Informationen zum Buch

»Fante war mein Gott.« Charles Bukowski.

Ein Kultautor und sein vergessener Roman werden wiederentdeckt. Erstmals kann die Geschichte des Dominic Molise in angemessener Übersetzung gelesen werden, durch Alex Capus in den richtigen Sound gebracht. Es ist die Geschichte eines persönlichen und eines Klassenkampfes in der Zeit der großen Wirtschaftskrise: Ein bewegender und komischer Roman über die Jugend und ihre Auflösung im Erwachsenenleben.

»John Fantes Romane gehören zum Besten, was die amerikanische Literatur je hervorgebracht hat.« Charles Bukowski

»John Fante ist einer der ganz großen West-Coast-Autoren – italienische Leidenschaft gepaart mit californischer Coolness.« Alex Capus

Gefangen in einer Kleinstadt am Fuß der Rocky Mountains in den dreißiger Jahren, wünscht sich der 17-jährige Dominic Molise nichts mehr, als ein Baseball-Star zu werden. Die großen Siege, die große Anerkennung, die große Liebe. Aber er kämpft stattdessen mit der italienischen Herkunft seiner Eltern und dem Druck, im Familienbetrieb mitzuarbeiten. Ziegelsteine zu stapeln ist nichts für ihn. Sein Vater hingegen versucht ihn vor dem unausweichlichen Scheitern zu bewahren und zu überzeugen, statt des Baseballschlägers doch lieber eine Maurerkelle in die Hand zu nehmen. Seine Mutter weiß sich nicht besser zu helfen, als zu beten. Aber Dominic hört nicht auf zu träumen.

John Fante

1933 war ein schlimmes Jahr

Roman

Aus dem Amerikanischen
und mit einem Nachwort
von Alex Capus

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Nachwort

Über John Fante

Impressum

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Erstes Kapitel

Der Winter 1933 war schlimm. Am Abend stieg ich durch Berge von Schnee nach Hause. Meine Zehen brannten, die Ohren glühten, Schneeflocken wirbelten um mich her wie ein Schwarm wütender Nonnen. Mitten im Schneesturm blieb ich stehen. Es war Zeit für ein Fazit. Schlechtes Wetter hin oder her – in dieser Welt waren gewisse Kräfte am Werk, die mich fertigmachen wollten.

Halt mal, Dominic Molise, sagte ich mir. Läuft alles nach Plan? Prüf deine Lage genau, verschaff dir einen sachlichen Überblick über die Situation. Was geht hier vor sich, Dom?

Ich war hier in Roper, Colorado, und wurde von Minute zu Minute älter. In sechs Monaten würde ich achtzehn werden und die Highschool abschließen. Ich war vierundsechzig Inches groß und in den letzten drei Jahren kein Stück gewachsen. Ich hatte Säbelbeine und drehte die Füße beim Gehen nach innen. Meine Ohren standen ab wie die von Pinocchio, meine Zähne waren schief, und mein Gesicht war gesprenkelt wie ein Vogelei.

Ich war der Sohn eines Maurers, der seit fünf Monaten keine Arbeit mehr hatte. Ich besaß keinen Mantel und trug stattdessen drei Pullover übereinander. Meine Mutter betete seit Wochen eine Serie von Novenen, damit Gott mir einen neuen Anzug für die Abschlussfeier im Juni spendierte.

Herr, sagte ich, denn in jenen Tagen war ich noch gläubig und sprach frei heraus zu meinem Gott; Herr, was soll das? Ist das wirklich dein Wille? Hast du mich dafür in die Welt gesetzt? Ich habe nicht darum gebeten, geboren zu werden, absolut nicht. Aber jetzt bin ich hier und hätte da ein paar berechtigte Fragen nach dem Wieso und Weshalb, und deshalb antworte mir bitte, gib mir ein Zeichen: Ist das der Lohn für meine Bemühungen, ein guter Christenmensch zu sein? Für zwölf Jahre katholische Unterweisung und vier Jahre Latein? Wofür bestrafst du mich, habe ich jemals die heilige Dreifaltigkeit angezweifelt? Die Wiederauferstehung? Die Wandlung? An wie vielen Sonntagen und hohen Feiertagen habe ich die Messe versäumt? Du kannst sie an deinen zwei Händen abzählen, o Herr.

Spielst du ein Spiel mit mir, oder sind dir die Zügel aus der Hand geglitten? Hast du die Kontrolle verloren? Ist Luzifer wieder an der Macht? Sei ehrlich zu mir, denn ich bin voller Unruhe. Gib mir einen Hinweis. Ist das Leben die Mühe wert? Wird alles gut ausgehen?

Wir wohnten damals an der Arapahoe Street am Fuß der Hügel, die sich zum Osthang der Rocky Mountains erhoben. Wie zerklüftete Wolkenkratzer schossen die Hügel himmelan, blaugrün dunstig im Sommer, zuckerweiß und wolkenumhangen im Winter, und blickten herab auf unsere Stadt. Jeden Winter ging dort oben jemand in einem Canyon verloren oder wurde unter einer Lawine begraben. Im Frühling verwandelte sich der Roper Creek mit der Schneeschmelze in einen tobenden Fluss, der Zäune und Brücken mit sich riss und Straßen überschwemmte, Berge von Schlamm auf der Pearl Street hinterließ und das Gerichtsgebäude unter Wasser setzte. Ein kaltes, übellauniges Land, die Erdkruste ein einziges Eisfeld bis Ende April. Noch zu Ostern konnte plötzlich Schnee fallen, und manchmal gab es im Mai einen Blizzard aus heiterem Himmel; keine gute Gegend für einen Baseballspieler, besonders nicht für einen Pitcher, der seit Oktober keinen Ball mehr geworfen hatte.

Aber Der Arm hielt mich aufrecht, mein wunderbarer linker Arm, der meinem Herzen am nächsten war. Ihm konnten Schnee und Wind nichts anhaben, denn ich rieb ihn täglich mehrmals sorgfältig mit Sloan’s Massageöl ein, von dem ich jederzeit eine kleine Flasche in der Tasche hatte. Manchmal stank ich derart danach, dass mich die Lehrer auf die Toilette schickten, damit ich mir den strengen Geruch vom Leib wusch; dann verließ ich stolz und hocherhobenen Hauptes das Klassenzimmer, unempfindlich gegen das Grinsen der Jungen und das Naserümpfen der Mädchen, denn ich war im Reinen mit mir und meiner Bestimmung und sah keinen Anlass zur Scham.

Damals war ich gut drauf, hatte den coolen Gang eines Revolverhelden und die Lässigkeit eines klassischen Linkshänders. Meine Schulter hing ein wenig tiefer, daran schlenkerte Der Arm locker wie eine Schlange; mein Arm, mein gesegneter, heiliger, mir von Gott gegebener Arm. Zwar hatte der Herr mich den Lenden eines armen Maurers entspringen lassen, aber zum Ausgleich hatte er mich mit einem Juwel behängt, als er diese Schleuder an meinem Schlüsselbein befestigte.

Mochte es also schneien! Mochte der Winter lang und kalt sein und der Frühling nur ein ferner Traum, das machte Dominic Molise nichts aus. Denn wenn die warme Sommersonne wiederkehrte, würde er Gottes Werk vollbringen mit seinem durchtriebenen linken Arm. Die schneeverwehte Arapahoe Street war ein geschichtsträchtiger Ort. Eines Tages würde sie in der Hall of Fame vermerkt sein als die Straße, in der ich zur Welt gekommen und so viele Nächte verzweifelt durch den Schnee gestapft war. Eine Gedenktafel, bitte sehr, eine Bronzetafel in Beton auf einem Denkmal an der Ecke Ninth und Arapahoe Street: Hier verbrachte Dominic Molise, der Welt größter Linkshänder, seine Kindheit.

Mein Glaube war wiederhergestellt, die Welt wieder in Ordnung. Gott hatte meine Fragen beantwortet, meine Zweifel waren ausgeräumt. Der Wind hatte nachgelassen, der Schnee rieselte leise wie Konfetti. Grandma Bettina sagte immer, Schneeflocken seien die Seelen von Verstorbenen, die für einen kurzen Besuch aus dem Himmel zur Erde zurückkehrten. Ich wusste, dass das nicht stimmte, aber möglich war es doch, und deshalb glaubte ich es manchmal, wenn ich gerade in der richtigen Stimmung war.

Ich streckte eine Hand aus und betrachtete die Schneeflocken, die darauf liegen blieben. Für ein paar Sekunden schienen sie lebendig und hatten die Form von Sternen, und wer weiß, vielleicht lag auf meiner Hand in diesem Augenblick die Seele von Grandpa Giovanni, der nun schon sieben Jahre tot war, und jene von Joe Hardt, unserem dritten Baseman, der im letzten Sommer bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen war. Vielleicht lagen da auch die Seelen aller Verwandten meines Vaters von den weit entfernten Bergen der Abbruzzen, alle diese Großtanten und Großonkel, die ich nie gekannt hatte und die längst verschwunden waren vom Antlitz der Erde, und die Seelen von Milliarden anderer Menschen, die gelebt hatten und wieder gegangen waren, die der auf dem Schlachtfeld gefallenen Soldaten und ertrunkenen Matrosen, der Opfer von Seuchen und Erdbeben, der Reichen und Armen. All die Toten seit Anbeginn der Zeit, keiner war entkommen mit Ausnahme von Jesus Christus, dem Einzigen in der Geschichte der Menschheit, der jemals zurückgekommen war, aber sonst keiner – glaubte ich wirklich daran?

Ich musste daran glauben. Welch andere Erklärung konnte es sonst geben für meinen unberechenbaren Slider-Wurf und meinen einzigartigen Knuckleball? Woher kam es, dass ich dermaßen gut war? Wenn ich meinen Glauben aufgab, würde ich als Pitcher außer Form geraten, meinen Rhythmus verlieren und womöglich anfangen, vor starken Schlagmännern zu kneifen. Verdammt, natürlich befielen mich zuweilen Selbstzweifel, aber bisher war es mir noch immer gelungen, sie beiseitezuschieben. Mein Leben als Pitcher war auch ohne Unglauben hart genug, und schon der Hauch eines Zweifels konnte meinen Arm schwächen. Wieso also sollte ich mit langem Nachdenken schlafende Hunde wecken? Besser nicht dran rühren. Der Arm ist dir von Gott gegeben, und damit basta. Glaub das. Denk nicht über die Vorsehung nach. Zerbrich dir nicht den Kopf darüber, wieso es so viel Böses gibt, wo Gott doch so gütig ist, oder wieso unser allwissender Gott die Menschen nach seinem Ebenbild erschafft, um sie dann doch in die Hölle zu schicken. Später wirst du noch Zeit genug für solche Sachen haben. Geh in die unteren Ligen und kämpf dich hinauf zu den Großen, spiel in den World Series und sichere dir deinen Platz in der Hall of Fame. Dann kannst du dich zurücklehnen und dir den Kopf darüber zerbrechen, wie Gott wohl aussieht und wieso verkrüppelte Babys zur Welt kommen und wer Hunger und Tod geschaffen hat.

Durch das Schneegestöber sah ich schemenhaft die kleinen Häuser, welche die Arapahoe Street säumten. Ich kannte alle Bewohner dieser Häuser, jede Katze und jeden Hund in der Nachbarschaft. Eigentlich kannte ich fast jeden von Ropers zehntausend Einwohnern, die alle eines Tages tot sein würden; ein Schicksal, das auch den Bewohnern jenes Holzhauses am Ende der Straße, dem Heim des Maurers Peter Molise, beschieden war. Es hatte ein schiefes Dach und eine durchhängende Veranda, und die einzigen massiven Backsteine am ganzen Haus fanden sich am Schornstein des Kamins. Aber auch der bröckelte.

Wie auch immer: Wenn es erst mal Zeit zum Sterben war, tat der Zustand des Hauses nichts mehr zur Sache. Und sterben müssen würden wir alle – Grandma Bettina als nächste, dann Papa, dann Mama, dann ich, weil ich der Erstgeborene war, dann mein zwei Jahre jüngerer Bruder August, meine Schwester Clara und schließlich mein kleiner Bruder Frederick, und irgendwann in der Abfolge würde sich auch unser Hund Rex in einem Gebüsch verkriechen und sterben.

Warum wälzte ich solche Gedanken und machte die Welt zu einem Friedhof? Fiel ich von meinem Glauben ab? Oder war es, weil ich arm war? Unmöglich. Alle großen Baseballspieler waren Kinder armer Leute gewesen. Noch nie war ein reicher Anfänger zu einem Ty Cobb oder Babe Ruth geworden. Oder lag es an einem Mädchen? In meinem Leben gab es keine Mädchen außer Dorothy Parrish, die aber meine Existenz kaum zur Kenntnis nahm. In ihrem Leben war ich nicht viel mehr als eine Mücke.

O Gott, bitte hilf mir! Ich beschleunigte meine Schritte, um vor meinen Gedanken zu fliehen, aber sie blieben mir auf den Fersen. Ich fing an zu rennen, so dass meine gefrorenen Schuhe quiekten wie Mäuse. Es half nichts, die Gedanken verfolgten mich weiter. Aber dann übernahm, während ich so dahinlief, mein Arm, mein wunderbarer Arm die Kontrolle über die Situation und sprach beruhigend auf mich ein: Nimm’s locker, mein Junge, du fühlst dich gerade ein bisschen einsam, das ist alles. Du bist allein auf der Welt. Dein Vater und deine Mutter können dir nicht helfen und deine katholische Erziehung auch nicht. Keiner hilft jemals dem anderen, nur du selbst kannst dir helfen, und darum bin ich hier bei dir; wir beide sind unzertrennlich, gemeinsam werden wir es schaffen.

O Arm! Du starker und treuer Arm, sprich weiter so tröstlich zu mir. Erzähl mir von meiner Zukunft. Von den jubelnden Zuschauermassen und von meinen Bällen, die den Schlagmännern zwischen den Knien hindurchzischen. Erzähl mir von Ruhm und Reichtum und Sieg, das werden wir alles haben. Und eines Tages werden wir beide sterben und Seite an Seite in unserem Grab liegen, Dom Molise und sein herrlicher Arm. Die Sportwelt wird schockiert sein und trauern, der Präsident der Vereinigten Staaten wird ein Telegramm an die Trauerfamilie schicken. In allen Stadien des Landes würden die Fahnen auf Halbmast hängen, und die Fans würden hemmungslos weinen. Damon Runyon wird für die Saturday Evening Post eine vierteilige Serie schreiben: Das Leben des Dominic Molise – ein Triumph über alle Widrigkeiten.

Unter einer Ulme blieb ich stehen und brach in Tränen aus. Der bittere Gedanke an meinen nahenden Tod war zu viel für mich. Ein so junger und begabter Mensch, niedergestreckt in der Blüte seiner Jugend. Ich bitte dich, o Herr, sei gnädig und schenk mir noch ein paar Jahre. Mit spätestens neunzehn werde ich bereit sein für den großen Erfolg, entweder bei den Cubs oder bei den Phillies, das ist mir egal. Schenk mir die Zeit bis dahin und noch zehn Jahre dazu, lieber Gott, ein knappes Dutzend Jährchen insgesamt, mehr brauche ich nicht, dann kannst du mich gerne totschlagen, wenn es dir gefällt; die zwölf Jahre werden genug für jede Menge Baseball sein, zwölf Baseball-Meisterschaften zu je dreißig Partien, das macht dreihundertsechzig Spiele, viele tausend Würfe und reichlich Gelegenheit für Dom Molise, seinen Namen in der Ruhmeshalle der Unsterblichen zu verewigen.

***

Bei mir zu Hause war alles dunkel, die Fenster zur Straße starrten blind ins Leere. Die Schneedecke auf dem Fußweg war glatt und unberührt. Das bedeutete, dass Papa noch im Onyx war und Billard spielte.

Ich stampfte mir den Schnee von den Schuhen und betrat das Wohnzimmer, in dem Clara auf dem Sofa schlief und Frederick auf einem Feldbett. Unser Haus war überfüllt. Von all seinen Bewohnern hatte nur Grandma Bettina ein eigenes Schlafzimmer, eine winzige Kammer unter der Dachschräge neben der Küche, worin das Bett den ganzen Platz einnahm und nicht mal ein Stuhl Platz hatte.

In der Küche schaltete ich das Deckenlicht ein und hielt ein Streichholz in den Backofen unter dem Gasherd, dann nahm ich mir meine Hausaufgaben hervor. Ich musste Geschichte büffeln, einen Abschnitt Vergil übersetzen und einen kurzen Aufsatz über den mystischen Leib Christi schreiben. Keine große Sache. Heute hatte Schwester Mary Delphine die Peitsche einmal nicht hervorgeholt und uns einen ruhigen Abend gegönnt.

Für die sechs Zeilen Latein brauchte ich dann doch mehr als eine Stunde. Es war schon nach Mitternacht, als ich endlich mit dem Aufsatz über den mystischen Leib Christi anfing.

»Was ist der mystische Leib Christi?«, fragte ich eingangs. »Das ist eine gute Frage. Eine wichtige Frage. So wichtig, dass sie uns bis zur Himmelspforte führen kann. Und weil sie so wichtig ist, müssen wir ihr unsere ungeteilte Aufmerksamkeit schenken. Jedes wichtige Dogma verdient es, dass wir uns eingehend mit ihm beschäftigen. Das vergessen wir allzu oft, deswegen steht so mancher Sünder in seiner letzten Stunde am Tag des jüngsten Gerichts reumütig vor dem allmächtigen Gott und zittert vor Furcht, weil er die Wahrheiten seines Glaubens vernachlässigt hat. Wenn wir unsere Zeit nicht mit Schundliteratur und obszönen Filmen verschwenden würden, sondern sinnvoll mit dem Studium der Lehren unserer Heiligen Kirche und des mystischen Leibs Christi zubrächten, wäre uns die Erlösung sicher. Die Zeit ist knapp und die Stunde nahet. Unser Herr verlangt so wenig von seinen Geschöpfen. Er hat uns selbstlose Lehrerinnen geschenkt in der Gestalt der gesegneten Schwestern vom Orden der Heiligen Katharina, und allzu oft vergessen wir, was für ein unerhörtes Glück wir haben, größtmöglichen Nutzen ziehen zu können aus ihrer Weisheit und ihren Ratschlägen. Lasset uns also die Ratschläge unserer geliebten Schwestern beherzigen und reiflich nachdenken über die Bedeutung des mystischen Leibes Christi. Vielfältig sind leider die Sünden dieser Welt, aber der größte Sünder ist, wer das Studium unseres heiligen Glaubens vernachlässigt. So können wir nur hoffen, dass wir uns am Tag, an dem wir Rechenschaft ablegen müssen über die Sünden unseres Lebens, nicht werden schuldig bekennen müssen, die ewigen Wahrheiten unserer Heiligen Kirche vergessen zu haben.«

Volltreffer.

Dieser Aufsatz würde mir eine A plus eintragen. Es war egal, dass er den mystischen Leib Christi nicht erklärte und kompletter Nonsens war – er enthielt all die betörenden Phrasen, für die Schwester Mary Delphine so empfänglich war. »Reumütig vor dem allmächtigen Gott – zitternd vor Furcht – Schundliteratur – obszöne Filme – die gesegneten Schwestern vom Orden der Heiligen Katharina – die ewigen Wahrheiten unserer Heiligen Kirche.« Delphine würde sich das Höschen nass machen.

Ich büffelte gerade Geschichte, als das Quietschen von Bettfedern aus Grandma Bettinas Zimmer drang, und dann stand Grandma Bettina, die Todfeindin des Elektrizitätswerks, in ihrem Flanellnachthemd in der Küchentür. Sie war eine kleine, grimmige alte Lady, ihre hageren Hände vergruben sich wie Vogelkrallen in ihr Altweiberbäuchlein. Ihr Haar war weiß wie ein Leintuch und die Haut an ihren Schläfen so fahl und durchscheinend, dass man beinahe in ihren Kopf hineinschauen konnte. Sie sprach ausschließlich Italienisch, und Englisch verstand sie nur, wenn es ihr passte.

Zehn Sekunden stand sie in der Tür und nickte mir traurig lächelnd zu.

»Da sitzt er nun also«, sagte sie und nickte weiter, »unser großartiger junger Amerikaner. Die Frucht eines amerikanischen Leibes, der Stolz seiner unterbelichteten Mutter, die Hoffnung kommender Generationen, und verbraucht Strom.«

»Ich versuche zu lernen, Grandma.«

»Und was lernst du, mein weiser und neunmalkluger Enkel? Ist es ein Buch über den Hunger und über Männer, die durch die Straßen ziehen auf der Suche nach Arbeit? Steht in dem Buch etwas über deinen Vater, der seit sieben Monaten keine Arbeit mehr hat, oder über die Verheißungen des Goldenen Amerika, dem Land von Gleichheit und Brüderlichkeit, diesem wunderschönen Amerika, das stinkt wie die Pest?«

»Wir haben eine Wirtschaftskrise«, sagte ich. »Außerdem ist Winter. Bei diesem Wetter kann Papa nicht mauern.«

Grandma klatschte in die Hände. »Wie schlau die jungen Amerikaner sind!«, keuchte sie und schüttelte ihre Hände. »Diese Generation hat auf alles eine Antwort!«

Ich ächzte.

Grandma streckte die Nase vor und schnüffelte. Sie hatte Witterung von Sloan’s Massageöl aufgenommen. »Und wie immer stinkst du wie die Pest.«

»Das ist ein sauberer Geruch.«

»Der Geruch eines kranken Landes. Merk dir meine Worte: Eines Tages wird dieser Gestank das ganze Land überziehen.«

Jetzt war sie nicht mehr zu bremsen. »Wen willst du eigentlich übers Ohr hauen mit deinen dummen Büchern?«, rief sie in der Pose einer Anklägerin, die vor Gericht ihre Show abzieht. »Auf die Knie solltest du fallen und um Gnade betteln!«

Dann machte sie eine Kunstpause, beugte sich zu mir vor steckte ihre Nase seitlich in mein Haar. »Bist du in letzter Zeit zur Beichte gegangen?«, wisperte sie mir ins Ohr. »Jeder Junge von siebzehn Jahren sollte mindestens zweimal täglich beichten gehen.«

Das reichte. »Fall tot um, alte Frau!«

»Aha!«, bellte sie. »Hier spricht das junge Amerika und erweist dem Alter seinen Respekt. Endlich bekomme ich meine Belohnung dafür, dass ich deinen Vater zur Welt gebracht