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Dorothea Böhme

Schwabenbräute

Kriminalroman

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1. Auflage 2016

Lektorat: Dominika Sobecki

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung und Foto: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

ISBN 978-3-8392-5112-6

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

1. Kapitel

»Sind Sie Paula Schmidt?« Der Kunde, der gerade das Wechselgeld für sein Roggenbrot entgegennahm, sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. Er war groß, Paula schätzte ihn auf knapp über 1,90 Meter, und trug einen grauen Anzug. Sein dunkles Haar hatte er mit viel Gel in einen Seitenscheitel gekämmt, seine ebenfalls dunklen Augen blickten hart, und die Adlernase gab ihm endgültig den Eindruck eines Immobilienhais.

Sie nickte vorsichtig. Solche Leute hatten zumindest ihr gegenüber noch nie gute Absichten gehabt.

»Bernd Hochmeister, Rechtsanwalt«, stellte er sich vor.

Oder das. Jurist wäre ihre zweite Vermutung gewesen.

»Was wollen Sie von mir?«

»Ihnen einen Job anbieten.«

Paula sah sich in der kleinen Bäckerei um, in der sie seit knapp sechs Monaten arbeitete. Mit einem halben Studium, zwei abgebrochenen Ausbildungen und einer Bewährungsstrafe war sie bei Arbeitgebern nicht gerade begehrt. Es war sicher nicht ihr Traum, dreimal in der Woche um sechs Uhr mit der Arbeit zu beginnen. Doch zu ihrer Überraschung mochte sie fast alle anderen Aspekte ihres neuen Jobs – zum Beispiel die kostenlosen Berliner, wenn der Chef nicht da war. Natürlich hoffte sie immer noch, irgendwann eine besser bezahlte Stelle mit angenehmeren Arbeitszeiten zu finden, nur fiel da wieder ihre Bewährungsstrafe ins Gewicht. Sie hatte sich also darauf eingestellt, die nächsten 30 Jahre Laugenbrezeln und Mehrkornbrötchen über eine Theke zu reichen. Und nun schneite einfach so jemand herein, um ihr eine Stelle anzubieten? Das gab es nur im Kino.

»Ich werde nicht mit Ihnen ins Bett gehen.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust.

Der Rechtsanwalt lachte, und für einen Moment fand Paula, dass er durchaus ein attraktiver Mann sein konnte, wenn er wollte. Seine Gesichtszüge, die vorher so verkniffen gewirkt hatten, waren gelöst, und dadurch fiel nicht einmal mehr die Adlernase unangenehm auf.

»Keine Sorge, dafür wollte ich Sie nicht engagieren. Obwohl das vielleicht die gerechte Rache wäre.« Er lachte über seinen privaten Witz, den Paula nicht verstand. Dann holte er ein Foto aus der Innentasche seines Sakkos und legte es auf den Tresen. »Ich möchte, dass Sie meine Frau überwachen.« Eine Blondine Mitte 40 mit etwas zu viel Make-up war auf dem Bild zu sehen, passend zum Anzug des Ehemanns trug sie ein vermutlich sündhaft teures Kostüm.

Paula zog die Augenbrauen in die Höhe. »Ich bin Bäckereiverkäuferin.«

»Ein durchaus anspruchsvoller Beruf.« Er ließ seinen Blick über das Brötchenangebot in der Auslage schweifen. Dann sah er ihr direkt in die Augen. »Aber vielleicht mögen Sie ja Herausforderungen?«

Fragen kostete nichts, dachte Paula und sah ihn an. »Ist Ihre Frau in Gefahr?« Bei aller Liebe zum Geld, sie würde sich bestimmt keine Prügel oder noch Schlimmeres für eine völlig Fremde einfangen.

»Sie betrügt mich.« Er verzog das Gesicht.

»Und ich soll jetzt was? Beweisfotos schießen?« Das konnte doch nicht sein Ernst sein. »Ich gehe einer ehrlichen Arbeit nach.« Die Reihe Vollkornbrot hinter ihr bewies das.

»Sie sollen ja nichts Illegales tun. Heute Abend will meine Frau angeblich mit einer Freundin eine Vernissage besuchen. Ich vermute, sie trifft sich mit ihrem Liebhaber. Das hätte ich gern dokumentiert.«

Es war sein Ernst. Unglaublich, diese Rechtsanwälte. Schlimmer als Immobilienhaie.

»Ich zahle Ihnen 500 plus Spesen.«

Paula hielt inne. 500 Euro für einen Abend? Das war mehr, als sie in einer Woche verdiente. Das war mehr, als die meisten Menschen in einer Woche verdienten. Sie zögerte und sah auf die Muffins in der Auslage. Mit 500 Euro konnte sie sich 500 Muffins kaufen. Einen neuen Fernseher. Oder sie könnte die Bremsen und die Lenkradausrichtung ihres Polos reparieren lassen, anstatt die TÜV-Plaketten weiterhin unter der Hand zu besorgen.

»Was denn für Spesen?«

Er zuckte mit den Schultern. »Fahrtkosten. Kaffee. Vielleicht eine Butterbrezel.«

»550 ohne Spesen.«

»Butterbrezeln sind teuer«, murmelte er sarkastisch.

»Wenn ich die ganze Nacht wach bleiben soll, brauch ich was Stärkeres als Kaffee. Ich bin um halb sechs aufgestanden.«

Der Rechtsanwalt schnalzte ungeduldig mit der Zunge. »Trinken Sie einen Energydrink. Moment, ich glaube, ich hab da noch …« Er öffnete seinen Aktenkoffer und holte eine Flasche mit einer gelblichen Flüssigkeit heraus, die er ihr in die Hand drückte.

Nach allem, was Paula von Juristen gehört hatte, flößten die sich das Zeug zur Prüfungszeit intravenös ein.

»550, abgemacht«, sagte er dann und reichte ihr die Hand. Anschließend schrieb er den Namen »Nicole Hochmeister« und eine Adresse am Killesberg auf die Rückseite des Fotos.

»Und das Geld im Voraus.« So viel hatte Paula aus alten Hollywoodfilmen und ihrem bisherigen Leben gelernt.

»200 sofort, für den Rest können Sie morgen in die Kanzlei kommen und mir Bericht erstatten.« Er griff erneut in die Innentasche seines Sakkos, reichte ihr zunächst seine Visitenkarte und zählte dann vier 50-Euro-Scheine auf den Tresen. »Dafür bekomme ich natürlich eine Quittung.«

»Natürlich.« Als ob diese Quittung jemals den Weg zum Finanzamt finden würde … Paula nickte, dann faltete sie die Scheine ordentlich und steckte sie in ihre Jeans. Auf einen Zettel, den sie neben der Kasse fand, kritzelte sie den Betrag und unterzeichnete.

Das Türglöckchen kündigte eine neue Kundin an, eine alte Dame mit einem Jutebeutel unter dem Arm und einem roten Hut auf dem Kopf.

»Grüß Gott«, sagte die Frau lauter als nötig und stellte sich an den Tresen.

Hochmeister drehte sich kurz zu ihr, dann erklärte er Paula leiser: »Meine Frau will um 19 Uhr außer Haus gehen, die ›Vernissage‹«, er malte mit den Fingern Gänsefüßchen in die Luft, »beginnt um 20 Uhr. Eine Vernissage ist eine …«

»Danke, ich habe Abitur.« Paula schnappte sich das Foto, ohne ihn mit einem weiteren Blick zu bedenken, und steckte es ein. Vielleicht hatte es einen Grund, dass die Frau ihren arroganten Gatten betrog.

»Natürlich.« Entschuldigend hob der Rechtsanwalt die Hände.

Da fiel Paula noch etwas ein: »Wie sind Sie überhaupt auf mich gekommen?«

»Junge Frau.« Die Kundin klopfte mit der Hand auf die Theke.

»Moment.« Paula wandte den Blick nicht von Hochmeister.

»Sie wurden mir empfohlen.«

»Privatdetektivin« stand nicht in ihrem Lebenslauf, eigentlich war sie öfter auf der anderen Seite des Gesetzes erwischt worden. Wobei das, wenn sie es recht bedachte, zumindest im Film eine der Qualifikationen für Privatdetektive zu sein schien.

»Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit!«, meckerte die Kundin, und Bernd Hochmeister nutzte die Gelegenheit, um mit einem knappen Gruß aus der Bäckerei zu verschwinden.

»Na, wenn ich das nicht mal bereue«, murmelte Paula, während sie der Kundin ihre zwei Brötchen in eine Tüte packte.

Zwei Stunden später hatte sie Feierabend. Bevor sie nach Hause ging, besorgte sie noch schnell eine Packung Spaghetti und ein Glas Pesto im Lidl. Eine Tüte Chips konnte auch nicht schaden und eine Flasche Saft, Energydrinks schmeckten furchtbar.

Als sie mit dem Einkauf die Stufen ihres Mietshauses in der Nähe des Ostendplatzes hochstieg, konnte sie schon im ersten Stock riechen, dass oben Timo auf sie wartete. Es war diese ganz besondere Mischung aus Hanfprodukten und ökologisch hergestellten Wollpullovern. Nach zehn Jahren Bekanntschaft mit Timo war es zwar immer noch kein schöner Geruch, aber ein vertrauter.

Er hatte sie einmal nach einem Schlüssel für ihre Wohnung gefragt, damit er nicht jedes Mal im Treppenhaus warten müsse, wenn Paula nicht zu Hause war, weil die Hirschle aus dem Dritten es auf ihn abgesehen habe, wie er behauptete. Er müsse sich sonst immer durch den Hausflur schleichen und sich vor ihr verstecken.

Paula fand die neugierige Alte zwar auch selbst lästig, aber sie hatte sich entsetzt vorgestellt, wie Timo mit ungehindertem Zugang zu ihrer Wohnung täglich ihren Kühlschrank plünderte, ihre DVDs anschaute und dabei Chips aufs Sofa krümelte und vermutlich auch bei ihr duschte, wenn er mal wieder vergessen hatte, seine Warmwasser-Rechnung zu bezahlen. Den Schlüssel hatte sie ihm verweigert, aber hartnäckig, wie ihr Ex-Freund war, wartete er trotz Frau Hirschle weiterhin fast täglich im Hausflur auf sie. Er verbrachte viel zu viel Zeit vor und in Paulas Wohnung. Klar, seine eigene war vermutlich beim Einzug das letzte Mal geputzt worden.

»Na, wie hab ich das gemacht?«, fragte er, als Paula leicht schnaufend auf ihrem Treppenabsatz im vierten Stock ankam. Vielleicht sollte sie doch mit Sport anfangen. Ihr Bewährungshelfer hatte ihr Yoga und Tai-Chi empfohlen, zur Entspannung. Vermutlich auch, damit sie nicht auf dumme Gedanken kam.

»Wie hast du was gemacht?« Paula schloss ihre Wohnungstür auf und brachte die Lebensmittel in die Küche. Sie hörte, wie Timo im Eingang umständlich die Schuhe auszog und dann über die Fliesen schlurfte.

»Dein neuer Job!« Er ließ sich auf den einen ihrer beiden Küchenstühle fallen, die Beine so ausgestreckt, dass Paula in dem engen Raum früher oder später darüber stolpern würde. »Wem hast du den wohl zu verdanken?«

»Du hast diesem Rechtsanwalt empfohlen, mich als Privatdetektivin zu engagieren?« Mit dem Pesto in der einen, den Spaghetti in der anderen Hand drehte sie sich zu ihm um.

Er hatte die Arme vor seinem gestreiften Baja-Pullover verschränkt und grinste wie ein Honigkuchenpferd. Wie ein bekifftes Honigkuchenpferd. »Von dem Geld können wir uns einen netten Abend machen.« Timos Vorstellung von einem netten Abend waren drei Burger im McDonald’s, ein Joint und Pink Floyd. Mit der Musik hätte Paula sich möglicherweise auch anfreunden können, aber lieber ohne Timo.

»Wie kommst du auf die Idee, dass ich gut darin bin, untreue Ehefrauen zu überwachen?«, fragte sie.

»Mich hast du auch mit Claudia erwischt.«

Paula holte einen Topf aus dem Schrank, füllte ihn mit Wasser und stellte ihn auf den Herd. »Da war nicht viel Überwachung nötig. Du warst breit wie ein Rathaus und hattest vergessen, dass wir an dem Abend verabredet waren. Und natürlich, dass du mit mir zusammen warst.« In Studentenwohnheimen gab es außerdem nicht viele Geheimnisse. Selbst in tiefster Nacht war immer irgendjemand wach, sodass am nächsten Morgen der gesamte Stock wusste, wer wem einen Besuch abgestattet hatte.

»Freie Liebe ist die Zukunft.«

Auch abgesehen davon war Paula sich sicher, dass ihre Trennung nur eine Frage der Zeit gewesen war. Timo trug mit inzwischen über 30 noch Dreads, betrieb einen Headshop, in dem er Wasserpfeifen und Kiffer-Utensilien jeder Art verkaufte, und drehte sich manchmal schon morgens einen Joint. In ihrer Vergangenheit hatte Paula zwar hin und wieder auch mal einen Joint geraucht, und leider Gottes war sie ein-, zweimal mit dem Gesetz in Konflikt gekommen, aber mit knapp über 30 musste man sein Leben auf die Reihe kriegen.

Sie brachte das Gespräch wieder aufs eigentliche Thema zurück: »Wie kommst du denn jetzt an diesen Rechtsanwalt?«

»Der stand heute Morgen bei mir im Laden, ich dachte, hey, ja, der kann echt was gebrauchen, dass er ein bisschen lockerer wird. Hätte ihm das erste Gramm geschenkt. Aber dann wollte er nur eine Auskunft.«

»Worüber?«

»Er hatte gehört, dass ich der richtige Mann für Probleme bin.«

»Vor allem dafür, Probleme zu verursachen«, murmelte Paula. In der Hinsicht war er tatsächlich Spezialist. Aber es war schon logisch, dass jemand, der halbseidene Sachen haben wollte, in Timos halbseidenem Laden nachfragte.

Er winkte ab. »Jedenfalls hat er nach jemandem gesucht, der seine Frau für eine, höchstens zwei Nächte observiert und ein paar Fotos macht. Leichter verdientes Geld gibt’s ja gar nicht. Da dachte ich gleich an dich.«

»Wegen der Sache mit Claudia.« Das Nudelwasser sprudelte, Paula fügte Salz hinzu, wartete einen Moment und warf dann die Spaghetti hinein.

»Du bist der perfekte Spitzel.« Er zuckte mit den Schultern. »Wann fährst du los?«

Paula rührte ein wenig im Topf und versuchte, die harten Spaghettispitzen unter Wasser zu bekommen. Dann legte sie den Kopf schräg und sah ihn an. »Gar nicht.«

»Häh?«

»Ich fahre nicht los, weil ich die Frau nicht überwachen werde.«

»Bist du wahnsinnig? Das sind 500 Öcken!« Er fuchtelte mit den Händen in der Luft herum. So lebhaft war Timo selten.

»Ich habe nicht gesagt, dass ich auf das Geld verzichte.« Paula grinste. »Aber reicht doch, wenn ich ihm sage, dass ich den Job gemacht habe.«

Timo starrte sie an.

»Ist mir doch wurscht, ob seine Frau halb Stuttgart vögelt.«

»Und das von der Verfechterin der Monogamie.«

»Es ist mir nicht wurscht, wenn mein Freund halb Stuttgart vögelt! Aber das Privatleben anderer Leute geht mich nichts an. Außerdem könnte er die Sache auf anständige Art und Weise regeln und sie zur Rede stellen. Aber was tut er stattdessen? Ihr hinterherschnüffeln. Nein, ihr hinterherschnüffeln lassen! Geht’s noch schmieriger? Nee, nee, ich mach mir einen ruhigen Abend und sag dem morgen, dass er sich keine Sorgen machen muss.«

»Du willst ihn belügen? Der Typ ist Rechtsanwalt. Das sind absolute Profilügner. Der merkt das doch sofort.«

»Ich sag ihm nur, was er sich zu hören wünscht. Dann sind wir alle glücklich: seine Frau mit ihrem Lover, ich mit meinem Geld und er mit seinem Ego.« Sie fischte eine Nudel aus dem Topf und probierte, ob sie schon weich war. War sie nicht. »Magst du al dente?« Ohne eine Antwort abzuwarten, holte sie ein Sieb aus dem Schrank, goss die Spaghetti ab und öffnete das Glas mit grünem Pesto. Wegen des Rechtsanwalts hatte sie ganz vergessen, sich einen Berliner zu mopsen, und jetzt knurrte ihr der Magen.

»Servietten«, sagte sie zu Timo, der die Augen verdrehte, aber brav in die Schublade hinter sich griff. Wenn es nach ihm ging, gab es nur Fingerfood, und das Fett leckte man sich dann von den Händen. Manchmal wünschte Paula sich, damals im Wohnheim statt neben Timo das Zimmer neben dem mexikanischen Austauschstudenten bekommen zu haben. Dann würde sie jetzt Salsa tanzen können und wäre vorstrafenfrei. Aber sie hatte als Dortmunderin ausgerechnet neben dem Bochumer einquartiert werden müssen, und so hatten Heimweh und Marihuana vom einen zum anderen und schließlich zu ihrer Vorstrafe und dem Job in der Bäckerei geführt.

Paula deckte den Tisch, gab die Nudeln auf die Teller und holte noch zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank.

»Du bist die Beste«, sagte Timo und stieß mit ihr an.

Andererseits: Die mexikanische Wüste war ziemlich heiß. Und Paula mochte Salsamusik noch nicht einmal.

»Nächste Woche bring ich mein Auto zum TÜV«, sagte sie. »Dann wird deine gefälschte Plakette endlich überklebt. Dass das noch niemand gemerkt hat, ist ohnehin ein Wunder. Einmal muss ich auch mal Glück haben.« Ihre diversen – fast immer ungerechtfertigten! – Verhaftungen waren jedenfalls ziemliches Pech gewesen. Sie grinste Timo zu. »Das wird das am leichtesten verdiente Geld meines Lebens.«

2. Kapitel

Am nächsten Morgen konnte Paula ausschlafen. Sie hatte am Vortag die Frühschicht um sechs gehabt, heute wurde sie erst am Mittag erwartet. Deshalb ließ sie Klingel Klingel sein, als jemand um kurz nach acht bei ihr läutete. Sie gähnte, ging kurz aufs Klo – es läutete noch einmal – und legte sich wieder hin.

In diesem Augenblick klopfte es. Lang, laut und äußerst hartnäckig. Nun gut, wo sie eh schon wach war … Auf bloßen Füßen ging sie zur Tür, öffnete und wurde sich augenblicklich ihres alten Schlafanzuges bewusst. Verdammt. Hätte sie es sich doch irgendwann angewöhnt, in schicken Negligés schlafen zu gehen.

Der Mann, der dort im Flur stand, war nicht nur groß und muskulös, er hatte auch dunkle Haare und so schöne Augen, dass Paula nichts weiter schaffte, als sich am Türrahmen abzustützen und ihn ein wenig verschlafen anzulächeln. Im Gegensatz zu Rechtsanwalt Adlernase hatte dieser Mann nichts Kantiges an sich. Sein Gesicht war vielleicht eine Spur zu breit, als dass er jemals Model werden könnte, aber ooooh, sah Paula sich dieses Gesicht gern an.

»Paula Schmidt?« Eine wunderschöne Stimme hatte der wunderschöne Mann auch noch.

Sie war hin und weg.

Dann griff er in seine Tasche und zog einen Ausweis heraus. »Kriminalpolizei.«

Eine Eisdusche hätte nicht ernüchternder wirken können. Das Wort weckte zumindest Paulas Lebensgeister, und alte Instinkte setzten ein. Im Bruchteil einer Sekunde hatte sie die Tür zugeschlagen, schlüpfte im Bad in eine Jeans und rannte in die Küche. Als sie schon das Fenster geöffnet hatte und gerade überlegte, ob sie vielleicht von Balkon zu Balkon nach unten hüpfen und fliehen konnte, fiel ihr auf, dass es für eine Flucht überhaupt keinen Grund gab. Es war kein Gras bei ihr zu Hause versteckt, zu jedem ihrer Elektrogeräte besaß sie einen Kassenbon, und mit Waffen hatte Paula ohnehin nie etwas am Hut gehabt. Aber alte Gewohnheiten ließen sich eben schwer ablegen … Verschämt schloss sie das Fenster und schlich zurück in den Flur.

»Frau Schmidt?« Es klopfte wieder.

Mit einem schiefen Lächeln öffnete sie die Tür ein zweites Mal und fuhr sich durch die Haare. »Ich musste mir was anziehen.«

Der dunkelhaarige Polizist, der eigentlich auch gar nicht so gut aussah – wer stand schon auf große Männer mit breiten Schultern? –, nickte misstrauisch.

»Dürfen wir reinkommen?« Erst jetzt bemerkte Paula, dass Mr. Bombastic nicht allein gekommen war. Die kleine Polizistin war neben ihm komplett untergegangen.

»Ungern.« Paula seufzte, öffnete die Tür aber weiter, um die beiden eintreten zu lassen. Dann führte sie die Polizisten in die Küche, wo sie Kaffee aufsetzte.

»Kriminaloberkommissar Jan Brändle, das ist meine Kollegin Melanie Biessing.« Er nickte zur Kaffeemaschine. »Ich nehm auch einen.«

Paula kniff die Augen zusammen. Einen Augenblick überlegte sie, sich unkooperativ zu zeigen, dann gab sie einen zusätzlichen Löffel Pulver in den Filter. »Falls es um Timo geht: Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.«

Interessiert sah Kriminaloberkommissar Jan Brändle sie an. Dann zückte seine Kollegin ein Foto. »Kennen Sie diese Frau?«

Paula schüttelte den Kopf und holte zwei Tassen aus dem Schrank.

Moment.

Sie sah zurück zum Foto. Blond, etwas zu viel Make-up, Kostüm. Ups.

»Sie kennen sie also doch.« Brändle sah sehr zufrieden aus, als er sich auf einen Küchenstuhl plumpsen ließ. Ein sitzender Polizist war Paula weitaus lieber als einer, der sie um einen ganzen Kopf überragte.

Seine Kollegin stellte sich neben Paula vor den Kühlschrank.

Alles, was Sie sagen, kann vor Gericht gegen Sie verwendet werden. Bei ihrer ersten Festnahme hatte Paula noch versucht, der Polizei zu erklären, dass sie unschuldig war. Inzwischen hatte sie dazugelernt.

Die Kaffeemaschine röchelte. Paula öffnete den Kühlschrank, nahm die Milch heraus, holte den Zucker aus dem Hängeschrank über dem Herd und stellte beides auf den Tisch.

»Danke, für mich nicht«, sagte Brändle freundlich. Er schien keine Eile zu haben, wie er sich da auf ihrem Küchenstuhl breitmachte. »Wollen Sie sich nicht setzen?«

Um ihren Größenvorteil zunichte zu machen? Nein, wollte Paula nicht.

»Nicole Hochmeister.« Seine Kollegin war offenbar von der ungeduldigeren Sorte. Außerdem warf sie dem Kriminaloberkommissar einen irritierten Blick zu, der sich jedoch weiterhin gelassen in der Küche umsah.

»Sie haben Nicole Hochmeister gehasst«, sagte die Biessing.

»So ein Quatsch.« Paula hatte der Frau hinterherspionieren sollen und es nicht getan. Das einzige Gefühl, das sie gegenüber dieser Nicole hatte, war Gleichgültigkeit. Vielleicht ein bisschen Mitleid wegen ihres adlernasigen Ehemanns.

»Dokumentiert.« Die Kommissarin holte einen Zettel aus der Hosentasche und las vor: »Am 12. Februar 2009 haben Sie in der Bar …«

Paula stöhnte auf. »Das ist jetzt sechs Jahre her, war die Schuld der dummen Pute, und die hieß völlig anders.«

»Nicole Bäuerle. 2010 hat sie geheiratet.«

Paula blinzelte. Dann zog sie der Polizistin das Foto aus der Hand. »Die war brünett!«

Brändle legte, anscheinend amüsiert, den Kopf schräg. »Es gibt inzwischen so ganz abenteuerliche moderne Techniken.«

Die Kette. Wie hatte Paula diese unglückselige Kette nicht erkennen können? Nicole Bäuerle, oder Hochmeister, trug auf dem Foto eine goldene Kette – genauso eine war damals auch involviert gewesen … Paula schloss für einen Moment die Augen, dann lächelte sie und fragte so neutral wie möglich: »Was wollen Sie denn jetzt von mir wissen?«

»Wo waren Sie gestern Nacht? Sagen wir, zwischen 23 und zwei Uhr?«

Kriminalpolizei. Plötzlich wurde ihr klar, weshalb die Kriminalpolizei gekommen war. »Die Frau ist tot.« Jetzt wollte Paula sich doch setzen. Mit zitternden Knien ließ sie sich auf den zweiten Küchenstuhl nieder, die Hände fest um ihre Kaffeetasse gelegt.

»Ermordet«, bestätigte Brändle.

Seine Kollegin fügte hinzu: »Also? Was ist passiert? Sie haben Nicole Hochmeister als Letzte lebend gesehen.«

Es dauerte einen Augenblick, bis die Worte zu Paula durchgedrungen waren. »Ich habe sie gar nicht gesehen.«

»Der Ehemann hat uns erzählt, dass er Sie als Privatdetektivin engagiert hat.« Brändle sah sie aufmerksam an.

»Ich bin nicht hingegangen.«

»Wir haben eine Quittung. Er hat für den Job schon eine Anzahlung geleistet.«

Hilflos zuckte Paula mit den Schultern. Das konnte doch nicht wahr sein. »Ich bin faul. Außerdem Bäckereiverkäuferin.« Das am leichtesten verdiente Geld ihres Lebens, ha!

»Dann stellt sich die Frage, was Sie gestern Nacht gemacht haben«, nahm Brändle den Faden wieder auf.

Paula war zum Weinen zumute. Stattdessen nahm sie einen Schluck Kaffee und antwortete tapfer: »Ich war zu Hause. Allein.«

Das Nicken der beiden Beamten reichte, und es rutschte ihr doch heraus: »Ich bin unschuldig.« Von wegen dazugelernt.

»Das haben Sie in der Vergangenheit schon mehrmals bewiesen«, sagte die Kommissarin sarkastisch.

Paula versuchte, tief zu atmen. »Bewährungsstrafe, da wäre ich schön blöd, jetzt was auszufressen«, murmelte sie. »Außerdem ging es damals um Drogen, ganz andere Baustelle.«

»Frau Schmidt«, begann die Polizistin, »Sie sind mehrfach vorbestraft …«

»Ich war nie im Knast«, fiel Paula ihr ins Wort.

Brändle zog die Augenbrauen hoch. »Sie sind mehrfach vorbestraft, haben eine Vorgeschichte mit Frau Hochmeister, sollen zur Tatzeit am Tatort gewesen sein und bestreiten dies ohne anderweitiges Alibi.«

»Ich habe einen festen Job, einen Bewährungshelfer und keinerlei Kontakte in die kriminelle Szene.« Das entsprach zumindest zu zwei Dritteln der Wahrheit. Nah genug.

Es klingelte. Nicht das auch noch. Paula ging zur Tür und nahm den Hörer für die Gegensprechanlage auf. »Geh weg, Timo.«

Kommissar Brändle war ihr gefolgt und sah sie neugierig an.

»Sie wollten mir noch mein Motiv nennen«, sagte Paula.

Er lehnte sich an die Wand neben ihr, keine 20 Zentimeter von ihr entfernt. Seine dunklen Augen betrachteten sie aufmerksam. Wegen des Mordfalls hatte er heute früh vermutlich keine Zeit gehabt, sich zu rasieren, ein leichter Schatten lag auf seinen Wangen.

Paula musste schlucken. Verdammt, sah der Kerl gut aus.

»Rache.« Er verschränkte die Arme vor der Brust, und jetzt berührten sie sich fast.

»Nach sechs Jahren?« Paula merkte, wie ihr heiß wurde.

»Vielleicht war es gar keine Absicht. Sie haben nicht mehr über Nicole Hochmeister nachgedacht. Aber als Sie ihr gestern Abend folgten, kamen wieder alle Erinnerungen hoch. Sie war letztlich schuld daran, dass Sie jetzt eine Bewährungsstrafe aussitzen müssen, sonst wären Sie vielleicht noch einmal mit Sozialstunden davongekommen. Sie war schuld daran, dass Sie diesen grauenhaft langweiligen Job in der Bäckerei …«

»Es gibt Gratisberliner. Mit Himbeermarmelade.«

»Weiß das auch Ihr Chef?«

Paula presste die Lippen zusammen, da klopfte es an der Tür. Sie schreckte zusammen. Herrgott noch mal, öffneten die Hausbewohner inzwischen jedem dahergelaufenen Halunken? Auch Brändle schien sich zu erinnern, wo er war, und trat einen Schritt zurück.

»Paula? Hab ich was gemacht? Ich will doch nur Kaffee!«, rief Timo von draußen.

Und mit ziemlicher Sicherheit auch etwas zu essen.

Statt zu warten, bis Paula eine gescheite Ausrede einfiel, öffnete Brändle einfach die Tür.

»Was is’n los?« Timo starrte erst Paula an, dann den Kommissar. »Ist das dein Neuer oder was?« Er drängte sich an Brändle vorbei, nicht ohne ihm den Ellenbogen in die Seite zu stoßen, und zog sich noch im Gehen die Schuhe von den Füßen.

»Ein fester Job, ein Bewährungshelfer und keinerlei Kontakte in die kriminelle Szene«, zitierte Brändle Paulas Worte. Er grinste.

Es brauchte einen Augenblick, bis Timo verstand, dass er damit gemeint war. »Ey, ich bin voll clean, Mann.«

»Deshalb auch die roten Augen.«

»Bindehautentzündung. Bin da ganz empfindlich.«

»Dann solltest du dringend zum Arzt«, sagte Paula schnell und versuchte, ihm mit ihren Augenbrauen ein Zeichen zu geben.

»Erstmal brauch ich einen Kaffee.« Er schlurfte zur Küche.

»Das ist nicht dein Neuer.« In der Tür blieb er abrupt stehen und sah von Paula zur Kommissarin, die sich inzwischen mit einem Notizblock an den Tisch gesetzt hatte, und zurück zu Brändle. »Das sind die Bullen.« Timo war noch nicht ganz wach und hatte schon den ersten Joint des Tages geraucht. Das entschuldigte das Nachlassen seiner Fähigkeiten: Normalerweise erkannte er die Polizei auch in Zivil auf 200 Meter Entfernung.

»Haben Sie damit irgendein Problem?«, fragte Brändle unschuldig.

»Ey, gar nicht, ihr seid cool. Echt cool, Jungs …«

Die Kommissarin zog ihre Augenbrauen hoch.

»… aber ich muss … hab einen Termin vergessen.« In nicht einmal zehn Sekunden hatte Timo seine Schuhe wieder angezogen und rauschte die Treppe hinunter.

»Ich hab immer schon gesagt, ich bin cool.« Unter dem eher genervten Blick seiner Kollegin grinste Brändle. »Guter Freund von Ihnen?«, fragte er Paula.

Sie schüttelte den Kopf. »Zufällig an mir kleben geblieben. Brauchen Sie noch etwas?«

Die Polizistin stand auf. »Wenn wir uns mal umsehen dürften …?«

»Klar. Wenn Sie einen Durchsuchungsbefehl haben.«

Die Kommissarin nickte grimmig, dann klappte sie ihr Notizbuch zu. »Damit machen Sie sich nicht unverdächtiger.«

Paula schwieg. Die beiden wollte sie ganz sicher nicht in ihrer Unterwäsche herumfummeln sehen.

Schließlich nickte Brändle. »Das wäre alles.« Er reichte ihr seine Karte. »Falls Ihnen noch etwas einfällt. Ansonsten kommen wir auch gern wieder auf Sie zu.«

Das hatte Paula sich gedacht. Viele Verdächtige schienen sie ja nicht gerade zu haben.

»Bisher sind Sie die Einzige, die ein Motiv haben könnte, Nicole Hochmeister zu erstechen«, sagte die Biessing.

»Sie ist erstochen worden?« Durfte die Polizei so etwas überhaupt mitteilen? Aber Brändles Kollegin hatte offenbar kein Problem mit Brutalität. »Sechs Stiche in den Oberkörper und Bauch«, sagte sie mitleidlos. »Sie müssen einen ganz schönen Hass gehabt haben.«

Paula hielt sich am Türrahmen fest. Sechs Stiche. Wie viel Blut, welche Schmerzen … Ihr wurde schlecht.

»Ein Motiv, aber kein Alibi«, murmelte die Biessing dann zum Abschied, und Paula drehte sich endgültig der Magen um.

Nachdem sie die Tür hinter den beiden Polizisten geschlossen hatte, lehnte sie sich mit dem Rücken dagegen, schlang die Arme um den eigenen Oberkörper und rutschte an der Tür entlang zu Boden. Bereits ihre bisherigen Begegnungen mit der Justiz waren alles andere als schön gewesen, aber Mordverdacht? Sechs Stiche in Oberkörper und Bauch? Sie zitterte. Dann wischte sie sich über die Augen und versuchte, langsam und tief zu atmen.

Bevor sie bis zehn gezählt hatte, klingelte es schon wieder unten an der Tür.

»Ich hab im Hauseingang gegenüber gewartet«, erklärte Timo atemlos, nachdem er die Treppe hochgestürmt war. »Was wollten die? Du hast ihnen doch nichts über meinen Laden gesagt?«

Paulas Knie fühlten sich immer noch leicht wacklig an. »Es ging um die Frau von gestern.«

»Oh, Gott sei Dank.« Timo ließ sich auf den Küchenstuhl fallen, auf dem Kriminaloberkommissar Brändle kurz vorher gesessen hatte. Der hatte eine weitaus bessere Figur gemacht, dachte Paula abwesend.

»Gibt’s Croissants?«

Sie hatte fast immer Brötchen, Laugenweckle oder Croissants zum Aufbacken im Kühlschrank. Frühstück war ihr wichtig, und seitdem sie in der Bäckerei arbeitete, hatte sie ihre Liebe zu Backwaren entdeckt. Timo war Frühstück mindestens ebenso wichtig, er hatte ständig Hunger, aber nie etwas Essbares zu Hause. Sie schob drei Croissants in den Backofen und stellte Marmelade auf den Tisch. Dann kochte sie zum zweiten Mal Kaffee. Dabei war es nicht einmal neun.

»Nicole Hochmeister, die Frau, die ich gestern überwachen sollte, ist tot«, erzählte Paula, als sie zehn Minuten später bei Croissants und Kaffee am Frühstückstisch saßen.

Timo nickte und biss in sein Hörnchen.

»Ermordet.«

Ein weiteres Nicken.

»Ich stehe auf der Liste der Verdächtigen ganz oben.«

»Wieso das denn? Du kanntest die doch nicht mal«, nuschelte Timo mit vollem Mund.

Paula zog eine Grimasse. »Dummerweise ist diese Nicole Hochmeister identisch mit einer Nicole Bäuerle, mit der ich im Februar 2009 eine klitzekleine Schlägerei hatte. Das nennt Kriminalkommissar Brändle ein Motiv

Timo schluckte den letzten Rest seines Croissants hinunter, spülte mit Kaffee nach und sah ihr in die Augen. »Du musst abhauen. Aus Stuttgart verschwinden, aus Baden-Württemberg, am besten aus Deutschland. Mh, Bayern. Bayern könnte gehen.«

»Timo!«

Er schüttelte heftig den Kopf und senkte die Stimme. »Du wärst nicht die Erste, die unschuldig verurteilt würde.«

»Ich bin schon unschuldig verurteilt worden.«

Er nickte bedeutungsvoll und zog die Augenbrauen hoch.

»Es ist sowieso alles deine Schuld«, sagte Paula. »Wer hat mir den Rechtsanwalt denn angeschleppt!«

»Siehst du«, Timo deutete mit seinem Zeigefinger auf sie, »deshalb sind wir nicht mehr zusammen. Ich tu dir was Gutes, und du meckerst mich an, wenn du es vermasselst.«

Paula verdrehte die Augen.

»Ich kenn jemanden«, fuhr er fort, »der kann dir einen neuen Ausweis besorgen. Für dich als Freundschaftsdienst macht er es sicher für 200.«

So viel hatte der Rechtsanwalt ihr im Voraus gezahlt. Die restlichen 350 würde sie vermutlich nicht mehr bekommen.

»Heute noch Paula Schmidt aus Stuttgart, morgen schon Freya Schulze aus Hamburg.«

»Freya?«

»Du siehst sehr, sehr deutsch aus.« Während er nach einem weiteren Croissant griff und es mit Nutella bestrich, zog er die Augenbrauen zusammen. »Du färbst dir besser die Haare«, sagte er schließlich.

»Wie in jedem guten Mafiafilm.«

»Die Polizei hat mehr Leute als die Mafia.« Er kaute wieder. »Aber vermutlich ist es ihnen nicht ganz so wichtig, dich zu finden, wie Don Corleone einen Abtrünnigen.«

»Das beruhigt.« Paula trank den letzten Schluck Kaffee und beschloss, dass Timo nicht der Richtige war, um das Thema zu besprechen. Timo war selten der Richtige.

Eine knappe Stunde später machte Paula sich auf den Weg in die Bäckerei. Sie musste ihre Kollegin Julia zwar erst am Mittag ablösen, aber die Zeit vorher konnte sie nutzen, um mit ihr in der am späten Vormittag üblicherweise leeren Bäckerei über das neue Problem zu sprechen.

Tatsächlich war kein einziger Kunde da, als Paula den Laden betrat. Julia stand über eine Zeitung gebeugt am niedrigen Tresen, wo sie den Kaffee ausgaben, und machte sich Notizen in ein kleines Büchlein.

»Na, sind wir wieder bei den Aktienkursen?«, fragte Paula. Julias Familie hatte an der Börse ihr gesamtes Vermögen verloren, weshalb Julia die Schule kurz vor dem Abitur abgebrochen und eine Ausbildung begonnen hatte. Trotzdem oder gerade deshalb waren Wertpapier-Analysen ihr Lieblingshobby.

»Ich vergleiche mit letzter Woche«, nuschelte Julia, die gedankenverloren auf dem Zeigefinger ihrer linken Hand kaute. Eine dunkle Haarsträhne fiel ihr in die Augen, und sie strich sie abwesend zurück. Für Julias dichtes Haar würde Paula alles geben. Außer ihren letzten Berliner.

»Ich habe ein Problem.« Paula hatte keine Zeit für Smalltalk. Sie zog sich einen der wenigen Stühle heran, die ihre Bäckerei besaß. Damit sie nicht als richtiges Café durchgingen und somit keine Kundentoiletten anbieten mussten, war die geniale Idee des Chefs gewesen, nur zwei Tische mit insgesamt sechs Stühlen aufzustellen. Bisher hatte das Ordnungsamt sie noch nicht besucht.

Ohne aufzusehen, sagte Julia: »Schmeiß den Schmarotzer raus.«

»Ausnahmsweise hat das Problem nur indirekt mit Timo zu tun.« Ganz hatte sie ihm noch nicht verziehen, dass er ihr den Rechtsanwalt auf den Hals gehetzt hatte.

. Julia merkte man die Privatschule an. Ihre Wortwahl und die immer aufrechte Haltung schrien nur so »Bildung«.

»Hast du eine bessere Idee? Ich bin vorbestraft.«

»Wegen einer Winzigkeit Marihuana!«

Es war etwas mehr als das, aber die genauen Details hatte sie Julia verschwiegen. Es hatte mehrere dumme Zufälle gegeben, die zusammengekommen waren. »Ist ja auch egal.«

Julia holte Luft. Dann schnalzte sie mit der Zunge und sagte: »Ich finde es eigentlich ganz schön, dass du meine Kollegin bist. Wie wär’s also, wenn wir das Abtauchen erst mal nur als Plan B im Hinterkopf behalten?«

Paula überlegte. »Plan A ist die Polizei von meiner Unschuld zu überzeugen.«

»Genau.«

»Indem ich den wahren Mörder finde.«

»Was?« Julia hob überrascht den Kopf.

Paula zuckte mit den Schultern. »Soll ich doch untertauchen?«

»Nein, das ist … Das ist eigentlich gar keine schlechte Idee.«

Eben. Von ihrer Unschuld, nein, vom Beweis ihrer Unschuld hing schließlich ihr zukünftiges Leben ab. Das sie definitiv nicht außerhalb Deutschlands und schon gar nicht in Bayern verbringen wollte. Mit einer Verurteilung würde sie im Knast landen, sie würde 15 Jahre in einer engen Zelle hocken, sie würde keine Berliner mehr essen können und die ganze Mühe, die sie sich mit ihrer Wohnung und dem Austauschen des alten Teppichbodens gegen schickes Laminat gemacht hatte, wäre umsonst gewesen. Ihr Bewährungshelfer würde resignieren, Timo würde verhungern und Julia vereinsamen. Das konnte sie nicht zulassen. Entschlossen ballte sie die Hände zu Fäusten. »Ich bin seit gestern Privatdetektivin. Mein neuester Fall ist eben die Aufklärung eines Mordes.«

»Vielleicht ist das der Beginn einer großen Karriere.«

Paulas Magen machte mehr als nur einen kleinen Hüpfer. »Ein Mord ist schon was richtig Fieses«, murmelte sie.

»Oh Gott, glaubst du, es kann gefährlich werden?«

Paula stand auf. »Ich mach das. Vor sechs Jahren hab ich einer brünetten Nicole Bäuerle ein Büschel Haare ausgerissen. Jetzt verhelfe ich einer blonden Nicole Hochmeister zu Gerechtigkeit.« Das klang furchtbar pathetisch. Aber irgendwie auch … hilfreich. Zumindest hatte sie jetzt einen Plan.