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Auf der ersten Seite stellt man sich vor,
mit dem ersten Satz ist schon alles geschehen;
dem ersten Satz geht das ganze Buch voraus
(Elazar Benzoëtz, Die Eselin Bileams und Kohelets Hund)

Die Väter essen saure Trauben, und den Söhnen werden
die Zähne stumpf.
(Ezechiel 18, 2)

Anne Chavez

Bis ins dritte und vierte Glied

Roman

Anne Chavez: Bis ins dritte und vierte Glied
2. Auflage
Titelgestaltung: Daniel Nachtigal unter Verwendung
eines Fotos von www.lifeofpix.com
Erschienen im CoCon-Verlag, Hanau, 2015
www.cocon-verlag.de

Anne Chavez

Bis ins dritte und vierte Glied

Teil I 1995

Der Verwirrte ist Teil der Verwirrung

 

1

Montag, 2. Oktober 1995

„Auf–wa–chen. Bitte auf–wa–chen! Herr Valentin, auf–wa–chen!“

Der sanfte Klang dieser Worte dringt an die Schwelle von Michas Bewusstsein. Träumt er oder wacht er? Noch einmal hört er die freundliche Stimme: „Auf–wa–chen!“

Er will wissen, woher die Aufforderung kommt. Doch sein Kopf schwimmt davon, und eine große schwarze Hand zieht ihn ins Dunkel zurück. Dagegen ist er machtlos. Aber die Frau gibt nicht auf.

„Herr Valentin! Hallo! Wach werden!“

Jemand tätschelt ihm kräftig die Wangen. Er blinzelt. Die Helligkeit schmerzt seinen Augen. Wieder spürt er den Backenstreich. Diesmal stärker. Seine Augen öffnen sich unwillkürlich. Sie klappen auf wie die beweglichen Lider einer Schlafpuppe. Vergeblich versucht er, den unbekannten Klang und das Bild der jungen Frau vor ihm zusammenzubringen. Er gibt auf, fällt in wolligen Nebel, eine angenehm farblose Weiche. Jetzt rüttelt und zerrt es an ihm. Wieder öffnet er die schweren Augendeckel. Vor ihm diese junge blonde Frau, die ihn unsicher anlächelt.

„Endlich, Herr Valentin.“ Sie klingt erleichtert.

Micha reckt den Kopf ein wenig hoch. Die Menschen an seinem Bett sprechen, doch er kann nicht folgen. Um ihn ein fremder Raum, er sieht das Fußende eines grellweißen Metallbettes. Es dämmert ihm: Das ist ein Krankenhaus.

Die junge Frau mit dem hübschen Gesicht hat sich über ihn gebeugt. Micha starrt in unglaublich blaue Veilchenaugen.

Als könnte sie seinen Blick nicht aushalten, wendet sie sich ab zu einem Mann und einer Frau, die wie sie ganz in Weiß gekleidet sind. Verhalten, wie zu sich selbst, sagt sie:

„Die Dosis war zu hoch. Man sieht doch, dass dieser Patient federleicht ist.“ Und zu Micha gewandt, sagt sie in gütigem Ton: „Sie befinden sich in der Frankfurter Psychiatrie. Ich bin Doktor Breisach, Ihre Stationsärztin. Setzen Sie sich bitte auf, ich möchte Sie untersuchen.“

Micha rappelt sich mühsam auf, lässt sich gehorsam in Augen und Mund leuchten, die andere Frau hilft ihm, den am Rücken offenen Klinikkittel abzustreifen. Nachdem sie ihn abgehört hat, sagt die Ärztin freundlich, aber bestimmt:

„Kommen Sie bitte gleich um zehn Uhr in die Sprechstunde, am Ende des Nebenflurs, das letzte Zimmer links.“

Dann verlassen die drei Unbekannten den Raum. Micha legt sich zurück in die Kissen.

Den Kopf zur Seite gedreht, versucht er, sich zu orientieren. Offenbar handelt es sich um ein Zweibettzimmer. Ein gemachtes Bett steht auf der gegenüberliegenden Seite. Nackte Wände, Nachtschränkchen neben den Betten, zwei Stühle, und links und rechts des Eingangs deckenhoch eingebaute Schränke mit glänzend weißen Fassaden. Alles reinweiß, unschuldig. Inmitten dieser Gesichtslosigkeit fällt das Erinnern schwer.

Gestern oder vorgestern hat man ihn hierher gebracht. Er widersetzte sich, als er gewahr wurde, dass man ihn in eine psychiatrische Klinik brachte. Als er den Schnapper des Schlosses klacken hörte, wusste er Bescheid. Er wurde laut, rüttelte an der Milchglastür, wollte kein Medikament einnehmen, mit niemandem sprechen. Der Arzt kam ihm zu nah, so dass er ihn abwehren musste. Der Mensch missverstand ihn, und im Nu waren sie in eine Rauferei, einen regelrechten Kampf verwickelt. Zu zweit überwältigten sie ihn und gaben ihm eine Spritze. Er wurde ruhig, danach kam dieser tiefe Schlaf – bis eben.

Wieso ist er ausgerechnet hier? Er durchkämmt sein Gedächtnis. Eine Ahnung schimmert auf. Es hat mit seiner Mutter zu tun. In seinem Kopf ist Watte, undurchdringliche Watte. Er ist immer noch schläfrig. Es wird ihm hoffentlich einfallen, wenn nicht, werden sie es ihm sagen.

Während es sich anfühlt, als schwebe sein Körper vom Himmel herab, ist das Wissen auf einmal da.

Er ist hier wegen seiner Mutter, dieser Idiotin. Wegen ihr in der Psychiatrie zu landen! Zwecklos sich dagegen zu wehren. Niemals, so lautete sein Schwur, niemals würde ihm das noch einmal passieren. Das eine Mal vor über zwanzig Jahren, das war verzeihlich, da war er noch jung, aber heutzutage als Vater von Ella und Partner von Aimée ist das äußerst peinlich und störend. Und alles wegen dieser verdammten Hexe! Abschalten. Wegdrücken. Den Kopf tiefer ins Kopfkissen gepresst, zieht er die Decke ans Kinn. Als das Dösen ihn gnädig übermannen will, öffnet sich die Tür und die Frau, die vorhin bei der Untersuchung neben der Ärztin stand, kommt herein.

„Denken Sie daran, Herr Valentin, in einer Dreiviertelstunde müssen Sie zur Sprechstunde bei Frau Dr. Breisach. Sie sollten sich noch frisch machen und frühstücken. Übrigens, ich bin Schwester Antje.“

Als Micha die Augen wieder schließt und sich nicht rührt, legt sie ihre Hand sacht auf seine unter der Decke verborgenen Füße.

„Ich zeige Ihnen den Frühstücksraum.“

Da er keine Anstalten macht, sich zu bewegen, spricht sie ihn noch einmal an:

„Ihre Lebenspartnerin hat gestern Abend einen Koffer mit Kleidung gebracht. Der steht im linken Schrank. Sie können mir dann den Klinikkittel zurückgeben.“

Die Schwester bleibt am Fußende seines Bettes stehen, wartet auf eine Reaktion. „Herr Valentin, soll ich Ihnen ein wenig helfen?“

„Ja, bitte“, hört er sich leise sagen.

An der Hand zieht sie ihn auf, stützt ihn unter dem Ellbogen, so dass er sich aufsetzen kann. Sie ist mollig, ihre Nähe ist ihm angenehm. Nun geht sie zum Schrank und entnimmt ihm einen Trainingsanzug und schwarze Lederpantoffeln. Mit sanfter Hand unterstützt sie ihn beim Ankleiden.

„Ich nehme an, Sie sind noch benommen. Deshalb helfe ich Ihnen. Morgen müssen Sie das allein erledigen.“

Er nickt.

Ihm ist alles recht, wie gerne würde er sich von der warmen Stimme dieser Schwester in den Schlaf lullen lassen. Ach, in die traumlose Bewusstlosigkeit wegsacken, so lange er will. Obwohl er schlapp ist und bleierne Müdigkeit auf ihm lastet, dringt das Peinliche dieser Situation zu ihm durch. Es ist beschämend, hier zu sein, in der Irrenanstalt – Patient zu sein vor dieser Frau.

Schwester Antje zeigt ihm die Station. Sie gehen den geräumigen Flur entlang, vorbei an der grünen Couch schräg gegenüber dem Stationszimmer. Während er sich fühlt, als hätte ein ganzes Team Baseballspieler auf ihn eingedroschen, versucht er, den Erklärungen zu folgen. Sie betreten kurz den Aufenthaltsraum mit dem eingeschalteten, aber stummen Fernseher. Die Böden sind blitzsauber, das Weiß der Wände kaum sichtbar hinter den großformatigen, sehr bunten und rätselhaften Bildern. „Von Patienten“, erklärt die Schwester auf Michas fragendes Kopfschütteln.

Alles ist hell erleuchtet durch künstliches Licht. Micha ist mit seinem Gleichgewicht beschäftigt. Für die schlurfenden und schleichenden Männer und Frauen, die ihm beim Rundgang begegnen, hat er nur einen flüchtigen Blick.

Im Speiseraum ist das Frühstück noch nicht abgeräumt. Als die Schwester wahrnimmt, dass ihr Patient vor der Anrichte schwerfällig auf und ab schreitet und es betrachtet wie eine Schaufensterauslage, hilft sie ihm, ein kleines Frühstück zusammenzustellen. Er setzt sich an einen runden Tisch, trinkt den Tee, der Rest bleibt unberührt. Dumpf starrt er vor sich hin.

Auf dem Weg zum Bad fährt seine Hand wie fremdgesteuert über die Bartstoppeln. Fürs Rasieren hat er heute keine Energie. Der kurze Blick in den Spiegel erschrickt ihn. Doch er schaut ein zweites Mal hin. Seine Augen liegen tief in den Höhlen, seine Wangen sind eingefallen. Er sieht aus wie ein altes, spitzgesichtiges Kind. Sein Mund wirkt wie eine salzverkrustete Wunde. An all dem ist momentan nichts zu ändern.

In der Wartenische vor den Arztzimmern fällt er kraftlos auf einen der schwarzen Ledersitze und hofft, ungestört zu bleiben. Er schreckt aus seiner Apathie auf, als die Ärztin ihn leise und ruhig auffordert einzutreten. Sie bietet ihm einen Sessel an, neben einem kleinen kastenförmigen Tisch. Als Micha bequem sitzt, wendet sie sich ihm in aufmerksamer Haltung zu.

„Herr Valentin, wissen Sie, weshalb Sie hier sind?“

Er schaut sie zunächst mit zusammengekniffenen Augen an, als sei er kurzsichtig, dann bewegt er seine Augen von ihr weg und starrt auf die linke Ecke des Schranks hinter ihr.

„Ja.“

Ein grauer Schwaden durchwabert sein Hirn, macht sein Denken stumpf. Die Ärztin wartet geduldig, gibt ihm eine kurze Frist. Dann hakt sie nach:

„Herr Valentin, sagen Sie mir bitte, weshalb sind Sie hier?“

„Ich habe getobt“, sagt er leise.

„Und warum?“ Die Ärztin spricht nun energisch, was Micha sehr forsch klingt. Er ist doch kaputt, warum nimmt man keine Rücksicht? Seine Antwort klirrt ihm in den Ohren, wie von einem anderen gesprochen.

„Meine Mutter hat mich aufgeregt.“

„Herr Valentin“, sagt die Ärztin eindringlich, rückt sich in ihrem Sessel in sein Gesichtsfeld.

„Sie haben Ihre Mutter mit dem Messer bedroht. Die Nachbarn sind ihr zu Hilfe gekommen und haben die Polizei gerufen. Wenn diese Menschen nicht so schnell zur Stelle gewesen wären, hätten Sie vielleicht einen Mord begangen.“

Micha schaut sie direkt und verwundert an.

„Ich habe nur reagiert. Sie bringt mich beinahe um den Verstand.“

Wie automatisch setzt er hinterher: „Diese Idiotin, verdammte.“

„Herr Valentin, Ihre Mutter ist dreiundsiebzig Jahre alt und Sie selbst sind ein erwachsener Mann von nahezu fünfzig. Was ist vorgefallen, dass Sie so die Kontrolle verloren haben?“ Die Stimme der Ärztin hat einen noch resoluteren Ton angenommen.

Kontrolle? Ja, er sollte sich im Griff haben. Warum nur kann er wenigstens vor dieser Frau nicht ohne Beschimpfung über seine Mutter sprechen. Micha lässt seinen geistesabwesenden Blick kurz auf ihrem Gesicht ruhen und schaut dann weg.

„In einer Stunde kommt der Richter, der muss entscheiden, ob Sie per Zwangseinweisung hier bleiben sollen, oder nicht. Wie stehen Sie dazu? Oder bleiben Sie freiwillig?“

Was ist das? Zwangseinweisung? Alarmiert richtet Micha sich in seinem Sessel auf. Das muss ein Missverständnis sein. Die Ärztin wiederholt ihre Erklärung und Frage bedächtiger und langsamer.

„Wie lange?“, ist alles, was er über die Lippen bringt.

„Das ist noch nicht abzusehen. Es wäre gut, wenn Sie freiwillig bleiben, dann brauchen wir die richterliche Einweisung nur für ein paar Wochen. Sie werden sich mit so einer Regelung besser fühlen und schneller gesund werden.“

Micha überlegt, richterliche Einweisung, ein paar Wochen, das klingt bedrohlich. Was, wenn sie ihn länger festhalten als nötig. Gestern hatten sie ihn ja schon überwältigt. Mit dieser Situation ist er überfordert, sein Kopf ist zu dumpf. Was soll er machen? Schließlich ist er in ihrer Gewalt. In der Gewalt der Klinik. Sie holen einen Richter. Ausgeliefert! Er ist ihnen ausgeliefert! Was, wenn sie ihn nie mehr raus lassen? Bevor sich Panik in ihm breit machen kann, schafft er es, sich zu beruhigen. Nein, es gibt Gesetze, die die Einweisung von Patienten regeln. Jemanden ohne Grund festzuhalten, ist verboten. Schließlich ist niemand zu Schaden gekommen. Um in seinem Innern Kraft zu mobilisieren, versucht er ein Lächeln, das er für gewinnend hält. Das Gesicht der Ärztin bleibt unbeweglich ernst, sie schaut ihn erwartungsvoll an. Natürlich, er muss antworten. Wenn nur dieser Nebel nicht in seinem Kopf wäre. Reiß dich gefälligst zusammen, schimpft er sich.

Langsam ordnen sich die Gedanken. Die Ärztin wartet geduldig. Es ist bestimmt besser, wenn er macht, was sie verlangen. Kooperation ist angesagt. Klar, das ist in jedem Fall vorteilhafter, entscheidet er.

„Ja, ich bin einverstanden“, sagt er leise, doch es klingt ihm überzeugend genug. Die Ärztin lehnt sich zurück, Micha spürt, sie ist zufrieden, das lief reibungsloser als sie angenommen hatte.

„Jetzt, wo wir das geklärt haben, überlegen Sie doch noch einmal, was vorgefallen ist.“

Es ist Micha unangenehm, sich zu erinnern, dessen ungeachtet schüttelt er mit einer heftigen Bewegung des Kopfes seinen Unwillen ab und antwortet deutlich.

„Meine Mutter und ich, wir verstehen uns nicht.“

Die Ärztin fixiert ihn. Sie platziert den Stift in die Schale auf dem Tisch und legt ihre Hände zusammen.

„Wir lassen Sie noch ein paar Tage ruhen, wir werden mit einer Gesprächstherapie beginnen, wenn die Medikamente angeschlagen haben, dann können Sie besser mitarbeiten.“

Micha nickt, ihm ist alles recht, wenn er nur bald nach Hause kann.

„Frau Doktor, wie lange muss ich bleiben?“

„Diese Frage lässt sich nicht einfach beantworten. Es wird wesentlich von Ihrer Kooperation abhängen.“ Sie klingt entschieden, ja geradezu unnahbar.

Als sie sich erhebt, stemmt der Patient sich mühsam wie ein steifer, alter Mann aus dem Sessel. Die Ärztin fasst ihn unterstützend am Arm.

„Der Richter wird bald da sein und mit Ihnen sprechen. Halten Sie sich bitte bereit. Am besten ist es, wenn Sie draußen auf dem Gang Platz nehmen.“

 

2

Donnerstag, 5. Oktober 1995

Micha wartet am Morgen vor dem Behandlungszimmer auf sein erstes Therapiegespräch. Letzte Nacht hat er tief und traumlos geschlafen. Die körperliche und seelische Abgeschlagenheit hat sich gelegt, er ist wieder eines eigenständigen Gedankens fähig. Sein Körper hat sich an das Medikament gewöhnt, das ihm vorgestern noch wie eine Strapaze vorkam.

Wartend, in sich versunken, hat er blitzartig eine Eingebung von Déjà-vu. Wie mit neuer Energie geladen, setzt er sich aufrecht hin. So hat er doch schon gesessen, vor Arzttüren in Wartezimmern, auch in der Klinik früher in Schloss Dobental. Damals, vor mehr als zwanzig Jahren, als Rita ihn verlassen hatte, war es da nicht ähnlich?

Kam er sich nicht ebenso klein vor, so schwach und unbedeutend? Ja, doch, dieses Gefühl kennt er. Und nicht nur aus Schloss Dobental.

Dort bei seinem ersten Aufenthalt hatte er Angst, wirklich verrückt zu werden. Heute fühlt er diese Angst nicht. Muss er sich ernstlich Sorgen machen um seinen Geisteszustand? Er hat mit seiner Mutter gewütet, ihr das Messer drohend entgegen gehalten. Aber hätte er sie umgebracht? Er erinnert sich an alles, obgleich es in diesige Ferne gerückt ist. Auch wenn sie nicht so laut geschrien und die Nachbarn nicht sofort gekommen wären, er wäre von allein zur Besinnung gekommen. Ganz sicher. Getötet hätte er sie nicht. Er ist doch kein Mörder. Um Himmels willen. Die Ärzte denken, dass er verwirrt ist. Verdenken kann er ihnen das bei Lage der Dinge nicht. Unkontrolliertes Verhalten hat unkontrollierbare Konsequenzen, und die muss er jetzt aushalten.

Er schaut aus dem raumhohen Fenster. Komisch, es ist nicht vergittert, fällt ihm auf. Aber es gibt keinen Griff. Ein nahezu entblätterter Baum zwischen solchen, deren Laub von hellgelb bis dunkelrot verfärbt ist. Der nackte Baum ist verrückt, so früh das Laub vollkommen abzuschütteln. Nur ein paar vereinzelte Blätter klammern sich widerspenstig an seine Zweige. Sie zittern im Wind, mal sanft, mal heftig. Das kahle Geäst steckt voller Mistelnester, das sieht hübsch aus, schadet jedoch der Pflanze. Am Stamm eines Baumes direkt am Fenster eine wulstige Vaginawunde, dort wo ein Ast herausgeschnitten wurde und sich ein Borkensaum um die Schnittstelle gebildet hat. Der mächtige Baum wollte die Wunde schließen, aber der Ast war zu groß gewesen, die Rinde reichte nicht für eine geschlossene Vernarbung.

Die schmutzigen Wattefetzen zwischen den Ästen haben die Farbe des Weltkerns, nur drum herum ist eine dünne bunte Schicht. Aber die Essenz ist dieses Haferschleimgrau. Das fällt ihm jetzt ein, denn das hat er zu seiner eigenen Verwunderung gedacht, damals, vor fünf Jahren, an dem trüben Herbsttag, nachdem er Noras Abschiedsbrief gelesen hatte und feststellte, dass sie das Kind mitgenommen hatte. Die Aussicht damals: Tristesse, Alleinsein, denn Monika, seine Geliebte, der er sich immer noch nah fühlte, war gerade mit ihrer Familie nach Hamburg gezogen. Er war wirklich mutterseelenallein. Als Abwechslung nur die ungeliebte Arbeit in der Baufirma, ab und zu ein Kinobesuch, Theater- oder Opernabende und der Jazzclub in der Kleinen Bockenheimer Straße. Er wohnte wieder in einer Garçonnière, diesmal in der Braubachstraße mit der vorbeiratternden Straßenbahn direkt unter ihm, und das Kind lebte bei Nora in Szeged.

Jäh befällt ihn dieses Gefühl von Fremdheit, das ihm in vielen Situationen seines Lebens unerwartet begegnet. Diese Fremdheit ist wie ein Schmerz in den Augen, wenn man eine Sache, eine Szene, die sich fortwährend entzieht, ganz genau betrachten will und man nicht davon lassen kann, immer wieder das Bild zu fokussieren. Er muss warten, bis sich das Gefühl von allein verzieht. Oder, denkt er, ist Fremdsein nicht wie ein Gefängnis, aus dem man sich nicht selbst befreien kann?

Micha schaut sich um. Die Einrichtung dieser Wartezone wirkt komfortabel und unverwüstlich. Eigenartigerweise erlebt er sich in dieser geschlossenen Abteilung nicht als eingesperrt. Ab und zu kann er einen Spaziergang machen, wenn auch in Begleitung. Man hat ihm angekündigt, dass er ab nächster Woche die Station allein verlassen darf. Nein, wie im Kittchen ist es hier nicht. Das stellt er sich weniger behaglich vor. Nur diese Haltestangen an den Wänden der Gänge. Die sind wohl für die Wankenden und Verirrten. Hier sorgt man gut für die, denen wegen eines unvorhergesehenen Wechselfalls im Leben das Gleichgewichtsorgan Schwindel signalisiert. Wenn der eingeschlagene Weg blockiert ist, weil sich unerwartet unüberwindbares Gestrüpp auftut, in dem man sich verfängt, wenn einem niemand die Machete reicht, um das Dickicht zu zerschlagen.

Die Tür zum Sprechzimmer der Stationsärztin öffnet sich, eine korpulente Frau mittleren Alters in grell-rosafarbenem Trainingsanzug erscheint, wendet sich um und winkt mit halb erhobenem Arm in den Raum hinein. Sie schließt die Tür und läuft trippelnd den Gang hinunter. Auf dem Po trägt sie die Aufschrift „heartbreak“ in grauen Buchstaben, die sich beim Laufen rhythmisch verziehen. Wie ein Kind, ein rosa Babymädchen. Frauen sind eine Spezies für sich, zitiert er Janko, einen seiner wenigen Freunde, der leider nicht mehr in Deutschland lebt, sondern nach Kanada ausgewandert ist.

Janko und er hatten sich manchmal verwundert über unverständliches Verhalten von Frauen ausgetauscht. Sie sind Micha oft ein Buch mit sieben Siegeln, ein Text in Geheimschrift, der sich als wunderbar herausstellt, wenn man ihn richtig entschlüsselt. Gerade heute Morgen hat er das empfunden, als er Gelegenheit hatte, Schwester Antje aufmerksam zu betrachten, als sie ihm half, mit wenigen Handgriffen Ordnung in seinen Sachen zu machen. Ihre Gestalt und ihr volles, ungeschminktes Gesicht unter einer Fülle dunkler, kinnlanger Haare gefallen ihm. Und ihre kastanienbraunen Augen mit dem lebendigen Glanz erwecken in ihm ein Behagen, als kennte er diese ungefähr gleichaltrige Frau seit langem. Trotz ihrer Rundlichkeit bewegt sie sich leichtfüßig, so als würde ein innerer Singvogel ihre Bewegungen nach einer nur ihr vernehmbaren Melodie dirigieren.

Als sie vorhin vor ihm stand und mit ihm sprach, konnte er sein Verlangen, sein Gesicht in diesen anziehenden, sicherlich warmen und weichen Busen zu schmiegen, nur mit Mühe beherrschen. In der Erinnerung an diesen Wunsch steigt eine Szene vor seinem inneren Auge auf. Als Vier- oder Fünfjähriger verstellte er sich, tat so, als wüsste er nicht, was er da trieb, um seine Nase wie ein kleiner Narr immer wieder in den mütterlichen Busen von Frau Bergmann, einer Freundin der Mutter, zu stecken. Die Frauen, die die Teestunde miteinander zelebrierten, lachten und schienen ebenso viel Freude an seinen Kapriolen zu haben wie er selbst.

Unvermittelt taucht die Ärztin vor ihm auf und bittet ihn, sie ins Sprechzimmer zu begleiten. Erstaunt stellt er fest, dass sich schon eine Person im Raum befindet. Eine junge hübsche Frau, dunkelhaarig und feingliedrig. Die Ärztin stellt ihn vor. Als Micha ihr die Hand gibt, steht sie auf. Dr. Breisach nennt ihren Namen, Dr. Szentmihály. Dann bittet sie ihn, in dem Sessel in der Sitzecke gegenüber dem Schreibtisch Platz zu nehmen. Micha ist wie benommen. Szentmihály? Wie kommt die Ungarin hierher? Was will sie hier? Diese Ungarinnen verfolgen ihn. Reicht es nicht, dass er mit einer verheiratet war und sie die Mutter seines Kindes ist? Langsam setzt er sich, sein Blick irrt zum wandbreiten Fenster. Das trübe Licht von draußen wird hier drinnen weggedrückt von den hellen Neonröhren über der Fensteröffnung. Künstlich, fährt es Micha durch den Kopf. Hier ist alles künstlich. Diese Frauen, ich, die Klinik, die Verrückten, die draußen wie Wiedergänger herumtaumeln. Sein Denken ist träge, fällt ihm auf, und dass er sich wie in Zeitlupe bewegt. Im Hinsetzen mustert er Dr. Breisach verstohlen, die hier den Ton angibt. Ihr loser, weißer Kittel verrät die Konturen ihrer Figur nicht. Ihr Gesicht ist angenehm hübsch, sie ist jung, sehr jung sogar. Mit ihrem Blondhaar und den leuchtend blauen Augen sieht sie aus wie eine Märchenfee. Höchstens Anfang dreißig, schätzt er. Kann das sein? Was weiß die schon vom Leben. Und die Ungarin, die ist noch jünger. Dr. Breisach richtet das Wort an ihn:

„Herr Valentin, wie fühlen Sie sich heute Morgen?“

Er antwortet nicht, überlegt: Warum gibt es hier so viele Ärztinnen? Ein Mann würde ihn sicher viel besser verstehen. Es bestünde die Möglichkeit, dass ein Arzt Ähnliches mit Frauen erlebt hat wie er, mit ihrer Untreue, ihrer Manipulation, ihrer Eitelkeit und ihrer Selbstgerechtigkeit. Trotzdem, es hat keinen Zweck, sich der Behandlung durch diese Frauen zu widersetzen.

Doch ihn quält Ungewissheit. Deshalb fragt er: „Warum habe ich keinen schriftlichen Bescheid. Hat der Richter wirklich auf die Zwangseinweisung verzichtet? Ich habe mich ja einverstanden erklärt, so lange wie nötig zu bleiben. Wer entscheidet das?“

Trotz seiner Antriebslosigkeit erwartet er die Reaktion auf seinen Einwand mit Spannung.

Dr. Breisach guckt ihre Kollegin an, als erbitte sie Hilfestellung, die ihr jedoch versagt bleibt, da die Ungarin, wie Micha sie bei sich nennt, nur die Schultern leicht anhebt.

„Herr Valentin“, sagt Dr. Breisach, „das entscheide ich als die behandelnde Ärztin, natürlich nach Absprache mit dem Oberarzt oder Chefarzt. Vertrauen Sie mir. Der Richter war mit meinem Vorschlag einverstanden. Und wir halten Sie hier nicht unnötig fest.“

Die Psychiaterin macht eine kleine Atempause.

„Und das sollten Sie wissen: Niemand erfährt von dem, was hier gesprochen wird. Wir unterliegen der ärztlichen Schweigepflicht. Können Sie sich jetzt auf das Gespräch konzentrieren?“

Micha nickt. Was soll er machen. Sein ewiges Misstrauen. Er will der Ärztin glauben, dass sie es gut meint.

Ruckartig setzt er sich zurück, schaut von einer Frau zur anderen. „Wieso sind Sie zu zweit. Haben Sie Angst vor mir?“

„Herr Valentin, Frau Dr. Szentmihály und ich werden Sie gemeinsam behandeln, das heißt, manchmal sprechen Sie auch mit ihr. Wir berichten uns gegenseitig.“

Es soll mir recht sein, denkt er unwillig. Ich Dummbart kann sowieso nichts dagegen tun. Ich muss mich fügen, damit ich schnell hier raus komme. Er nickt langsam, schaut betont bescheiden und resigniert zu Dr. Breisach. Aus dem Augenwinkel nimmt er unwillkürlich die Bewegung der Ungarin wahr, die entspannt das übergeschlagene Bein löst und auf den Boden stellt.

„Herr Valentin“, beginnt die Ärztin, „können Sie uns erklären, warum Sie Ihre Mutter tätlich angegriffen haben?“

Wenn er das nur selbst wüsste. Zumindest will er versuchen, die Fragen der Psychiaterinnen zu beantworten.

„Die Beziehung zu meiner Mutter ist seit eh und je schwierig. Sie hat mich gereizt mit ihrem Getue und ihrem geheuchelten Wohlwollen.“

Mit einer Handbewegung fordert Dr. Breisach ihn auf weiterzusprechen. Micha fährt fort, wird immer lebhafter. „Sie ist durch und durch Schauspielerin, sie spielt die großen Gefühle, wie auf einer Bühne. Ganz große Oper. Sie hat immer Publikum. Dieses falsche Pathos, diese lächerliche Majestät, nicht auszuhalten. Und was noch schlimmer ist: Sie lügt. Aus Passion. Und sie ist ungerecht. Für meine Schwester Reni würde sie buchstäblich alles tun, streitet das selbstredend ab.“

Er wundert sich selbst über die Vehemenz seiner Worte gegenüber diesen fremden Frauen.

„Viele Menschen sind unehrlich oder ungerecht, deshalb werden sie nicht gleich tätlich bedroht, dass sie um ihr Leben fürchten müssen“, gibt die Ärztin zu bedenken.

„Bisher haben wir uns nur gestritten. Verletzt habe ich sie noch nie.“ Hastig setzt er hinzu:

„Allerdings hatte ich schon mal große Lust dazu. Einmal habe ich es ihr angedroht, nur einmal, getan habe ich ihr noch nie etwas.“

Er beißt sich auf die Unterlippe. Das war nicht klug, dämmert ihm. Ausgesprochen dämlich war das. Er ist wirklich blöd wie die Nacht. Prompt kommt das, was kommen muss.

„Bei welcher Gelegenheit haben Sie Ihrer Mutter Tätlichkeiten angedroht?“

Für selbst-kontrollierende Klugheit hat er im Moment keine Kraft, trotzdem muss er sich am Riemen reißen. Seine Augen irren hin und her, von der Fragestellerin zur Assistentin. Als er nur ruhige Gleichmütigkeit wahrnimmt, bricht es aus ihm hervor:

„Ihre jüngere Schwester, unsere Tante Gerda, wollte heiraten, und meine Mutter setzte ihre ganze hinterhältige Raffinesse ein, um diese Ehe zu verhindern. Denn der Mann war ihr nicht gut genug. Kein Mann war je gut genug. Bis auf dieses Arschloch von Panitz. Wahrscheinlich reizte der Verlobte der Tante sie nicht, hatte nicht den nötigen Sexappeal. Ganz sicher war er ihr nicht betucht genug. Denn darauf achtet sie, darauf ist sie scharf, auf das Geld, auf das, was sie nicht selbst erarbeiten muss. Sie behauptete, der Verlobte der Tante wolle die Tante benutzen, um aus dem vermaledeiten Rumänien herauszukommen, denn die Tante hatte ihn auf einem Urlaub am Schwarzen Meer kennen gelernt. Er arbeitete als Caféhauspianist. So ein Broterwerb sei nicht standesgemäß, man verdiene nicht genug, und überhaupt sei das kein Beruf für einen richtigen Mann. Aber er arbeitete nur deshalb in Cafés, weil er von seiner eigentlichen Berufung, dem Komponieren, nicht leben konnte. Aber die Tante bewunderte ihn, denn sie selbst spielt sehr gut Klavier. Als meine Mutter der Tante so sehr zusetzte, dass sie krank wurde, bin ich eingeschritten. Die Tante ist noch immer sehr von meiner Mutter abhängig, vor allem seit ihr Mann vor ein paar Jahren gestorben ist. Damals, vor der Heirat, habe ich Partei für sie ergriffen, denn sie hat einen guten Beruf und braucht keinen Mann, der sie aushält. Ich finde es großartig, wenn Frauen auf eigenen Füßen stehen und sich nicht an den Meistbietenden verhökern.“ Er überlegt einen Moment. „Damals bin ich etwas grob mit ihr geworden. Denn es gab keinen Grund, warum die Tante nicht ihrem Herzen folgen, sondern sich so berechnend wie meine Mutter verhalten sollte. Lügen und Berechnung. Meine Mutter ist mit einer Geldzählmaschine im Hirn ausgestattet. Ach was, sie ist ein wandelnder Abakus. Alles wird berechnet: Zuneigung, gesellschaftliche Stellung, Freundschaft, Vergnügen, Moral. Einfach alles. Alles.“

Kraftlos lässt er sich in seinen Sessel zurückfallen.

Nach dieser Erklärung liegt ein schweres Schweigen im Raum. Er hat sich gehen lassen. Beschämt schaut er unter sich. Er hat gar nicht denken müssen, um dies alles heraus zu schleudern. Die haben mir Wahrheitspillen gegeben, vermutet er, berichtigt sich jedoch sofort, denn diese Wutgedanken kennt er gut, er hat sie sich schon manchmal vorgesprochen. Trotzdem ist er sich bewusst, dass der Ausbruch bei den Ärztinnen keinen guten Eindruck hinterlassen kann. Micha schaut kurz auf, registriert Dr. Breisachs Mitleid.

„Herr Valentin, ich sehe, Sie sind mächtig wütend auf Ihre Mutter. Bestimmt sind das keine neuen Gefühle. Was war der Auslöser für Ihren Angriff? Was ist passiert?“

„Passiert?“ Micha sackt noch mehr in sich zusammen, als versuche er, seinen Rumpf zu verdichten, um von dort die konzentrierte Erinnerung heraufzuholen.

„Ich machte einen Besuch bei meiner Mutter. Als ich gerade vor der Wohnungstür ankam, verabschiedete sich ihre Busenfreundin, so eine eingebildete und aufgetakelte alte Schabracke. Die beiden Frauen hatten hochrote Köpfe und ich roch den Alkohol. Richtig, auf dem Tisch stand eine leere Weinflasche. Meine Mutter wirkte überdreht. Ich spürte, sie wollte das Thema ihrer gemütlichen Unterhaltung fortsetzen.“ Micha macht eine Pause. Muss er das wirklich erzählen? Ja, er muss. Er muss doch sein Verhalten erklären.

Mit äußerster Beschämung berichtet er leise: „Meine beschwipste Mutter sprach von ihrem früheren Liebhaber.“

Voll innerer Spannung beugt er sich vor, schaut gerade vor sich hin auf den Boden. Seiner Unruhe folgend, wandert der Blick flüchtig hin und her entlang dem stählernen Tischbein, das in eine rechtwinklige Verlängerung am Boden übergeht. Bevor die erwartungsvolle Stille der beiden Frauen ihn bedrängt, will er deutlicher werden.

Zunächst sind seine Worte so abgehackt, als entziffere er sie mühsam, als stünden sie in Geheimschrift auf dem leblosen Metall des Tisches. Bald beherrscht ihn wütende Erregung.

„Sie hat mich begrüßen wollen, mit Küsschen links, und Küsschen rechts, richtete sich ihr Haar, schielte zum Spiegel, wie sie es immer tut. Flur und Wohnung sind voller Spiegel für diese, diese …“, er ringt nach Worten, „diese eitle … Ichweißnichtwas. Dann suchte sie meine Bewunderung, sie will immer umschmeichelt sein, und flötete ‘Oh, ich habe heute so viel an früher denken müssen. Es waren doch auch schöne Zeiten. Weißt du noch, wie du mit Panitz angeln warst? Das war doch schön, nicht wahr?‘“ Micha hat die höhere Stimmlage der Mutter nachgeahmt, es klingt verächtlich, und so soll es sein. In diesem Moment ist seine Verachtung abgrundtief. Voller Zorn, dass es ihm beinahe den Atem nimmt, fährt er fort: „Und ob ich mich erinnere. Ich wollte das nicht. Ich fühlte mich gezwungen, mit diesem Idioten angeln zu gehen. Ich wollte nicht. Es war alles Lüge. Damals schon. Es war mir peinlich. Das Angeln. Dieser Mann neben mir und kein Platz, wohin ich mich hätte verkriechen können. Mit meinem Vater hätte ich mit Sicherheit einen Ausflug gemacht, freiwillig, aber doch nicht mit diesem Arschloch. Aber Vater hatte keine Zeit, musste Geld verdienen, für uns Kinder und für diese verblendete Blöde, damit sie sich beim Schneider Kleider nach Pariser Modellen nähen lassen konnte. Für dieses Schwein. Kaufte Reizwäsche für diesen Hurenbock. Diese Idiotin, dumm wie die Nacht. Machte sich eine schöne Welt auf meine Kosten.“

Er stutzt einen Augenblick, dann setzt er hinzu: „Auf Vaters Kosten.“

„Und deshalb haben Sie das Messer genommen?“

„Nein, deshalb nicht.“ Wieder sammelt er Kraft, um die Worte seiner Mutter in weiblicher Stimmlage nachzuäffen: „Erst als sie mit kreideweicher Engelsstimme sagte: ‚Ich weiß, es ist für dich ein bisschen schwer zu verstehen, aber er war die einzige Liebe meines Lebens.‘ Dabei verdrehte sie die Augen verzückt und spitzte ihr Mündchen: ‚Oh, wie habe ich diesen Mann geliebt. Wie niemanden sonst in meinem Leben. Wirklich niemanden.‘ Und dann verkündete sie: ‚Er war so ein feiner, kultivierter Mann, ein Akademiker, der Französisch sprach, nicht so ein Selbstgemachter ohne höhere Bildung wie dein Vater.‘ Da habe ich gedacht, ich bringe sie um.“

Geschwächt von der Anstrengung dieser Schilderung lässt er sich in den Sessel zurücksinken. Er seufzt. Dann richtet er sich auf und sagt voller Empörung: „Sie hat unseren Vater zum Hampelmann machen wollen. Sie hat ihn ausgenommen, wo sie nur konnte. Und dann redet sie schlecht über ihn. Diese Schlange. Statt anzuerkennen, was er für sie und ihre Kinder getan hat.“

Das alles sind nur dürre Worte. Leider hat er keine Energie, sich begreiflicher zu machen. Diese Frauen können nicht verstehen, in welchen Aufruhr diese Hexe ihn gebracht hat. Wie auch? Sie kennen ja nicht die ganze Geschichte.

„Und wie verhielt sich bei alldem Ihr Vater?“, möchte Dr. Breisach wissen.

„Mein Vater?“ Überrascht setzt er sich im Sessel auf, den Rücken kerzengerade. Was soll er sagen? Da sein Kopf ermattet ist, äußert er das, was ihm als erstes einfällt.

„Mein Vater war ein Philosoph. Er ist 1984 gestorben. Viel zu früh. Er war erst einundsiebzig. Weil er sich mit seinem Textilgeschäft tot schuftete. Damit wir es gut hatten.“

Micha bemerkt, dass die Ärztinnen einverständliche Blicke wechseln. Sie haben eine heimliche Übereinkunft, mutmaßt er, bezwingt aber seinen Argwohn, als er Dr. Breisach hört:

„Herr Valentin, das war sehr anstrengend für Sie. Wir lassen es für heute gut sein. Die Zeit ist um. Versuchen Sie sich zu beruhigen!“

Die Frauen erheben sich, Micha übersieht die ausgestreckte Hand Dr. Breisachs, zu sehr konzentriert er sich auf das Öffnen der Ausgangstür. Nichts wie weg hier, flüstert eine innere Stimme. Ausgerechnet jetzt ist die sogenannte Therapie zu Ende, wenn er so aufgewühlt ist. Wenn sie es darauf angelegt haben sollten, diese Seelenklempnerinnen, dann haben sie ihr Ziel erreicht, denn er wird die nächste Stunde damit beschäftigt sein, sich zusammenzuflicken. Am besten ist, er marschiert im ruhigen Flur vor den Patientenzimmern auf und ab, um die innere Bewegung durch die äußere abzuleiten. Dort angekommen, durchmisst er mit schnellem Schritt den Korridor, immer wieder von der Stirn- bis zur Fensterseite und zurück.

 

3

Montag, 9. Oktober 1995

Am späten Nachmittag klopft seine Freundin Aimée an seine Zimmertür. Sie bleibt im Eingang stehen, Micha winkt ihr zu, bedeutet ihr mit einer Geste, er werde sich anziehen und herauskommen.

Während des Ankleidens sind seine Gedanken bei Aimée. Es ist ihr erster Besuch hier. Er hatte sie angerufen und gebeten, erst zu kommen, wenn er ein wenig klarer denken könne. Er musste nicht viel erklären, sie war schon informiert. Sie gab ihm zu verstehen, dass seine Mutter in einer verwirrten und erregten Rede geschildert hatte, was vorgefallen war. Und sie war seiner Bitte, sich um Ella zu kümmern, schon zuvorgekommen, indem sie das Mädchen bei ihren eigenen Eltern untergebracht hatte. Ihre Mutter würde sich liebevoll um Ella kümmern, man könnte doch gut verstehen, dass der Teenager in so einer Situation nicht allein bleiben wollte.

Er hatte den Eindruck, dass sie nicht verwundert war, sie weiß ja von seiner Zwiespältigkeit gegenüber seiner Mutter. Sicher ist ihr nicht verborgen geblieben, dass er sich schämt. Sie wollte ihm den Anruf leicht machen. Denn sie klang seelenruhig wie immer. Außerdem verständnisvoll. Das hatte er sich erhofft, aber nicht damit gerechnet. Denn der Partner in der Psychiatrie, das muss auch für sie nicht einfach sein. Sie tröstete ihn jedoch, sie stehe zu ihm, er solle nur an seine Gesundung denken. Wirklich, sie hatte Gesundung gesagt. Er hofft inständig, dass sie begreift, dass er nicht verrückt ist. Ja, er ist manchmal innerlich zerrissen. Gelegentlich ist er ungeduldig, und es kommt vor, dass er auf Provokation aggressiv reagiert. Doch fürchten muss man sich nicht vor ihm. Das mit seiner Mutter war eine Ausnahme. Weil sie ihn bis aufs Blut gereizt hat. Seine Hoffnung, dass Aimée wirklich versteht, ist nicht unbegründet. Denn er kennt sie als einfühlsamen Menschen.

Regelmäßig kam die Mittvierzigerin in die Klappe, das Programmkino, in dem er seit ein paar Jahren als Faktotum arbeitet. Die mittelgroße Frau mit dem üppigen blonden Haarschopf und dem charmanten Lächeln war ihm aufgefallen. Ein paar Mal erkundigte sie sich nach seiner Meinung über den Film, für den sie im Begriff war, Karten zu kaufen. Bereitwillig gab er Antwort. Da sie niemals in männlicher Begleitung war, wagte er es eines Tages, sich im Vorführsaal auf den freien Platz direkt neben sie zu setzen. Nach dem Film nahm er seinen ganzen Mut zusammen und lud sie auf ein Getränk in ein Lokal ein. Sie sprachen angeregt über den Film, den sie gesehen hatten. So fing alles an.

Aimée ist Biologin, arbeitet als Dozentin an der Frankfurter Universität und unterstützt gemeinsam mit mehreren Angestellten ihre älter werdenden Eltern, die am Ortsrand von Bad Homburg eine Gärtnerei betreiben. Sie ist kinderlos und lebt allein. Er fand schnell heraus, dass sie ihren Beruf und ihre Arbeit in der Gärtnerei energisch und mit Hingabe betreibt.

Immer wieder ist er fasziniert, wenn sie mit liebevollen Bewegungen ihre Violine aus dem Kasten hebt, sie beinahe zärtlich an die Wange legt, beim Stimmen konzentriert lauscht, die Noten auf dem Ständer mit dem Bogen in der Hand ordnet und dann zu spielen beginnt. Wie flink ihre Finger sind. Ihr Spiel ist klar und intensiv. Er kann sich kaum vom Anblick ihrer kleinen Finger mit den kurz gehaltenen, farblos lackierten Nägeln losreißen, Fingerchen, die wie kleine Seilakrobaten über die Saiten huschen und den Bogen mit unnachahmlicher Eleganz festhalten. Besonders gern spielt sie Barockstücke. Wegen des Gleichmaßes und der reichen Phantasie bedeutet ihr diese Musik mehr als die anderer Epochen.

Tiere und Pflanzen finden ihre ganze Zuneigung – merkwürdigerweise auch als Forschungsobjekte, was ihm ein wenig rätselhaft und manchmal sogar unheimlich vorkommt. Ihrer Tierliebe entsprechend verzichtet sie auf Fleischspeisen, würde aber nicht auf die Idee kommen in Sachen Vegetarismus zu missionieren. Es hat ihn anfangs verwundert, dass diese nachdenkliche und kultivierte Frau sich mit genießerischer Aufmerksamkeit ihrem Essen widmet. Sie hat Appetit aufs Leben, denkt er manchmal, wenn er beobachtet, wie sie mit herzhaftem Biss einem Apfel zu Leibe rückt oder mit Bedacht die sorgfältig zerteilte Speise zum Mund führt. Das gefällt ihm.

Sie spricht nicht viel, hat aber wie nur wenige Wortkarge eine ansteckende Fröhlichkeit, die sich schnell aus der Reserve locken lässt durch Witz und Ironie. Micha ist zu dem Schluss gekommen, dass diese Fröhlichkeit eine Art unerklärliche Grundausstattung ist, weil sie von Launen, vom Wetter, von Situationen absolut unabhängig ist. Sie ist Ausdruck der unbegründbaren Lebensfreude, die manche Menschen empfinden, selbst wenn die Dinge nicht so laufen, wie sie es sich vorstellen. Aimée hat ihm einmal erklärt – und das fand er bemerkenswert -, dass sie vor lauter Liebe zum Leben und bei der Vorstellung, dass sie dieses Leben eines, hoffentlich fernen, Tages nicht mehr haben werde, die allerprosaischsten Dinge lieb gewinne. Manchmal könne sie schon am Morgen das Telefon umarmen, einfach deshalb, weil es da und ihr zu Diensten sei. Oder dass sie den Kirchturm in der Nähe ihrer Wohnung so gern habe, dass sie sich einbilden könne, er sei ihre wahre Heimat. Dazu hat sie verschmitzt gelacht, aber er hat begriffen, dass es ihr doch ernst war mit dieser Übertreibung.

Micha fehlt diese heitere Einstellung. Zeitweise ist er ausgelassen und fröhlich, dann wieder droht er in Grübeleien zu versinken, aus denen er am besten durch alltägliche Pflichten herausgerissen wird. Sie leben getrennt, jeder in seinem eigenen Haushalt, sie werden zusammen ziehen, wenn Ella in einigen Jahren auszieht. Das ist beschlossene Sache.

Mit einem scheuen Lächeln kommt Micha auf Aimée zu. Aus Furcht vor einem peinlichen Moment, weil er in dieser Anstalt gefangen ist, fasst er sie entschlossen um die Taille und führt sie den Gang hinunter in den unbelebten Flur vor den Sprechzimmern. Dort angekommen, umarmt er sie. Als er spürt, dass sie die liebkosende Umarmung erwidert, ist er erleichtert. Er schmiegt seine Wange in ihr weiches Haar. Nach einer Weile hält er sie auf Armlänge von sich und betrachtet sie. Hübsch ist sie, trägt kein Make-up, nur zartrosa Lippenstift. Wieder zieht er sie an sich, spürt ihren wohlgeformten und für ihre schlanke Figur üppigen Busen. An der Hand führt er sie zu einem Sessel. Damit er sie ausführlich betrachten kann, setzt er sich ihr gegenüber. Sie trägt einen neuen, dünnen Mantel in breiten dunkelblauen und froschgrünen Streifen. Kragen, Ärmelaufschläge und aufgesetzte Taschen sind taubenblau. Ein richtiger Hingucker. Das harmoniert perfekt mit ihrer türkisfarbenen Brille. Wie so oft ist er überrascht von ihrem Farbenmut. Wegen des Textilgeschäfts seines Vaters hat er sich immer für Stoffe und Kleidung interessiert, er glaubt, er hat ein untrügliches Gefühl für das, was schick und elegant ist. Aimée lässt sich in ihrer Vorliebe für ausgefallene Farbtöne nicht beirren, und er unterlässt alle Einmischungsversuche, denn für ihn verkörpert sie exakt die richtige Mischung von rätselhaft erotischer Weiblichkeit und zuverlässiger Intellektualität.

Micha fordert sie auf, den Mantel abzulegen. Sie reicht ihm das Kleidungsstück, das er auf einen leeren Sessel legt. Schweigend sitzen sie sich gegenüber. In seiner Verlegenheit macht er ihr ein Kompliment über ihr petrolfarbenes, raffiniert geschnittenes Kleid. Sie bedankt sich mit einem Kopfnicken. Ein Mann und eine Frau nähern sich, sie sprechen leise, einmal lacht die Frau höhnisch auf. Als sie bemerken, dass Micha und Aimée sich in diese Ecke zurückgezogen haben, entfernen sie sich.

Aimée betrachtet ihn, ohne Verlegenheit, ohne Hast, einfach so, als müsse sie erst langsam aufnehmen, dass sie ihm gegenüber sitzt. Solche Situationen kennt er mit ihr. Es herrscht eine angenehme Stille, mit der Micha sich angenommen fühlt. Aimée hat die ungewöhnliche Eigenschaft, dass sie ausgiebig schweigen kann. Er mag dieses Schweigen, es kommt ihm vor wie eine magische Sprache, er glaubt, bei ihr ist es Ausdruck innerer Stabilität. Er kennt keinen anderen Menschen, der so lange ohne zu reden die Gegenwart eines Menschen aushält. Sie wird darauf vertrauen, dass sie nach und nach alles Wichtige erfährt.

Er ist froh, dass er nicht sofort ein Gespräch beginnen muss. Wieviel kann man schon von den eigensinnigen Wunderlichkeiten mitteilen, die jeden Kopf bevölkern? Es wird einem schwindlig bei der Vorstellung, wie viele einzigartige unerreichbare Welten in den Köpfen der Menschen existieren. Unentwegt spinnen sie Gedankenfäden, weben sie zu Geschichten und Illusionen. Tag und Nacht stehen die Ideenwebstühle nicht still, denn selbst in der Nacht produzieren sie bunte Traumteppiche aus Lebenslust oder transparente aus Angst, durch die man hindurchfallen könnte. Nur die wenigsten der menschlichen Kopfgeburten werden zu Handlungen oder materialisieren sich anderweitig. Welche Schöpfungswut, welche Schöpferkraft, die sich verschwendet und nie aufhört. Oder doch, eines Tages, wenn die Menschheit sich selbst verschlingt. Dann wird sie nur noch ein Teil der göttlichen Weltgeschichte sein, denn Gott wird das einzige Wesen sein, das von ihr weiß. Wie kann er sich bei dieser Einsicht wünschen, dass alles aufgehoben wird, dass die Menschen, ihr Leben, ihre Gedanken und Sehnsüchte dorthin zurückkehren, wo sie hergekommen sind? Dennoch wünscht er sich genau das. Es ist ein Wunder, ein wirkliches Wunder, dass wir Menschen nicht in Wirrnis untergehen, sondern uns als geordnet empfinden, sogar als Herren in einem Haus, das uns nur für eine Lebenszeit geliehen ist. Wäre die menschliche Existenz nur eine Phantasie unseres Bewusstseins, wie die Solipsisten glauben, sie wäre nicht phantastischer als sie so schon ist.

Micha taucht auf aus seinen Träumereien, zurück in die real existierende Realität, wie er das nennt. Wie Aimée so ruhig dasitzt, kommt ihm seine Unbesonnenheit gegenüber den Therapeutinnen wieder beschämend zu Bewusstsein. Könnte er doch seine Zunge im Zaum halten!

Micha betrachtet seine Freundin aufmerksam, er würde ihr gern noch ein Kompliment machen, er nimmt jedoch wahr, dass sie schaut, als wolle sie seiner Körperhaltung und seinem Gesichtsausdruck entnehmen, wie ihm zumute ist. Er bricht das Schweigen.

„Ich hatte mir vorgenommen, niemals wieder in einer Nervenklinik zu landen.“

Sie nickt.

„Leider habe ich es nicht geschafft. Ich war außer mir. Sie dachte, ich würde sie umbringen.“

„Hast du aber nicht, zum Glück.“

„Nein, ich meine ja, zum Glück.“

Zwei Männer nähern sich ihrer Sitzecke. Der große Korpulente fragt, ob sie sich zu ihnen setzen können, obwohl noch eine separate Sitzecke frei ist. Ohne die Antwort abzuwarten, nehmen sie auf den freien Sesseln Platz. Der Frager legt ein Schachbrett und Figuren aus einem Kasten auf den niedrigen Tisch. Auf Stirn und Kinn befinden sich wulstige Narben, an den nackten Unterarmen trägt er rote und blaue Tätowierungen. Pfeile, Anker und Herzen. Der zweite, ebenfalls groß gewachsen, ist überschlank und wirkt mit seinen blonden, bis auf die Schultern hängenden Zottelhaaren leicht verwahrlost. Beim Aufstellen der Figuren sprechen beide auf Aimée ein. Sie seien sehr gute Schachspieler und ob sie nicht mit ihnen wetten wolle, wer von ihnen gewönne.

Aimée hört den Männern zu, dann kräuselt sie nachdenklich die Stirn, als müsse sie entscheiden, ob sie sich auf ein Gespräch mit ihnen einlässt. Sie setzt sich aufrecht hin und schaut Micha fragend an.

„Komm!“ Micha steht auf, nimmt Aimées Mantel vom Sessel und zieht sie an der Hand aus der Flurnische.

Sie hören noch, wie der große kräftige Mann wüste Beschimpfungen hinter ihnen herschickt. Micha flüstert:

„Die wollen gar kein Schach spielen. Die suchen nur Leute, die sie ins Gespräch ziehen können. Die sind wirklich meschugge.“

Micha führt Aimée am Arm in Richtung Ruheraum, den er wegen einiger Regale mit ausrangierten Büchern Bibliothek nennt. Ihnen bietet sich ein beklemmender Anblick. Auf dem Stuhl links neben der Tür zum Raum sitzt eine magere Frau, die ihre Arme auf unnatürliche Weise miteinander verknotet. Sie löst sie, lässt sie links und rechts dicht am Körper herunterfallen. Dann hebt sie die Füße so hoch, dass die Knie beinahe ihre Brust berühren und stellt sie wieder ab. Diese Verrenkungen vollzieht sie in raschem Wechsel, wie abgezirkelt. Micha bemerkt Aimées erschrockene Miene.

Als das Paar sich in der Leseecke gegenüber sitzt, wirkt Aimée noch befangen von dem verstörenden Anblick. Deshalb sagt Micha, wohl wissend, dass dies nicht zu trösten vermag:

„Verquere Charaktere, schreckliche Schicksale begegnen einem hier. Mein Bettnachbar schreit oft vor Schmerzen. Wenn die Pfleger ihn darauf hinweisen, dass er sein Schmerzmittel schon bekommen hat, behauptet er, ein weiterer Körperteil sei betroffen und er benötige mehr Medikamente.“

Sie schaut ihn nachdenklich an, dann fragt sie:

„Und du, was tut dir weh?“

Er schweigt betroffen. Von dieser Warte aus hat er seinen Aufenthalt hier noch nicht betrachtet.

„Meine Schmerzen sind sehr alt, die sind bereits chronisch.“

Aimée kennt in etwa die Gründe für das Zerwürfnis mit seiner Mutter, das wie ein Schwelbrand jederzeit aufflammen kann. Doch aus Furcht vor dem Schmerz der Erinnerung hatte er ihr manche Details verschwiegen. Vor allem wollte er nicht als seelischer Krüppel dastehen. Und er hatte sich geschämt, für sich und seine Familie. Besonders für seine Mutter. Außerdem fürchtete er immer, dass ein bemitleidenswerter Mann keine erotische Anziehung auf Frauen ausübt.