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Inhaltsverzeichnis

Impressum

Einführung

Kapitel 1 – Rastlos

1.1 Auf sich allein gestellt

1.2 Die große Reise beginnt

1.3 Der ältere Mann

1.4 Der Flug

1.5 Joes Zuhause

Kapitel 2 – Neues Leben

2.1 Das mysteriöse Treffen

2.2 Der Traum

2.3 Die Suche

2.4 Ohne Mitleid

2.5 Der Abschied

2.6 Die letzte Nachricht

Kapitel 3 – Leidenszeit, Freudenzeit

3.1 Große Verantwortung

3.2 Die schöne Ärztin

3.3 Zukunftspläne

Kapitel 4 – Alles nur Zufall?

4.1 Die Begegnung

4.2 Wegweisend

4.3 Dem Tode nahe

4.4 In Paris

4.5 Der Countdown

Kapitel 5 – Die große Reise

5.1 Der Aufbruch

5.2 In die Schicksalsrichtung?

5.3 Atlantik, wir kommen

5.4 Auf dem richtigen Weg?

5.5 Unbändige Fluten

5.6 Zweifel

5.7 Tage des Nachdenkens

5.8 Der Sturm

Kapitel 6 – Todesangst

6.1 Der Kampf ums Überleben

6.2 Das Ende?

6.3 Gestrandet

6.4 Die Höhle

6.5 Ein steiniger Weg

Kapitel 7 – Die Eingeborenen

7.1 Besessen

7.2 Das leuchtende Brandmal

7.3 Die Prophezeiung

7.4 Unfassbar, Unglaublich!

7.5 Immer geradeaus

Kapitel 8 – Am Ziel angelangt?

8.1 Der Wegweiser

8.2 Die Insel

8.3 An einem fremden Ort

8.4 Der Rückblick

8.5 Gefangen

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2016 novum Verlag

ISBN Printausgabe: 978-3-99048-332-9

ISBN e-book: 978-3-99048-333-6

Lektorat: Isabella Busch

Umschlagfotos: Ivan Kmit, Ali Osman Pekoglu, Andrey Anishchenko | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum verlag

www.novumverlag.com

Einführung

An einem grauen düsteren Regentag, an dem es so stark regnet, dass man keine zwei Meter weit sehen kann, und der Wind so stark weht, dass sich die Bäume krümmen, ereignet sich ein Schicksal, das von seinem traurigen Ausmaß seinesgleichen sucht. An jenem Tag, an dem die meisten Menschen zu Hause in ihren gemütlichen Häusern sind, befindet sich ein kleiner Junge mutterseelenallein auf der Straße und wird vom prasselnden Regen förmlich durchgespült.

Weinend und hilflos läuft er ziellos hin und her, die Verzweiflung ist ihm ins Gesicht geschrieben, die Angst allgegenwärtig. Der Junge heißt Thomas, er hat kurze hellbraune Haare, einen eher ovalen Kopf, der ein spitzes Kinn mit sich zieht, und ist knapp eineinhalb Meter groß.

Erst neun Jahre ist er alt, als für ihn ein Tag beginnt, der sein ganzes Leben verändern würde, denn vor wenigen Minuten ist er ganz alleine neben einem Müllcontainer in einer verwinkelten Seitengasse aufgewacht. Wie er hierherkam, weiß er nicht, das Einzige, woran er sich noch erinnern kann, ist, wie er in seinem kleinen gemütlichen Bett eingeschlafen ist, und danach tief und fest geschlafen hat.

Aber plötzlich ist er hier am nächsten Morgen aufgewacht, alleine, ohne zu wissen, wieso er hier ist, und was er hier macht. Er versteht die Welt nicht mehr, als er bemerkt, dass er ganz alleine ist.

Wo ist seine Mutter, die ihn am letzten Abend gerade noch im Arm gehalten hatte? Wo ist sein Vater, der ihm stets sagte, dass er ihn beschützen würde? Wo ist er jetzt?

Voller Angst und mit dem einzigen Wunsch, wieder in den warmen Armen seiner Mutter zu sein, schreit er verzweifelt: „Mama …! Papa …!“

Enttäuscht schaut er um sich und kann nicht verstehen, wo sie sind, da schreit er noch einmal: „Mama …! Mama …!“

Doch er hört niemanden, das einzige Geräusch, das er wahrnimmt, ist das Prasseln des Regens auf den Asphaltboden. Doch sollte er die Hoffnung einfach aufgeben?

Nein, er denkt nicht einmal daran, stur setzt sich der kleine Knirps unter einen Baum am Straßenrand, um ein bisschen Schutz vor dem Regen zu finden, und schreit alle paar Minuten: „Mama …! Papa …!“

Doch egal wie laut er schreit, oder wie viel er weint, es kommt niemand, der ihm hilft. Mit den Stunden, die vergehen, schwindet auch seine Hoffnung, doch was hat er für eine andere Wahl, als einfach hierzubleiben und zu warten?

Wo sollte der kleine hilflose Junge hin, das Einzige, was er kennt, ist ein großer Hof, auf dem er bis jetzt mit seinen Eltern und seiner Schwester lebte. Er kennt nichts anderes, noch nie in seinem Leben ging er von zu Hause weg, noch nie befand er sich an einem so unbekannten Ort wie jetzt …

Kapitel 1 – Rastlos

1.1 Auf sich allein gestellt

Es wird langsam dunkel, der Regen prasselt nach wie vor erbarmungslos auf ihn herunter, als er aufsteht und davonläuft. Die Hoffnung, dass seine Eltern doch noch kommen würden, hat er verloren. Enttäuscht und gebrochenen Herzens macht er sich auf den Weg, wohin, weiß er nicht, er läuft einfach und hofft auf sein Glück. Nach unzähligen Tränen, die geflossen sind, bemerkt Thomas, dass es nichts bringt zu weinen, denn es sieht ihn ja sowieso niemand, der mit ihm Mitleid haben könnte. Er versteht, dass er nun auf sich allein angewiesen ist, und dass er jetzt selber entscheiden muss, wohin er geht, und was er macht.

Da bemerkt er auf einmal, dass sich in seiner rechten Hosentasche etwas befindet, er fasst mit seiner Hand hinein, und zieht ein schwarzes, taschenuhrgroßes, rundes Stück hervor. Es ist ein kleiner Kompass, doch Thomas sieht diesen Gegenstand zum ersten Mal, und kann sich nicht erklären, was es ist. Er steckt diesen merkwürdigen Gegenstand wieder in seine Hosentasche und macht sich auf den Weg. Beinahe die ganze Nacht läuft er am Straßenrand entlang und fragt sich, was er nur falsch gemacht hat, dass ihn seine Eltern so hart bestrafen. Schließlich legt er sich einfach neben den Straßenrand auf eine kleine Wiese und schläft ein. Er ist so müde, dass es ihm egal ist, wo er schläft, er ist so enttäuscht, dass es ihm egal ist, ob er wieder aufwachen wird oder nicht.

Also schläft er und träumt davon, wie ihn seine wunderschöne Mutter in ihren Armen hält, und ihn liebevoll umarmt. Tief und fest schläft er mehrere Stunden lang, bis ihn am nächsten Morgen durch Zufall eine Frau findet, die mit ihrem Auto auf der Straße an ihm vorbeifährt. Sie sieht den hilflosen Jungen schlafend auf der Straße liegen. Schnell stellt sie fest, dass etwas nicht in Ordnung ist, und so setzt sie ihn kurzerhand ins Auto, und bringt ihn in ein Krankenhaus. Die Ärzte behalten ihn dort ein paar Tage zur Untersuchung, doch als sie feststellen, dass seine Familie nirgends aufzufinden ist, verfrachtet man ihn kurzerhand in ein Kinderheim nahe der Schweizerisch-französischen Grenze. Thomas sitzt dort immer an einem Fenster mit dem Blick auf die Straße und schaut hinaus. Mit seinem kleinen Kompass in der Hand, den er stets bei sich trägt, erhofft er sich, dass im Falle eines Auftauchens seiner Eltern, sie ihn auch erkennen würden, wenn er den Kompass bei sich hat. Nicht nur das, es ist auch der einzige Gegenstand, den er besitzt, der aus seiner früheren glücklicheren Zeit stammt. Jeden Tag weint er, und immer wenn ein Auto auf den Parkplatz des Kinderheims vorfährt, meint er, dass ihn seine Eltern jetzt endlich holen kämen, doch nie waren sie es … Er sitzt jeden Tag an dem gleichen Fenster, und schaut, ob jemand kommt, er wartet auf seine wunderschöne liebevolle Mutter, auf seinen gutmütigen barmherzigen Vater und auf seine kleine Schwester, mit der er jeden Tag spielte. Doch leider wartet er vergebens, Woche für Woche, Tag für Tag, Stunde um Stunde … Mit der Zeit, die vergeht, wird seine Hoffnung immer kleiner, dennoch setzt er sich einfach ans Fenster, weil er nichts anderes mehr zu tun hat. Er ahnt zwar, dass seine Eltern wahrscheinlich nicht mehr kommen würden, dennoch schaut er auf den Parkplatz, um sich einfach nur zu vergewissern, dass sie wirklich nicht mehr kommen. Vierzehn Monate lang bleibt er ganz alleine im Heim, alle Menschen, die er vorher kannte, waren plötzlich nicht mehr hier, nur fremde Personen um ihn herum. Diese vierzehn Monate prägten den jungen Thomas sehr stark, sie veränderten ihn so sehr, dass er danach nicht mehr der gleiche Junge wie zuvor war.

Aus dem einst lebensfrohen jungen Menschen, der in jede Person Vertrauen gesetzt hat, ist jetzt ein trauriger Einzelgänger geworden. Das Vertrauen in seine Mitmenschen hat er verloren, zu kalt und lieblos war die letzte Zeit hier im Kinderheim. Nach diesen Erfahrungen voller Enttäuschungen und Trauer bringt man ihn zu einer Pflegefamilie. Doch sie kommen mit dem kleinen anspruchsvollen Jungen nicht zurecht, und nach ein paar Monaten bringen sie ihn wieder zurück ins Kinderheim. Als er sich gerade wieder an das Umfeld im Kinderheim gewöhnt hat, kommt er in die nächste Pflegefamilie. So geht es immer weiter, bis zu seinem fünfzehnten Lebensjahr. Genau ein Tag nach seinem Geburtstag wird er wieder ins Heim gebracht, und an diesem Tag bekommt er endgültig alles satt. Kurze Zeit, nachdem er im Heim angekommen ist, beschließt er auszubrechen. Ein Kinderheim ist natürlich kein Gefängnis, dennoch werden abends die Türen verschlossen, meistens um 19.00 Uhr. Das weiß Thomas natürlich noch vom letzten Aufenthalt, und so plant er, kurz bevor sie die Tür schließen, sich heimlich aus dem Staub zu machen. Das gelingt ihm auch, völlig durcheinander und nicht wissend, was der nächste Tag bringen wird, bricht er wütend aus dem Heim aus und läuft davon. Mit jedem Schritt, den er zurücklegt, entfernt er sich weiter, er blickt nicht zurück, es gibt nichts mehr hinter ihm, was eines Blickes würdig wäre, denkt er sich, und läuft einfach geradeaus. Zu jung ist er noch, um einen genauen Plan entwickeln zu können, wie es weitergeht, er hat einfach nur ein Ziel, nämlich wegzugehen, sodass ihn niemand mehr herumkommandieren kann und mit seinem Leben spielen, wie es ihm gerade passt. Er wurde zu schlecht behandelt in letzter Zeit, um Hoffnung zu haben, dass es besser werden könnte, denn soweit er zurückblicken kann, erging es ihm stets ähnlich. Mit diesen Gedanken im Kopf läuft er mehrere Stunden weiter, bis es beinahe so dunkel ist, dass er keine zwei Meter weit mehr sieht. Er hat stets seinen kleinen Kompass in der Hand und läuft nach Osten. Er weiß nicht genau warum, er könnte ebenso gut in Richtung Norden laufen, doch irgendwie hat er das Gefühl, in Richtung Osten gehen zu müssen. Vielleicht ist es, weil er in der Zeit im Kinderheim, als er Tag für Tag am Fenster saß, immer in Richtung Osten blickte. Oder es ist, weil dort die Sonne aufgeht, denn in diese Richtung ist er früher schon immer gerne gelaufen, im Morgengrauen, mit Papa auf dem Feld, der aufgehenden Sonne entgegen, die alles erstrahlen lässt. Doch mittlerweile ist es dunkel, er ist müde, doch er hat Angst sich hinzulegen, weil er befürchtet, dass es für ihn kein Morgen mehr geben wird. Er will nicht zurück ins Heim, er will nicht, dass ihn irgendjemand aufgreift, wenn er schlafend gefunden wird, um ihn zurückzubringen, er will einfach nur laufen.

Er stellt sich vor, was wäre, wenn er nie mehr anhalten würde, somit wären doch auch seine Probleme verschwunden, seine Sorgen wie weggeblasen. Deshalb marschiert er mit diesem aufwühlenden Gedanken weiter, so lange, bis es wieder beginnt Tag zu werden, und er die ersten Vögel hoch oben von den Bäumen herunter zwitschern hört. Die Dunkelheit verzieht sich langsam, die Sonne steigt über dem Horizont vor ihm auf und erhellt nicht nur die wunderschöne Landschaft um ihn herum, sondern auch sein Herz. Die ersten Sonnenstrahlen erkämpfen sich den Weg durch die üppige Landschaft voller Bäume, und da sieht Thomas erstmals, wo er genau ist, was sich um ihn herum befindet und wo er langgehen möchte. Er findet sich auf einer grünen Wiese wieder, um ihn herum stehen vereinzelt große Eichen und Buchen, auf denen unzählige Vögel ihrem morgendlichen Gesang nachgehen. Diese wunderschöne Natur empfindet er als ein Geschenk, die Erinnerung an seine Heimat lässt ihn nachdenklich werden, so gerne möchte er, dass alles wieder so ist wie früher.

Das erste Mal seit Monaten steht er wieder auf einer grünen Wiese, zu lange war er in diesem Heim gefangen, meistens drinnen am Fenster, oder selten draußen auf dem betonierten Vorplatz, mit Blick auf eine viel befahrene Straße.

Aber diese Zeiten sind vorbei, er ist jetzt weit weg von diesem trostlosen Ort, so schaut er auf seinen Kompass, und geht wie immer weiter in Richtung Osten. Den ganzen Tag läuft er weiter, über wild bewachsene Wiesen, entlang hoher Hügel, umgeben von steilen Abhängen, bis er oben am Kamm einer dieser Hügel anhält, wo er über mehrere Kilometer weit sehen kann. Er sieht unter sich einen dichten Wald, in dem bis zu zwanzig Meter hohe Tannen, beinahe endlos bis zum Horizont stehen. Sein Blick schweift weiter über den Wald hinweg, als er plötzlich eine Hütte entdeckt, ganz schwach schimmert sie zwischen den hohen Tannen des Waldes hindurch, sodass er sich nicht sicher ist, wirklich eine Hütte zu sehen. Doch allein der Gedanken daran, hier endlich auf jemanden zu stoßen, der ihm helfen, ihm etwas zu Essen geben und vielleicht einen Schlafplatz bis zum nächsten Tag geben könnte, lässt ihn hoffen. Er steigt den Hügel hinunter, klettert über Stock und Stein, bis er unten beim Wald ankommt. Er versucht immer geradeaus zu gehen, sodass er die Hütte nicht verfehlt. Mithilfe seines Kompasses gelingt ihm dies anfangs auch ganz gut, bis er immer tiefer in den dichten Wald hineinläuft und er allmählich die Orientierung verliert. Er kann sich nun nicht mehr mithilfe der Umgebung orientieren, zu dicht ragen die Tannen um ihn herum in die Höhe, deshalb bleibt der Kompass seine einzige Möglichkeit, nicht vom Kurs abzukommen. Nach einer Weile lichtet sich der Wald und er steht in einer Schneise, wo nur hohes Gras wächst. Da entdeckt er, wie am Rand dieser Schneise über ein paar kleineren Bäumen Rauch aufsteigt. Er wird verursacht durch den Kamin der Hütte, die Thomas vom Hügel aus gesehen hat. Er nähert sich langsam und entdeckt eine kleine Scheune, die neben dem hohen Haus steht, welches aussieht wie das eines Bauern. Die Tür der Scheune ist leicht geöffnet, er blickt vorsichtig hinein und bemerkt, dass es nur ein Strohlager ist, halb gefüllt. Er wägt sich hier in Sicherheit, legt sich kurzerhand auf das Stroh und schläft vor Müdigkeit sofort ein.

Als er am nächsten Tag von den Leuten, die den Bauernhof betreiben, entdeckt wird, schrickt er auf und sagt stotternd: „Es tut mir leid, dass ich hier bin, aber ich weiß nicht wohin. Ich bin schon seit zwei Wochen unterwegs, und als ich diese Scheune sah, ruhte ich mich ein wenig aus.“ Völlig unerwartet sagt der Mann, dem der Bauernhof gehört: „Ist ja okay, beruhige dich, es ist alles gut.“ Eigentlich hätte Thomas ja einen wütenden Mann, der ihn aus der Scheune jagen würde, erwartet, doch jetzt hat er einen liebevollen Mann vor sich, der ihm seine Hand entgegenstreckt. Völlig verwirrt fragt er ihn: „Wieso sind Sie so nett zu mir?“ Ohne zu zögern antwortet dieser: „Weil ich sehe, dass die meisten Leute nicht nett zu dir waren, deshalb will ich jetzt nett zu dir sein. Ich bin Bernd, freut mich.“ „Mein Name ist Thomas“, antwortet er.

Thomas kann im ersten Moment gar nicht verstehen, warum diese Leute so freundlich zu ihm sind, noch nie in seinem Leben hat er bis jetzt so nette Menschen kennengelernt. Zu lange hatte er Menschen um sich, die nie so etwas Selbstloses getan hätten, zu viele Male ist er enttäuscht worden, deshalb kann er nicht verstehen, welch Glück er gerade hat. Nach diesen kurzen Überlegungen fragt er den netten Mann verlegen: „Darf ich ein paar Nächte hierbleiben, und in der Scheune schlafen?“ Schnell antwortet Bernd: „Ja, du darfst hierbleiben, doch komm ins Haus, es gibt dort sicher einen warmen Platz, wo du dich ausruhen kannst. Die Scheune hier ist für meine Zuchttiere, doch du bist ein Mensch und hast es verdient, in einem warmen gemütlichen Haus zu leben.“ „Ich habe aber kein Geld, das ich Ihnen geben könnte, dafür, dass ich bei Ihnen leben darf.“ Bernd schüttelt hastig den Kopf und sagt mit einem Lächeln im Gesicht: „Das ist kein Problem, wenn du wieder bei Kräften bist, kannst du mir bei der Feldarbeit helfen, die Kühe melken oder sonst irgendetwas für mich tun.

Ich brauche einen starken Jungen wie dich, der mir hier helfen kann. Was sagst du?“ Voller Freude, mit der Gewissheit jetzt für ein paar Tage in Sicherheit zu sein, antwortet er schnell: „Ja, sehr gern! Ich werde ein sehr guter Arbeiter sein.“ Nach diesem Gespräch steht Thomas aus dem Strohlager auf, verlässt die Scheune, läuft mit Bernd in Richtung des großen Bauernhauses und schaut sich neugierig um. Er wird hier nett behandelt, so freundlich wird mit ihm gesprochen, dass er sich sehr schnell an das liebevolle Umfeld gewöhnt. Er kann zwar nicht begreifen, wieso diese Leute so nett zu ihm sind, doch er weiß, dass sie es sind und diese Tatsache freut ihn ungeheuerlich. Er wird von der netten Familie aufgenommen, beginnt bei ihnen zu leben, zu arbeiten und wird ein Teil von ihnen. Anfangs ist er noch sehr schüchtern, doch schon nach ein paar Tagen taut er langsam auf und beginnt immer mehr zu reden. Das liebevolle Umfeld um ihn herum tut ihm so gut, dass er nach nur wenigen Tagen wieder zu lächeln beginnt. Bernd und seine Frau schließen ihn sehr in ihr Herz, und nach zwei Monaten beschließen sie, den Jungen zu adoptieren. Als Thomas dies erfährt, begreift er, dass sein langer einsamer Weg jetzt ein Ende hat. Zuerst ist er überglücklich, er genießt es, ein Teil von etwas zu sein, geliebt zu werden und seine Liebe zurückgeben zu können. Es scheint alle perfekt, seine neuen Adoptiveltern machen es ihm leicht, zu fühlen, dass er nun eine Familie hat. Sie versuchen alles dafür zu tun, dass er glücklich ist. Aber schon bald merkt er, dass er eben doch alleine ist, denn egal wie nett diese Familie zu ihm auch ist, er wird nie vergessen, woher er wirklich kommt, wer seine richtigen Eltern sind und dass er eben doch nicht ein Teil hiervon ist.

1.2 Die große Reise beginnt

Mittlerweile sind zehn Jahre vergangen, zehn Jahre, in denen Thomas erwachsen geworden ist und in denen er zu einem jungen Mann herangereift ist. Bernd und seine Frau Rita wurden sozusagen zu seinen Eltern, zu seiner Familie. Das schreckliche Ereignis vor über dreizehn Jahren hat er verdrängt, die Erinnerungen an seine Mutter, die er einst hatte, sind verloren gegangen, zu lange ist es jetzt schon her. Wir befinden uns im Jahre 1999, es ist der achte März, als Thomas wie so oft die Felder pflügt. Mittlerweile ist der kleine Junge erwachsen geworden, und hat sich an das Leben hier gewöhnt. Jeden Tag läuft er an jener Scheune vorbei, in der er einst Zuflucht suchte und im warmen Strohlager übernachtete. Es sind stets die gleichen Gedanken, die in seinem Kopf umherschwirren, wenn er die Scheune betritt, denn immer überlegt er sich, was es für ein Zufall war, ausgerechnet hierher gelaufen und auf diese nette Familie gestoßen zu sein. Es waren ja intuitive Entscheidungen, die ihn schlussendlich hierher auf den Bauernhof geführt hatten, aber war das wirklich nur Zufall?

Oder war es seine Bestimmung, dass er hier diese Menschen traf, und bei ihnen bleiben durfte? Es sind stets diese Überlegungen, die er sich macht, wenn er neben der Scheune vorbei zum Traktor läuft, um mit ihm die Felder zu pflügen. Dies ist auch heute der Fall, er fährt mit einem großen Traktor, an dem am Ende ein Rächen befestigt ist, und wühlt damit die Erde auf. Ohne zu ahnen, dass sich sein Leben in den nächsten Tagen völlig verändern wird, erledigt er wie immer gelassen seine Arbeit. Tag für Tag schuftet er auf dem Feld, und der Wunsch nach einer Veränderung wächst immer mehr, aber seine Meinung zählt nicht viel, also arbeitet er stets weiter und weiter und weiter … Doch eines Tages, an einem neunzehnten Mai, ist alles anders, er ist völlig aufgeregt, denn heute ist sein großer Tag.

An einem heißen Sommertag eines schicksalhaften Morgens macht sich Thomas auf den Weg in die große Stadt, um Geld zu verdienen. Er nimmt Abschied von seinem wunderschönen Zuhause und von seinen Eltern, setzt den Rucksack auf und läuft das erste Mal seit über dreizehn Jahren von zu Hause weg. Sein Vater Bernd sagte ihm tags zuvor, dass es jetzt Zeit sei, um zu gehen, um etwas aus seinem Leben zu machen. Thomas ist mittlerweile einen Meter neunzig groß, circa achtzig Kilogramm schwer, hat eine üppige Körperbreite und ist zweiundzwanzig Jahre alt. Er hat dunkelbraune mittellange Haare, eine breite Stirn, doch einen eher schmalen Kopf mit einem langen spitzen Kinn. Manche Leute würden sagen, er sehe merkwürdig aus, denn sein Kopf gleicht von der Form her eher einem Dreieck als einem ovalen Kreis. Als er vor vier Monaten zweiundzwanzig Jahre alt wurde, wollte er eigentlich weg von zu Hause, doch als er dies deinem Vater eines Tages beichten wollte, konnte er es nicht tun. Er brachte es nicht übers Herz, seine Eltern alleine zu lassen, also schwieg er, bis sein Vater an diesem schicksalhaften neunzehnten Mai zu ihm kam und mit trauriger Stimme sagte: „Du musst uns verlassen, mein Junge. Dein Weg hört hier auf, und geht dort weiter, wo es dich hinführt.“ Mit diesen merkwürdigen Worten im Kopf macht sich Thomas auf den Weg. Der Abschied fällt ihm schwer, obwohl er eigentlich von sich aus gehen wollte, begreift er erst jetzt, dass alles anders werden wird. Er war sich über die Konsequenzen seiner Entscheidung nicht im Klaren, doch jetzt begreift er, dass sie endgültig ist, und nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Mit Tränen in den Augen verlässt er also seinen eigenen Grund und Boden und läuft in Richtung der großen Stadt. Er geht zu Fuß, denn Geld oder sogar ein Transportmittel hat er nicht, sein Vater hat ihm lediglich ein Taschenmesser und etwas zu essen in den Rucksack getan. Er läuft und läuft und läuft, über Wiesen, durch Wälder und Flüsse. Nach etlichen Stunden durch diese idyllische Landschaft wird Thomas langsam müde, er macht kurz Pause und geht danach wieder weiter. Es schwirren ihm sehr viele Dinge durch den Kopf, während er läuft, er fühlt sich irgendwie daran erinnert, was vor vielen Jahren passiert ist, als er neun Jahre alt war und so wie heute alleine unterwegs war. Doch da fällt ihm ein, dass es einen großen Unterschied gibt, denn heute ist er erwachsen und kann sehr gut alleine auf sich selbst schauen, vor vielen Jahren war das anders, deswegen brachte man den hilflosen Jungen ja auch in ein Kinderheim.

Als er sich dies so überlegt, beginnt er die ganze Situation damals zu verstehen, denn bis jetzt hatte er diese traurigen Ereignisse immer verdrängt, aber jetzt wo er erneut alleine unterwegs ist, kommt in ihm alles wieder hoch. Er beginnt sich zu fragen, wieso ihn seine leiblichen Eltern damals alleine ließen, und wo sie sich jetzt wohl gerade aufhalten. Genug Zeit, um sich diese Gedanken zu machen, hat er ja, denn als die Sonne allmählich beginnt unterzugehen ist er immer noch unterwegs und läuft geradeaus. Als es langsam Abend wird und die Dunkelheit hereinbricht macht er halt unter einem Baum, legt sich hin und schläft sofort ein. Er befindet sich in einer so ländlichen Gegend, dass es bis auf ein paar Bauernhöfe weit und breit nichts als prachtvolle grüne Wiesen und große Bäume zu sehen gibt. So schläft er gemütlich unter einem der vielen Bäume ein.

Am nächsten Morgen, kurz bevor sie Sonne aufgeht, steht Thomas auf und läuft weiter. Wohin er geht, weiß er selber nicht genau, er hat eine kleine Landkarte dabei, die ihm den Weg in die große Stadt zeigen soll. Als er über eine große Wiese läuft, hört er plötzlich ein Geräusch von Weitem, also folgt er ihm. Nach einigen Minuten sieht er eine befahrene Straße, dort angekommen macht er kurzerhand Autostopp, hält den Daumen hoch und hofft auf sein Glück.

Auto um Auto fährt an ihm vorbei. Es vergehen etwa dreißig Minuten, in denen unzählige Autos an ihm vorbeifahren und so tun, als ob er nicht hier wäre. Doch dann, ENDLICH … Es hält eines circa fünf Meter vor ihm, ein grüner VW-Bus, mit einer deutschen Familie darin: Mutter, Vater und zwei Kinder. Der Mann kurbelt mit einem quietschenden Geräusch die Autoscheibe runter und ruft: „Ja grüß Gott, wo wollen Sie denn hin?“ Nach kurzem Zögern nähert sich Thomas dem Auto und erwidert: „In die Stadt, nach München.“

Mit einem prüfenden Blick schaut der Mann Thomas tief in die Augen und sagt dann mürrisch: „Ah so, ja dann steigen Sie mal ein, wir müssen auch dorthin.“ Langsam öffnet Thomas die hintere Autotür und steigt zögerlich ein. Die Familie traut Thomas irgendwie nicht so ganz, und deswegen vergehen die ersten paar Minuten, ohne dass irgendjemand etwas sagt. Dann, nach einer Weile im Auto, sagt der Familienvater: „Es tut mir leid, dass ich dich so prüfend gemustert habe. Aber du musst mich verstehen, man weiß ja nie, was für Typen am Straßenrand stehen. Ich wollte nur sicher sein, dass ich niemand Gefährliches in mein Auto lasse.“

Thomas erwidert schnell: „Ja, kein Problem, vielen Dank, dass Sie mich mitnehmen, und ich bin ganz sicher nicht gefährlich, aber das wissen Sie ja, ansonsten hätten Sie mich wohl nicht mitgenommen“ Nach ein bisschen mehr als zwei Stunden Autofahrt kommen sie allmählich in der Stadt an. Thomas blickt aus dem Fenster und kann im ersten Moment gar nicht fassen, wo er denn genau ist. Es ragen hohe Gebäude in den Himmel empor, überall versammeln sich Menschen und es sind keine Wiesen oder Büsche zu sehen, nur vereinzelt Bäume, die in einem Trog aus Beton eingepfercht sind. So etwas hat der junge Thomas noch nie gesehen. Völlig erstaunt steigt er aus, bedankt sich bei der Familie, dass sie ihn mitgenommen hat, und läuft in Richtung der Menschenmenge. Verblüfft schaut er um sich und kann nicht fassen, was er hier soll. Er ist nun den zweiten Tag unterwegs, seine Vorräte gehen ihm langsam aus, bis hierher ist er mit der Karte gekommen, doch jetzt hat er sein Ziel erreicht und weiß nun nicht mehr weiter. Ziellos läuft er durch die Stadt. Nach einer Weile des Herumspazierens begibt er sich in einen kleinen mit Bäumen bewachsenen Park am Stadtrand, auf einer Sitzbank macht er es sich erst mal gemütlich und ruht sich kurz aus. Die Sonne geht langsam unter, als Thomas sein letztes Brot isst, und den letzten Schluck Wasser aus seiner Flasche trinkt. Doch es reicht ihm nicht, er ist durstig und macht sich auf die Suche nach einem Brunnen, einen Fluss oder einen Bach. Nach einer knappen halben Stunde, als es schon stockdunkel ist, hört er von Weitem ein Plätschern. Er folgt dem Geräusch und entdeckt einen kleinen Bach. Dort angekommen trinkt er erst mal einen großen Schluck und benetzt Gesicht und Haare. Als er gerade seinen Kopf aus dem Wasser zieht, hört er plötzlich ein lautes Rascheln, direkt neben ihm, es hört sich an wie Schritte, die immer wie lauter werden und dann plötzlich einen lauten Schrei: „Hi…lfe“, ruft jemand, der mit rasendem Tempo auf ihn zuzurennen scheint. Als Thomas ihm zuschreit und ihn fragen will, was los sei, schreit der Mann einfach und rennt neben ihm rasend schnell vorbei, so als ob er Todesangst hätte.

Der unbekannte Mann verschwindet in der Dunkelheit, hinter ihm. Da hört er plötzlich wieder etwas, es ist dieses Rascheln, Schritte, genau aus der Richtung, wo vor wenigen Sekunden der wild schreiende Mann herkam. Thomas bekommt Angst, das Rascheln wird lauter, die Schritte hört er nun deutlich, doch kein Wort ist von ihnen zu hören. Nach wenigen Sekunden sieht er wie zwei schwarze, unheimliche Kreaturen vor ihm auftauchen und genau in seine Richtung rennen.

Wegen der Dunkelheit sieht er nur zwei große Schatten von Weitem, doch als sie immer näher kommen, bemerkt er, dass es ziemlich breit gebaute schwarz angezogene Männer sind, der eine hat sogar eine Eisenstange in der Hand. Schreiend und fluchend rennen sie Thomas förmlich um, sodass er zu Boden fällt. Zum Glück fällt er weich und steht schnurstracks wieder auf. Er sieht, wie die zwei unheimlichen Männer den älteren Mann verfolgen, der um Hilfe schreite. Ohne zu zögern steht Thomas auf, und will ihm zu Hilfe eilen. Das Adrenalin schießt durch seinen Körper, die Muskeln blähen sich auf und das Haupt zeigt steil nach oben. Ohne Furcht nähert er sich dem einen Verfolger und stößt ihn mit voller Kraft zu Boden, sodass er hart gegen einen Baum prallt. Es kracht laut, Äste brechen und wie durch ein Wunder bleibt der Mann regungslos liegen.

Thomas dreht sich kurz um und rennt anschließend dem noch übrig geblieben Verfolger nach. Doch als dieser zurückblickt, ist es um ihn schon geschehen. Thomas schlägt ihn mit seiner aufgeblähten Faust so stark, dass dieser auf der Stelle bewusstlos zusammenbricht. Als er da so liegt, und Thomas bewusst wird, was er gerade angerichtet hat, läuft es ihm kalt den Rücken hinunter, sein Haupt senkt sich wieder und das Adrenalin verpufft langsam. Da kommt der verängstigte ältere Mann langsam aus den Büschen gekrochen, nähert sich Thomas und sagt völlig außer Puste: „Wie … huhu, wie … kann ich dir für diese tapfere Tat danken, mein Junge? Du hast mir das Leben gerettet, ich stehe in deiner Schuld.“ Thomas schaut ihn traurig an, legt ihm seine Hand auf die Schulter und sagt: „Haben Sie einen Platz, an dem ich übernachten kann?“ Fröhlich erwidert der ältere Mann: „Aber natürlich, ich habe ein Hotel hier in der Nähe, du kannst dort übernachten … Ach übrigens, Joe ist mein Name.“ „Freut mich, ich bin Thomas.“

1.3 Der ältere Mann

Freundlich reichen sich die beiden zur Begrüßung die Hand und marschieren über die große Wiese im Park in Richtung der Straße. Auf dem Weg dorthin fragt Thomas: „Werden wir zum Hotel laufen?“ Schnell antwortet Joe: „Sieht so ein Mann aus, der läuft?“ Auf einmal beginnt Thomas lauthals zu lachen, und sagt: „Ja, allerdings. Ich sah dich vorhin beim Laufen, und jetzt läufst du auch gerade.“ Da kann sich auch Joe das Lachen nicht mehr verkneifen, und sagt: „Thomas, ich meinte damit nicht im sprichwörtlichen Sinne laufen, sondern eher in Bezug auf meine Lebensumstände. Verstehst du?“ Thomas schaut sich fragend um, und nach einigen Augenblicken antwortet er ein bisschen verwirrt: „Nein, nicht im geringsten …“ Darauf beginnt er erneut zu lachen, und Joe fängt auch lauthals wieder an. Er erwidert: „Du wirst es schon bald sehen, was ich meine.“ Als sie wenige Minuten nach ihrem gemeinsamen Lachanfall an der Straße ankommen, steht schon eine lange glänzende Limousine bereit, daneben ein dunkelhäutiger, breit gebauter Mann, der die Tür offen hält. In diesem Moment blickt Thomas verblüfft zu Joe und fragt: „Was, willst du mir sagen, dass dieses riesige Auto dir gehört, und der breit gebaute Mann da dein Chauffeur ist?“ Mit einem kurzen Lächeln antwortet Joe ein bisschen prahlerisch: „Ja, allerdings, und glaube mir, das ist noch lange nicht alles … Das ist mein Freund Hill, er ist mein treuer Begleiter, mein Bodyguard und mein Fahrer.“ Die beiden begrüßen sich, und Thomas fällt sofort auf, was Hill für einen starken Händedruck hat. Ist ja auch leicht nachzuvollziehen bei einem solch breiten durchtrainierten Oberkörper, denkt sich Thomas.

Schnell steigt er in die riesige Limousine ein, gefolgt von Joe. Hill schließt die hintere Tür, steigt danach vorne ein, lässt den Motor an und fährt langsam los. Entzückt blickt sich Thomas im Innern der räumigen Limousine um und ist vom Komfort und der Schönheit des Innenraums völlig begeistert. Da blickt er zu Joe rüber, und studiert kurz sein Gesicht, und sein auftreten. Denn er ist sich immer noch nicht ganz sicher, was für eine „Art“ Mensch Joe ist. Einerseits sieht er in ihm einen leicht eingeschüchterten älteren Mann und andererseits einen abgeklärten Geschäftsmann höheren Alters. Wie angesprochen ist Joe schon ein bisschen älter, hat kurze graue Haare, doch meistens trägt er einen schwarzen Cowboyhut. Mit einem kleinen Spitzbart und einem langen Schnauz, der stets mit den Enden nach oben gekringelt ist, sieht er aus wie ein neuartiger Cowboy. Doch egal wie grau seine Haare auch noch werden, seinen Schnauz und Bart färbt er immer schwarz. So ist sein Stil, mit dem schwarzen Cowboyhut, den schwarzen Gesichtshaaren und mit schwarzen Stiefeln ist er unverwechselbar. Als sich Thomas das Gesicht und das äußere Auftreten von ihm eingeprägt hat, kommt er zu dem Entschluss, dass Joe ein bisschen von beidem ist, was er über ihn dachte. Nach diesen Überlegungen schaut er sich weiter um und bestaunt den übermäßigen Komfort der Limousine, und plötzlich beginnt er lauthals zu schwärmen: „Noch nie habe ich so ein großes Auto gesehen, geschweige denn in einem gesessen. Joe, meintest du das vorhin, als du sagtest: „Sieht so ein Mann aus, der läuft?“ Joe antwortet zügig: „Haha, ja so ungefähr …“

Thomas blickt darauf hinaus aus dem Fenster und sieht, wie die Häuser am Straßenrand immer höher werden und die Straßen immer breiter. Sie unterhalten sich noch ein bisschen während der Fahrt, als Thomas plötzlich fragt: „Wieso haben dich diese Leute vorhin im Wald verfolgt?“ Er antwortet: „Ach weißt du, das hat viele Gründe. Du müsstest wissen, wer ich wirklich bin, um die Zusammenhänge zu verstehen. Willst du erfahren, wer ich bin?“ Thomas guckt ihn zuerst einmal schief an und sagt dann: „Ja also, erzähl mal …“ „Also schön, ich bin 54, geschieden, und wie du dir ja sicher schon dachtest, habe ich ziemlich viel Geld. Ich habe eine große Villa in der Toskana, in der ich meistens lebe, wenn ich nicht gerade auf Reisen bin. Kurz gesagt, ich bin Multimillionär, den ganzen Reichtum habe ich mir mit dem Kauf verschiedener Gebäude ermöglicht. Ich kaufte sie, um sie anschließend zu sanieren und weiterzuverkaufen. So wurde ich reich und kurze Zeit danach noch reicher. Ich baute mir in den Siebzigerjahren ein ganzes Imperium von Hotelketten auf, die meisten gehören mir nicht einmal richtig, dennoch verdiene ich an ihnen, ohne dass ich etwas dafür tun muss. Und weißt du, wenn man immer erfolgreicher wird, schleichen sich mit der Zeit Neider an dich heran.

Es sind Menschen, die mich erkennen und mich dann ausrauben oder sogar erpressen wollen, wenn sie mich sehen. Das ist meist Zufall, wenn du an einem falschen Ort bist, und sie dich dann erwischen. Aber ich denke, dass mich diese Leute heute bewusst abfingen und alles geplant war.“ Thomas schaut ihn erstaunt an und fragt: „Wer sollte so etwas Heimtückisches planen?“ Joe erwidert schnell: „Tja, da wüsste ich schon jemanden … Aber es ist egal, denn es ist mir eine Ehre, so einen tapferen Jungen wie dich in einem meiner Hotels unterzubringen.“

Nach diesem Gespräch kommen sie gerade beim Hotel an, sie steigen aus und der dunkelhäutige Chauffeur zeigt Thomas seine Hotelsuite. Mit einem kräftigen Händedruck verabschiedet er sich noch von Joe, als dieser plötzlich sagt: „Weißt du, Thomas, ich kann immer noch nicht ganz glauben, dass ein so junger Mann wie du mir das Leben gerettet hat. Ich möchte mich gerne bedanken, und dich morgen in meine Villa in der Toskana einladen.“

 

Dann, nach wenigen Sekunden, blickt er wieder zu ihm und erläutert: „Du fragst mich, warum ich so nett zu dir bin? Weil du, mein Junge, mich gerettet hast, ohne zu wissen, wer ich bin. Ich sage dir jetzt eines: Ich werde diese selbstlose Tat von dir niemals vergessen. Weißt du, ich lebe schon so lange, aber die richtigen Freunde kann ich an einer Hand abzählen. Es sind Leute, denen ich mein Leben anvertrauen würde, es sind Leute, die für mich sterben würden, sie würden mir folgen in die Schlacht, in den Kampf Mann gegen Mann, denn dort sind sie die Besten. Doch leider fielen die meisten auch dort, Gott möge sie beschützen, wo auch immer sie jetzt sind. Deshalb bin ich so nett zu dir, weil ich denke dass du, sowie auch Hill, mir in die Schlacht folgen würdet. Ist doch so, oder?“ Thomas, der die ganze Zeit aufmerksam zuhörte, antwortet schnell: „Ich denke schon …“ Joe: „Ja, ich weiß, du bist ein besonderer Junge. Deine Aura ist einzigartig und dein Verstand ist weit ausgeprägter als ich ihn je bei einem so jungen Menschen gesehen habe. Wenn du willst, kannst du bei mir arbeiten. Glaube mir, jemand wie du kann es locker so weit schaffen wie ich, und mit dem richtigen Willen sogar noch weiter. Du musst natürlich noch viel lernen, aber ich habe irgendwie das seltsame Gefühl, dass du in ferner Zukunft etwas Großes zu bewältigen haben wirst.“ Thomas weiß nicht genau, was er auf diese aufwühlenden Worte sagen soll. Er überlegt kurz und antwortet schneller, als er überhaupt denken kann: „Ja, gerne.“ Denn gerade in diesem Moment wird ihm bewusst, was er für ein Glück hatte, genau diesen Mann zu treffen. Er führt sich vor Augen, was passiert wäre, wenn er Joe nie getroffen hätte, vielleicht säße er immer noch auf der Bank im kleinen Park ein paar hundert Kilometer nördlich von hier, hilflos, ziellos und auf sich allein gestellt. Er fühlt sich zu Dank verpflichtet gegenüber dem netten Herrn, der sein ganzes Leben, ab dem Moment, als er ihn getroffen hat, völlig veränderte. Deswegen sagte er Ja, denn Thomas kommt sich wie im Paradies vor, so pompös zu leben.

Nach diesem Gespräch schaut er aus dem Fenster, er muss sich kurz klar werden, was gerade eben passiert ist, um es zu verarbeiten, denn es ist im Moment alles ein bisschen viel für ihn. Da biegt die Limousine rechts von der Hauptstraße in eine kleine Privatstraße ab, die zu Joes Anwesen führt. Es geht ein paar Minuten leicht aufwärts, neben der Straße sind wild gewachsene braune Büsche, Himbeerstauden und Unkraut. Die Sicht ist ziemlich eingeschränkt, so hoch ragen die Stauden in die Höhe, sie scheinen schon länger nicht mehr beschnitten geworden zu sein, sie dienen wohl mehr als Sichtschutz, denkt sich Thomas und versucht ein Blick dadurch zu erhaschen, um zu sehen, was sich vor und neben ihnen befindet. Da sieht er, wie allmählich die Straße endet, es taucht ein großes graues Stahltor vor ihnen auf, die Limousine wird allmählich langsamer und hält schließlich vor dem Tor. Thomas schaut verblüfft auf dieses stählerne Tor und stellt fest, dass es beinahe doppelt so groß ist wie er selber. Mit durchgehenden vertikalen Stahlstützen, die dicker als sein Arm sind, umgeben von einem noch dickeren Stahlrahmen, wirkt es sehr massiv. Da nimmt Joe plötzlich ein für Thomas seltsam wirkendes kleines Gerät in die Hand, öffnet eine kleine Luke in der Mitte und es kommt ein kleiner roter Knopf zum Vorschein. Joe betätigt den Knopf und wie von Geisterhand öffnet sich plötzlich das riesige schwere Stahltor von der linken Seite her und fährt auf großen Stahlrädern auf die rechte Seite. Auf einer schmalen Straße, umgeben von hohen Laubbäumen, die eine Allee bilden, fahren sie ein paar Minuten entlang, bis sie bei einem großen Parkplatz ankommen. Da wird plötzlich die Sicht zur Villa von Joe frei, und stolz sagt er: „Wir sind da.“ Thomas kann seinen Augen nicht trauen, als er sieht, was sich vor ihm befindet. Sein Blick schweift entlang der unendlich scheinenden weißen Marmorsteinsäulen, die wie eine Mauer um diese riesengroße pompöse Villa herum angelegt sind.

Sie ragen bis unter das Dach, mit einem Durchmesser wie von einem Mammutbaum. Weiß leuchten sie beinahe, zum Kontrast der herumliegenden grünen Wiesen, die endlos zu sein scheinen. Große Laubbäume stehen vereinzelt inmitten der Wiesen, die alle eine eigene Farbe aufweisen, von Grün bis beinahe Rötlich, auf den sich unzählige Vögel befinden, die alle ihren eigenen Gesang von sich geben. Er kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus, so farbenprächtig und ausdrucksvoll erscheint ihm diese wundervolle Natur, beinahe wie bei ihm zu Hause. Verblüfft schaut er auf die riesengroße Villa, die wie ein Palast auf hohen weißen Säulen steht, ähnlich wie das Weiße Haus in Washington. Erneut bringt er vor lauter Staunen kein einziges Wort mehr heraus und sagt nach wenigen Minuten mit funkelnden Augen einfach nur: „Ja, es ist wunderschön.“ Als sie in der Villa ankommen, machen sie es sich erst mal gemütlich, Joe zeigt Thomas sein Zimmer, das einst der Gästesaal war. Es ist beinahe halb so groß wie ein Fußballfeld und hat ein Bett, das alleine schon so groß ist wie sein früheres Zimmer. Am späteren Abend sitzen die beiden gemütlich auf der großen Terrasse und trinken ein Glas Scotch. Thomas erzählt ihm ein bisschen von sich und bedankt sich mehrmals bei ihm, dass er ihn an diesen wunderschönen Ort gebracht hat. Die beiden reden über alle möglichen Themen, über die Menschen, die Welt und über das Universum. Joe erklärt ihm viele Dinge, wie zum Beispiel dass alles auf der Erde ein Gleichgewicht bildet, dass jede begangene Tat andere Taten nach sich zieht, im positiven wie im negativen Sinn, und dass es irgendjemand im Universum oder auf der Erde gibt, der gerade das macht, was er macht. Joe, der mit seinen vierundfünfzig Lebensjahren schon viel erlebt hat, erzählt ihm viel von früher, Geschichten, die er erlebte oder Geschichten, die ihm erzählt wurden. Er erzählt ihm, was er für Fehler gemacht hat in seinem Leben und was er für gute Sachen erlebte. Thomas hört ihm neugierig zu und lernt in wenigen Stunden so viel, wie er in seinem ganze Leben bisher nicht lernte. Tag für Tag nimmt ihn Joe mit zu seinen Geschäftstreffen, mit jedem Mal, wo die Sonne untergeht, wird Thomas gescheiter und geschäftstüchtiger. Von Zeit zu Zeit lässt er ihn immer mehr erledigen, denn Joe ist ja auch nicht mehr der Jüngste. Er erreicht in kürzester Zeit so viel für Joes Firma, dass er nach sechs Monaten die rechte Hand von ihm wird. Joe, der eigentlich ziemlich öffentlichkeitsscheu ist und es hasst, immer im Mittelpunkt zu stehen, blüht richtig auf, weil Thomas genau die Unterstützung ist, die er brauchte.