Brigitte M. Proksch

Spiritualität für die Gegenwart

Zeitgemäße Impulse für Christen heute

Dieser Titel ist auch als Printausgabe erhältlich

ISBN 978-3-87614-038-4

Sie finden uns im Internet unter

www.pallotti-verlag.de

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Klimaneutral gedruckt auf umweltschonend produzierten Papier – ein kleiner Beitrag zur Bewahrung unserer Schöpfung.

Printed in Germany

ISBN 978-3-87614-039-1 (eBook)

Verlag:

© Pallotti Verlag 2016
86316 Friedberg (Bay.)

Gesamtherstellung:

Friends Media Group GmbH
Zeuggasse 7–9, 86150 Augsburg
www.friends-media-group.de

Titelbild:

© iStockphoto.com / Maxiphoto

Autorin:

Brigitte M. Proksch
Theologin aus Wien (promoviert im Fach Patrologie und alte Kirchengeschichte), im interreligiösen Dialog tätig, geistliche Begleiterin und Exerzitienbegleiterin

eBook-Herstellung und Auslieferung:

HEROLD Auslieferung Service GmbH
www.herold-va.de

©  Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie oder einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Teil 1: Blicke in die Zukunft: Vinzenz Pallotti und das Zweite Vatikanische Konzil

Wer war Vinzenz Pallotti?

Ein spannungsreiches Leben

Sehnsucht nach Zusammenwirken

Pallottis große Themen: Unendlichkeit und Gemeinschaft

Zukunftsweisende Anliegen

Was geschah auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil?

Wiederentdeckung der eigenen Identität

Engstens mit der Welt verbunden

Teil 2: Wie Menschsein gelingen kann – Leben in Beziehung

Staunen über die Heiligkeit

Unheile Welt

Heilig, weil Gott heilig ist

Leben aus Gott

„Seid heilig! Seid vollkommen!“

Überwundenes Leid

Der veränderte Blick

In allen das Bild des Gekreuzigten sehen

Mitleiden erlöst: Gott leidet in den Menschen

Vergossene Tränen – vergossenes Blut

Grund zu danken

Danken lernen – das Leben annehmen

Danksagung – Eucharistie feiern

Eucharistisch leben

Authentisch sein

Der Mensch als ein „Original“

Lebendiges Bild Gottes

Frei sein

Mensch werden

Der erstgeborene Bruder

Wie Gemeinschaft entstehen kann

Mystik der Geschwisterlichkeit

Hören und gehört werden

Offene Gemeinschaften

Wer bin ich? – Sich selbst betrachten

Selbsterkenntnis – Gott in mir

Nahrung finden

Angenommen und gewollt

Gottesverwirklichung

Gewandelt werden

Wege der Transformation: kontemplativ in der Aktion

Teil 3: Einheit, Vielfalt und Sendung aus dem dreifaltigen Gott

Der dreifaltige Gott

Ursprung menschlichen Miteinanders

Gott „arbeitet zusammen“

Gott sendet Boten

Die Qualität von Beziehung

Geschichte hat eine Botschaft

Dreifaltigkeit und das Leben

Alle sind berufen

Jesus, das vollkommene Bild Gottes

Apostel sein

Die vielen Begabungen

Erneuerung der Kirche

Die Dynamik der Liebe

Gott immer und überall suchen

Wo bist Du?

Wer sucht wen?

Grenzenloser Geist

Teil 4: In der Welt von heute

Ganz in der Gegenwart

Aufmerksamkeit und Präsenz

Wie aktuell ist das Evangelium heute?

Zeichen der Zeit

Mit allen verbunden

Nahrung werden – globale Gerechtigkeit

Gottes Spuren überall – Dialog

Die Armen – Option für alle

Ausblick: Unsere Weise, Kirche zu sein

 

Vorwort

Der Lebensweg nicht weniger Menschen verläuft heute zwischen der radikalen Sehnsucht nach spirituellem, ganzheitlichem Leben, nach Lebensdeutung und Sinn einerseits und zugleich der Erfahrung eines markanten Transzendenz- und Religionsverlust andererseits. Der wachsenden Sehnsucht nach verlässlichen menschlichen Beziehungen steht das zunehmende Misslingen von Gemeinschaft entgegen. Das tiefe Verlangen nach Frieden und Geborgenheit bleibt oft unerfüllt. Das eigene Leben ist nicht selten wachsender Unsicherheit und prekären Verhältnissen ausgesetzt. Es wird durch die fehlenden Zukunftsperspektiven ausgehöhlt und gerät in Gefahr, durch Erschöpfung und Hoffnungslosigkeit gelähmt zu werden. Auch die globalen Verhältnisse wirken bedrohlich: Die nördliche und südliche Hälfte der Welt, der westliche und östliche Teil sind im Auseinanderbrechen begriffen. In dieser bedrückenden Situation sind verlässliche Ratgeber und Lebenshilfen gefragt. Christliche Spiritualität als Quelle für Lebensqualität und als Impulsgeber für eine Erneuerung der Kirche bekommt unersetzliche Bedeutung. Dieses Buch bietet auf gute verstehbare Weise Zugang zu einer Spiritualität, die sich aus dem reichen Fundus christlicher Überlieferung nährt. Es kann dem Einzelnen oder auch Gruppen auf ihrem Weg mit Einsichten und Anregungen behilflich sein und mit manchen Impulsen den Alltag oder auch Weiterbildungen begleiten.

Eine unerwartete Entdeckung bei dieser Spurensuche ist eine Persönlichkeit des 19. Jahrhunderts, die aktuelle Hinweise gibt: Vinzenz Pallotti (1795-1850). Äußerlich unscheinbar, auf den ersten Blick konventionell und traditionsverhaftet, wird bei näherer Betrachtung seine prophetische Botschaft erkennbar. In seinen Einsichten war er seiner Zeit weit voraus. Er war Seelsorger und Sozialarbeiter, Visionär und Organisator. In seinem Alltag erwies er sich als aufmerksam für den Anspruch des Augenblicks, jederzeit dankbar, wach und sensibel für alle und alles. Seine Absicht, eine universale und menschliche Gemeinschaft aufzubauen und dabei alle einzubeziehen und an der Verantwortung für das Ganze zu beteiligen, ist heute noch zukunftsweisend. Pallotti ist kontemplativ und tiefsinnig, weltzugewandt und weltliebend, überzeugt von der Heiligkeit der Welt und aller Menschen. Für die Kirche wünscht er sich Tiefe und Weite zugleich, Offenheit für ihre eigene Vielfalt und die Einheit aller Christen, ja letztlich aller Menschen. Er hält ein umfassendes Konzil für die Kirche für notwendig und ahnt sein Kommen auch schon voraus.

Manches, was Vinzenz Pallotti dachte und lebte, wurde erst im Zweiten Vatikanischen Konzil (1962 – 1965) als kirchliche Position erkannt und festgeschrieben, einiges geht darüber hinaus. Von Papst Johannes XXIII. wurde er am 20. Januar 1963 heilig gesprochen. Dass dies während des Konzils stattfand, das in der katholischen Kirche eine neue Epoche heraufführte, ist programmatisch.

Dieser Band versteht sich als eine Anregung, im Erbe Pallottis Inspiration und Ermutigung für das Leben zu finden. Vinzenz Pallotti hinterließ zahlreiche Aufzeichnungen, darunter Briefe, Gebete, Gelegenheitsschriften, eine Art Tagebuch, eine geistliche Erläuterung des ersten Teiles des christlichen Glaubensbekenntnisses, Anweisungen für seine Gefährten und die Mitglieder der von ihm zusammengeführten Gemeinschaft, der Vereinigung des katholischen Apostolats, sowie Mahnungen und Reflexionen verschiedener Art. Seine Schriften sind das Zeugnis eines Lebens, das von Gott fasziniert und ergriffen war. In diesem Sinn beinhalten sie eine existenzielle Theologie, Rede von Gott im ursprünglichen Sinn des Wortes, die sich an vielen Persönlichkeiten, darunter Augustinus, Franz von Assisi, Ignatius von Loyola und machen anderen inspiriert.

In Pallottis Lebensgeschichte und den schriftlichen Dokumenten sind jedenfalls zahlreiche spirituelle Impulse enthalten, die sowohl für Einzelne als auch für Gemeinschaften nutzbringend sein können. Seine Einsichten helfen, das Leben zu deuten, das Woher und Wohin des Daseins aus einem grundlegenden Vertrauen in Gott zu verstehen. Nimmt man sein Werk ernst, so muss man die in ihm enthaltenen Implikationen beachten. Sie weisen den Weg der katholischen Kirche, wie er im Zweiten Vatikanischen Konzil beschritten wurde und weiter in die Zukunft führen wird.

Die einzelnen Abschnitte dieses Buches sind in sich stehende, abgerundete Einheiten, die geistliche Nahrung und Orientierung geben wollen. Liest man sie im Zusammenhang, so ergeben sie eine Darstellung dessen, was Christinnen und Christen Leben gibt. Das geistliche Leben, die Dynamik von Spiritualität und Gottesbeziehung und damit auch die Qualität des Lebens im Alltag sind mit kommunizierenden Gefäßen vergleichbar: Vertieft man sich in einer Thematik, einer Praxis oder einer Angelegenheit des Lebens, so findet man in allen Bereichen in größere Tiefe. Wenn eine Fähigkeit wächst, wachsen alle anderen mit. Wenn eine Einsicht weiterhilft, findet man viele weitere Einsichten.

Idee und Auftrag zu diesem Buch stammen von der deutsch-österreichischen Provinz der Pallottiner, der Gesellschaft des katholischen Apostolats.

Teil 1
Blicke in die Zukunft: Vinzenz Pallotti und das Zweite Vatikanische Konzil

Diese Schrift verdankt ihr Entstehen einem doppelten Jubiläum: einmal 50 Jahre Zweites Vatikanisches Konzil, das 1962 eröffnet und 1965 abgeschlossen wurde und als der bedeutungsvollster Markstein der jüngeren Kirchengeschichte gilt, und zum anderen 50 Jahre Heiligsprechung Vinzenz Pallottis: Am 20. Jänner 1963 – mitten während des Konzilsgeschehens – kanonisierte der damalige Papst Johannes XXIII. einen italienischen Priester. Es war Vinzenz Pallotti, der von 1795 bis 1850 in Rom gelebt hatte. Die Wahl dieses Termins darf, ja muss als eine programmatische Aussage gedeutet werden. Sie verknüpft die Erinnerung an Vinzenz Pallotti für alle Zeiten mit dem epochalen Ereignis des Konzils und umgekehrt das Konzil mit der Persönlichkeit Vinzenz Pallottis.1

Welche Bedeutung kann das etwa 200 Jahre zurückliegende Leben eines Katholiken und Priesters in Rom für heute haben? Die Schriften Pallottis lassen bei der ersten Lektüre die Antwort nicht sofort erkennen. Sprache und Inhalt scheinen auf den ersten Blick von den heute relevanten Themen weit entfernt. Ein Schlüssel liegt im Zusammenhang zwischen den Anliegen Vinzenz Pallottis und den Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils. Papst Johannes Paul II. sagte in seiner Rede vom 12. April 1985 anlässlich des 150jährigen Bestehens der Vereinigung des katholischen Apostolates, Pallottis „Idee fand endgültigen Ausdruck in den Texten des Zweiten Vatikanischen Konzils“.2 Welche Idee war da gemeint? Obwohl die Konzilstexte an keiner Stelle ausdrücklich auf Pallotti Bezug nehmen, sind doch einige der großen Konzilsthemen bereits in seinen Schriften und in seinem Leben vorhanden, manche implizit, andere ausdrücklich. Blicken wir zunächst auf den Verlauf seines Lebens, auf dessen wesentliche Ereignisse und auf die großen Themen, die Pallotti sein Leben lang begleiteten.

Wer war Vinzenz Pallotti?

Vinzenz Pallotti (1795 – 1850) stammte aus einer religiösen Familie. Sein Vater hatte einen, später mehrere Gemischtwarenläden, verfügte also über einen gewissen Wohlstand. Pallotti erlebte seine Eltern jederzeit großzügig gegenüber Bettlern und Armen. In einer Zeit, in der es noch keinen Sozialstaat gab, war dies der einzige Weg, um der Not der Bevölkerung wenigstens etwas Abhilfe zu verschaffen. Die Stadt Rom hatte dabei um 1800 nur etwa 163.000 Einwohner und musste mit mangelnder Hygiene zurechtkommen sowie Krankheiten und Seuchen aller Art bekämpfen. Vinzenz war der dritte von zehn Geschwistern, von denen allerdings einige schon früh verstarben. Schon als Kind war er überaus hilfsbereit, als Jugendlicher bereits beliebter Mentor, Nachhilfelehrer und Schlichter im Falle von Streit und Zwistigkeiten. Er wurde Priester. Im Mai 1818 empfing er die Priesterweihe. Aufgrund seiner schlechten gesundheitlichen Verfassung konnte er nicht, wie er ursprünglich beabsichtigte, Kapuziner werden. Franz von Assisi aber blieb er zeitlebens verbunden.

Ein spannungsreiches Leben

Pallotti war eine Persönlichkeit, die große Gegensätze in sich vereinte. Es begann schon in jungen Jahren. Obwohl er sich zunächst mit dem Lernen sehr plagen musste, wurde er schließlich zu einem hervorragenden Schüler und Studenten (er deutete das als Gebetserhörung). Er war ein schlichter, bescheidener Mensch, obwohl er sich selbst als stolz bezeichnete. Für einen Priester in damaliger Zeit war er sehr gebildet, nicht nur in der Theologie und Philosophie. Er verreiste kaum und wenn, dann nicht sehr weit (so beispielsweise nach Loreto oder Osimo). Zeit seines Lebens blieb er in Rom und Umgebung. Dennoch hatte er einen Blick für die globale Dimension der Kirche und die weltweiten Nöte der Menschen. Politisch dachte er – wie auch seine Familie es tat – konservativ. In vielem aber war er überraschend innovativ und seiner Zeit weit voraus, was ihm selbst allerdings kaum bewusst wurde. Demokratie als Regierungsform blieb ihm zwar fremd, zugleich aber war ihm die Beteiligung möglichst vieler, letztlich aller an der Verantwortung in Kirche und Welt wichtig. Er konnte sich einen Papst ohne Kirchenstaat nicht vorstellen. Pallotti warpapsttreu, zugleich auch laienorientiert. Er hatte ein traditionelles, seiner Zeit entsprechendes Priesterbild, kritisierte aber auch mit scharfen Worten die zahlreichen Missstände im Klerus. Falsche Rücksichten kannte er da nicht, und er stand mit seiner Kritik keineswegs alleine da. Er konzentrierte sich auf die Stadt Rom, die er als das Herz der Kirche betrachtete, und war doch zugleich brennend an der Weltkirche in ihrer Vielfalt und ihren verschiedenen Riten interessiert. Zu Epiphanie, dem Fest der Erscheinung des Herrn am 6. Januar, das damals noch eine Oktav hatte, was bedeutet, dass es acht Tage lang gefeiert wurde, organisierte er Veranstaltungen und Gottesdienste mit den in Rom lebenden Studenten aus aller Welt. Dabei feierten sie in den unterschiedlichen katholischen Riten und den Eigenheiten ihrer Kulturen und Sprachen entsprechend. Diese Feiern der Epiphanieoktav blieben in Rom bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil in lebendiger Erinnerung. Die Vielfalt der Kirche freute und faszinierte Pallotti. Er betrachtete sie als Aufgabe und war doch zugleich ganz auf das Wachsen einer Einheit ausgerichtet. Eine Herde mit einem einzigen Hirten – das war sein Traum für die Kirche und für die ganze Menschheit. Ökumene der christlichen Kirchen kannte er noch nicht, forderte aber auf, auch Häretiker (so wurden Christen anderer Kirchen damals bezeichnet) und Muslime als die zu liebenden Nächsten zu betrachten und für sie zu beten, wie er selbst es tat. Sein priesterlicher Dienst vollzog sich innerhalb der damaligen kirchlichen Vorgaben und Strukturen, dennoch setzte er so unkonventionelle und innovative Schritte, dass er sich den Unmut vatikanischer Behörden zuzog. Die Idee zu einer umfassenden offenen apostolischen Gemeinschaft konnte er zunächst deshalb nicht in der Weise verwirklichen, wie er es erhoffte.

Seine Lebensspanne fällt in die sogenannte Sattelzeit, jene etwa fünfzig Jahre rund um die Jahrhundertwende vom 18. zum 19. Jahrhundert, die den Übergang von der frühen Neuzeit in die Moderne bezeichnet. In diesem zweiten Teil der Neuzeit trat das Neue der Epoche auch erstmals wirklich ins Bewusstsein und wurde ab da zunehmend reflektiert. Die politisch-gesellschaftlichen Umwälzungen dieser Geschichtsphase waren enorm. Als Vinzenz Pallotti gerade das Licht der Welt erblickte, tobte die Französische Revolution (1789 – 1799). Sie löste das Ancien Regime des französischen Absolutismus ab, und blieb mit den Leitmotiven Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ein Markstein der neuen Zeit. Eine Dynamik in Richtung Aufbau demokratischer Strukturen, Aufwertung des Bürgertums, Emanzipation von Autoritäten, Industrialisierung, Zunahme der Mobilität, Forschung und Fortschrittsglaube prägte zunehmend das Leben in großen Teilen Europas. Pallotti griff zwar solche Themen in seinen Schriften niemals auf und stand den politischen Veränderungen und ihren Folgen äußerst skeptisch gegenüber, hielt sie vielleicht sogar für diabolisch, wie es die Kirchenleitung damals tat. Dennoch spielen die genannten Leitbegriffe des Umbruchs in seiner Theologie eine entscheidende Rolle – wahrscheinlich, ohne dass er sich dieser Zusammenhänge je bewusst wurde.

Sehnsucht nach Zusammenwirken

Als Vinzenz Pallotti am 9. Januar 1835 eine Erleuchtung hatte, wie er es selbst beschreibt, war er fast 40 Jahre alt. Diese Inspiration, die ihm als Auftrag Gottes schien, ließ ihn die Notwendigkeit erkennen, zunächst seine Gefährten, dann aber darüber hinaus möglichst viele Menschen, Laien wie Priester, zu einer Vereinigung zusammen zu führen, um für die Reform der Kirche, die sich in einem desolaten Zustand befand, zu arbeiten. Gemeinsam sollten sie im katholischen Apostolat einer dreifachen Aufgabe folgen:

 den Glauben innerhalb der Kirche neu entfachen und vertiefen,

 in einer weltweiten Caritas Leid und Not der Menschen lindern,

 schließlich die grenzenlose Liebe Gottes allen Menschen auf der Welt weitergeben, was bedeutete, einer universalen Mission zu folgen – in der damals üblichen Sprache und Vorstellung hieß das: den katholischen Glauben auf der ganzen Welt verbreiten.

Das Zusammenwirken aller Menschen guten Willens war Pallotti dabei ein brennendes Anliegen. Er selbst war eine dynamische Persönlichkeit und arbeitete viel. Er kümmerte sich um alle und alles, was an ihn herangetragen wurde. Er half Kranken, Armen, Alten, Gefangenen, Soldaten, Studierenden und Bischöfen. Alles, was damals zur Priesterweihe versprochen und in den Jahresexerzitien stets neu betont wurde, zählte zu seinen Aufgaben. Er „las die Messe“ – wie man es dem damaligen Liturgieverständnis entsprechend ausdrückte –, stand für Gespräche und Beichte zur Verfügung, förderte verschiedene Andachten, hielt Vorträge, Exerzitien und Einkehrtage, leitete Jugendtreffen, vermittelte in Konflikten, sammelte Almosen für andere und gab auch Unterricht. Er war für keine Pfarre verantwortlich und gehörte auch zu keiner Gemeinde.

Fotos, wie später von Don Bosco und Comboni, gab es noch nicht, aber eine Totenmaske hat uns Pallottis Gesichtszüge erhalten. Von Zeitgenossen wird er so beschrieben: klein, leicht gebeugt, mager und bleich. Er hatte eine Glatze und eine hohe Stirne. Seine dunkelblauen Augen waren stechend und gütig. Er pflegte immer schnell zu gehen, war auf Sauberkeit bedacht (er bürstete auch die Talare seiner Mitbrüder), war meist sehr höflich und achtete darauf, niemandem auf die Nerven zu gehen. Sein Umgang mit anderen muss so anziehend und empathisch gewesen sein, dass Pallotti überaus beliebt wurde. Viele Menschen fühlten sich von ihm angezogen, man zollte ihm hohen Respekt. Der Andrang der Bittsteller war so groß, dass er kaum mehr Zeit zum Schlafen fand. Er wirkte in der Priesterausbildung mit und kümmerte sich um Waisenkinder. Als in Rom die Cholera wütete, half er, wo er nur konnte. Sein unermüdlicher Einsatz und die Vernachlässigung seiner ohnehin labilen Gesundheit brachten ihn immer wieder an den Rand des Zusammenbruchs. Gelegentlich musste er sich zur körperlichen und seelischen Erholung dann in die Einsiedelei Camaldoli in den Albanerbergen zurückziehen.