Informationen zum Buch

Sie wollten das Paradies und brachten die Hölle.

Die Zeit scheint aus den Fugen im 16. Jahrhundert: Seuchen wüten, Luther predigt wider den Papst, und in Münster wollen die Wiedertäufer den Gottesstaat verwirklichen. Ihr prophetischer König ist Jan Beukels aus Leyden. Doch bald wird aus der Stadt der Frommen, der Gleichheit und Freiheit eine Hölle der Lebenden und Jan ihr grausamer Despot. Diese düstere Episode der Geschichte hat in Robert Schneider ihren kongenialen, sprachmächtigen Autor gefunden.

»Schneider bleibt ein Stilmagier.« DIE WELT.

»Farbenprächtig und reich an historischen Details.« BRIGITTE

Robert Schneider

Kristus

Das unerhörte Leben des Jan Beukels

Roman

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Vorspruch

I. Weg ohne Aufgabe

Der Duft der Alit

Der große Umgang

Das Antlitz eines Jungen verfinstert sich

Eine Aufgabe haben

Beweinung

Der Eigensinn, die Zähren und der Schweiß

Vom Nutzen

Brich an, du schönes Morgenlicht

Valet will ich dir geben

Das Regnum der Leere

Unter deinen Schirmen

Bei der Welt ist gar kein Rat

Nur ein Wink von seinen Händen

II. Aufgabe ohne Weg

Lauten und Geigen soll’n auch nicht schweigen

Seinen Schafen ein guter Hirte

Die Stadt der Frommen

Dein Name steht in mir geschrieben

Empfind ich Höllenangst und Pein

Zertrümmre, verderbe, verschlinge, zerschelle!

Von dem Sinn, zu spüren

Die Gewaltmeister

Es kann leicht auf Erden vor abends anders werden

Ob es itzt gleich kracht und blitzt

Die Angst vor den Frauensleuten

Im Bauch des Grafen

Mein kleiner Herzog

Ich wollt, daß ich daheime wär

Weichet nur, betrübte Schatten

Wenn wir in höchsten Nöthen sein

Die Handlanger des Elends

Verzage nicht, du Häuflein klein

Mein junges Leben hat ein End

Die Müh ist aus

Über Robert Schneider

Impressum

Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …

Ernst Ritter

und dem Geschenk

seiner Freundschaft

zugeeignet

Vorspruch

Am Anfang war das Chaos, und das Chaos war bei Gott, und Gott war das Chaos – die Wirklichkeit. Die Wirklichkeit, von der man sich, wie unsere Vorväter sagten, kein Bild machen soll, die weder Gut und Böse noch Richtig oder Falsch erkennt, sondern dieser Trennung nicht bedarf. Aus dem Unvermögen, das Chaos, die Wirklichkeit hinzunehmen, ohne in Tatenlosigkeit zu versinken, in Zynismus und Resignation, den Sinn zu verlieren, die Hoffnung, die Liebe, erwuchs das Ideal. Aus dem nicht lebbaren Ideal aber alles Mißverständnis und Leid, unter dem Menschen je gelitten haben, denn das Ideal bleibt fern der Wirklichkeit, fern des Chaos, fern von Gott.

Wo und wann immer Menschen einer Utopie erlegen sind, mußten sie scheitern und oft daran zerbrechen. So viele Visionäre, Utopisten und Revolutionäre, Seher und Sehende, deren Namen wir verehren, deren Mut in ihrer Zeit wir heute bewundern, litten an dem Mißverständnis, wonach der Sinn des Lebens in der Verwirklichung einer Idee läge. Sie meinten, das Chaos ordnen zu müssen. Sie glaubten mit brennendem Herzen, daß die Verwirklichung ihres Ziels zu Freiheit und Gerechtigkeit führe, zur Stillung aller Sehnsüchte, und standen nicht selten mit dem Leben dafür ein. Dies führte paradoxerweise in noch größere Unfreiheit und noch härtere Ungerechtigkeit, weil das Ideal zum Dogma, zum Gefängnis geworden war, zum eigenen und dem der andern.

Dort, wo Idee und Konzept an der Wirklichkeit versagten, wurde darum die Wahrheit verschwiegen, die Lüge beschworen, das Recht gebeugt, mußte das Chaos erklärt, Gott versinnbildlicht werden. Ehe man es sich versah, war man in endloses Rechtfertigen und Beteuern verstrickt, von der Angst gequält, dem selbstauferlegten Anspruch nicht genügen zu können, ja schließlich am Ideal irre werden zu müssen. So kam es, daß das Ideal sich von der Wirklichkeit abspaltete – in nicht wenigen Lebensgeschichten bis zu Schizophrenie und völligem Realitätsverlust.

Idealisten wurden zu Fanatikern, wenn ihnen die Macht gegeben war. Von vielen, die als Große der Geschichte bezeugt werden, wissen wir, daß sie aus Gründen der Glaubenserhaltung, der Staatsräson, der Doktrin, der Partei, ihre eigenen Wegbereiter, Mitstreiter, Gefolgsleute und Freunde haben verstummen, verbannen, gefangensetzen oder morden lassen. Sie wurden zu Verführten des eigenen Traums, den sie aus lauterem Herzen geträumt hatten. Sie suchten eine bessere Welt und hinterließen sie schlechter als zuvor. Sie wollten das Paradies und brachten die Hölle.

Die Abenteurer des Ideals galten ihrer Zeit als Narren, als Besessene und Wahnsinnige. Sie galten aber auch als von numinoser Gnade erfaßt, als Wohltäter und Linderer, als herausragende Strategen und eminente Denker. Man verehrte, verhöhnte oder fürchtete sie. Man lief ihnen hinterher oder verjagte sie. Die Welt schüttelte den Kopf, die Welt erstarrte. Sie erklärte sie zu Heiligen, zu Ketzern, zu Vogelfreien, erhob sie zu Königen, Helden und Autoritäten.

Aber wie sah es wirklich aus in ihnen? Wie sah er aus, der feuerrote Morgen eines Ideals? Und wie die heranbrechende Dunkelheit, die Verzweiflung über den mißglückten Lebensplan? Legion sind die Selbstzeugnisse und Briefe, darin sich die großen Utopisten und Visionäre am Ende empfanden wie Sünder, Aussätzige, Bettler und Gescheiterte.

Und trotzdem: Was wäre die Geschichte ohne all die Geister, die sich unerschrocken geweigert haben, das Chaos hinzunehmen? Die sich nicht abfinden wollten mit der nüchternen Erkenntnis, daß die Wirklichkeit nun einmal so ist, wie sie ist, geschweige denn, daß es das Höchste wäre, von Gott zu sagen: Er sei. Ist es besser, in einer Welt zu leben, in der alles geoffenbart ist, in der es kein Richtig oder Falsch mehr gibt, kein Gut oder Böse, kein Du sollst oder Du sollst nicht? Kann das Chaos ertragen werden? Und wer kann es?

Mögen Idealisten vergeblich geliebt, gelitten und geirrt haben, sie haben die Menschheit berührt und bewegt. Sie gaben Hoffnung, Ziele, Sinn, grandiose Illusionen. Sie brachten zum Lachen und zum Weinen, waren Ärgernis und machten angst. Sie legten den Finger in die Wunden oder betäubten sie. Der Widerspruch wird bleiben, weil Ideal und Wirklichkeit so schwer zusammengehen, und eben davon handelt dieser Roman.

Er führt hinab in eine Zeit, da die Lüfte noch voller Geister und Abergeister waren, voller Teufel und Dämonen und Myriaden von Engeln. Aber auch in eine Zeit, in welcher die Vorstellung eines jahrhundertealten Gottes zu kränkeln begann. Eine Zeit, die man für das Ende aller Tage hielt und in der das Erscheinen des Jüngsten Gerichts allerorten erwartet wurde. Eine nervöse, fiebrige und an Grausamkeiten nicht zu überbietende Epoche, durchzogen von Aufständen, Seuchen und der Furcht vor Kometen, die den Erdkreis in aschfahles Land verwandeln würden. Gleichzeitig eine Epoche der hellen Lebensfreude, des Geschmacks von Safran und Muskat, der Entdeckung des Körpers und seiner Nacktheit, der Lust am Disput, an Rede und Gegenrede.

Kaum eine andere Errungenschaft des frühen sechzehnten Jahrhunderts hat im christlichen Europa und weit darüber hinaus die Menschen derart erschüttert, aber auch erwachen lassen wie die Übersetzung, ja die Neuentdeckung der Heiligen Schrift in der jeweiligen Landessprache. Plötzlich hatte das unverständliche lateinische Gemurmel hinter riesigen Lettnern ein Ende. Plötzlich war man ermutigt, sofern man hören mochte, alles Unverrückbare und Unumstößliche in der eigenen Sprache zu hinterfragen, an den scheinbar gottgegebenen Verhältnissen zu zweifeln. Denn in der Bibel stand es anders. Christus war anders, als er gepredigt worden war.

In jenen Tagen, da die Welt noch weiße Flecken hatte und Karavellen unter großen Fährlichkeiten ins Unbekannte ausschwärmten, machte sich eine kleine Gruppe von Männern und Frauen aus dem Niederländischen und dem Niederdeutschen auf, Neuland ganz anderer Art zu finden – den verheißenen Ort der inneren Freiheit. Zuhauf verließen sie ihr unterdrücktes Leben, ihre Gemeinschaften, Dörfer und Städte, um dorthin zu ziehen, wo Gottes Wort wahrhaftig gepredigt würde. Sie wollten frei sein und ohne Obrigkeit. Als schwärmerische Rotte galten sie Papst und Kaiser, in der Geschichtsschreibung blieben sie eine Marginalie unter dem Stichwort: die Wiedertäufer.

Einer von diesen, die aufstanden, Aufgabe und Weg in einer besseren Welt zu finden, hieß Jan Beukels, genannt Jan van Leyden, weil er in der Nähe des gleichnamigen holländischen Städtchens zur Welt gekommen war. Das geschah um das Jahr 1510. Sein beispielloses Leben, das nicht einmal dreißig Jahre währte und auf erbärmliche Weise endete – in einem Eisenkorb am Lamberti-Kirchturm zu Münster in Westfalen –, soll hier ausgebreitet werden. Und obwohl sich die unglaubliche Geschichte des Jan Beukels zugetragen hat, ist sie in ihrer bizarren Farbigkeit, Zufälligkeit, Abenteuerlichkeit und abgründigen Düsternis aus dem Stoff, aus dem Romane sind.

I.
Weg ohne Aufgabe

Der Duft der Alit

In ihrer Wohnstatt, nahe der St. Pieterskerk, an der Straße, die zum Blauen Stein führte, hielt die junge Alit Krankenwache am Bett ihres erstgeborenen Sohnes Jan. Das geschah gegen Ende der vierzigtägigen Fastenzeit, am Vorabend vom Palmsonntag des Jahres 1517. Der schon vergessene Winter war noch einmal zurückgekehrt und hatte das Städtchen, die frühlingsduftenden Gärten und Torffelder vor den Mauern fest in seine weiße Hand geschlossen, den Oude Rijn und die zahllosen Grachten mit dünnem Eis versiegelt.

Alit blickte auf den fiebrig daliegenden Jungen, die schmale Brust, die von unruhigem Atem auf- und niederging, öffnete sein Hemd, legte ihre Hand auf das Brustbein und rieb es unter sanftem Druck. Sie strich ihm das blonde, verschwitzte Haar aus der Stirn und besah wieder die Blessur am Hals, die er sich bei einer Rauferei mit Dieric und Pauwel eingehandelt hatte. Nachdem die Wunde neu verarztet und verbunden war, tat sie einen sorgenvollen Blick auf ihren anderen Sohn, den Jüngsten, der mit Jan nicht nur dasselbe Bett teilte, sondern auch denselben Namen trug, und den sie darum Johann nannte, in Erinnerung an ihre eigene Herkunft. Denn sie stammte aus dem Westfälischen, aus der Gegend von Coesfeld, unweit der Stadt Münster. Als Kind hatte man sie noch mit Namen Adelheid gerufen. In den Niederlanden war daraus Alit geworden. Johann schlummerte zu Füßen Jans, und auf seinem Gesicht lag die Röte und Erschöpfung eines Wintertages, den die Kinder draußen vor dem Stadttor zugebracht hatten.

Der Wind frischte auf, blies durch die Ritzen und verlöschte plötzlich das Licht der Tranlampe, denn das Fenster war nur mit einer dünngegerbten Haut bespannt. Butzenscheiben konnten sich die Beukels keine leisten, obwohl Alit ihrem Gatten schon lange deswegen in den Ohren lag. Er war eben nicht aus patrizischer Familie und sie nicht die Frau eines Wollwebers oder Gewandschneiders. Sie war das Weib eines kleinen Advokaten aus s-Gravenhage, und das noch gar nicht lange mit dem Segen der Kirche. Man hatte also dankbar zu sein, daß man nicht seine Magd geblieben war. Vor weniger als einem Jahr erst war man in die Stadt gezogen, hatte sich verschulden müssen, um in diesem nicht einmal zwanzig Schuh breiten, dreistöckigen Häuschen mit dem hübschen, gestuften Giebel eine Wohnstatt zu haben.

Es wird sich alles finden, dachte Alit und zündete die Tranlampe wieder an. Und wenn ich dereinst mein Erbe antreten darf (Gott der Allmächtige erhalte das Leben meines Vaters noch hundert und drei Jahre! Daß ich so einen Gedanken nur denken kann!), möchten es wohl fünfzehn oder zwanzig rheinische Gulden sein, die mir zukommen. Ein Mastochse ist wohl das mindeste. Und dieses Geld soll dann für die Fenster hingehen aus Glas, bemalt mit dem Hauswappen der Beukels. So wird es sein.

Die junge Frau erhob sich vom Schemel, trat ans Fenster, spähte durch eine Ritze hinunter auf die Straße und hinüber auf den Platz vor der St. Pieterskerk. Arnt den Walker konnte sie ausmachen, wie er die Tür seines Hauses mit Weidenzweigen bekränzte für die große Prozession, bei der morgen die ganze Stadt auf den Beinen sein würde. Und drei Jungen sah sie, die im Schnee um die Wette eiferten, wer von ihnen eine Schweinsblase am prallsten aufzublasen imstande wäre. Sonst lag die Straße leer und still. In der Ferne schlugen Hunde an, und hie und da vernahm man das Wiehern eines Pferdes. Die kalte blaßrosene Sonne versank gerade am Horizont. Bald lagen die Türme, die Fialen und Giebel der Stadt im Dunkeln, hinterfangen von einem endlos weiten, allmählich aufblitzenden Sternenhimmel.

Gewiß, Gott der Allmächtige hielt seine schützende Hand über sie, hatte ihr in dem Beukels einen Gatten anheimgegeben, der zwar nicht eben mit Tatendrang oder hohem Mut gesegnet war und überhaupt wenig Aufhebens und Worte machte, aber insgesamt doch ein verträglicher Mensch war und auch fromm, mit seinem runden, finnigen Gesicht. Bei diesem Gedanken huschte Alit ein Lächeln über den Mund, denn sie genoß es, ihm die Pusteln auszudrücken. Außerdem dienerte er nicht, Kratzfuß hier, Bückling dort. Sie konnte sich glücklich schätzen, daß er sie liebgewonnen hatte, und trotzdem war sie in seinen Armen nie ganz heimisch geworden. Es blieb stets ein ungestilltes Verlangen. Sie hatte Heimweh. Heimweh nach Deutschland. Niemals würde sie eine Niederländerin werden. Vielleicht auch, weil sie die Verbindung mit dem Beukels so lange Jahre hatte geheimhalten müssen. Sie war ja nur seine Dienstmagd gewesen bis zu dem Tag, an welchem sein rechtmäßiges Weib (zuletzt doch) von dieser Erde hatte scheiden müssen. Alit bekreuzigte sich.

Eben erst war der Beukels zum Bürger der Stadt Leyden ernannt worden, und seine Stimme hatte von nun an Gewicht. Darauf war sie nicht wenig stolz. Er durfte jetzt, sollte es Aufruhr in der Stadt geben, eine Waffe bei sich tragen. Er war zum Spießbürger erhoben. Es gab also keinen Grund für Unzufriedenheiten, man konnte schließlich ein geordnetes und beschütztes Leben führen. Überdies hatte man dem Beukels zwei Söhne geboren, während sein erstes Weib ihm nur eine Tochter geschenkt hatte.

Dabei hätte alles ganz anders kommen können. Alit mußte daran denken, wie sie als Mädchen, das noch nicht einmal seine erste Reinigung erlebt hatte, eines Tages von zu Hause Reißaus nahm. Sich mausallein auf die Wanderschaft begab in Richtung Westen, auf dem Coesfelder Weg nach den Niederlanden, weil der Oheim ihr vorgeschwärmt hatte, daß dort die Weiber Mäntel trügen, die mit Veh gefüttert sind. Und Unterhemden ganz aus Seide. Und Halbstrümpfe aus Taft und Zendal, die an den Knien mit bunten Bändern festgebunden sind. Und prachtvolle, mit Perlen besetzte Hörnerhauben. Und daß sich die Weiber den natürlichen Haaransatz bis unter die Haube rasieren und das Haar straff nach hinten kämmen, es mit einem goldbetreßten Zierband bündeln. Und daß man den Reichtum und das Ansehen an der Zahl der Falten in der Haube ermessen könne, weil viele Falten viel Seide benötigten. Und daß … Alit seufzte, glättete das Kinnband, das ihre schlichte Kopfbedeckung, das weiße Gebende, zusammenhielt.

Kühn und wagemutig war sie gewesen, in einer Welt voller Gefahren einfach drauflos zu marschieren, mit nichts in der Tasche, nur der Straße nach Holland folgend. Daheim in Deutschland hatte sie jedenfalls nicht viel von dem Leben zu erhoffen. Ihre Eltern waren Einhöfer in dem Kirchspiel Darup, Leibeigene eines gewissen Gottfried von Schedelichen, eines wüsten Herrn, der nimmersatt wie eine Raupe war und den Ertrag aus Hof und Feld bis auf den letzten Strunk auffraß. Zudem gab es noch etliche Geschwister, und der Vater lag, seit sie denken mochte, elend und siech darnieder. Ins Kloster zu gehen, das Lesen und Schreiben zu erlernen und sich dort im Lauf der Jahre womöglich noch das Augenlicht an den Webstühlen zu verderben, das kam nicht in Betracht. So fleißig war sie auch wieder nicht. Außerdem liebte sie das Leben, den Tanz, die Sackpfeifen und Tamburine (Gott sei barmherzig in meiner letzten Stunde!) zu sehr, um im Kloster an durchwachten Vigilien vor der Zeit verdorren zu wollen.

Sie wandte sich vom Fenster ab, nahm die Lampe und trat zur Wand, wo ein Spiegelchen in der Form eines Vierpasses hing. Eine Kostbarkeit aus Venedig, die ihr der Beukels zur Hochzeit geschenkt hatte. Sie besah sich in dem Spiegel und fand, daß sie noch immer ein schönes Weib sei, wenngleich die Zähne durch die Geburten sehr gelitten hatten. Sie schöpfte Atem, daß das Schnürmieder knackte. Ihre grauen, ziemlich großen Augen zeugten von flammender Leidenschaft. Der Ausdruck ihres ebenmäßigen Gesichts verriet Hochmut und Naivität, war jedenfalls von bezaubernder Unart, gemischt mit Nachdenklichkeit und Unruhe.

»Nein, eine Niederländerin will ich nie sein!« sagte sie laut und vernehmlich zu ihrem Spiegelbild, und davon erwachte Jan, räusperte sich und fing an zu sprechen.

»Liebe Mutter, muß ich verderben?«

Alit erschrak, als hätte sie jemand bei ihren heimlichsten Gedanken ertappt. Sie mußte sich erst fassen und in die Gegenwart zurückfinden. Dann trat sie an die Bettstatt ihrer beiden Jungen und leuchtete mit der Lampe in Jans Gesicht, zog ihm die Decke bis unters Kinn, denn es war so kalt in der Schlafstube, daß der Atem wölkte.

»Was redest du?« fragte sie mit leiser, beherrschter Stimme.

Jan blickte sie mit weit aufgerissenen Augen an. Die Lippen waren ihm vertrocknet, und der Mund stand halb offen. Alit gewahrte, daß der kleine, schmächtige Leib unter der Barchentdecke zitterte. Sie merkte auch, wie es in dem blonden Kopf rumorte, daß Jan etwas sagen wollte.

»Sch-sch-t … mein kleiner Herzog. Du hast ja nur geträumt, übel geträumt. Ich bin hier, bei dir. Und dein Brüderchen auch. Schau nur, wie es schläft. Da könnte just in diesem Augenblick der Jüngste Tag anbrechen. Der Johann würde ihn glatt verschlafen.«

Sie lächelte gequält, denn sie wußte, daß es mit Johann etwas auf sich hatte, das sie sich nicht erklären konnte. Das Kleinkind schlief über die Maßen viel und gab, selbst wenn es wach war, nicht einen verständlichen Laut von sich. Alit benetzte Jans Lippen mit Wasser, befeuchtete seine Stirn und tat ihm einen Kuß auf die Wange.

»Mit welchen Teufeln muß ich in die Hölle fahren? Mit Asmodäus? Mit Behemot? Oder mit Satan selbst?«

Seine Stimme krächzte, als er das sagte, und über das Antlitz kroch der Schatten einer nicht zu lindernden Angst, die Alit fast das Wasser in die Augen drückte. Wie konnte der Junge nur so reden? Eine Seele, die so gut wie noch nicht gelebt hatte.

»Du wirst nirgendwo hinfahren, mein kleiner Herzog. Und sollte es dereinst sein, dann wirst du bei den neun englischen Chören wohnen, ganz zuoberst mit den Cherubinen.«

Sie nahm seine Hand, drückte und liebkoste sie.

»Versuche wieder zu schlafen. Siehst du die Sanduhr auf der Truhe? Ich werde sie wenden. Ich wette, ehe die Glase voll ist, bist du eingeschlafen.«

Alit griff nach der Uhr und wendete sie. Der Sand floß hinab, man konnte sein Rieseln hören, wenn man die Luft anhielt. Jan blickte auf die Uhr, und es war, als würde das ruhige Fließen des Sandes den Ungeistern Einhalt gebieten. Jedenfalls entspannte sich das Gesicht, und sein Zittern wurde weniger. So verharrten Mutter und Sohn schweigsam, bis eine Glase vorüber war. Aber einzuschlafen vermochte Jan dennoch nicht. Da erhob die Mutter ihre Stimme, die er so sehr liebte, deren Klang einem Jungen seines Alters die beste Medizin ist, und begann zu singen. Ein Lied aus ihren eigenen Kindertagen. Ihr dunkler Sopran erfüllte die Schlafkammer.

Es ist ein Schnee gefallen,

und es ist doch nit Zeit.

Man wirft mich mit den Pallen,

der Weg ist mir verschneit.

Mein Haus hat keinen Giebel,

es ist mir worden alt.

Zerbrochen sind die Riegel,

mein Stüblein worden kalt.

Ach Lieb, laß dich’s erparmen,

daß ich so elend bin.

Und schleuß mich in dein’ Arme,

so fährt der Winter hin.

Das Lied hatte wohl noch eine weitere Strophe, aber Alit konnte sich nicht mehr auf die Verse besinnen, und darum begann sie wieder von vorn. Ihr Singen wurde unterbrochen durch ein heftiges Kettengerassel, unten auf dem Pieterskerkkoorsteeg. Man konnte deutlich zwei Männerstimmen hören. Eine von ihnen fluchte laut und ungezügelt. Jan schrie erschrocken auf.

»Das sind doch nur die Torwächter, mein kleiner Herzog! Die spannen die Ketten in den Straßen und schließen die Tore. Damit du behütet bist, auf daß nachts keine Plünderer und Mordbuben in unsere schöne Stadt eindringen. Und jetzt wirst du schlafen, weil ich mit meiner Patienz zu Ende bin.«

»Liebe Mutter …«, sagte Jan mit zaghafter Stimme.

»Was ist denn noch?« fuhr Alit ungeduldig dazwischen.

»Wenn man in Sünde geboren ist, holt einen der Teufel Behemot. Der Behemot ist viel wütender als Satan, weil er noch tiefer gefallen ist. Zuerst trinkt er einem das Augenwasser aus. Dann reißt er einem die Zunge heraus. Er kocht sie nicht, sondern schluckt sie roh. Das macht er mit jedem, der in Sünde geboren ist.«

»Wer erzählt so einen Unflat?«

»Der Schulmeister Joest hat’s gesagt, und der Dieric und der Pauwel. Aber ich hab den Dieric auch getroffen. Am Aug. Und ich hab ihn gerissen, und er mußte auch mit in die Gracht fallen.«

»Es ist mir gleichviel, was der Schulmeister Joest sagt. Aber daß ihr euch nach der Lateinschule die Köpfe blutig rauft, das mißfällt mir. Außerdem soll Meister Joest das Maul lieber nicht so voll nehmen. Was ist denn mit seiner Griet? Ist das vielleicht keine Sünde?«

»Warum bin ich in Sünde geboren? Ihr habt doch den Herrn Vater lieb.«

»Das verstehst du nicht, mein Junge. Und gewiß habe ich den Herrn Vater lieb. So wird es auch bleiben. Gib nichts auf das Gerede dort unten in der Gasse.«

»Der Dieric hat gesagt, ich bin ein Basilisk. Da hab ich ihm ins Gesicht gespuckt und ihn verbleut. Mutter … was ist ein Basilisk?«

»Das weiß ich auch nicht.«

»Und ich muß überhaupt froh sein, wenn ich morgen bei der großen Prozession im Haufen der Lateinschüler mitgehen darf.«

»Du gehst morgen nirgendwohin. Willst du dir bei der Kälte den Tod einhandeln, wo du ohnehin schon krank bist? Hättest du nichts auf das Gerede gegeben, dann hättest du dich nicht mit Dieric und Pauwel geprügelt. Und du wärst auch nicht in die Gracht gefallen. Laß dir das eine Lehre sein.«

»Aber liebe Mutter! Ich will zu der großen Prozession!«

»Schluß jetzt! Du bleibst im Bett, und wenn ich die Tür verriegeln müßte.«

Jan wagte nicht, weiter zu widersprechen. Er schluckte, sank auf sein Kissen zurück, und plötzlich kullerten ihm die Tränen von den Wangen. Aber er verbiß es sich, auch nur einen einzigen Laut von sich zu geben.

Alit tat die Härte ihrer Worte leid. Aber auch sie schwieg, denn sie wollte eine gute Mutter sein. Und stand nicht geschrieben: Dein Ja sei ein Ja, und dein Nein ein Nein? Weil sich nun der Junge nicht mehr fassen konnte bei dem Gedanken, an dem großen Umgang nicht teilhaben zu können, stürzten ihm die Tränen umso heftiger hervor. Und am Ende schluchzte und weinte er laut und erbärmlich. Alit schwieg noch immer. Sie durfte und konnte ihn jetzt nicht trösten. Da tat sie etwas, das sie lange nicht mehr getan hatte. Etwas, dem Jan schon lange entwöhnt war. Sie schnürte ihr Mieder auf, legte sich zu dem Jungen, nahm seinen Kopf und drückte ihn sanft an ihre Brust. Jan wurde ruhig, und er roch Alits Brust und konnte nicht genug kriegen von dem Duft. Darüber schlief er endlich ein, und auch sie.

Es war in der ersten Stunde nach Mitternacht, als unten an der Haustür ein schwerer Schlüssel ins Schloß ging, die Tür mit Ächzen geöffnet und wieder geschlossen wurde. Alit erwachte jäh. Der Beukels kehrte von seiner geheimen wöchentlichen Versammlung zurück, wo sich gleichgesinnte Männer trafen, um über die Fragen des Glaubens und der Schriftauslegung zu disputieren. Alit erhob sich schnell aus dem Bett und schlich leichtfüßig die steile Treppe hinab. Sie begrüßte ihren Gatten mit einem herzlichen Lächeln. Der aber sagte kein Wort. Aus seinem Gesichtsausdruck durfte sie entnehmen, daß es bei der Versammlung wieder Zwietracht gegeben hatte. Alit verfügte sich im Handumdrehen in der Küche an den Herd, wo es noch gloste, legte zwei Stücke getrockneten Torfs auf die Glut, holte den Kessel und wärmte dem Beukels die Suppe.

Der Beukels, ein bulliger, großer Mann mit einer schönen Nase und einer etwas zu flachen Stirn, öffnete die Schließe an seinem bodenlangen Umhang, legte die Schaube ab, nahm das Barett vom Kopf, setzte sich an den Tisch, sah finster drein und verharrte noch immer wortlos. Alit brachte ihm die Suppe und ein Stück Brot. Er aß hastig und doch widerwillig, blickte dabei seine Frau nicht ein einziges Mal an. Plötzlich grummelte er:

»Die ewige Heringsbrühe. Ich kann sie nicht mehr riechen. Gottlob, daß die Fastenzeit ein Ende hat.«

Alit nickte, denn auch sie war froh, daß die Fastenzeit nun bald vorüber sein würde. Froh auf ihre Weise. Als sie nämlich dem Beukels zugesehen hatte, wie er die Suppe hinunterschluckte, war ihr Blick verschämt auf seine starken Oberarme gefallen, auf die breiten Schultern, auf den männlichen Hals mit dem hervorquellenden Adamsapfel, auf die schütter-bärtigen Wangen, darin sich eine schöne, reife Pustel verbarg, und auf die Brusthaare, die der Ausschnitt seines Leinenhemds preisgab. (Gott, der Allmächtige, sehe mich nicht darum an!)

Der große Umgang

Ganz feierlich war dem Schulmeister Joest in seiner Stube zumute an diesem Morgen des Palmtages, dem Tag des großen Umgangs. Dem Tag, der nun eine Reihe von kirchlichen Festlichkeiten einläuten würde, die ganze Karwoche über. Prozessionen und Heiltumszeigungen, welche ihren krönenden Abschluß fänden früh am Ostersonntagmorgen, beim sogenannten Wettlauf zum Grab Christi. Ein Spektakel, mit dem sich Meister Joest noch nie hatte anfreunden können, weil es ihn geschmacklos dünkte. An jenem Morgen nämlich stellten die Zünfte der Stadt Leyden ihre stärksten und flinkesten Männer beim Nordtor auf, von wo diese dann – angezeigt durch eine Kartaunensalve – unter dem Geschrei einer sie anfeuernden Menge kreuz und quer durch die Stadt rennen mußten, hinunter zur Papengracht und von dort hinüber zur St. Pieterskerk, deren Portale weit geöffnet standen. Wer von den Läufern zuerst die Kirche erreichte und schließlich vorn beim Altar den hölzernen Leichnam Christi berührte, war der ehrenvolle Sieger.

»Dummer Aberglaube!« zürnte Meister Joest, der eben im Begriff stand, sich für den Festtag den Bart alla francese zu stutzen, also kurz. »Bloß weil bei Johannes geschrieben steht – Merkt auf, ich gebe die Stelle jetzt dem Buchstaben nach wieder! –: Da ging Petrus und der andere Jünger hinaus und kamen zu dem Grabe. Es liefen aber die zwei miteinander, und der andere Jünger lief voraus, schneller als Petrus, und kam zuerst zu dem Grabe.«

Er zitierte den Evangelisten natürlich auf lateinisch, aber genau so redete Meister Joest in seinen metallenen Spiegel hinein. So als wären die Knaben der Lateinschule schon alle um ihn herum versammelt. Sie nannten ihn übrigens – allerdings heimlich – den Druditur, und unter diesem Namen war er auch stadtbekannt, wie er wohl wußte.

Der Schulmeister Joest pflegte überhaupt Selbstgespräche zu führen. Vielleicht, weil seine Griet nichts mit dem Gelehrtendreck, wie sie sich einmal forsch ausdrückte, anzufangen wußte, vielleicht aber auch, weil sich Meister Joest von allen verkannt fühlte. Er war ein gelehrter Mann, dieser kleine, rundliche Mensch mit der platten Nase und dem feuerroten Kraushaar. Hatte seinen Horaz, seinen Plinius und Cicero fleißig studiert, wußte ganze Stellen aus dem Neuen Testament auswendig herzusagen und hatte einmal sogar den Wagemut besessen, seinem allergrößten Vorbild, Desiderius, genannt der von Rotterdam, einen beträchtlich langen Brief zu schreiben. An diesem Schriftstück war Meister Joest wohl ganze vier Wochen lang gesessen. Es handelte sich um eine klassische Disputation über das Abendmahl in beiderlei Gestalt – ein Thema, das damals in Gelehrtenkreisen sehr im Schwange war –, gewürzt und gepfeffert mit Aussprüchen der großen Kirchenlehrer, verfeinert mit Zitaten aus der Imitatio Christi und abgerundet mit knapp einhundert lateinischen Versen aus der eigenen bescheidenen Feder. Ein reiches, fettes Mahl also. Man konnte es mit seiner Griet halten, wenn auch nicht in so deftigem Ton. Das erhabene Elaborat, geschrieben nicht etwa auf Papier, nein, auf Pergament allererster Güte, blieb unbeantwortet bis auf den jetzigen Tag.

Trotzdem war der Meister Joest unverdrossen, denn er wußte, daß aller Lohn erst im Himmel zu gewärtigen ist. Und weil er unter all den gebildeten Eselsohren dieser Stadt – auch ein Wort aus dem Munde Griets – keinen feinsinnigen Zuhörer finden konnte, hatte er beschlossen, die brennenden Fragen an dieses und das jenseitige Leben mit sich selber zu verhandeln, praktisch Opponent und Defendent in einer Person zu werden, Für- und Widerredner, Ja- und Neinsager zugleich. Das färbte allerdings im Lauf der Jahre seinen Charakter ein. Der Meister Joest war nämlich ein zaudernder, ja ängstlicher Gelehrter. Überall lauerte die Gefahr des Irrtums, aber auch die Gefahr, mit seiner Meinung nicht auf der Höhe der Zeit zu sein. Und es war eine sehr hohe Zeit, in der er leben durfte, davon war er überzeugt. So kam es, daß in ihm die widersprechendsten Geister einander höllische Scharmützel lieferten. Wie heute morgen, beim Bartstutzen. Einerseits lehnte er all die Umläufe und Prozessionen als Teufelswerk ab, andererseits hatte er sich selbst dabei ertappen müssen, wie er vergangenes Jahr auch in der johlenden Menge gestanden und den Wettläufer der Goldschmiedezunft angefeuert hatte. Die alten Geister rangen mit den neuen, und es waren furchtbare Seelenqualen, die der Lehrer zu bestehen hatte. Griet bemerkte das auf ihre Art und teilte ihm eines Morgens schließlich mit, daß sie den Gestank seines nächtlichen Schweißes fortan nicht mehr mit ihm teilen wolle.

»Entweder gehst du zum Bader und kaufst dir eine Flasche Nardenöl, oder ich kehre zurück nach Geldern.«

Meister Joest roch und schnüffelte an seinem Hemd. Es roch nach kaltem Rauch, sonst nach nichts. Er war beruhigt.

Zu seinem verunsicherten Naturell paßte auch jene Episode, die den verkannten Gelehrten, der doch nur Lateinlehrer an der kleinen Domschule von St. Pankras geblieben war, tief und folgenschwer erschüttert hatte. Als nämlich die Zeit des vierwöchigen Grübelns und Schwitzens über dem besagten Brief an Desiderius ausgestanden war, fühlte sich der Lehrer berufen, seine Erkenntnisse bezüglich des Abendmahls in beiderlei Gestalt öffentlich vortragen zu müssen. Im nachhinein blieb ihm selbst unbegreiflich, welcher Teufel ihn da geritten hatte. Wer in der Stadt Leyden von sich reden machen wollte, tat dies auf dem Platz vor dem Stadthuis beim sogenannten Rufstuhl, einer Art öffentlichen Kanzel, von der ansonsten wichtige Nachrichten das Gemeinwesen betreffend verkündet wurden. Der Meister Joest stellte sich also eines Sonntags nach dem Hochamt auf diese Kanzel und begann – erst mit dünner, dann mit wachsender Stimme – sein Traktat zu verlesen. Das Volk hielt kurz inne, wunderte sich und ging dann vorüber. Jemand schrie:

»Druditur was?«

Das hörte Joest in seiner Aufregung. Dabei hatte er gerade eine seiner Lieblingsstellen verlesen. Dort war ihm das Kunststück geglückt, ein Zitat des Horaz sehr elegant in seine Abhandlung hineinzuweben, ohne daß es aufdringlich erschienen wäre: Truditur dies die, was soviel heißt wie: Dem vergangenen Tag ist schon der kommende auf den Fersen.

»Lauter, Druditur! Lauter!« rief dieser Jemand.

Es war ein Landsknecht mit gelben Stulpenstiefeln und einer aufdringlich geschnittenen Braguette, einer silbernen Schamkapsel. Das war das erste, was Joest von dem Gesellen erkennen konnte. Dann bemerkte er, wie der Landsknecht den Zweihänder, das riesige Schwert, auf das er sich mit beiden Händen aufgestützt hatte, zu Boden legte und sich an einem Korb zu schaffen machte. Und gleich darauf flog ein wabbliges Etwas durch die Luft und traf den Joest am Hals, rann klebrig und mit entsetzlichem Gestank an ihm hinab. Ein Gekröse oder dergleichen. Panikartig stürzte er von der Kanzel. Obwohl er sich anfangs bemühte, den Platz gemessenen Schrittes, in der Art eines griechischen Philosophen, zu überqueren, flog ihm abermals eine übelriechende Stofflichkeit um die Ohren. Joest rannte, was die Füße trugen. Er hörte Gelächter aus mehreren Mündern, und auf einmal skandierten alle:

»Dru-di-tur! Dru-di-tur!«

Zwei Dinge sind von jenem Tag geblieben: Der Spitzname Druditur und eine scharfe Rüge von seiten des Domkapitels, dem Meister Joest unterstellt war. Es könne nicht angehen, daß ein Lehrer sich in der Öffentlichkeit so zum Gecken mache, hieß es in der Note, deren eilig nach rechts fliegende Handschrift einen zum Äußersten bereiten, jedenfalls keine Konsequenzen scheuenden Geist vermuten ließ. Seit jenem Erlebnis saß die Angst tief in Meister Joests Knochen, und er hatte es nie mehr gewagt, sich öffentlich zu Wort zu melden, selbst in unbedeutenden Angelegenheiten nicht. Erst die Nachwelt würde es ans Tageslicht bringen, was für ein von allen verkannter Gelehrter er wirklich gewesen war. Wie kühn er seiner Zeit vorausgedacht und -geschrieben hatte. Und wenn man grad schon bei dem Gedanken war: Dem Desiderius von Rotterdam würde es dereinst noch bitter leid tun, daß er das vortreffliche Traktat nicht wenigstens eines Blickes gewürdigt hatte. Im Empyreum würde man ihn fragen: »Hast du den Joest gelesen, liebe Seele, und begriffen?« Und Desiderius müßte dann reumütig bekennen: »Nein.«

Unter solcherlei Zwiesprache prüfte Meister Joest den Bart vor dem Spiegel und war zufrieden mit sich. Er ging hinüber in die Schlafstube und kleidete sich an. Griet schlummerte noch tief eingesunken in den Kissen. Nur eine schwarze Haarlocke ließ sich blicken. Joest mußte schmunzeln. Wenn seine Griet auch dumm und ungebildet war, sich aber trotzdem anmaßte, überall mitzureden, hatte er sie doch recht gern. Er war eben ein guter Mensch, der die Kreatur lieb hatte, überhaupt alles, das kreuchte und fleuchte. Selbst im niedersten Wesen konnte sich Gottes Antlitz offenbaren. Den Satz hatte er, wenn er nicht irrte, bei Augustinus gelesen. Oder bei Thomas?

Der Lehrer schlüpfte in einen dunkelblauen, reich gezaddelten Mantel mit Schleppe und Flügelärmeln und setzte sich ein ebenso blaues vierkantiges Barett auf. Sehr würdig sah er aus in dem Aufzug, und er bekam nicht wenig Lust, seine Griet zu wecken, ließ es aber doch bleiben, das heißt: Ehe er zur Tür hinausging, konnte er es sich nicht verkneifen, die Bettdecke zu heben und der Liebsten zwischen die Schenkel zu greifen, was sich natürlich nicht schickte, zumal zur strengen Fastenzeit. Mit dieser kleinen Sünde wider das Fleisch und Griets Odeur an den Fingern verließ der Meister Joest sein Haus und machte sich gutgelaunt auf den Weg zur Lateinschule.

Es schneite unaufhörlich. Die Schneeflocken sanken groß wie Stuiverstücke auf die Erde hernieder und hüllten alles in eine zauberische Stille, obwohl schon viel Volks auf dem Weg war. Überall rüstete man sich mit teils noch verschlafenen Augen oder gähnenden Mündern zur Prozession. Gegen Osten dämmerte der Morgen grau herein.

Meister Joest nahm den Weg über die Hooiggracht, vorbei am Almosenhaus, den sogenannten St. Annahofje, einer Ansammlung kleiner, hübscher Häuschen, die die Stadt ihren mittellosen Witwen und bedürftigen Alten zugedacht hatte. Dort angekommen, waren es noch wenige Schritte zur Lateinschule. Er sah die Knabenschar bereits auf ihn warten, sah die Fackeln züngeln und verlangsamte seinen Schritt, um den Schützlingen in der Art eines griechischen Philosophen entgegenzuwandeln. Wie aus einem Mund hießen sie ihn mit der Grußfloskel willkommen, die jeder Lateinschüler im Schlaf aufzusagen wußte. Meister Joest mußte einmal mehr über sein erzieherisches Geschick staunen, einen derart wilden Haufen so in der Zucht halten zu können. Die Jungen sahen ihn aus schlafverklebten Augen an. Es war seiner Nase, als röchen ihre weißen klammen Gesichter nach Milch. Alle waren sie herausgeputzt in dem tiefen Blau der St.-Pankras-Schule, und nicht ein einziges Barett saß schief. Dieric durfte das Banner tragen, Pauwel die Insignien der Schule. Der Lehrer trat zum Banner hin, küßte es und murmelte eine undeutliche Formel. Dann gab er Anweisung, sich in Bewegung zu setzen. So zog sie los, die Bubenschar, rhythmischen Schrittes, das Benedicite hersagend, und keinem fiel auf, daß der Jan Beukels fehlte.

Sie stapften entlang der tiefverschneiten Papengracht, zogen hinunter in den südlichen Teil der Stadt. Dort würden sie durch das schmale, winzige Nebentor schlüpfen, denn das Haupttor nach s-Gravenhage war noch verschlossen. Schließlich würde ihnen etwa eine halbe Stunde Weges bleiben, ehe sie den kleinen, reetgedeckten Hof erreichten, wo die Eselin angebunden ihrer harrte. Denn so wollte es die Schrift. So stand es bei Lukas neunzehn, dreißig, merkt auf: »Gehet hin in den Ort, der gegenüberliegt. Und wenn ihr hineinkommt, werdet ihr ein Füllen angebunden finden, auf welchem noch nie ein Mensch gesessen hat; bindet es los und bringet’s her!«

Man hielt es sehr genau mit der Schrift, jedenfalls das Domkapitel der St. Pieterskerk und mit ihm der Kanonikus Schelde, dem die Gestaltung und Überwachung der Palmsonntagsprozession unterstand. In puncto Genauigkeit hatte es nämlich im Zuge der Vorbereitungen eine Menge Ärger für den Kanonikus Schelde gegeben. Es war um die Eselin gegangen, auf der angeblich noch nie ein Mensch gesessen haben wollte. Der Bauer, dem das Tier gehörte, schwor, daß auf dessen Rücken noch nie ein Hintern gesessen habe. Unglücklicherweise verplapperte sich des Bauern Weib beim Fischmarkt und erzählte einer guten Freundin, daß es sich bei der Eselin eigentlich um einen Esel handele. Weiter schwadronierte sie, daß ihr Mann allwöchentlich auf dem Tier zum Salzmarkt reite. Die gute Freundin zeigte das natürlich umgehend dem Domkapitel an. Obwohl der Kanonikus Schelde vor Wut schäumte, war es ihm nicht mehr möglich, in der Kürze die Vorgaben der Schrift zu erfüllen. Besonders davon, daß es sich um einen Esel handelte, konnte sich nun jeder Prozessionsgänger ein Bild machen, sofern er geistig befähigt war, ein männliches Geschlechtsteil von einem weiblichen zu unterscheiden.

Im Evangelium stand auch, daß der Herr seinen Jüngern befohlen hatte, die Eselin loszubinden und zu ihm zu bringen. Und würde einer fragen, weshalb dies die Jünger täten, so hätten sie nur zu antworten: »Der Herr bedarf ihrer.« Und alsdann ließe es der Besitzer geschehen. Genau darin bestand der Part, den die Schüler der Lateinschule von St. Pankras an diesem Morgen zu erfüllen hatten.

»Eine unfaßliche Ehre ist uns zuteil geworden, daß wir des Herrn Eselin losbinden und zu ihm führen dürfen!« schwärmte Meister Joest zum wiederholten Male seinen Buben vor, als sie das Stadttor passierten. Gleichzeitig war er Zweifler genug, um die ganze Prozession für eine frevlerische Torheit zu halten.

Man gelangte zu dem Hof, dessen Walmdach vom Schnee schier erdrückt wurde. Es war schon etliche Geistlichkeit versammelt, eine Delegation der Klarissen etwa sowie mehrere Kartäuser, zu erkennen an ihren kahlgeschorenen Häuptern und den weißen Soutanen. Auch der Prozessionsmeister Kanonikus Schelde war da, angetan mit einer pelzgefütterten, purpurroten Schaube – in Erinnerung an das zu gewärtigende Leiden Christi, welchem dieser Tage gedacht würde. Er schaute mißmutig drein, der Kanonikus Schelde, und der Besitzer der vermeintlichen Eselin ließ sich erst gar nicht blicken. Er liege mit fürchterlichen Bauchkrämpfen darnieder, hieß es.

»Heilige Jungfrau, Heiligste Jungfrau, Allerheiligste, mache ihn doch wieder genesen!« lamentierte die Bäuerin etwas zu aufdringlich.

Weil der Bauer so ernstlich verhindert war, wurde der älteste Sohn vorgeschoben, die hübsche, kleine Szene zu spielen und die Frage zu erheben, weshalb man die Eselin losbinde. Der Älteste aber war so aufgeregt in Anbetracht der hohen Geistlichkeit – es verwirrten ihn auch die schönen Gesichter der Klarissen –, daß er die Frage glatt vergaß, deren lateinischen Wortlaut er sich nächtens eingeschärft hatte, ohne eine einzige Silbe zu verstehen.

»He, Rotzlöffel, das ist mein Esel!« brummelte er und guckte stumpf, als sich ein Schüler auf den Wink des Lehrers dranmachte, das Tier endlich aus dem Stall zu holen.

Jemand mußte laut auflachen. Man vernahm ein Raunen, indessen die Lateinschüler mit heiligem Ernst bei der Sache blieben. Wie aus einem Mund sagten sie:

»Dominus his opus habet.«

Unter dem glockenhellen Gesang der Nonnen verließ die fromme Schar den Hof und zog mit dem Tier zurück gen Leyden. Der helle Morgen war nun angebrochen, und der Sohn der Bäuerin blickte dem Zug noch lange ungläubig nach, bis dieser im dichten Schneetreiben verschwunden war. Die Bäuerin hatte große Mühe, ihrem Frans begreiflich zu machen, daß alles nur eine Art Spiel sei und daß Frans, ehe die Sonne untergegangen, den Esel wieder im Stall vorfände, ihn kraulen, striegeln und füttern dürfe wie jeden Abend.

Der Zug kam verspätet beim großen Stadttor an. Voller Ungeduld war der Hauptmann auf dem vorgelagerten Rondell auf und ab geschritten, dort wo sich die große doppelte Feldschlange befand, ein Geschütz, auf das die Stadt Leyden sehr stolz war, verfügte es doch über eine Reichweite von fast zwölfhundert Schritt und Bleikugeln schwerer als zwanzig Pfund. Den prunkvollsten Küraß hatte sich der Hauptmann für den Palmtag angelegt. Als das Häuflein endlich zu erahnen war, schnauzte er die Torwachen an, Aufstellung an der Zinne zu nehmen. Die Geschützmeister machten sich eilig an der Feldschlange zu schaffen.

Derweil wartete unten vor dem noch immer geschlossenen Haupttor der vollzählig versammelte Konvent einer Kartause, die sich in der Nähe von Leyden, ganz versteckt in einem Wäldchen, befand. Aus den Mönchen nämlich war dieses Jahr der Mann erwählt worden, der den Christus beim Einzug in Jerusalem vorstellen durfte. Die Wahl war auf einen ausgemergelten Greis gefallen, welcher in dem Rufe stand, ein Seher zu sein, ein heiligenhaftes Leben zu führen, der jedenfalls vollkommen unbescholten war, was Leumund und Ehre anbetraf. Sehr ergriffen waren alle von der Szene, die sich dort nun zutrug: Zwei Ordensbrüder machten sich daran, diesen kahlgeschorenen Christus zu entkleiden. Zogen ihm die Soutane aus sowie das barchentene Unterhemd und die Sandalen, so daß er fast nackt vor den Anwesenden dastand. Sie nahmen ein Gewand, so weiß wie der Schnee, das mit Goldfäden durchwirkt war. Als sie es über seine Schultern warfen, konnte man deutlich die Narben und Blessuren auf dem Rücken erkennen, die er sich im Lauf der Jahre durch Selbstgeißelung beigebracht hatte. Dann wurde Christus mit einem ochsenblutroten Cingulum gegürtet. Ein weiterer Bruder trat herzu, stellte einen damastbezogenen Schemel vor ihn und küßte des Mitbruders Füße. Christus stieg auf den Schemel und setzte sich auf den Esel. Der Prozessionsmeister Kanonikus Schelde pochte mit dem Knauf seines mit Edelsteinen besetzten Szepters dreimal kräftig an das Stadttor. Auf diesen Moment hatte der Hauptmann sehnlichst gewartet.

»Wer ist es, der Einlaß in mein Haus begehrt?« schallte die Stimme des Hauptmanns von der Rondellmauer herab.

»Es ist der Herr, der Einlaß begehrt!« erwiderte der Prozessionsmeister in feierlichem Kirchenton.

Frage und Antwort hatten protokollgemäß noch zweimal wiederholt zu werden. Als dies geschehen war, zerriß plötzlich ein so unglaublicher Knall die Winterluft, daß man für Augenblicke glaubte, ertaubt zu sein. Die doppelte Feldschlange war abgefeuert worden, und die Rauchschwade, die das Geschoß in den Himmel zeichnete, blieb noch lange stehen. Jetzt wußte es jedermann in der Stadt, daß der große Palmtag seinen Anfang genommen hatte. Gleich darauf begannen sämtliche Kirchen- und Klosterglocken zu läuten, und das Tor öffnete sich unter Ächzen und Krachen: Christus zog in Jerusalem ein.

Was sich jetzt in den folgenden Stunden ereignen sollte, war überhaupt das größte und prachtvollste Schauspiel, das die Stadt Leyden ihren Bürgern aufzuführen wußte. Dabei geizte die Stadt nicht mit Schauspielen, Prozessionen oder Heiltumszeigungen. Nahezu jede Woche fand irgendwo ein Umlauf statt. Sei es, daß ein kirchliches Fest zu begehen war, sei es, daß es zur Ratswahl kam, oder sei es, daß diese oder jene Gemeinschaft ihres Ordensgründers oder Stifters gedachte. Was sich nun aber an Glanz und Herrlichkeit, an Frömmigkeit und religiösem Verzücken, an Lärm und tränenerstickter Stille, an Exaltation, Raserei und Kontemplation zutragen würde, stellte alles in den Schatten. Ein einziger Mann hatte alle Fäden in seiner Hand – der Kanonikus Schelde. Seit vielen Jahren leitete er nunmehr die Palmsonntagsprozession, und sie kostete ihn mehr als ein halbes Jahr der Vorbereitung. Nichts war dem Zufall anheimgestellt. Es war durchdacht und genau festgelegt, wer, wo, wann und in welcher Gewandung im Zuge mitschreiten durfte, geordnet nach Stand, Rang und freilich bisweilen auch nach Betuchtheit. Da machte der Kanonikus schon gern mal eine Ausnahme. Alles folgte einem wirkungsvollen Plan, dessen Geheimnis darin bestand, daß sich die Prozession gleichsam vom leisesten Pianissimo zum geradezu unerträglich lauten Fortissimo wälzte, dann retardierte, erneut anschwoll und so fort.

Eine kluge Überlegung im Scheldeschen Prozessionsplan war es ferner – um Eifersüchteleien zu vermeiden –, daß die jeweils neu hinzustoßende Abordnung sich vor die bisher vorangehende setzte. So durfte jeder Stand, jede Kongregation, jede Gilde und jedes militärische Korps zeitweilig hinter Christus gehen und die Reliquiare oder Insignien dem Volke darbieten. Nur Schelde allein oblag es, als einziger vor Christus einherzuschreiten, und er tat es mit versteinertem Gesicht.

Das Schneetreiben ließ nach, ja hörte schließlich überhaupt auf. Die Wolken rissen sogar auseinander, und bald zeigte sich ein strahlender Himmel. Die Prozession nahm jetzt ihren Verlauf entlang der Stadtmauer, wo schon nach wenigen Minuten das Schützenhaus, das sogenannte Haus der Ratswache, erreicht war. Dort spielte sich die gleiche Szene ab wie schon beim Stadttor: dreimalige Frage, dreimalige Antwort, und das alles würde sich heute noch Dutzende Male wiederholen. Eine Rotte von geharnischten Wachleuten und Schützen mit Helmbarten, Armbrüsten und Arkebusen reihte sich in den Zug ein. Ihr graues Panier mit dem Löwen darauf, dem Stadtwappen, flatterte an einer überlangen Partisane mit vergoldeter Speerspitze. Der bunte Haufen hatte sich zudem mit allerlei farbigen Bändern an Knien und Armen geschmückt.

Etwas zuviel des Guten, dachte Schelde. Immer wollen sie es den Landsknechten gleichtun und bleiben doch nur Lumpen. Und er notierte in sein Gedächtnis: Den Saufköpfen vom Schützenhaus die Bänder verbieten. Nun gut, er würde sie ohnehin gleich wieder aus den Augen verlieren, wenn die nächste Gruppe aufschloß, die Zünfte der Fischer, Metzger, Gerber und Lederer, die ihr Gewerbe teils innerhalb, teils außerhalb der Mauern ausübten. Auch sie führten ihr jeweiliges Zeichen mit sich, auf kunstvoll geschnitzten und bemalten Laden. Auch sie waren festtäglich gekleidet, trugen graue Schecken und Wämse, breitkrempige Filzhüte und blaugrüne Beinlinge. Die Fischer, die Metzger, Gerber und Lederer breiteten ihre Mäntel vor dem Esel aus und riefen:

»Hosanna dem Sohn Davids! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn!«

Ihr unsägliches, ja völlig unverständliches Latein drehte dem Schelde den Magen um. Wenigstens hatten sie pünktlich im voraus bezahlt. Außerdem achteten sie brav darauf, daß der Teppich aus Mänteln, Schecken und Hüten keine Lücke im Schnee zeigte, denn es war durch die Schrift geboten, daß der Esel auf dem Prozessionsweg über Kleider, Stoffe, Teppiche, Kissen und dergleichen zu trotten hatte.