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Vorwort

Wie das meiste, das ich nicht in meinem Büro bei CBC-Radio schreibe, bringe ich auch dieses Vorwort in meinem Refugium zu Papier, das ich noch immer mein »Ferienhäuschen« nenne und das achtzig Kilometer von der nächsten Großstadt und einen Schlag mit einem 7er-Eisen vom nächsten Laden entfernt ist. Den Text tippe ich in einen Macintosh-Computer und erinnere mich dabei an den Tag, an dem ein schlimmes Gewitter das halbe Kapitel eines Buchs, an dem ich gerade arbeitete, auslöschte und mich in totale Hilflosigkeit versetzte. Vor der Glaswand meines Arbeitszimmers halten auf den Holzdielen der Terrasse zwei Gasbarbecues Wache, deren Schneehäubchen bezeugen, dass wir am Abend zuvor im Haus gegessen haben. Dahinter ziehen superfitte Langläufer auf dem Golfplatz ihre Bahnen und schnauben und schwitzen unter ihren Wollmützen und in ihren dicken gemusterten Wollstrümpfen. Eigentlich sollte ich mich zu ihnen gesellen, aber das Schreiben ist mir lieber.

Im Wohnzimmer meines Häuschens, das an mein Arbeitszimmer anschließt, verfolgt meine Lebensgefährtin Gill Howard einen englischen Krimi im Kabelfernsehen. Dort hatten wir auch am Abend zuvor amüsiert ein Video angeschaut, das wir von einem der fünf oder sechs Läden ausgeliehen hatten, die von diesem neuesten und einträglichsten Zweig der lokalen Wirtschaft unseres Dorfes profitieren. Ein Faxgerät steht neben dem Telefon, bei dem es sich um ein kompaktes Tischmodell und keines der schnurlosen Dinger handelt, mit dem ich hin und wieder im Bad telefoniere. Zwischen den einzelnen Sätzen nippe ich an meinem Kaffee. Die Bohnen dazu gibt es jetzt in unserem Supermarkt. Ich habe sie elektrisch gemahlen, in einer Maschine gebraut, und wenn es notwendig ist, wärme ich den Kaffee im Mikrowellenherd wieder auf.

Ja, das einfache Leben! Wir haben unser Häuschen vor fünf Jahren selbst gebaut, wobei das Selberbauen bedeutete, dass mein Cousin Jack drei finnische Zimmerleute überwachte und Elektriker und Klempner anheuerte, während ich zuschaute und meine Meinung abgab. Das Häuschen ist jetzt unser Nest, unser Zufluchtsort. Meine Großeltern ließen sich nach dem Zweiten Weltkrieg als Erste in diesem Teil Ontarios, im Gebiet um den Simcoe-See, nieder. Ihr Häuschen war wirklich einfach – Schalungsbretter ohne Isolierung als Wände um einen steinernen Kamin, eine geschlossene Veranda rundum, kein Strom, kein Telefon. Aber die Zeiten ändern sich. Am Abend werde ich noch schnell im Kabelfernsehen schauen, ob für den nächsten Tag, wenn ich in meinem mit Schneereifen versehenen BMW ins städtische Leben zurückkehre, Eisregen zu erwarten ist.

Chris Czajkowski – was sich wie der Name des russischen Komponisten ausspricht – schrieb zwischen 1984 und 1985 erstmals an mein Programm bei CBC-Radio, Morningside. Damals war Morningside bereits zu dem geworden, was es heute ist, eine Art »Aushängeschild für das ländliche Leben in Kanada«. Die Leute schrieben und schreiben noch immer über alles Mögliche, nicht nur über Aktuelles im Zeitgeschehen (und im Programm), sondern auch über ihr Leben, ihre Kinder, ihre kleinen und großen Freuden und Sorgen. Kurz bevor ich von Chris hörte, hatte ich einige dieser Briefe in einer Anthologie zusammengefasst, die so erfolgreich war, dass sich der bis dahin bereits recht beachtliche Postberg, der jeden Morgen auf meinem Schreibtisch landete, nun täglich auf etwa hundert Briefe erhöht hatte. Doch selbst in dieser Lawine machte Chris’ Schreiben durch seinen ehrlichen, bescheidenen, zurückhaltend lyrischen und meiner Meinung nach typisch kanadischen Ton sofort auf sich aufmerksam. Wir änderten überhaupt nichts am Text. Jim Handman, unser damaliger Spielleiter, schrieb eine Einführung, und Lorna Jackson, eine der erfahrensten Sprecherinnen unseres Senders, las den Brief im Radio vor. Und so begannen Chris und ich eine einseitige Korrespondenz, die sich im Lauf der Jahre zu einer der beliebtesten regelmäßigen Spezialitäten des Programms entwickelte und, wie sich später herausstellte, für die nachfolgenden Ausgaben von The Morningside Papers ein aufschlussreiches Kapitel lieferte.

Typisch kanadisch? Wir Kanadier haben, glaube ich, gemischte Gefühle, wenn es um die Landschaft um uns herum geht. Einerseits fürchten wir uns vor ihr. Sie ist unser Feind, wie es uns von der literaturkritischen Schule eingebläut worden ist, die uns das Wacousta-Syndrom (nach dem eponymen und rachsüchtigen Protagonisten eines unseres ersten Romane) aufgeschwätzt hat. Northrop Frye vertritt mit seiner viel sagenden »Garnisonsmentalität« beredt dieselbe Ansicht. Dabei steht die »Garnison« stellvertretend für unseren Versuch, uns von unserer Umgebung (und, wie Frye behauptet, auch von deren Ureinwohnern) abzuschirmen und der rauen Natur um uns herum den Rücken zu kehren, um, zumindest in den ganz frühen Tagen, ein kleines Stück Europa vor den tobenden Schneestürmen vor der Tür in Sicherheit zu bringen. Das tue ich auch jetzt in meinem gemütlichen, das ganze Jahr über bewohnbaren Ferienhäuschen. Andererseits ist da aber auch die Faszination des Landes, die einen Großteil unserer Literatur prägt. Da sind die Prärien von W. O. Mitchell, die Farm in Nova Scotia von Ernest Buckler und der unerbittliche Norden in Farley Mowats Werken. Dabei ist die Landschaft aber mehr als nur ein literarisches Symbol: Sie ist in uns – selbst in ihrer urtümlichsten Form. Selbst für all jene unter uns, die diese Landschaft nur allzu selten aufsuchen, lebt die Majestät des Nordens, dieses letzten Grenzlands, in unserem Bewusstsein fort und formt uns zu dem, was wir sind. Sie ist immer um und in uns. Wenn Chris Czajkowski, die, genau wie die Autoren von Wacousta, Susannah Moodie und Major John Richardson, aus Großbritannien stammt, und auf einer anderen Ebene Stephen Leacock, über die Landschaft schreibt, spricht sie uns damit aus der Seele.

Ich hätte es mir nie träumen lassen, dass ich es einmal so bequem haben würde. Als kleiner Junge hatte ich es den beiden »jungen Wilden« in Ernest Thompson Setons Two Little Savages nachgemacht, die bei ihren Spielen so genannte »Coups« einheimsten, und genau wie sie tauchte ich dann den Kiel von Möwenfedern in rote Farbe und trieb an kalten Winternachmittagen mein imaginäres Hundeteam mit einem lauten »hüh« für links und »hott« für rechts den Gehsteig der Lansdowne Avenue in Galt im Südwesten Ontarios entlang. Holzfäller wollte ich werden oder Trapper, die sich bei ihrer Arbeit auf ihren Verstand und ihre Kenntnis des Waldlands verließen, die die Fährten der Tiere lesen konnten und eins mit der Natur waren. Jetzt, ein halbes Jahrhundert später, frage ich mich, was denn aus diesen Träumen geworden ist.

Chris ist jünger als ich. Sie wuchs in England auf, wohin ihr Vater aus Polen geflüchtet war. Sie las diesselben Bücher wie ich und erträumte sich, wie mir scheint, auch diesselben Abenteuer. Städte hatten nie einen Reiz für sie. Sie studierte Landwirtschaft, ging zuerst nach Uganda, dann nach Australien und Neuseeland, wo sie sich ihr Geld als Melkerin und mit Gelegenheitsarbeiten verdiente und auch ein wenig zeichnete und malte. Sie war mit diesem Leben recht zufrieden und suchte sich dafür immer entlegenere Winkel der Erde aus. Als sie dabei in Salmon Arm in British Columbia landete, schien ihr der Ort im Vergleich zu anderen Flecken dieser Welt viel zu hektisch, und sie zog sich schließlich an jenen Platz zurück, den sie in diesem Buch beschreibt.

Ich traf sie – zu guter Letzt – im Frühling 1990. Ihr Haus war als Ergebnis der auf diesen Seiten beschriebenen Arbeiten inzwischen schon fertig gebaut, und sie hatte die Reise in den Osten des Landes unternommen, um mit ihrem Verleger zu sprechen und eine Auszeichnung für ihren Beitrag in der Zeitschrift Harrowsmith bei den National Magazine Awards entgegenzunehmen. Sie kam in unser Morningside-Studio, und ich machte sie mit Lorna Jackson bekannt, die ihr jahrelang ihre Stimme geliehen hatte, und setzte sie dann vors Mikrofon. Ich sagte ihr, dass sie genauso war, wie ich sie mir vorgestellt hatte: schlank, fit und zurückhaltend. Sie freute sich, ein paar Leute kennen zu lernen, die ihre Briefe gelesen hatten, war aber offensichtlich auch recht froh, wieder nach Hause zurückzufahren, als sie alles erledigt hatte. Ich erzählte ihr im Radio, wie sehr ihre Realität meine eigenen Träume widerspiegelte und dass ich mir auch jetzt noch vorstellen könnte, mit ihr den Platz zu tauschen.

Ich fragte sie, ob sie Lust hätte, die Sendung Morningside für mich ein paar Tage lang zu präsentieren, während ich versuchte, in ihrem entlegenen Tal so zu leben, wie ich es mir ehemals erträumt hatte.

»Auf gar keinen Fall«, erwiderte sie mit ihrem ruhigen Lächeln.

Peter Gzowski

Januar 1991

Prolog

Es ist April, und auf der Passhöhe liegt Schnee. Ich bin schon seit Stunden über tiefe Furchen und Schlammlöcher in der Straße geholpert und steige nun erleichtert aus dem engen, muffigen Fahrerhaus des Kleinlasters in die reine, erfrischende Bergluft. Die buckligen Hügel und Wälder um mich herum liegen in wogender Stille vor mir.

An einer Felswand am Straßenrand ist ein ganzer Schilderwald angebracht: HECKMAN PASS, 1500 METER. STARKE STEIGUNG: 18 GRAD. LKW – BREMSEN PRÜFEN! SCHNEEKETTEN IMMER MITFÜHREN. LAWINENGEFAHR: NICHT ANHALTEN.

Im Gegensatz zu mir findet meine Hündin an diesem verlassenen Ort keine Botschaften und ist froh, wieder ins Fahrerhaus zu klettern. Sie sitzt auf einem Haufen meiner Habseligkeiten und kann nun direkt durch die Windschutzscheibe hinausschauen. Hinten im Wagen ist kein Platz für sie, denn der alte rote Kleinlaster ist mit meinem gesamten Besitz voll beladen. Ich starte den Motor, und wir mühen uns langsam den Hill hinunter.

016

Der Singende Fluss

Ich sitze am Singenden Fluss und schaue ins seichte Wasser, das zu dieser Zeit des Wartens auf den Frühling ruhig und ein wenig träge ist. Zwischen Schlamm- und Sandbänken bahnt sich der Fluss etwas unsicher seinen Weg durchs Tal zum Meer. Er ist nicht immer so sanft, der Fluss, aber Schnee und Winterkälte halten das Oberflächenwasser noch in den umliegenden Bergen fest. Nur die unterirdischen Ströme, die immer fließen, sickern durch Gestein und Gletscherkies, bevor sie unterhalb der Baumgrenze hervorquellen und dann über die steilen, grün bewaldeten Felswände des Atnarko-Tals rieseln. Flussaufwärts von mir gebietet eine mit Birken und wintergrauen Erlen dicht bewachsene kleine Insel dem Fluss Einhalt und teilt ihn in zwei widerspenstige Arme, die sich im tieferen Wasser zu meinen Füßen wieder vereinen. Am gegenüberliegenden Ufer ragen drei Pappeln aus dem Gestrüpp des Unterholzes und umrahmen mit ihrem leeren Geäst die gebeugten Schultern eines in seiner weißen Schneehülle ausdruckslos dastehenden Berges.

Wie so viele, die an einem Wendepunkt in ihrem Leben angekommen sind, fragte auch ich mich nun, ob ich wohl die richtige Entscheidung getroffen habe. Man hatte mir die Möglichkeit gegeben, an dieser Stelle inmitten des Küstengebirges von British Columbia, die dreiundvierzig Kilometer von der nächsten Straße und hundertfünfzig Kilometer vom nächsten Laden entfernt ist, ein Blockhaus zu bauen. Damit ist für mich ein Traum Wirklichkeit geworden, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich diesen Traum nun auch in die Tat umsetzen soll.

Eigenartigerweise hatte mich meine Kindheit am Rand eines nichts sagenden englischen Dorfes recht gut auf mein jetziges Vorhaben vorbereitet. Mein Vater war ein polnischer Kriegsflüchtling, der in seiner neuen Heimat Möbel baute und Antiquitäten restaurierte. Als Kind spielte ich mit den dünnen, gelockten Spänen, die in duftenden Haufen unter den Hobelbänken lagen, und später mit den Werkzeugen meines Vaters. Auch meine Mutter war kreativ veranlagt, und ich lernte recht bald, dass wir fast alles, was wir brauchten, selber machen konnten.

Meine Eltern hatten keinen gesellschaftlichen Verkehr, und ich wurde zur Einzelgängerin. Ich streunte stundenlang in den einsamen Wäldern und Feldern hinter unserem Haus umher, und als sich mein Horizont erweitert hatte, wurden diese Ausflüge schließlich zu zweiwöchigen, einsamen Wanderungen in den Bergen von Neuseeland, in den Anden und auf dem baumlosen, windigen Grasland der Falkland-Inseln, wo es keine Straßen gab. Ich bin aber keineswegs eine Einsiedlerin, sondern gern unter Leuten, aber auch gern wieder allein. Nicht nur allein in einem Raum oder ein paar Stunden lang am Strand, sondern wirklich allein, tage- und meilenweit vom nächsten Menschen entfernt. Diese Einsamkeit ist eine berauschende Erfahrung, die die Sinne schärft und die Gedanken vertieft. Erst in der Einsamkeit kann ich wirklich ich selbst sein.

Ich bin freilich nicht allein, wenn ich mein Blockhaus hier bauen werde, denn ohne Hilfe wüsste ich gar nicht, wo ich überhaupt anfangen sollte. Nach einem Stammesältesten der Bella Coola bedeutet Atnarko so viel wie »der Ort, wo die Menschen sind«. Wahrscheinlich betraf das aber eher den unteren Abschnitt des Flussgebiets, wo die Ureinwohner je nach Jahreszeit Wald- und Feldfrüchte und Zedernrinde gesammelt haben. Die Stelle ist auch für mich geeignet. Hinter dem Gestrüpp des Unterholzes, aus dem die drei Pappeln sprießen, liegt eine etwa acht Hektar große Lichtung, ein Stück zahmen Graslands, das sich wie ein Keil zwischen den Fluss und den Wall der umgebenden Wälder schiebt. Darauf stehen eine gut erhaltene Scheune mit einem steilen Dach, etliche Nebengebäude und ein sauberes, verwittertes Blockhaus. Die Lichtung und die Gebäude darauf sind das Werk von Jack und Trudy Turner, die seit vierunddreißig Jahren hier in aller Stille leben.

Trudy Turner, eine geborene Edwards, hat aber schon viel länger hier gewohnt. Sie ist drei Kilometer weiter flussabwärts aufgewachsen, an einer Stelle, wo der Atnarko in den Lonesome Lake fließt, einen langen S-förmigen See, dem ihr Vater seinen Namen gab, als er hier 1912 Land für eine Heimstätte mit Beschlag belegte. Er war mit dem Schiff nach Bella Coola gekommen, ist dann das Tal bis Firvale (wo die Straße damals aufhörte) hinaufgefahren und dem Atnarko River bis zum ersten noch nicht beanspruchten Stück Land gefolgt, das sich für die landwirtschaftliche Nutzung eignete. Ralph Edwards war ein findiger Mann, der keinen Grund sah, sich von etwas abhalten zu lassen, nur weil die Leute sagten, dass es nicht möglich wäre. Zu seinen zahlreichen bemerkenswerten Leistungen zählt der Bau eines wasserbetriebenen Sägewerks mehr als sechzig Kilometer von der nächsten Straße entfernt. Noch bemerkenswerter ist aber die Tatsache, dass er sich seine gesamten Kenntnisse aus Büchern holte, die er sich zum nächsten Postamt schicken ließ und dann mit dem Pferd oder im Rucksack heimbrachte.

Ralph und seine Frau hatten drei Kinder. Die beiden Söhne arbeiteten eine Zeit lang von zu Hause weg, aber Trudys sehnlichster Wunsch war es immer, ein eigenes Heim zu haben. Das nächste Stück Land mit einem geeigneten Boden lag drei Kilometer flussaufwärts vom Anwesen ihrer Eltern. Sie hatte schon das Blockhaus gebaut, um ihren Anspruch anzumelden, und mit dem Roden begonnen, durch das sie schließlich das Eigentum am Land erwerben würde, als Jack Turner auf derselben Route wie ihr Vater durch das Tal gezogen kam und ihr direkt in die Arme lief.

Für meinen ersten Besuch bei den Turners war ich mit dem Flugzeug auf den Lonesome Lake geflogen. Ich hatte damals erst zwei Jahre in Kanada verbracht und arbeitete als Melkerin auf einer großen Milchwirtschaft unweit von Salmon Arm im südlichen British Columbia. Meine Nachbarn lachten mich aus, als ich ihnen sagte, dass mir die Gegend von Salmon Arm zu übervölkert sei. Viele von ihnen waren aus Vancouver und Calgary gekommen und fanden das Leben in der Stadt recht lässig und ländlich. Ich dagegen hatte noch nie in einem so dicht besiedelten Ort gelebt und konnte das unaufhörliche Dröhnen der Autos auf dem Trans-Canada Highway, das Kreischen und Ächzen der kilometerlangen Züge beim Überwinden der Steigung unweit von der Farm und die zunehmende Ausbreitung der Stadt um die Ufer des Shuswap Lake kaum ertragen. Dazu war ich nicht nach Kanada gekommen.

021

Eines Tages nahm ich mir eine Straßenkarte der Provinz vor. Eine gepunktete gelbe Linie, die eine Kiesstraße anzeigte, verlief über fast fünfhundert Kilometer in westlicher Richtung vom Williams Lake bis Bella Coola an der Küste. Da es entlang der Straße nur wenige Ortsnamen gab, schien mir die Gegend erforschenswert. Es war ein glücklicher Zufall, dass ein Nachbar in Salmon Arm die Turners kannte. Außerdem hatte er für sie einen von Pferden gezogenen Heuwender besorgt, mit dem man das Heu schneller trocknen konnte. (Jack und Trudy hatten das Heu bis dahin von Hand gewendet.) Die einzige Möglichkeit, diesen Heuwender zu den Turners zu transportieren, bestand darin, ihn mit dem Wagen zum Nimpo Lake zu bringen, was etwa zwei Drittel der gelb gepunkteten Strecke westlich vom Williams Lake ausmachte, und ihn dann mit dem Schwimmerflugzeug auf den Lonesome Lake einzufliegen. Der Heuwender passte genau in den Laderaum meines alten Lasters. Als Gegenleistung für den Transport boten mir die Turners, mit denen ich zu diesem Zeitpunkt bereits korrespondierte, den Flug an.

Wenn man auf dem Highway 20 vom Williams Lake nach Westen fährt, merkt man kaum, wie man langsam an Höhe gewinnt. Die Berge säumen, wenn sie sichtbar sind, in ziemlicher Ferne den westlichen und südlichen Horizont. Selbst als wir auf sie zuflogen und dabei über die zackigen Gipfel der Drehkiefern glitten, die in dichten Beständen die innere Hochebene bedecken, schienen die Berge nicht an Größe zu gewinnen. Doch plötzlich verloren wir den Boden unter uns, und das Flugzeug hing über einem gähnenden Abgrund – einem tiefen, von Norden nach Süden verlaufenden Riss in der Erde, der uns zwischen steil abfallenden Felswänden nach unten sog – bis wir schließlich kreisend an Höhe verloren und zischend auf dem ruhigen See unter uns aufsetzten.

Natürlich verliebte ich mich sofort in die Gegend, die riesigen Bäume am Ufer, den tosenden, funkelnden Fluss, die majestätischen Berge, die Blumen, das Heumachen mit Pferdestärke (das so viel angenehmer war als die rauchige, lärmende und zermürbende Arbeit mit Traktor und Ballenpresse, die ich bisher schon so oft verrichtet hatte), die dramatischen Sommergewitter, den Vielfraß, der im Fluss daherschwamm (eine Marderart, die ich sonst noch nie und seither auch nie mehr gesehen habe), und die Wanderung durchs Tal zur Straße.

Nach meinem zweiten Besuch, als ich im Winter zehn Tage allein dort verbrachte und mich um die Tiere kümmerte, während die Turners geschäftlich unterwegs waren, fragten mich Jack und Trudy, ob ich Lust hätte, auf ihrem Land zu bauen. Das Angebot machte mich völlig sprachlos. Die Turners hatten mir einen so genügsamen Eindruck gemacht, dass ich mir nie erträumt hätte, dass sie irgendjemand anderen im Tal haben wollten.

Aber die Zeiten und der Fluss hatten sich geändert. Als in den fünfziger Jahren schließlich eine Straße gebaut worden war, die Bella Coola mit dem Rest der Provinz verband, wich sie vom ursprünglichen Saumpfad und dem Atnarko River ab. Andere Siedler im oberen Talabschnitt, zu denen auch Trudys Eltern gehört hatten, waren gestorben oder weggezogen, und niemand hatte ihren Platz eingenommen. Eines der besten Stücke Land fiel den Fluten des Goat Creek zum Opfer, als dieser im Herbst 1936 tobend über die Ufer trat, das Tal mit riesigen Felsblöcken versperrte und über natürlichem Grasland, auf dem auch drei Blockhäuser standen, einen seichten See bildete. 1956 wurden die Grenzen des Tweedsmuir-Provinzparks nach Süden ausgeweitet und umfassten nun auch das Anwesen der Turners, was bedeutete, dass sich niemand mehr in ihrer Nähe ansiedeln konnte. Als schließlich auch ihre Tochter Susan von zu Hause weggezogen war, wurde Jack und Trudy bewusst, dass sie noch nie so weit von ihren nächsten Nachbarn entfernt gewesen waren und dass es vielleicht besser wäre, wenn jemand für Notfälle in ihrer Nähe wohnte.

Das Angebot schien mir fast zu gut zu sein, und angesichts dieser einmaligen Gelegenheit musste ich mir nun wirklich die Frage stellen, ob die Realität wohl an den Traum heranreichen würde. Ich ging zurück nach Salmon Arm in meine Alltagswelt, um mir das Ganze gründlich zu überlegen. Das war vor über einem Jahr, und obwohl ich inzwischen schon Anstalten getroffen habe, einen Strich unter mein altes Leben zu ziehen und mich auf mein neues vorzubereiten, bin ich mir immer noch nicht sicher, ob ich die Sache auch wirklich in Angriff nehmen werde. Zum Aussteigen ist immer noch Zeit.

Die Entscheidung

Ich hätte meinen ganzen Kram an der Flugbasis am Nimpo Lake, achtzig Kilometer von der Passhöhe, lassen können, denn das meiste davon musste genau wie der Heuwender eingeflogen werden, aber im Gegensatz zum Lonesome Lake, der im April schon eisfrei ist, ist der Nimpo Lake, der viel höher liegt, noch immer zugefroren. Das kann bis in den Mai hinein andauern, und bis dahin ist die Flugbasis geschlossen. Deshalb fuhren mein Hund und ich nun mit einem Teil unserer Habe über den Heckman Pass ins Bella-Coola-Tal hinunter.

Die Fahrt ins Tal unterscheidet sich dabei in gewisser Weise kaum vom Fliegen, denn über die Kühlerhaube des Wagens hinweg sieht man zumeist auch nur ins Leere. Die Straße selbst ist nicht viel mehr als ein besserer Saumpfad, den Geschäftsleute aus den umliegenden Siedlungen, die ihre Zeit und ihre Planierraupen zur Verfügung stellten, zu beiden Seiten des Passes angelegt hatten, als sich die Regierung weigerte, die Arbeit zu übernehmen. Die Haarnadelkurven ziehen sich langsam den Steilhang hinunter, und obwohl die Straße im Lauf der Jahre immer wieder verbessert worden ist, gibt es darauf noch immer Steilstücke mit Steigungen von bis zu achtzehn Grad, viele Abschnitte, die nur von einem Fahrzeug zu befahren sind, und über den bröckelnden, unebenen Straßenrand hinweg herrscht gähnende Leere. Mühsam windet sich der Weg, wie es scheint, direkt ins Erdinnere hinein, denn bei der Abfahrt erheben sich zu beiden Seiten steile Felswände, die jegliche Sicht auf den Himmel über uns versperren. Und im April ist es auch eine Art Zeitreise, denn in den Höhen bedeckt Schnee das Land, und der Winter hat den stillen, fast baumlosen Pass noch fest in der Hand, während tausend Meter darunter der Frühling bereits Einzug gehalten hat.

Dort verschwindet die Straße in den Bäumen, und die Luft ist geschwängert vom Duft der Balsamtannen. Föhren strecken uns ihre knorrigen Äste entgegen, und an den mit Geröll übersäten Ufern des brausenden Atnarko halten Zedern auf massiven roten Stämmen mit ihren ausladenden Zweigen Wache. Um die Gipfel ballen sich Wolken, brechen auf, und ballen sich erneut zusammen. Von überhängenden Felssimsen donnern Lawinen in die Tiefe, und über steil aufragende Felswände strömt das Wasser in schäumenden Sturzbächen herab.

Am Fuß des Hills angelangt führt der Highway, der über die letzten achtzig Kilometer nun zweispurig verläuft und bequem asphaltiert ist, bis Bella Coola im Westen. Ich biege mit meinem voll beladenen Wagen aber auf einen Transportweg ab und bahne mir ratternd und schlingernd einen Weg, so weit es geht – zu dieser Jahreszeit etwa elf Kilometer weit. Unter unserer holprigen Fahrbahn erstreckt sich schillernd der Fluss, Adler schweben um die zerklüfteten Klippen über uns, und Maultierhirsche springen durch den kaputten Zaun eines aufgelassenen Anwesens und hinterlassen auf dem durchhängenden rostigen Drahtgeflecht ganze Büschel ihres Fells.

Die Fahrt vom Highway dauert eine Stunde. Danach ist es eine Wohltat, die betäubende Enge des Fahrerhauses gegen die vom Tosen des Flusses erfüllte Wildnis einzutauschen. Endlich kann ich langsam und für mich allein wieder Kontakt zum Boden gewinnen. Ich kann die Bäume mit ihren rauen Rinden und das Gefühl der Felsen unter meinen Stiefeln genießen. Ich kann dem Gesang des Flusses lauschen. Ich habe schon so manche Wildnis in verschiedenen Teilen der Welt kennen gelernt, aber wie fremd sie mir anfangs auch schien, ihrem Rhythmus habe ich mich immer gleich angepasst, und ihre Wunder und Verworrenheiten hatten sofort Sinn für mich.

Das ist die Route, die ich für gewöhnlich vom und zum Lonesome Lake nehmen werde, denn ich habe nicht vor, regelmäßig zu fliegen. Ich möchte aber mindestens einmal im Monat die Post abholen. Ich hasse Fliegen, doch es gibt noch viele andere Gründe, weshalb es für mich nicht in Frage kommt, ein Flugzeug zu chartern. Allen voran sind da die Kosten. Das Geld zum Einfliegen meiner Fracht werde ich auftreiben müssen, aber ich kann es mir wirklich nicht leisten, hundert Dollar für einen Flug für mich und meinen Hund auszugeben. Und es wäre auch keine Lösung, die eine Strecke zu fliegen und die andere zu Fuß zu gehen, denn der kürzeste Weg zwischen dem Lonesome Lake und dem Nimpo Lake ist für einen Fußmarsch zu unwegsam, und ich müsste mich daher an das Atnarko-Tal halten. Aber die Stelle, wo es auf die Straße mündet, ist über hundert Kilometer von der Flugbasis entfernt.

Mein Rucksack schmiegt sich bequem an mein Kreuz, und meine Hündin, eine ergraute, struppige, mittelgroße Straßenmischung, ist über die Aussicht auf einen Spaziergang hocherfreut. Ich marschiere über eine kleine Brücke und beginne unsere Wanderung auf einem Pfad, der ursprünglich von Ralph Edwards angelegt worden ist und jetzt von den Wegwärtern des Provinzparks erhalten wird. Lang werde ich nicht darauf verbleiben können, denn er führt bald aus dem Tal hinaus und zu einem Aussichtspunkt, von dem der Wanderer einen herrlichen Ausblick auf die Hunlen Falls hat – eine der Sehenswürdigkeiten des Naturparks. Fünf Kilometer weit kann ich aber auf dem Pfad bleiben, der über Klippen hinauf- und dann wieder durch dichte Zedernwälder hinunterführt, bis ich schließlich am Ufer des Stillwater angelangt bin.

Das ist der See, der ehemals Wiesenland war. Eine Reihe gebleichter Stämme und schwarzer Baumstümpfe ist alles, was von den Pappeln übrig ist, die ehemals das Flussufer säumten. Der Pfad, den die Siedler angelegt hatten, verschwand genau wie die Wiesen und Blockhütten in den Fluten, und da die Ufer des Sees zu steil waren, wurde die Fracht nun mit dem Floß transportiert. Ebenso die Pferde und ihr Heu, das mitgebracht werden musste, da es auf diesem Abschnitt kein Futter für sie gibt. Das Verpacken der Transportgüter war so aufwändig und Zeit raubend, dass alle die Eröffnung der Flugbasis in Nimpo mit großer Erleichterung begrüßten. Die Turners haben hier noch immer ein Boot, mit dem sie mich bei meinem ersten Besuch über den See gebracht haben, aber jetzt bin ich allein und zu Fuß unterwegs. Ich muss über Steinhalden das Ufer entlangklettern und durch Sumpf und Morast waten, während mich Heckenrosen zerkratzen und Weidenzweige gegen mein Gesicht und meinen Rucksack schlagen.

Aufwärts vom Stillwater teilt sich der Fluss in mehrere gewundene Arme, die durch dunkle Zedernwälder sprudeln. Die Landschaft erinnert in ihrer grünen Düsterheit an die Werke der kanadischen Künstlerin und Schriftstellerin Emily Carr. Es ist ein Ort, wo im Sommer die Mücken plagen und im Herbst die Grizzlybären umherstreifen. Die gerippten, mächtigen Stämme der blassen Pappeln ragen ins dichte Blätterdach, und an den Ufern der sumpfigen Bäche windet sich Teufelskeule wie eine stachelige Schlangenbrut. An manchen Stellen sind noch Überreste des ehemaligen Siedlerpfads sichtbar, da er aber kaum benutzt wird, wird er auch nicht mehr erhalten. Windbruch liegt in einem wilden Durcheinander darauf verstreut, und ein Großteil der ursprünglichen Route wurde auch von den Kapricen des Flusses ausgelöscht. Der Weg endet ganz plötzlich an einer ausgewaschenen Rinne, die noch immer etwa einen Kilometer vom Ufer des Lonesome Lake entfernt ist, wo dieser den Schwemmkegel unter den Hunlen Falls überschneidet.

Der Hunlen Creek ist ein Nebenfluss des Atnarko. Er entspringt einer Bergkette, die eine im Westen gelegene Hochebene umringt, verbindet sieben Seen miteinander, und bevor er sich dem Atnarko nähert, stürzt er in einem tosenden Strom über eine dreihundert Meter hohe Felswand und landet in gischtigen Schwaden am Fuß eines steilen, zerklüfteten Cañons. Im Lauf der Jahrhunderte hat sich Gestein tonnenweise von diesem Cañon gelöst und den Atnarko eingedämmt; so ist der Lonesome Lake entstanden.