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Kai Meyer

Das Zweite Gesicht

Das zweite Gesicht
Copyright © Kai Meyer 2002
Ein E-book der MiMe books agency Michael Meller
Covergestaltung: © freierstein artwork by Mark Freier
ISBN: 978-3-944866-11-6

© Zusatzmaterial: Hanka Jobke 2011
© Vorwort: Dominik Graf 2011

Die Verwendung des Vorworts und des Anhangs erfolgt mit freundlicher Genehmigung
der Autoren und des BLITZ-Verlages. Vielen Dank!

Dieses E-Book ist in limitierter Auflage auch als Hardcover im BLITZ-Verlag erhältlich!
Weitere Informationen unter
www.blitz-verlag.de.

Inhalt

Vorwort von Dominik Graf

Das Zweite Gesicht

Anhang:

Die Entstehung des Romans

Das Zweite Gesicht – Hommage an die Phantastik der 1920er-Jahre

Vorwort

von Dominik Graf

Die Baumkronen rauschten über ihren Köpfen wie erstarrte Explosionen aus Holz.

Dieses Buch hätte längst verfilmt werden müssen – wenn auch nur irgendetwas in der deutschen Kinobranche stimmen würde. Hier ist der Stoff, der die Weimarer Republik, den Expressionismus-Wahnsinn, Sex, Unschuld, Kokain, deutsche Mythen, Schöpfer-Exzesse, Zerstörungsräusche zusammenfügt, auf einen Punkt bringt. Hitzig und tolldreist und mit einer Hauptfigur, die man im Kino lieben könnte. Solche Kraft und Leidenschaft in einem bundesdeutschen Film-Stoff ist den Trüffel-Suchern und Projekt-Entscheidern aber wohl zuviel. Der Roman liegt seit 2002 vor ihren Augen und sie heben ihn nicht auf. Phantastik boomt weltweit, im Kino, im Comic, in der Literatur, auf den deutschen Buch-Bestsellerlisten ... Phantastik ist wie eine herrliche Sucht, sie erklärt einem die Welt, und wir haben vom Kinderbuch bis zum Erwachsenen-Gothic auch in Deutschland außer Kai Meyer – der allmählich als Ausnahme-Erscheinung gesehen werden muss – noch ein paar andere gute Genre-Autoren. Aber der deutsche Film verweigert sich. Das Geld und die Hoffnung der Funktionäre fließen in bürokratisch inszenierte Event-Movies, kreuzbrave Sozial-Themen-Filmchen, die wie Deutsch-Besinnungsaufsätze erzählt sind, in unweigerlich altbackene Literaturverfilmungen, und in die Büßerhemd-Ästhetik der Berliner-Schule-Filmautoren, die sich leicht fördern lässt, weil sie wenig kostet und man sich auf den Festivals damit schmücken kann. Lediglich der Polizeithriller darf im Fernsehen ab und zu noch grandiose kleine Blüten treiben – aber das deutsche Kino will auch davon nichts wissen. Zu dem Problem befragt würden die Entscheider wahrscheinlich etwas von kommerziellen Bedenken faseln – in Wirklichkeit ist es nur eine Ausrede für ihre Ignoranz, für ihren gnadenlos schlechten Filmgeschmack und für ihre fehlende Leidenschaft zum wahren Kino.

Die Spannung von Kai Meyers Roman hält vom ersten Augenblick bis zum Ende an. Von der verstörenden Vorausblende mit irrer Flucht zu Beginn, über die Rückblende – ein Jahr zuvor –, hinein in die chronologische Erzählung, beginnend mit Chiara, die dem Begräbnis ihrer berühmten Schwester Jula in Berlin beiwohnt. Die Schwestern stammen aus Meißen – das macht sie in unseren Augen per se zerbrechlich. Chiara versucht im Folgenden, die Geheimnisse hinter dem Tod der nach Berlin vorausgegangenen Jula zu ergründen. Sie pflegte daheim ihren todkranken Vater, Jula dagegen hatte das Weite gesucht und wurde eine umjubelte Stummfilmdarstellerin. Die jüngere Schwester geht nun gewissermaßen den Weg der Älteren nach, sozusagen Brian de Palmas Sisters in überraschender, deutscher Variante. Und worauf Chiara dann in den Untiefen des 20er-Jahre-Berlins stößt, das ist ziemlich unfassbar. Aber lesen Sie selbst.

Lesen Sie die Beschreibung der wahnwitzigen Szenerie des Scheunenviertels! Von allen historischen Korrektheiten und Rücksichtnahmen unseres deutschen Film- und Literaturbetriebs befreit schildert Kai Meyer eine entfesselte Sitten-Apokalypse. Das ist herrlicher Groschenroman und Bahnhofskino! Das reiche Berlin kauft sich alles, aber wirklich alles, im armen Berlin. Und die Überlebenden einer Brandkatastrophe in den Filmstudios des durchgeknallten Regisseurs Felix Masken geistern mit ihren monströsen Narben wie die Untoten durch diese Welt. Die Filmleute sind die Schlimmsten!, sagt die zarte Nette. Man munkelt von der Sammlung eines Irren namens Khan, der weibliche Geschlechtsorgane aus Leichen herausschneiden lässt und in Gläsern aufbewahrt. Was für ein Fiebertraum. Lotte Lenya! Anita Berber! Alle die Helden und Heroinen der Weimarer Jahre sind präsent.

Was für Träume könnten wir haben, was für Filme könnten wir machen! Die Besetzungsliste wäre herrlich sich auszudenken. Chiara Mondschein – klar, zum Beispiel Hannah Herzsprung, aber es gibt ja auch so viele andere! Jula – Karoline Herfurth? Und dann Nette und Felix Masken und Konrad Sager und Henriette Hegenbarth – Was könnten wir alles heute für großartige Schauspieler für diese Rollen-Namen aufbieten: Anna Mühe und Ulrich Tukur und Jürgen Vogel und Florian Stetter und Ulrich Noethen und Edgar Selge und die tolle Henriette Confurius oder, oder , oder ...

Es ist letztlich unsere deutsche Filmtradition: von Fritz Lang und Friedrich Wilhelm Murnau bis zur Alraune von Arthur Maria Rabenalt (die hätte besser sein können) oder zum Rosen blühen auf dem Heidegrab (ein mystischer Film, der durchgängig großartig ist) oder zum exzeptionellen Geheimtipp Sukkubus von Georg Tressler und zu Alfred Vohrers lustvollen Edgar Wallace-Entgleisungen – kurz, es ist genau das Kino, das man sich heute in Blogs und Retros, allgemein in Deutschland herbeiruft und herbeisehnt, das die Funktionäre abwürgen. Sie sind auf diesem Ohr komplett taub (auch wenn ihre Töchter zu Hause Kai-Meyer-Romane en gros verschlingen), die Filmhochschüler ducken sich unter den Stoffpräferenzen der Apparatschiks. Die spezifisch deutsche Filmtradition, die hier moderne Enkel finden könnte, wird ausgetrocknet.

Ok. Das Zweite Gesicht, Göttin der Wüste, Arkadien ... – lasst uns dann eben von den Filmen nach Kai Meyers Stoffen träumen! Wenn uns der Blick der Filmförderungs-Medusa versteinern lässt, dann visionieren wir am besten unter der Maske wie unter einer Grabplatte weiter. Erträumen wir uns doch zum Beispiel eine deutsche Horror- und Phantastikfilmwelle! Teutonenträume sozusagen – allesamt gedreht im Wende-geleerten Brandenburger Osten, im wundervollen Märchen-Thüringen (wie die Italowestern in Spaniens Wüstenregionen damals). Träumen wir davon, das 2er-Jahre-Berlin aus dem Zweiten Gesicht in NRW-Studio-Kulissen (NRW hat mehr Geld zu vergeben als die unglückselige Berliner Filmförderung) digital wieder zu errichten. Und vielleicht sollte die teutonische Welle auch auf den schwarzen Vulkansteinen der deutschen Urlauber-Fantasy-Insel Lanzarote gedreht werden? Träumen wir davon, dass ein kleiner deutscher Tsunami billiger und teurerer Machart zehn Jahre lang die Filmwelt in Atem halten könnte. Alles – oder die meisten – Stoffe von Kai Meyer. Und die Welt würde staunen, wie die Deutschen zurückfinden zu dem, wovon sie immer viel verstanden: vom Grauen, von den falschen Tönen, hinter denen sich in der Summe die Wahrheit verbirgt, vom Irrsinn, von der Katastrophe.

Der deutsche Expressionismus hat in der Filmgeschichte ein paar Kinder gezeugt, darunter vor allem den italienischen Giallo der 70er-Jahre, vom Schlitzer-Thriller bis zum Kannibalen-Movie, vom stilistisch würdevollen Großmeister Mario Bava bis zum wilden Dichter Lucio Fulci. Alles sozusagen Fritz Langs wilde Erben. Denn: Der Neorealismus nach dem Krieg war den Italienern nicht genug, um ihre ureigensten Dämonen, für die der Duce nur eine Karikatur war, zu bannen. Die Wirklichkeit reicht eben nicht aus zur Bewältigung des real existierenden Grauens. Auch heute bei uns in Euroland nicht. Irgendwohin muss der Albtraum der Gegenwart sublimiert werden.

Und so wütet in diesen Seiten des Romans Das Zweite Gesicht unter der Oberfläche auch der Horror der deutschen Wende-Neunziger: Man denkt unwillkürlich an die Fackel-Feiereien der BRD-Politiker und ihrer nichtsahnenden Untertanen 1990, man denkt an bald darauf faulende statt blühende Ost-Landschaften, an den Sieg des Westens über die versklavten „neuen Bundesländer“, an die Raubzüge des Kapitalismus als Herren-Ritual, an die Vernichtungsorgie der Birgit-Breuel-Treuhand an der DDR-Industrie (nachdem die Herren Rohwedder und Herrhausen aus dem Weg geräumt waren, weil sie Anderes, Faireres mit dem Osten im Sinn gehabt hatten) – kurz, es bietet sich einem vor dem inneren Auge durchaus das Bild eines grauenerregenden Vergleichs-Szenarios für die deutschen Jubel-90er, äquivalent zu dem, was Kai Meyer hier über die 20er halluziniert Nach der Wende herrschte gesamtdeutscher Feier-Terror, Berlin außer Rand und Band, Love Parade every day, hilflose oder korrupte Politik stand mit den Händen in den Taschen daneben. Das deutsche Fernsehen verkam in den 90ern zum Privatsender-Zuhälter- und Huren-Markt. Promiskuitive germanische Berlusconiererei allenthalben in den Etagen der Fernsehdirektoren. Die Filmleute sind die Schlimmsten.

2002, als Kai Meyer das Buch schrieb, hatte die aberwitzige Euphorie bei uns schon den Dämpfer der Millionen Arbeitslosen und den Paukenschlag von Nine-Eleven zu spüren bekommen. Aber im Zweiten Gesicht tobt noch eine phantomhafte prä-faschistoide gierige Menge – sozusagen via Dreibandbillard über die Zwanziger gespielt – um das goldene Wende-Kalb. In den Ruinen der Ostberliner Fabriken vergnügten sich um die Jahrtausendwende Manager mit dem käuflichen Osteuropa.

2011 gelesen wirkt der Roman nicht viel anders als damals. Man möchte dem Albtraum der bundesdeutschen Gegenwart jetzt sowieso lieber in die Vergangenheit hinein entkommen als in eine Zukunft hinein lemmingen, wie sie Angela Merkel und ihre EU-Orchestermusiker für uns vorsehen. Und warum dann nicht fliehen in einen Kai Meyer’schen deutschen Albtraum der Weimarer Republik der Vor-Dunkelheit? Eben. Nur das deutsche Kino verdämmert seit einem Jahrzehnt konsequent seine besten Chancen in wohl verordneter Mediokrität. Vielleicht kommen sie nicht wieder. Aber träumen dürfen wir ja noch ...

Herbst 2011

Schaust du mich an aus dem Kristall
Mit deiner Augen Nebelball,
Kometen gleich, die im Verbleichen;
Mit Zügen, worin wunderlich
Zwei Seelen wie Spione sich
Umschleichen, ja, dann flüstre ich:
Phantom, du bist nicht meinesgleichen!

Annette von Droste-Hülshoff:
»Das Spiegelbild«

Prolog

Berlin 1923

 

Das Leben erwachte in ihr wie eine Gestalt im Lichtstrahl eines Filmprojektors. Und wie die Menschen auf der Leinwand, eben noch ungeboren, ohne Stimme und ohne Vergangenheit, so fühlte auch sie sich in diesem Moment, konturlos und nur von einem Gedanken bestimmt:

Ich weiß nicht, wer ich bin.

Sie fragte sich, warum ihr Haar blond war. War sie nicht immer dunkelhaarig gewesen? Dunkelbraun, von der Farbe reifer Kastanien; sie hatte sich abgewöhnt, es kastanienbraun zu nennen, denn aus irgendeinem Grund glaubten alle, das bedeute rot.

Sie lag auf dem Boden und ihre Wange ruhte inmitten der Flut ihres Haars. Erst als sie den Kopf langsam hob, wurde ihr bewusst, dass er wehtat. Ihr war schwindelig.

Da war noch etwas, an das sie sich erinnerte. Ihr Name.

Chiara Mondschein.

Sie registrierte ihn, wie ein Fremder ihn registriert hätte, und sie wunderte sich, wie extravagant er klang. Chiara Mondschein. Kein schlechter Name.

Sie setzte sich auf, von einer erneuten Schwindelattacke geplagt, und blickte sich im Raum um. Sie wusste nicht, wie sie hergekommen war. Was vorher geschehen war. Und wer ihr Haar blond gefärbt hatte. Oder hatte sie selbst das getan? Es war kein hübsches Blond, kein Gedanke an Gold, eher weiß und ziemlich spröde. Als hätte es sehr schnell gehen müssen.

Die Wände des Raums waren kahl. Es gab keine Fenster, nur eine stabile Tür, und die war geschlossen. Chiara spürte, dass der kalte Luftzug, der sie geweckt hatte, durch den Spalt unter dem Eingang hereinwehte, über das Linoleum strich und ihre Hände erreichte, auf die sie sich stützen musste, um nicht nach hinten zu fallen.

Durch das Schlüsselloch sah sie Licht, heller als bei ihr im Zimmer. An der Decke dämmerte eine Lampe; der Schirm hatte das Weiß eines Brautkleids, das durch zu viele Hände gegangen war. An noch etwas erinnerte sie dieses Grau, das Weiß sein wollte: an die Leinwände schmuddeliger Vorstadtkinos, Welten entfernt vom Glanz der großen Filmpaläste.

Der Gedanke hatte etwas Beruhigendes. Ihre Vergangenheit war nicht vollkommen ausgelöscht, sie konnte Teile davon spüren wie etwas, das sich nur knapp außerhalb ihrer Reichweite befand. Vielleicht verspürte sie deshalb keine Panik. Unruhe, gewiss, aber keine Panik. Womöglich war sie noch viel zu benommen. Wenn die Leere in ihrem Gedächtnis sie nicht in den Wahnsinn trieb, dann sicherlich der Kopfschmerz.

Sie rappelte sich hoch, gegen besseres Wissen. Sie fühlte, wie ihre Knie einknickten, spürte aber nicht mehr den Schmerz, als sie am Boden aufschlug.

Als sie erneut die Augen öffnete, war sie nicht mehr allein im Zimmer. Jemand hatte sie an den Schultern gepackt und schüttelte sie. Ihre Wange brannte. Was direkt vor ihr war, sah sie unscharf, verschwommen. Nur das Entfernte war klar, die offene Tür und der leere Korridor dahinter. Ihre Augen ahmten ihre Erinnerung nach: Das Ferne war erkennbar, aber das, was hätte nah sein müssen, die jüngste Vergangenheit verschwamm im Nebel, zerfaserte.

»Chiara!«

Die Stimme eines Mannes.

»Chiara, wir haben keine Zeit. Wir müssen von hier verschwinden!«

Sie blinzelte, löste schwerfällig ihren Blick von der offenen Tür und versuchte, den Mann anzusehen. Aber er war nur eine Silhouette, jemand, der über sie gebeugt war und an ihr zerrte.

»Wer sind Sie?« Dabei hätte die Frage doch lauten müssen: Wer bin ich?

Er stutzte, als hätte sie den Gedanken tatsächlich ausgesprochen. Ohne sein Gesicht zu sehen, spürte sie seine Verwirrung. Und dann seine Wut. »Das hab ich befürchtet. Verdammt noch mal!«

Der Boden sackte unter ihr fort, aber dann war da der Mann, der sie hielt, und sie stand wieder auf ihren Füßen, schwankend, aber nicht mehr in Gefahr, zusammenzubrechen.

Hinaus aus der Tür, den hellen Korridor hinunter.

»Sie erinnern sich an gar nichts, oder?«

Sie bewegte die Lippen und etwas musste sie wohl gesagt haben, auch wenn sie selbst sich nicht hören konnte. Der Mann erwiderte etwas, aber auch das drang nicht zu ihr durch.

Aus der Helligkeit neben ihr schälten sich Körper mit schlingernden Armen und verzerrten Schädeln, wuchsen mal in die Höhe, mal in die Breite, schienen nach ihr zu greifen, ohne sie zu berühren. Erst nach einer Weile erkannte Chiara, dass es ihre Schatten an den Wänden waren.

»Wo sind wir?« Das war ihre eigene Stimme. Meine Stimme.

»Noch lange nicht in Sicherheit.«

Sie sah ihn jetzt ein wenig deutlicher, obwohl er noch immer so schrecklich nah bei ihr war, sein Gesicht neben dem ihren, den Arm stützend um ihren Oberkörper gelegt. Er trug einen Mantel und war unrasiert, sein Haar klebte wirr an den Schläfen. Sie fragte sich, ob er so schwitzte, weil er etwas sehr Anstrengendes getan hatte, um sie hier rauszuholen. Das er für sie getan hatte. Und sie kannte nicht einmal seinen Namen.

»Vorsicht!« Dann riss er sie auch schon beiseite, bevor sie über das helle Bündel am Boden stolpern konnte.

»Das war ein Mensch«, flüsterte sie kraftlos.

»Ja.«

»Haben Sie ihn getötet?« Wie selbstverständlich das klang, wie etwas, das sie auswendig gelernt hatte! Das hatte sie wohl oft getan, Worte auswendig gelernt.

»Sie ist nicht tot«, sagte er nach einem Augenblick, der ihr ewig erschien.

Also war es eine Frau. Eine Frau in heller Kleidung, die auf einem Korridor im Nirgendwo lag. Alles war so irreal wie der Weg durch eine Filmkulisse.

Der Mann schob sie durch eine Öffnung.

»Das ist keine Tür«, sagte sie benommen.

»Nein. Natürlich nicht.«

Sie musste klettern, über einen Mauervorsprung.

»Ein Fenster«, flüsterte sie.

»Richtig. Halten Sie sich fest ... ja, genau so.«

Unter ihren Füßen schepperte es metallisch. Eine Feuerleiter. All diese Stufen hinunter, im Zickzack an einer Hauswand entlang. Ihr war kalt und es war dunkel. Der Himmel über ihnen war pechschwarz, sie sah deutlich ein paar Sterne. Sie konnte den Großen Wagen erkennen, aber noch immer nicht das Gesicht des Mannes neben ihr. Sie fror ganz erbärmlich, aber das lag nicht nur an der Witterung; sie fror vor Müdigkeit, vor Schwäche. Sie wollte schlafen, endlich wieder schlafen. Er hatte kein Recht, sie durch diese Kälte zu zerren und zu schieben.

»Ich bin Chiara Mondschein«, sagte sie, weil sie sich gerade daran erinnerte.

Er sagte nichts.

»Mondschein«, wiederholte sie.

»Ja.«

»Kenne ich Sie?«

»Ja.«

»Woher?«

»Das erklär ich Ihnen später. Bis dahin ist es Ihnen vielleicht selbst schon wieder eingefallen.«

Er drängte sie die Treppe hinunter, und sie wagte nicht stehen zu bleiben, um einen Blick in sein Gesicht zu werfen. Lief einfach weiter, bis er sie abermals warnte, an der Schulter zurückhielt und dann langsamer von der letzten Stufe auf harten Steinboden führte.

»Wir sind unten«, sagte er. »Laufen Sie nach links.«

Sie hatte keine Ahnung, was mit ihr geschehen war, aber sie erinnerte sich sehr wohl, wo links war. Sie lief los, wie er es verlangt hatte. Um sie herum nichts als Dunkelheit und als sie auch darin Gestalten zu sehen glaubte, wurde ihr schlagartig bewusst, dass dies nicht mehr ihre Schatten sein konnten: Ohne Licht keine Schatten. Kolossale Gestalten, die sie beobachteten, lang und dürr und verdreht, mit Gliedern wie aus Ästen. Kreidehände, Kreidefinger; Kinder hatten sie an die Wände gemalt. Es mussten Kinder gewesen sein, auch wenn all diesen Figuren etwas Wildes, Heidnisches anhaftete.

Um eine Ecke, eine Straße entlang, jetzt wieder Lichter. Leere Schaufenster, die darauf zu warten schienen, dass jemand von draußen hereintrat und sich zum Verkauf anbot. In einem eine einzelne Schaufensterpuppe, die zum Leben erwachte, als Chiara vorüberlief – ihr eigenes Spiegelbild. An das blonde Haar musste sie sich erst gewöhnen. Besser noch, es dunkel färben. So schnell wie möglich wieder sie selbst sein.

Der Mann war zurückgeblieben, aber als sie sich jetzt nach ihm umschaute und dabei für eine Sekunde langsamer wurde, prallte er gegen sie und fast wären beide gestürzt. Die Lichtreflexe auf dem Kopfsteinpflaster sprangen ihr entgegen, aber der Mann riss sie zurück und hielt sie auf den Beinen.

»Ihren Namen«, brachte sie atemlos hervor.

»Sager.«

»Sollte ich mich ... daran erinnern?«

»Konrad Sager. Nein, Sie kennen meinen Namen nicht.«

»Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr mich das beruhigt.«

»Zumindest erinnern Sie sich an Ihren eigenen.«

Sie hätte bitter aufgelacht, hätte sie die Luft dazu gehabt. »Das hier ist nicht Meißen, nicht wahr?«

»Meißen? Wie kommen Sie darauf?« Er schob sie um eine weitere Biegung und die Lichter blieben zurück.

»Da komme ich her.«

»Ja, stimmt, das habe ich gelesen.«

Gelesen? Hatte jemand eine Akte über sie angelegt? Buch geführt über ihr Leben? Welches Leben?

»Wo laufen wir hin? Was ist eigentlich passiert?«

Er blieb stehen und hielt sie mit einem Ruck fest. Ihre Bewegungen waren immer noch automatisch wie die einer Maschine. Es war nicht gut, sie aus dem Takt zu bringen.

»Hören Sie«, sagte er scharf, »ich werde Ihnen erklären, was Sie wissen müssen. Aber nicht jetzt und nicht hier. Man wird bemerken, dass Sie fort sind, vermutlich gerade in diesem Moment. Und ich werde Sie kein zweites Mal retten.«

Damit trieb er sie weiter und jetzt sagte sie nichts mehr. Endlich hatte sie sein Gesicht gesehen, im Halbdunkel und immer noch ein wenig unscharf, aber sie wusste jetzt, wie er aussah. Nicht dass sie ihn erkannte, aber das machte nichts – sie erkannte ja nicht einmal sich selbst. Alles geschah mit ihr, aber irgendwie geschah es auch mit einer anderen. Als wäre sie ihre eigene Doppelgängerin.

Immer wieder schaute er sich um, suchte nach Verfolgern. Einmal wich er einer Ansammlung düsterer Gestalten aus, den einzigen Menschen, denen sie während ihrer Flucht begegneten; sie kauerten um einen Blecheimer, aus dem ein paar kleine Flammen schlugen. Einer von ihnen fütterte das Feuer mit etwas, das wie abgeschlagene Hände aussah. Oder wie Wurzeln.

Sie rannten durch einen kleinen Park, ein ungepflegtes Dickicht an einer Straßenecke. Die Baumkronen rauschten über ihren Köpfen wie erstarrte Explosionen aus Holz.

Zu guter Letzt scheuchte er sie durch einen Hauseingang, eine Treppe hinauf und an einer unbeleuchteten Rezeption vorbei. Eines dieser Etagenhotels; sie hatte selbst einmal in einem gewohnt.

Diese Stadt ... Sie war ganz nahe daran, sich an den Namen zu erinnern.

In einem Zimmer sank sie in einen Sessel, während Sager zweimal den Schlüssel im Schloss umdrehte. Etwas fiel aus ihrer Tasche, ein Stück Papier. Sie war froh, dass es auf der Sesselkante liegen blieb, denn sie hätte nicht die Kraft aufgebracht, sich vorzubeugen und es vom Boden aufzuheben. So aber konnte sie es nehmen und auseinanderfalten. Festes Papier, ziemlich hart. Nicht dazu gedacht, gefaltet zu werden. Erst nach einem Augenblick ergaben die Buchstaben einen Sinn, formierten sich zu Worten wie ein Haufen kleiner Nägel, die jemand rasch in eine Reihe hämmerte.

Es war die Einladung zu einer Premiere. Der Titel des Films sagte ihr nichts, wohl aber einer der Stars des Abends. Darunter war das Filmplakat abgedruckt, mit zwei gezeichneten Gesichtern im Halbschatten.

Eines war ihr Gesicht. Ihr Name.

Chiara Mondschein.

Aber das war Unfug! Nicht sie war die Schauspielerin, sondern ihre Schwester ... Ja, sie erinnerte sich. Jula war nach Berlin gegangen, um Schauspielerin zu werden. Jula war fünf Jahre älter als sie.

Berlin. Dies war Berlin. Und Chiara war gekommen, um ... ja, warum eigentlich?

Sager hatte sich ihr gegenüber auf der Bettkante niedergelassen. Sein Atem rasselte. Er hatte eine Hand unter sein Hemd geschoben und kratzte sich mit hektischen Bewegungen am Oberkörper, kratzte wie ein Wahnsinniger seine Brust. Seine Fingernägel verursachten ein scharfes Rascheln, ein penetrantes Auf und Ab, so rau, als zerfetzten sie unter dem Stoff ganze Schichten von Pergament. Dabei ließ er Chiara nicht aus den Augen, kratzte und starrte sie an.

»Sie erinnern sich allmählich, stimmt’s?«

»Nicht an Sie.«

»Aber an das Gesicht auf der Einladung.«

»Darauf habe ich dunkles Haar.«

Er lächelte, ohne mit dem Kratzen aufzuhören. Ganz kurz glaubte sie, ein Aufglimmen von Schmerz in seinen Augen zu sehen. Sie schätzte ihn auf Anfang vierzig, fast zwei Jahrzehnte älter als sie selbst. Sie war vierundzwanzig. Oder war es gewesen, als sie Meißen verlassen hatte.

»Sie sind nach Berlin gekommen, um Ihre Schwester zu beerdigen«, sagte er unvermittelt.

»Jula ist tot?« Eine Frage und zugleich eine Feststellung. Jetzt, wo er es sagte, war es keine Überraschung mehr. Jula war gestorben, sie erinnerte sich. Selbstmord, hatte es geheißen. Ein Cocktail aus Kokain, Morphium, Heroin und Alkohol. Todsicher, wenn die Mischung stimmt.

»Was ist passiert?« Sie ließ die Hand mit der Einladung sinken. Samstagabend, stand darauf. Und ein Datum. »Bin ich ... ich weiß nicht, überfallen worden?«

Er hörte nicht auf, sich zu kratzen. Das Geräusch erschien ihr jetzt lauter als seine Stimme. »Julas Beerdigung liegt fast ein Jahr zurück.«

»Ein Jahr!«

Sager musterte sie aus dunklen Augen. Er war fast einen Kopf größer als sie, aber weil sie im Sessel saß und er auf der weichen Matratze, überragte sie ihn um eine Handbreit. Er trug noch immer seinen Mantel, ein fleckiges, zerschlissenes Ding, das niemals modern, aber sicherlich einmal sauber gewesen war. Wer weiß, wie lange das her war.

»Ich nenne Ihnen ein paar Namen. Vielleicht erinnern Sie sich dann an mehr.«

Sie nickte. Angesichts der Wildheit, mit der er seine Brust kratzte, würde er bald auf die Rippen stoßen. Die Laute klangen jetzt wie das Ritsch-Ratsch scharfer Messerklingen.

»Elohim von Fürstenberg«, begann er.

Sie wedelte kraftlos mit dem Stück Papier. »Der zweite Name auf der Einladung. Aber sonst ... nein.« Sie schüttelte den Kopf.

»Ursi van der Heden. Torben Grapow.«

Nein, dachte sie. Oder?

»An keinen?«

Sie ließ sich Zeit, die Namen einsickern zu lassen. Im ersten Moment waren sie nichtssagend von ihr abgeprallt, aber dann, ganz allmählich, stellte sich etwas wie eine vage Vertrautheit ein.

»Felix Masken«, sagte er mit Nachdruck. »Sie müssen sich an Masken erinnern.«

Die Bilder überschwemmten sie wie eine Flut.

Sager beugte sich vor. »Sie erinnern sich, nicht wahr?«

Ja, dachte sie, ich erinnere mich.

Er zog die Hand unter dem Hemd hervor und betrachtete emotionslos seine Finger.

Masken, dachte sie noch einmal, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Sagers Fingernägel glänzten, Halbmonde aus frischem Blut.

Zehn Monate zuvor

 

Eins

Berlin 1922

Die Beerdigung war zu Ende, aber noch immer standen alle am offenen Grab. Standen da und starrten, aber niemand weinte um die Tote.

Chiara hielt sich im Hintergrund. Auf dem Friedhof drängten sich Hunderte von Menschen. Tausend oder zweitausend mehr warteten draußen vor dem Tor, im Zaum gehalten von Sicherheitsleuten, die Gott weiß wer bezahlte. Felix Masken vielleicht, Julas Entdecker und Förderer.

Sie hatte ihn vorhin am Grab gesehen, zwischen all den anderen bekannten Gesichtern, deren Namen sie vergessen hatte; und jenen Gesichtern, die beinahe niemand erkannte, die aber wie zum Ausgleich berühmte Namen trugen: Produzenten, Kameraleute und Regisseure, die mit Jula gearbeitet hatten. Einer war ihr aufgefallen, Fritz Lang, ein großer, schlanker Mann mit Monokel. Sie hatte einen oder zwei seiner Filme gesehen. Sein Bild tauchte ab und an als Karikatur in den Zeitungen auf, wenn es um Klatsch und Tratsch aus der Filmstadt Berlin ging. In Meißen hatten sich nur wenige dafür interessiert, in der Provinz hatte man andere Sorgen.

Jemand spielte Geige, aber zwischen all den Menschen konnte sie den Musiker nicht sehen. Eine traurige Melodie, die Jula vermutlich gehasst hätte.

Aber was wusste Chiara schon? Sie hatte Jula in den vergangenen sieben Jahre kein einziges Mal gesehen, seit ihre ältere Schwester Meißen den Rücken gekehrt hatte und nach Berlin gegangen war. Ihr Vater hatte es auf den schlechten Einfluss einiger Leute geschoben, denen sie in den Wochen zuvor begegnet war. Aber Chiara war sich dessen nicht so sicher. Jula war aus der Enge ihrer Heimat geflohen, weil sie es dort nicht mehr ausgehalten hatte. Vielleicht auch, weil sie in einem Alter gewesen war, in dem man solche Entscheidungen eben trifft.

Jula war damals zweiundzwanzig gewesen, Chiara siebzehn. Und während Jula berühmt wurde – und vielleicht sogar Gefallen an traurigen Melodien gefunden hatte, wer weiß –, war Chiara daheimgeblieben, hatte für ihren Vater gekocht, sich dafür gehasst, ihn aber letztlich nur umso mehr geliebt. Ihr war keine andere Wahl geblieben, als ihm in der Werkstatt im Hinterhaus zu helfen, in seiner Manufaktur für Schreibblocks, Rechnungsbücher und Durchschreibebücher. Kein lukratives Geschäft, gewiss nicht, aber eines, bei dem man, wie er sagte, seine Ruhe hatte.

War Chiara deshalb neidisch auf Jula? Nicht, wenn sie ihren eigenen Beteuerungen Glauben schenkte. Und dennoch: Sie war wütend, dass ihre Schwester sie mit dem Vater und der monotonen Arbeit alleinließ und stattdessen den Luxus Berlins genoss. An manchen Tagen war Chiara verbittert gewesen, an anderen wütend, und es hatte Momente gegeben, in denen sie sich von Jula um ihr Leben betrogen gefühlt hatte. Doch dann waren da auch Tage, an denen sie wusste, dass sie das Richtige getan hatte, als sie bei ihrem Vater blieb. Sie liebte ihn, liebte das kleinstädtische Meißen mit all den Menschen, die sie seit ihrer Kindheit kannte. Sie fühlte sich geborgen an den Orten, die sich nie verändert hatten und die sie dann und wann besuchen konnte, um sich wieder so behütet und glücklich zu fühlen wie einst, als ihre Familie noch beisammen und das Leben sorglos gewesen war.

Die Mutter der Mädchen war gestorben, als Chiara vier war. Sie konnte sich kaum an sie erinnern. Eine Italienerin, Opernsängerin am Meißener Theater, die aus Liebe zu einem Manufakteur für Schreibblocks, Rechnungsbücher und Durchschreibebücher ihre Karriere aufgegeben hatte. Chiara hatte sich schon als Kind gefragt, was für eine Art von Karriere es wohl gewesen war, vor dem Meißener Publikum Arien zu singen.

Als Jula fortging, hatte sie mit ihrem Vater gebrochen. Verbittert hatte er Chiara erklärt, von nun an sei Jula für ihn tot, er wolle nichts mehr von ihr wissen, und tatsächlich hatte er nie wieder ein Wort über sie verloren. Doch als ihn vor vier Tagen die Nachricht von Julas Tod erreicht hatte, hatte er sich in seinen Sessel vor dem Ofen gesetzt, eine letzte Pfeife geraucht, die Augen geschlossen und war gestorben. Einfach so.

Chiara war nicht hier, weil sie um Jula trauerte. Es gab Formalitäten, die sie als einzige Verwandte zu erledigen hatte. Danach würde sie nach Hause fahren, die Wohnung und die Werkstatt im Hinterhaus verkaufen und mit dem Geld, das sie dafür bekam, ein neues Leben beginnen. Wie das aussehen sollte? Sie hatte nicht die geringste Ahnung. Sie war sich nicht einmal im Klaren darüber, ob sie in Meißen leben wollte. Sicher war, sie wollte in keine Großstadt ziehen. Aber konnte sie dann nicht gleich in Meißen bleiben? Warum sich der Ungewissheit einer anderen Provinzstadt, fremden Menschen und neuen Beziehungen aussetzen?

Sie wollte Veränderungen, sie sehnte sich danach, aber sie wollte sie nicht um jeden Preis. Sie hatte Freunde gehabt, Geliebte, aber das waren Spielereien gewesen, nichts, in das sie Hoffnungen gesetzt hatte. Gab es in Meißen für sie eine Chance, dass sich daran etwas änderte? Vermutlich nicht. Hier in Berlin, ja, hier mochte es Männer geben, die interessant waren, die sie faszinieren und amüsieren konnten. Aber in Meißen? In Meißen galt jeder bessere Angestellte aus der Porzellanmanufaktur als gute Partie.

Sie musste dort weg. Ganz gleich, wohin; egal, ob sie es später bereute. Aber Berlin? Nein, das war keine Stadt für sie, kein Ort, an dem sie ihr Leben verbringen wollte.

Die Melodie machte sie schwermütig, mehr noch als all diese Menschen in Schwarz, mehr noch als die Gewissheit, dass die Tote im Sarg ihre ältere Schwester war. Sie hatten sie ihr gezeigt, gestern Nachmittag im Leichenschauhaus, und es gab keinen Zweifel, dass es Jula war. Als hätten sie dafür Chiaras Bestätigung gebraucht. Sie hätten jeden fragen können, jedes junge Mädchen in den Schlangen vor den Filmtheatern, jeden Burschen an irgendeiner Straßenecke. Sie alle hatten Jula gekannt.

Chiara hatte die Filme angeschaut, zumindest jene, die nach Meißen kamen, und sie hatte sich gefragt, wie dieses Gesicht dort oben auf der Leinwand, fünf mal fünf Meter groß und von geradezu überirdischer Schönheit, ihre eigene Schwester sein konnte. Das dort oben waren Kalifentöchter, Prinzessinnen, gefallene Mädchen oder Verbrecherbräute. Die Jula jedenfalls, die Chiara gekannt hatte, war das gewiss nicht. Nicht das Mädchen, mit dem sie ein Zimmer geteilt hatte, dem sie von ihrer ersten Menstruation und ihrer ersten großen Liebe erzählt hatte. Nicht die Jula, die an den Nägeln kaute oder sich Pickel auf der Stirn ausdrückte.

Morphium, Kokain, Heroin und Alkohol. Was hatte Jula gedacht, in ihren letzten Minuten? Was hatte sie gesehen? Noch größeren Ruhm oder das Gegenteil?

Chiara wandte sich ab und wollte zum Ausgang gehen, als sie die Frau bemerkte, die sie von der anderen Seite des Kieswegs aus anstarrte. Sie trug ein dunkles Kostüm, war wohl einiges über fünfzig und hatte ihre Lippen mit einem Rot nachgezogen, das auf der Leinwand vermutlich schwarz ausgesehen hätte. Sie ist keine Schauspielerin, dachte Chiara, sie bewegt sich nicht wie die anderen. Kurz zuvor hatte sie Asta Nielsen gesehen, ein wenig später Pola Negri; diese Frauen schwebten über den Friedhof wie Geister verstorbener Königinnen, getragen von ihrer eigenen Aura der Unnahbarkeit. Die Frau auf dem Kiesweg war anders, keine Schönheit, und von Schweben konnte keine Rede sein.

Chiara ging an ihr vorbei Richtung Ausgang, in der Hoffnung, schnell genug im Strom der Besucher unterzutauchen, bevor die Frau sie ansprechen konnte.

»Entschuldigen Sie.« Eine Stimme in ihrem Rücken, rau von zu vielen Zigaretten. Chiara blieb stehen, ohne sich umzudrehen. »Sie sind Julas Schwester, nicht wahr? Chiara Mondschein.«

»So?« Sie drehte sich um und fühlte sich vom entwaffnenden Lächeln der Frau überrumpelt.

»Henriette Hegenbarth«, stellte die Frau sich vor und streckte ihr die Hand entgegen.

»Henriette, für Sie.«

»Mondschein«, gab sie zurück und ließ die Hand los, kaum dass sie sie berührt hatte. »Frau Mondschein, für Sie.«

»Du liebe Güte, ich will Ihnen nicht lästig fallen. Wirklich nicht.«

»Meine Bahn fährt in ein paar Minuten.«

»Ich will Sie nicht lange aufhalten, Frau Mondschein.«

»Was kann ich für Sie tun?«

Henriette strahlte sie an. »Sie wollen mit all dem hier nichts zu tun haben, oder? Das kann ich verstehen.«

»Nein, können Sie nicht. Sonst wären Sie nicht freiwillig hier.«

Das Lächeln kühlte um ein paar Grad ab, wohl eher vor Erstaunen als vor Ärger. »Sie sehen nicht nur aus wie Ihre Schwester, Sie sind auch genauso geschickt wie sie darin, andere abzukanzeln.«

Wenn sie eines ganz gewiss nicht wollte, dann so zu sein wie Jula. »Tut mir leid. Aber ich bin wirklich in Eile.« Wurden Lügen durch ihre Wiederholung wahrer?

»Die Ähnlichkeit zwischen Ihnen beiden ist frappierend. Wirklich erstaunlich. Dabei sind Sie doch um einiges jünger, soweit ich weiß. Fünf Jahre, glaube ich.«

»Sind Sie eine Verehrerin meiner Schwester?«

Die Augen der Frau blitzten. »Wer ist das nicht?« Aber Chiara vermochte nicht zu sagen, ob die Worte sarkastisch oder aufrichtig gemeint waren. »Ich arbeite für die Berliner Illustrierte. Das ist eine große ...«

»Illustrierte. Ich weiß.«

Ein verhaltenes Lächeln. »Ja, natürlich. Tut mir leid. Ich bin das, was man landläufig eine Klatschreporterin nennt. Gesellschaftskolumnistin, heißt das auf Einladungen. Schmeißfliege, hinter vorgehaltener Hand.«

Chiara schwieg und lächelte nicht.

»Bitte«, sagte die Reporterin, »ich will nicht um den heißen Brei herumreden. Ich arbeite an einem Buch über Ihre Schwester. Kindheit, Jugend, die ersten Erfolge und so weiter.«

»Aha.«

»Ich nehme an, Sie wissen, auf was ich hinauswill.«

Chiara wandte sich ab und ging. »Auf Wiedersehen. War schön, Sie kennenzulernen.«

Die Kolumnistin lief auf kurzen Beinen hinter ihr her. »Bitte, Frau Mondschein ... Nun lassen Sie mich doch nicht einfach so stehen.«

»Sagen Sie bloß, daran sind Sie nicht gewöhnt?«

»Um ehrlich zu sein, nein.«

»Ich bin kein Star, Frau ...«

»Hegenbarth ... Henriette.«

»Frau Hegenbarth, richtig. Ich bin nicht darauf angewiesen, in Ihrer Kolumne aufzutauchen. Und ganz sicher nicht in Ihrem Buch.«

»Aber das werden Sie so oder so.«

»Ach ja?«

»Jula hat viel von Ihnen gesprochen.« Chiara blieb abrupt stehen. »Jula hat mit Ihnen über mich gesprochen?«

»Natürlich. Und über Ihren Vater. Mein Beileid, übrigens. Ich habe von seinem Tod gehört.«

»Sie hat Ihnen von mir erzählt?«

»Warum wundert Sie das so?«

»Auf Wiedersehen.« Chiara ging weiter, diesmal sehr viel hastiger. Jula hatte ihr in sieben Jahren nicht einen Brief geschrieben, geschweige denn einen Besuch abgestattet oder sie nach Berlin eingeladen. Und nun sollte sie einer Wildfremden von ihr erzählt haben?

Wildfremd für dich, dachte sie. Aber vielleicht hat Jula sie gut gekannt. Vielleicht war diese Henriette Julas Freundin. Oder zumindest so etwas wie eine Vertraute.

»Ich habe vor über einem Jahr begonnen, Gespräche mit Ihrer Schwester zu führen.« Die Kolumnistin war ihr wieder dicht auf den Fersen. »Glauben Sie mir, ich meine es ernst mit diesem Buch – jetzt noch mehr als vorher. Ich will über die wahre Jula schreiben, nicht dieses Leinwandgesicht, das jeder aus dem Kino kennt. Wer war sie wirklich? Was ging in ihrem Kopf vor? Und warum hat sie es nicht gewagt, Ihnen und Ihrem Vater einen Brief zu schreiben?«

Chiara wirbelte herum und genoss einen Herzschlag lang das Erschrecken in den Zügen der konsternierten Reporterin. »Ich denke, dass Sie das einen Dreck angeht.«

»Aber ich kenne die Antwort. Kennen Sie sie auch?«

Der Zug der Trauergäste riss nicht ab. Obwohl sich jetzt Dutzende den Weg entlang zum Ausgang schoben, schien der Pulk um das Grab nicht kleiner zu werden. Die Geigenmelodie schwebte über ihren Köpfen und für einen Augenblick fragte sich Chiara, ob die anderen sie überhaupt hörten.

»Ich kann Ihnen nicht viel über meine Schwester erzählen. Wir hatten seit Jahren keinen Kontakt – das war vermutlich ganz gut so, weil ich ihr sonst den Hals umgedreht hätte und sie schon früher hier gelandet wäre.« Sie war überrascht über ihre eigenen Worte. Aber es war die Wahrheit, in gewisser Weise. Mal sehen, ob dieses penetrante Frauenzimmer damit umgehen konnte. Wenn nicht, hol sie der Teufel. Wenn doch – dasselbe!

»Nur ein Interview«, sagte die Kolumnistin bedächtig. »Sie entscheiden, was Sie erzählen. Kleinigkeiten aus Ihrer Kindheit, egal was. Dann werde ich Sie nicht weiter bedrängen.«

»Das werden Sie so oder so nicht. Ich reise morgen ab.«

»Wir könnten uns heute Abend treffen.«

Einen Moment lang drohte sie schwach zu werden. Die Aussicht auf ein wenig Gesellschaft war besser, als allein in einem Pensionszimmer zu sitzen und den Ameisen bei ihrer Arbeit zwischen den Dielenbrettern zuzuschauen.

»Nein«, sagte sie schließlich. »Endgültig.«

Die Kolumnistin atmete tief durch, aber sie bohrte nicht weiter. Stattdessen zog sie ein Kärtchen aus ihrer Jackentasche, legte es auf einen Grabstein und kritzelte ein paar Zahlen darauf. »Meine Telefonnummer in der Redaktion«, sagte sie, als sie Chiara die Karte reichte. »Die zweite ist von mir zu Hause. Rufen Sie an, wenn Sie sich in Berlin langweilen – oder einfach jemanden zum Reden brauchen. Immerhin war sie Ihre Schwester.«

Damit trat sie an Chiara vorbei, nickte ihr freundlich zu und ließ sie stehen.

***

Vor dem Friedhof wartete ein Mann. Lässig lehnte er am Kotflügel eines dunklen Automobils. Offenbar wartete er auf sie. Als sie durch das Tor kam, trat er auf sie zu.

»Chiara Mondschein?«

Sie nickte.

»Mein Name ist Felix Masken.« Mit einem Lächeln, das bescheiden wirken sollte, fügte er hinzu: »Ich habe Ihre Schwester gekannt.«

»Ich weiß.«

Das schien ihn zu amüsieren. »Sie sind fremd in der Stadt. Darf ich Sie in Ihr Hotel bringen?«

Als er lächelte, füllte das Dämmerlicht seine Züge mit Schatten.

 

Zwei

Er brachte sie nicht zum Hotel, sondern zu sich nach Hause.

»Macht es Ihnen etwas aus, wenn wir zu mir fahren? Wir könnten uns ein bisschen unterhalten«, schlug er vor, nachdem sie eingestiegen war.

Natürlich machte es ihr etwas aus, aber das sagte sie nicht. Sie war neugierig. Nicht so sehr auf ihn als vielmehr auf Julas Vergangenheit. Masken hatte ihre Schwester kurz nach ihrer Ankunft in Berlin für den Film entdeckt. Das war ein Teil von Julas Legende, die in zahllosen Zeitungsartikeln wiedergekäut worden war. Hatte er sie auch als Erstes in sein Haus gebracht? Und dann? Hatte er ihr im Austausch gegen ein paar Gefälligkeiten versprochen, sie berühmt zu machen? Jula war ihre Schwester und Chiara hielt es durchaus für möglich, dass sie sich darauf eingelassen hatte. Jula war mit dem festen Vorsatz nach Berlin gegangen, ein Star zu werden. Chiara glaubte nicht, dass sie in ihren Mitteln besonders wählerisch gewesen war. Als ihr Vater sie zum ersten Mal eine Meisterin der Intrige nannte, hatte Jula noch Zöpfe getragen. Chiara war oft, aber längst nicht immer die Leidtragende gewesen.

Sie hatte Masken noch keine Antwort gegeben, als er sich schließlich räusperte.

Chiara ließ ihm keine Gelegenheit, etwas zu sagen. »Was wollen Sie von mir?«, fragte sie knapp.

Er hob missbilligend eine Augenbraue, aber das war ihr egal.

»Was habe ich Ihnen getan, dass Sie so misstrauisch sind?«

Ja, dachte sie, was eigentlich? Äußerlich war er nicht unangenehm, wenngleich sie die Narbe auf seiner Wange ein wenig martialisch fand. Vermutlich ein Erinnerungsstück an die schlagende Verbindung seiner Studentenjahre. Sein dunkles Haar war zurückgekämmt und an den Schläfen ergraut. Von anderen Filmleuten in Berlin unterschied er sich durch eine prätentiöse Aura des Kulturellen – das hatte sie zumindest in einer Illustrierten gelesen, als sie vor ein paar Monaten einmal mehr auf einen Artikel über Jula gestoßen war. Sie vermochte nicht zu sagen, ob ihr erster Eindruck dieses Bild von ihm bestätigte.

Sie wusste, dass Masken als Schriftsteller zu Ruhm gekommen war, bevor er in der Filmwelt Fuß gefasst hatte. Eines seiner Bücher hatte sie schon vor Jahren gelesen, eine krude, nichtsdestoweniger faszinierende Mischung aus skandalöser Kolportage und großzügiger Erotik. Sein Roman Mandragora war während des Krieges als Feldpostausgabe in den Schützengräben verteilt worden, ehe das Oberkommando große Teile der Auflage aufgrund des unrealen, ablenkenden Inhalts vernichten ließ. Maskens eitler Ausspruch Hier brannten Menschen, dort mein Buch hatte damals ein breites Echo in der Presse gefunden und seinen Namen selbst bei jenen bekannt gemacht, die mit Büchern nicht viel zu tun hatten. Zweifelhaft, ob seine ersten filmischen Versuche auch danach noch solches Lob erfahren hätten, wie sie es einige Jahre vor Kriegsbeginn getan hatten. Der Adept des Paracelsus, der 1913 als einer der ersten Filme mit spektakulären Außenaufnahmen im Ausland aufwarten konnte, war auch finanziell ein Erfolg gewesen und hatte seinen jungen Hauptdarsteller Torben Grapow zum Star gemacht. Aber erst Elmsfeuer, Julas Debüt, hatte ihn finanziell so weit saniert, dass er heute noch von den Gewinnen lebte. Hatte er sich die Regie beim Adept des Paracelsus noch mit einem anderen geteilt, so war Elmsfeuer der erste Film, für den er allein die Verantwortung übernommen hatte. Damit brachte er Julas Karriere in Gang und seine zum Höhepunkt; alles, was er danach anpackte, einschließlich dreier weiterer Filme mit Jula, geriet ihm zu Achtungserfolgen, nichts, das seine Popularität hätte steigern können. Bis zu jenem Tag, an dem das Medusa-Fiasko in die Filmgeschichte einging und durch den Maskens Name einmal mehr Berühmtheit erlangte.

»Reden Sie nicht mehr mit mir?«

Sie schrak auf. »Wie bitte?«

»Ich habe Sie gefragt, warum Sie mir gegenüber so misstrauisch sind – ohne dass wir uns überhaupt kennengelernt haben. Bislang haben Sie es vorgezogen, mir keine Antwort darauf zu geben.«

Er mochte sich nichts dabei denken, aber das Wort kennengelernt aus seinem Mund gefiel ihr nicht. Es hatte den gleichen Beigeschmack des Skandalösen wie alles, was er auf die eine oder andere Weise hervorbrachte: Bücher, Filme, sogar ein achtlos dahingesagtes Wort – Felix Masken war die Verkörperung des Anstößigen.

»Wie haben Sie Jula kennengelernt?«

Ein feines Lächeln spielte um seine Mundwinkel. »Ich habe Ihre Schwester nicht von der Straße aufgelesen, wenn es das ist, was Sie meinen.« Er war Zyniker von Gottes Gnaden oder hielt sich zumindest für einen. »Wir wurden einander vorgestellt, in einem Lokal am Tiergarten. Sie ging damals mit einem jungen Schauspieler aus. Nicht die große Liebe, eher ein Sprungbrett zu Höherem, nehme ich an. Sie erzählte mir, sie wolle zum Film, und ich habe ihr eine Chance gegeben. Das war alles.«

»Tatsächlich?«

»Was wollen Sie hören? Eine wilde Räuberpistole über Sex und Nötigung?« Mit einem jungenhaften Grinsen winkte er ab. »Dann lesen Sie eines meiner Bücher.«

»Worüber wollen Sie mit mir sprechen?«

»Über Ihre Schwester, natürlich. Ich habe angenommen, Sie hätten vielleicht das Bedürfnis danach.«

Warum nur nahm jeder an, sie habe den Drang, sich über Jula zu unterhalten? Herrgott, sie hatten sich das letzte Mal vor einer halben Ewigkeit gesehen! »Und warum sollte ich gerade Ihnen mein Herz ausschütten?«

»Weil ich Jula besser gekannt habe als die meisten anderen.«

Sie seufzte. »Um ehrlich zu sein, Herr Masken, meine Schwester interessiert mich nicht besonders. Nicht sie selbst, und nicht ihr Leben in Berlin.«

»Das glaube ich Ihnen nicht.«

»Das ist Ihr Problem«, sagte sie, »nicht meines.«

»Ich glaube, Sie sind nicht halb so hart, wie Sie sich geben.«

»Oh, Sie meinen, ich entspräche eher Ihren Ansprüchen, wenn ich mich an Ihrer männlichen Schulter ausweinen würde?«

Er lachte. »Sarkasmus steht Ihnen jedenfalls viel besser als Ihrer Schwester.«

Die Häuser blieben hinter ihnen zurück und der Wagen rumpelte durch eine triste, leere Gegend. Yorckstraße hatte auf dem letzten Schild gestanden, aber das war ein paar Minuten her, und dort hatte es Lichter und andere Automobile gegeben. Hier aber war es dunkel, die letzte Straßenlaterne hatten sie vor ein paar hundert Metern passiert. Masken war seitdem mehrfach abgebogen, in grob gepflasterte Wege, die immer wieder unbeschrankte Bahngleise kreuzten. Chiara erkannte in der Dunkelheit die Umrisse endloser Waggonketten wie Silhouetten schlafender Riesenschlangen. Das Gelände eines Güterbahnhofs. Maskens Hände schlossen sich fester um das Steuer, damit er auf der holprigen Piste nicht die Kontrolle über das Fahrzeug verlor.

»Sie wohnen unter einer Eisenbahnbrücke?«, fragte Chiara.

»Nicht ganz.«

Sie folgte seinem Blick nach rechts. Hinter einigen Waggons kam eine Mauer zum Vorschein, deren oberer Rand in engen Spiralen aus Stacheldraht abschloss. Jenseits davon war die beleuchtete Fassade eines Gebäudes zu sehen. Keine Villa, vielmehr eine Art Fabrikbau, klobig und schmucklos, ein dreistöckiges Rechteck mit hohen Fenstern, hinter denen kein Licht brannte. Auf dem Flachdach der oberen Etage hatte man etwas errichtet, das wie ein gewaltiges Gewächshaus aussah.

Masken hielt an, schloss ein Tor auf und lenkte den Wagen dann hindurch. »Die Anlage wurde 1912 für den Adepten errichtet. Vor ein paar Jahren habe ich es billig gekauft. Damals waren die Kameras noch auf Tageslicht angewiesen, deshalb hat man diese Glaskäfige gebaut. Mittlerweile ist das anders. In den neueren Ateliers in Babelsberg und Tempelhof wird nur noch bei Kunstlicht gedreht. Dies hier ist eines der letzten alten Filmhäuser in Berlin. Die meisten wurden abgerissen, als man sie nicht mehr brauchte. Aber damit hat auch die ganze Filmemacherei ein wenig von ihrem Charme verloren.«

Der Haupteingang wurde von zwei nackten Nymphen aus Stein flankiert – nichts anderes hatte sie von Masken erwartet. Darüber befand sich ein Balkon mit kunstvoll geschmiedetem Jugendstilgeländer und einer Fransenmarkise. Ein paar Sträucher und Bäume waren recht lieblos am Fuß der Mauern gepflanzt worden.

»Warum hier?«, fragte sie.

»Wie meinen Sie das?«

»Warum baut man ein Filmatelier auf einem Güterbahnhof?«

»Die meisten alten Studios sind auf Industriegeländen gebaut worden, ein paar auch mitten in der Stadt, auf den Dächern irgendwelcher Mietshäuser. Glanz und Glitter der Filmwelt ist Teil ihrer Illusionen. Die eigentliche Arbeit hat wenig Glamouröses – nicht, wenn es einem ernst damit ist.«

Er brachte den Wagen vor dem Eingang zum Stehen. Chiara hatte erwartet, dass ein Bediensteter auftauchen würde, sobald der Motor erstarb, doch niemand zeigte sich. Masken eilte um das Fahrzeug, um ihr die Beifahrertür zu öffnen, doch da stand sie schon längst im Freien und betrachtete die steinernen Nymphen.

Er lächelte. »Ich habe mich gefragt, ob es Ihnen gleich auffällt.«

»Das ist Jula.«

Masken nickte. »Ausstattungsstücke aus der Pharaonentochter. Ein grässliches Machwerk, haben Sie es gesehen? Jula war darin nicht besonders gut, wenn Sie mich fragen. Aber sie hat mir danach diese beiden Figuren geschenkt und sie machen sich hier ganz gut. Kein echter Marmor, nur bemalter Beton. Die Züge hat man natürlich Julas Gesicht nachempfunden, aber ich kann Ihnen nicht sagen, ob der Körper auch ihrer ist. Sie hat es behauptet. Aber wer vermag das schon zu beurteilen – außer vielleicht ihre drei Dutzend Liebhaber.«

»Drei Dutzend?«

Er zuckte mit den Achseln und schloss die Tür auf. »Treten Sie ein.«

Es war sonderbar, zwischen den beiden Standbildern ihrer Schwester hindurchzugehen. Sie war gezwungen, zu Julas Antlitz aufzublicken, wie es im Film endlose Sklavenkolonnen getan hatten. Die Statuen standen da wie Wächter eines heidnischen Heiligtums, und Chiara kam es vor, als beträte sie damit endgültig Julas Reich. Sie war nicht sicher, ob sie das wirklich wollte.