet dem Wortsinn nach Fahrstraße. Karriere machen heißt vorankommen, die Karriereleiter hinaufsteigen. Eine tolle Karriere ist wichtig für unser Selbstwertgefühl. Wer viel verdient, ist viel wert und fühlt sich wertvoll. So funktionieren unsere Gesellschaft, unsere Sozialisierung und unser Belohnungssystem. Darüber hinaus ist Karriere gut für unsere Gesundheit, denn wer sich gut fühlt, wird seltener krank. Der Bedenkenträger mag einwenden, dass nicht alle Kandidaten über die gleiche fachliche Kenntnis und Qualifikation verfügen, um die Karriereleiter zu erklimmen. Aber wer behauptet, dass Fachkenntnis für eine erfolgreiche Karriere erforderlich ist? Nach aktuellen Erkenntnissen beeinflussen nur zehn Prozent unserer fachlichen Leistung den beruflichen Erfolg (Quelle 2). Viel wichtiger sind unsere soziale Intelligenz, die Fähigkeit zur Selbstdarstellung und Andere begeistern zu können. Menschen, bei denen diese Talente ausgeprägt sind, drängen sich in den Vordergrund, denn dies ist ein elementarer Teil ihrer Persönlichkeit. Es ist erstaunlich, wie diese Personen wichtige Unternehmenspositionen bekleiden, über Millionenbudgets und Schicksale tausender Mitarbeiter entscheiden. In unzähligen Büchern und Abhandlungen haben Autoren darüber sinniert, warum „Nieten in Nadelstreifen“ mit „Arschloch-Faktor“ so erfolgreich sein können. Wie haben sie es nach oben geschafft und warum sitzen sie immer noch dort? Sie scheinen weder über besondere Fachkenntnis zu verfügen, noch können sie auf herausragende persönliche Erfolge zurückblicken. Es ist die Gabe zur Selbstdarstellung, über die diese Personen verfügen. Wir neigen dazu, diese Fähigkeit in ihrer Wirkung und Einflussmöglichkeit zu unterschätzen. Dabei es ist große Schauspielkunst, mit der diese Personengruppe so erfolgreich ist. Ein guter Schauspieler beherrscht es, mit Sprache, Mimik und Gestik die Rolle einer anderen Person perfekt zu spielen. Seine Darstellung ist so überzeugend, dass das Publikum der Illusion erliegt, der Schauspieler sei wirklich die dargestellte Rolle. So wird die gespielte Rolle in der Wahrnehmung des Publikums Wirklichkeit. Die Bühne und das Publikum können überall sein. Für den Einen ist die Wirkungsstätte das Theater, für den Anderen die Familie, der Freundeskreis, die Beziehung, der Sportverein. Wir spielen in unserem Leben so viele verschiedene Rollen, um die Erwartungen unseres Publikums zu erfüllen, da liegt es nahe, unsere Bühnenpräsenz auch in die Arbeitswelt auszuweiten. Publikum gibt es dort reichlich, und spannende Rollen auch. Mit den Worten von Werner Mitsch formuliert: „Bei einem guten Schauspieler spielt die Rolle keine Rolle.“

Egal, was Sie gelernt haben, eine Karriere als Industrieschauspieler ist auch für Sie möglich. Ihr Arbeitsvertrag enthält eine Rollenbeschreibung, in der formuliert ist, was Regisseur und Publikum von Ihnen auf der Unternehmensbühne erwarten. Der Regisseur ist Ihr Chef und das Publikum sind Ihre Kollegen. Ein Drehbuch gibt es nicht. Ihr Schauspiel erfordert Konzentration und Flexibilität, denn jeder teilnehmende Schauspieler folgt – wie auch Sie – seiner eigenen versteckten Agenda. Gespielt wird Improvisationstheater. Ihre Kollegen und Ihr Chef liefern täglich frische Themen, die Auslöser und Leitfaden für die spontan entstehenden Büro-Theater-Dramen sind. Ihr Chef hat als Regisseur die künstlerische und organisatorische Leitung. Das Bühnenbild der Büro-Inszenierung wird meist von fantasielosen und pragmatisch denkenden Innenarchitekten entworfen. Auf Spezialeffekte wird heute vorwiegend verzichtet. Der exzessive Einsatz von umherfliegenden Grafikobjekten und lustigen Soundsamples bei PowerPoint-Präsentationen gehört in die Mottenkiste der New Economy. Für den Einstieg in Ihre Industrieschauspielerkarriere müssen Sie zunächst die richtige Rolle und Bühne finden.

GEKOMMEN, UM ZU BLEIBEN

Ihr erstes Engagement

Sie fangen Ihren ersten Job leider nicht als Chef an. Auch wenn das am Schönsten wäre. Wie das Wort Karriereleiter befürchten lässt, beginnt Ihr Aufstieg bei der untersten Sprosse. Aber Augen auf beim Leiterkauf. Ihr Einstiegsjob stellt die Weichen für Ihre kommenden Dienstjahre. Daher müssen Sie bei der Auswahl von Ort und Branche besonders vorsichtig sein. Ihre berufliche Vorbildung ist hierbei nicht ganz unwichtig. Um schnell ein hohes Gehaltslevel zu erreichen, benötigen Sie nicht unbedingt ein abgeschlossenes Studium. Es schadet aber auch nicht. Sollten Sie ohne berufliche Vorbildung und Uni- oder Schulabschluss eine Karriere anstreben, empfehlen sich sogenannte Quereinsteigerbranchen wie z.B. Medien und Werbung. Unter dem Decknamen „Quereinsteiger“ operieren dort ganze Armeen von Industrieschauspielern in den unterschiedlichsten Positionen. Da diese Branchenzweige wenig etablierte Berufsbilder aufweisen, bieten sie talentierten Selbstdarstellern besonders fruchtbaren Boden.

Wenn Sie über den Luxus eines abgeschlossenen Studiums verfügen, stehen Ihnen zwei unterschiedliche Wege offen. Der mühsame Weg beginnt bei einer Unternehmensberatung. Dort erwarten Sie einige Jahre voller Leid und harter Arbeit. In dieser Zeit werden Sie unter Führung eines Sklaventreibers, verkleidet als Junior Berater oder Projektmanager, unzählige PowerPoint-Charts und Excel-Tabellen produzieren, ahnungslosen Kunden nebulöse Rettungs- und Zukunftsstrategien aufbinden, Nächte in trostlosen Hotelzimmern verbringen und völlig erschöpft und kraftlos Ihre Wochenenden rekonvaleszierend auf der Couch verbringen. So deprimierend diese Etappe auch klingen mag, sie ist eine fantastische Vorbereitung für Ihre spätere berufliche Laufbahn, denn Sie lernen, wie man aus Scheiße Kakao macht, Allgemeinwissen und Selbstverständlichkeiten als exklusives Branchen-Know-how verkauft. Ähnlich einem Ballon, steigen Sie immer höher und höher, je mehr heiße Luft Sie produzieren. Und das Großartige daran ist, dass für die Umsetzung Ihrer entwickelten Strategien der Kunde später selbst verantwortlich ist. Sollten Ihre ausgearbeiteten Beratungskonzepte in der Praxis nicht funktionieren, sind Sie schon längst zum nächsten Beratungsopfer weitergezogen. Wenn sich der enttäuschte Kunde später tatsächlich beschwert, hilft für Sie immer die Schutzbehauptung, das wurde alles ganz falsch umgesetzt. Als Berater trifft Sie keine Schuld. Sie haben über Hunderte von Seiten und Charts alles im Detail erklärt. Da muss Ihr Kunde im Katastrophenfall schwere Fehler bei der Umsetzung gemacht haben.

Spätestens im fünften Jahr Ihrer Beraterknechtschaft werden Sie aus einem laufenden Beratungsprojekt vom Kunden übernommen. Dann können Sie endlich wieder am sozialen Leben teilnehmen. Es erwarten Sie geregelte Arbeitszeiten, Schlafen im eigenen Bett und abends mal wieder mit Freunden ein Bier trinken gehen. Aber wie gesagt. Das ist die harte Tour.

Der andere Weg meidet die Knochenmühle der Beratungsfirmen und führt direkt in die Arme des umsorgenden Unternehmens. Wenn Sie wirklich keine Lust und Motivation für ein Unternehmensberaterzwischenspiel haben, können Sie ohne Vorbildung und Umwege die Unternehmensbühne direkt besteigen. Bedenken Sie aber immer, dass der Weg des geringsten Widerstandes nur am Anfang asphaltiert ist. Früher oder später müssen Sie sich die Beratungswerkzeuge effekthaschender Präsentationstechnik und Beratersprech aneignen, um sich langfristig im Unternehmenssattel halten zu können. Ihr Einstiegsgehalt wird auf diesem Weg auch deutlich geringer sein als mit Beratungsvorspiel.

Bei der Jobwahl gilt die Regel: Suchen Sie sich ein Umfeld und eine Einstiegsposition, die wenig Fachkenntnis erfordert, in der viel heiße Luft produziert und ordentlich bezahlt wird. Je größer das gewählte Unternehmen, desto besser ist es für Ihre Industrieschauspielerkarriere geeignet. Mangelnde Fachkenntnis und Unfähigkeit fallen in solchen Menschenansammlungen selten auf. Viele Nichtskönner profitieren in solchen großen Firmen von der Leistung weniger qualifizierter Mitarbeiter. Ein einzelner Leistungsträger mit Fachkenntnis ist in einem Großkonzern statistisch gesehen ein Wirt für zehn bis zwanzig parasitäre Kollegen.

Was Ihr neues Aufgabenumfeld anbelangt, sollte Ihr Fokus im kommunikativen, projektbezogenen und konzeptionellen Bereich liegen. Diese beruflichen Wohlfühloasen finden Sie bei den Stellenanzeigen unter den Bezeichnungen PR-Abteilung, Marketing, Brand, Kommunikation, Business Development, Social Media, Customer Service, Projektmanagement etc. Auf diesen Bühnen können Sie sich als Industrieschauspieler bestmöglich entfalten. Das hierfür erforderliche „gefährliche Halbwissen“ eignen Sie sich schnell an. Nach einer kurzen Eingewöhnungszeit können Sie bereits im Business-Bullshit-Bingo die ersten Treffer landen. Vermeiden Sie alle Positionen, bei denen fachliche Leistungen abgerufen oder Umfang und Qualität Ihrer Arbeit direkt gemessen werden können. Diese Berufsfelder sind für Industrieschauspieler lebensgefährliche Minenfelder.

Auch Start-up-Unternehmen eignen sich für den schauspielerischen Berufseinstieg. Dort treffen Sie in der Regel auf unerfahrene Gründer, die nach Sympathie und nicht nach Können einstellen. Position und Titel können Sie hier frei wählen, und fast jeder ist dort Direktor oder Head of irgendwas. Das macht sich gut in Ihrem noch schlanken Lebenslauf, wenn Sie nach dem ersten Job-Zwischenspiel zu einem seriösen Unternehmen wechseln wollen. Die anfänglich gezahlten Gehälter sind im Start-up-Gründungsjahr ganz ordentlich. Im zweiten oder dritten Jahr merken die Investoren aber langsam, dass die Businessidee nicht so funzt, wie es die Gründer beim Geldeinsammeln versprochen hatten. In dieser Phase wird es hässlich, gespart werden soll an den Mitarbeitern, Obstteller, Masseur, Business-Class-Flüge, Essensgutscheine und sonstige wichtige Annehmlichkeiten werden gestrichen. Die Goldene Regel bei der Start-up-Berufskarriere ist daher: Sie steigen mit einem gutem Gehalt und aussagefähigem Titel ein und sehen sich nach wenigen Monaten schon nach einem neuen Job in einem etablierten Unternehmen um. Bei Ihrem nachfolgenden Arbeitgeber können Sie im Vorstellungsgespräch Ihren Wechselwunsch mit der Inkompetenz der Start-up-Gründer begründen. Sie hätten ja für das Start-up alles gegeben, aber bei solch mangelnder wirtschaftlicher Weitsicht der Gründer war einfach kein Blumentopf zu gewinnen.

Was den regionalen Faktor der Jobwahl anbelangt, gilt nur eine Regel: Karrieren werden in Städten gemacht. Es mag Firmen geben, die Sie mit tollen Jobaussichten in öde Landstriche locken wollen. Man gaukelt Ihnen rurale Romantik und vielversprechende Freizeitangebote vor. Widerstehen Sie! Wie wollen Sie in solch einem Umfeld ein branchennahes Kontaktnetzwerk aufbauen? Verraten und verkauft sind Sie dort und kommen nur schwer wieder weg. Ihr Suchprofil muss sich auf die wichtigen Städte konzentrieren. Es ist wie im richtigen Theater. Die großen Inszenierungen laufen nicht im Deutsch-Sorbischen Volkstheater in Bautzen, sondern im Friedrichstadt-Palast in Berlin.

Wie im Sandkasten

Jeder Anfang ist schwer, und vor Ihrem ersten Auftritt als Industrieschauspieler ist ein bisschen Lampenfieber ganz normal. Lampenfieber ist eine natürliche Reaktion, die uns die Evolution in die Wiege gelegt hat. Seine ursprüngliche Funktion lag darin, uns in gefährlichen Situationen beim Überleben zu helfen. Im Lampenfieber-Moment befinden wir uns in körperlicher und geistiger Anspannung, denn eine anspruchsvolle Aufgabe erwartet uns. Der Körper pumpt Adrenalin ins Blut, um sich auf die Flucht oder den Kampf vorzubereiten. Flucht kommt als Handlungsoption für einen Industrieschauspieler nicht in Frage. Es bleibt nur der Kampf. Der Kampf um Aufmerksamkeit und Applaus für Ihre Vorstellung. Es ist nicht viel anders als damals beim fröhlichen Burgenbauen im Sandkasten. Stellen Sie sich vor, Sie gehen wieder spielen. Ihre Spielkameraden sind die neuen Arbeitskollegen und der Sandkasten ist das Büro. Viel hat sich nicht verändert. Es gibt immer noch den Schüchternen, der alleine in der Ecke spielt, den Grobian, der die Sandburgen zertrampelt, und ein paar nette Kumpels, mit denen man ganz passabel die Zeit totschlagen kann. Reduziert auf vier Grundregeln, erklärt sich die Arbeitswelt für den Industrieschauspieler wie folgt:

  1. Alle kochen nur mit Wasser
    Verabschieden Sie sich von der Vorstellung, dass in Firmen Raketenwissenschaften betrieben werden. Neunzig Prozent der dort zu erledigenden Aufgaben sind trivial und erlernbar. Alle Kollegen kochen nur mit Wasser, auch wenn sie nach außen hin so tun, als handele es sich um den teuersten Champagner.
  2. Wer ficken will, muss freundlich sein
    In jedem Unternehmen arbeiten Menschen, und jeder Mensch ist harmoniebedürftig und verfolgt dabei sein eigenes, egoistisches Ziel. Wenn Sie von Kollegen etwas wollen, müssen Sie charmant und freundlich sein, damit man Sie ranlässt. Einem Miesepeter hilft keiner und befördert wird er auch nicht.
  3. Fake it till you make it
    Keine falsche Bescheidenheit. Jeder hat ahnungslos begonnen. Verkaufen Sie sich als Universalgenie für jede Aufgabe. Es wird sich schon eine Lösung finden. Das Wissen ist bereits in der Firma. Es muss nur noch zu Ihnen kommen. Suchen Sie es und verschleiern Sie bei der Suche Ihre Inkompetenz mit kommunikativen Blendgranaten. Der Mensch wächst mit seinen Aufgaben.
  4. There’s no business like show business
    Ihre berufliche Karriere ist die Show. Bleiben Sie in Ihrer Rolle und überlassen Sie die stupide Maloche den fleißigen Kollegenarbeitsbienchen. Denn den Karriere-Preis gibt’s auch ohne Fleiß. Konzentrieren Sie sich auf Ihre Selbstdarstellung und das Seelenfangen. Menschen brauchen Menschen, um Erfolg zu haben. Spielen Sie Ihre Kollegen an die Wand, denn ob Sie klug sind oder dumm, entscheidet stets das Publikum.

Diese Regeln sollen Ihre Reise durch das Firmenuniversum wie Leuchttürme überstrahlen. Folgen Sie Ihnen in die blühenden Karrierelandschaften. Aber bleiben Sie stets aufmerksam, denn auch Fallgruben und Stolpersteine säumen Ihren Weg nach oben. Unpassendes und unüberlegtes Verhalten kann Ihre Karriere nachhaltig beschädigen. Ein falscher Schritt, und Ihr mühevoll errichtetes Kartenhaus fällt in sich zusammen. Solche beruflichen Fehltritte nennt man Career Limiting Moves (CLMs). Ihr CLM-Konto muss auf Ihrem Karriereweg so wenig Treffer wie möglich aufweisen. In den nachfolgenden Kapiteln werden die wichtigsten Karriere-Minen als CLMs jeweils am Ende zusammengefasst.

Vorsprechen beim Vorstellungsgespräch

Sobald Sie die passende Einstiegsposition und den richtigen Austragungsort für Ihren ersten Auftritt gefunden haben, beginnt Ihre Vorbereitung. Sie benötigen einen überzeugenden Lebenslauf. Wie Sie aus Ihrem bisher ereignis- und erfolglosen Leben einen Überflieger-Lebenslauf erstellen, entnehmen Sie den zahlreichen Ratgebern, die zu diesem Thema geschrieben wurden. Dort erfahren Sie auch, wie Sie mit einem selbstbewussten und offensiven Anschreiben zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen werden. Vermeiden Sie devote Anbiederungsbriefe. Die wandern sofort zum unteren Ende des Bewerberstapels. Sobald Ihr Vorsprechtermin steht, beginnt Ihre Show. Wie auch im richtigen Theater hängt nun alles davon ab, wie gut Sie Ihre Rolle spielen und ob Sie Ihr Publikum begeistern können. Ihre neue Rolle bereiten Sie anhand der Stellenbeschreibung gewissenhaft vor. Damit Sie beim Vorsprechen glänzen können, sollten Sie sich vorher ausgiebig mit dem Charakter des Unternehmens, seinen Rivalen im Markt und seiner Führungsmannschaft auseinandergesetzt haben. Nur so können Sie eine glaubhafte Vorstellung abliefern. Das wartende Publikum wird sich ausführlich mit Ihrem offensiven Anschreiben, Ihrem frisierten Lebenslauf und Ihren angeblichen Qualifikationen auseinandergesetzt haben. Groß ist die Vorfreude Ihrer Gesprächspartner auf das nun kommende, interaktive Happening. Ihre Bühnenkleidung sollten Sie perfekt auf den Company-Dresscode abgestimmt haben. Hierfür eignet sich die Google Bildersuche, mit dem Schwerpunkt Firmenevents und Firmendarstellung. Welche bunten Kostüme tragen Ihre zukünftigen Kollegen bei diesen Events auf den Fotos? Richten Sie Ihre Kostümierung entsprechend darauf aus. Erscheinen Sie ausgeschlafen und pünktlich und bewegen Sie sich vorher ein bisschen. Das verleiht Ihnen eine gesunde Gesichtsfarbe. Verzichten Sie auf Kaffeegenuss vor dem Termin, denn das Koffein verstärkt Nervosität. Atmen Sie durch. Ihr Puls wird nun leicht erhöht schlagen. Gleich geht der Vorhang auf und Ihre Vorstellung beginnt.

Sobald der Personaler Ihnen die Hand reicht, greifen Sie kurz und entschlossen zu. Halten Sie Blickkontakt, bedanken Sie sich brav für die Einladung und stellen Sie sich vor. So weiß jeder Teilnehmer, welche Schauspielgröße nun die Bühne betritt. Der erste Akt beginnt mit Smalltalk. Das liegt nicht jedem. Ihnen vielleicht auch nicht. Sollten Sie darüber nachdenken mit „Wie stehen Sie zum Thema Atomkrieg, Samenspende oder Sterbehilfe?“ oder „Und sonst so?“ zu beginnen – STOP! Beachten Sie die PKRS-Regel. Auf dem Spielfeld des Smalltalks erfordert die Regelanwendung die konsequente Vermeidung der Themen Politik, Krankheit, Religion und Sex (=PKRS). Diese moralgeschwängerten Themen unterliegen den sich ständig ändernden Vorstellungen der Gesellschaft. Ob Gürtellinie oder Bratwurstäquator, die persönlichen Grenzen und regionalen Einfärbungen Ihrer Gesprächspartner sind Ihnen zu diesem Zeitpunkt noch unbekannt. Vielleicht ist der anwesende Personaler ein passioniertes Mitglied einer ultrarechten Burschenschaft und brennt darauf, Rommels Wüstentour mit Ihnen zu diskutieren. Sie können bei diesen Themen nur verlieren, da der folgende Gesprächsverlauf früher oder später eine moralische Stellungnahme von Ihnen einfordern wird. Weichen Sie auf unverfängliches Smalltalk-Terrain aus und erfrischen Sie Ihr Publikum mit einer Themenauswahl, die zur Branche des Unternehmens passt. Selbst wenn bei Ihren Smalltalk-Manövern ein Großteil des Publikums wie die Zuhörer eines Orgelkonzertes in Hannover auf Sie wirkt, lächeln Sie und lassen Sie sich Ihre gute Laune nicht verderben. Denn Sie sind heute super drauf. Versuchen Sie, das Eis zu brechen und Ihr Publikum für sich zu erwärmen. Dabei sitzen Sie aufrecht, leicht nach vorne gelehnt und versuchen sich permanent der Körpersprache Ihres Publikums anzupassen. Forscher sprechen vom Chamäleon-Effekt (Quelle 3), der besagt, dass wir Menschen umso sympathischer finden, je ähnlicher sie uns sind. Vermeiden Sie dramatische und hektische Gesten. Setzten Sie Ihre Mimik und Gestik gezielt und professionell ein. Nach dem Smalltalk-Warm-up geht’s zur Sache. Ihr Publikum erwartet einen strukturierten und überzeugenden Vortrag der Highlights Ihres bisherigen Lebens. Dabei tragen Sie glaubhaft vor, warum gerade Sie für die ausgeschriebene Rolle eine Traumbesetzung wären. Bei der Standardfrage nach Ihrer Schwäche kontern Sie nicht amateurhaft mit „Meine Ungeduld“ (Das will heute keiner mehr hören, ist auch keine Stärke, sondern ein Minuspunkt. Geduldige Menschen sind glücklicher, gesünder und verdienen mehr.), „Perfektionismus“ (bedeutet, der Kollege wird nie fertig, ist ein Pedant und unflexibel) oder „Hilfsbereitschaft“ (bedeutet, Sie können nicht nein sagen, werden ständig ausgenutzt und sind ein trauriger, schwacher Charakter). Stattdessen glänzen Sie mit rhetorischen Sternstunden wie „Meine Excel-Kenntnisse sind immer noch nicht so perfekt, wie ich das gerne hätte“ oder wenn Sie mehr der Understatement-Typ sind mit „… dass ich mich in Vorstellungsgesprächen nicht immer so gut verkaufe, wie ich wirklich bin“ (dabei lächeln Sie leicht verschmitzt). Nach Ihrer Eröffnungsshow lassen Sie das Publikum sprechen. Die haben lange zugehört und wollen jetzt auch mal was sagen. Man wird Ihnen das Unternehmen vorstellen und vielleicht auch noch was zu der zu besetzenden Rolle sagen. Selbst wenn Sie das langweilt, schalten Sie nicht ab, sondern machen Sie freudig mit. Man möchte prüfen, ob Sie wirklich an dem Unternehmen interessiert sind. Bei der Frage „… ob Sie noch etwas über das Unternehmen oder den Job wissen möchten“ nicken Sie freudig. Ins Abseits spielen Sie sich mit Fragen wie „Ist mein Chef nett?“ oder „Ab wann gibt’s da eine Gehaltserhöhung?“ Reißen Sie geschickt das Gespräch an sich. Wer fragt, der führt. Die Zeit vergeht wie im Fluge und Ihre Show ist schneller um, als Sie denken. Im letzten Akt werden noch Formalien und Fristen geklärt und Sie dürfen höflich fragen, wie lange der Bewerbungsprozess dauern wird. Am Folgetag sollten Sie ein höfliches Dankesschreiben für den spannenden Termin versenden und nach zwei Wochen dürfen Sie das erste Mal fernmündlich nachfragen, ob schon eine Besetzungsentscheidung gefallen sei. Bleiben Sie cool und lassen Sie auf keinen Fall den Eindruck entstehen, Sie wären verzweifelt oder ungeduldig. Auch wenn es Ihr Wunsch-Engagement wäre – es gibt noch viele andere tolle Bühnen, bei denen Sie vortanzen können.

CLMs (Career Limiting Moves) beim Vorsprechen