Heimatkinder 16 – Blumen für die Mami

Heimatkinder –16–

Blumen für die Mami

Eine aufregende Zeit für Ninchen

Roman von Gisela Heimburg

»Mami, warum fahren wir eigentlich nicht in den Urlaub?«

»Ach, Kind …«

»Die anderen im Kindergarten fahren fast alle mit ihren Eltern. Oder fliegen! Das muss schön sein! Kathy nach Mallorca, Sven nach Mexiko und Yvonne nach Costa Rica. Wo ist das, Mami?«

»Weit weg. Viel zu weit für uns. Ninchen, wir können uns keinen Urlaub leisten. Die teure Wohnung – und auch sonst.«

»Weil wir keinen Vati mehr haben, nicht wahr?«, fragte die Sechsjährige traurig.

»Ja, auch darum. Wir beide müssen eben sehen, wie wir allein durchkommen. Wenn Vati noch lebte, wäre alles viel einfacher. Aber du wirst sehen, wir machen es uns auch zu Hause schön. Wollen wir Bilder begucken?«

»Au ja!«

Silke Hell strich das halblange blonde Haar zurück und nahm ein Fotoalbum aus dem Bücherschrank. Ihre kleine Tochter setzte sich kuscheldicht neben sie auf die Couch.

Die Fotos auf den ersten Seiten zeigten die blühende Heide.

»Das ist eine tolle Farbe!«, stellte Janina fest. »Und das ist die Omi, nicht?«

»Ja, meine Mutter. Du weißt ja, sie ist schon gestorben, bevor ich heiratete und bevor du zur Welt kamst.«

»Schade. Und der Opa?«

»Den Opa habe ich nie gekannt«, erwiderte Silke rasch. Eine flüchtige Röte huschte über ihr bildhübsches Gesicht. Ablenkend zeigte sie auf ein Foto und erklärte: »Das ist das Gasthaus ›Zur Heiderose‹ in Sellbeck, dort hat die Omi damals gewohnt, als sie Urlaub in der Heide machte. Das ist schon lange her.« Silke schwieg nachdenklich. Plötzlich hob sie ruckartig den Kopf. »Weißt du was? Die Heide ist heutzutage vielleicht auch noch nicht allzu teuer. Wir kutschieren einfach einmal hin, wenigstens für ein paar Tage.«

»Au, fein!«, jubelte Ninchen und fiel ihrer Mutter stürmisch um den Hals. »Jetzt gleich?«

»Morgen …«

Am nächsten Tag stiegen Mutter und Töchterchen erwartungsvoll vor dem idyllisch gelegenen Gasthaus »Zur Heiderose« aus dem Wagen.

»Wollen wir hier wohnen – wie die Omi?«

»Schauen wir uns doch erst einmal ein bisschen die Gegend an, ob es uns hier gefällt.«

Ninchen nickte und ergriff die Hand ihrer Mami. Sie ließen das Dorf hinter sich. Vor ihnen erstreckte sich die Wacholder-Heide bis zum Horizont. Die hohe Zeit der Heideblüte war vorüber, aber noch immer leuchteten vereinzelte Erikablüten aus dem Braun und Grün – wie violette kleine Sterne, die aus einem verzauberten Himmel auf die Erde gefallen waren.

»Was ist das für ein großes Haus mit Türmen dort hinten?«, erkundigte sich das kleine Mädchen.

»Keine Ahnung.« Ein einsamer Heidewanderer kam ihnen entgegen. Silke grüßte und fragte: »Können Sie uns vielleicht sagen, um was für ein Gebäude es sich handelt?«

»Es ist das Schloss«, antwortete der Wanderer wortkarg und setzte seinen Weg fort.

»Ein Schloss!«, begeisterte sich Ninchen. »Das müssen wir sehen! Komm!« Das blonde kleine Mädchen hatte es plötzlich sehr eilig und zog die Mami über die sandigen Wege, die sich durch das hohe Erikakraut schlängelten.

Bald standen sie vor einem mächtigen schmiedeeisernen Tor.

Ninchen spähte durch die Gitterstäbe und meinte ein wenig enttäuscht. »Das sieht aber gar nicht wie ein richtiges Schloss aus!«

Das Bauwerk wirkte im Vergleich zu bayerischen Märchen­schlössern eher wie ein Aschenputtel. Kein in höheren Sphären schwebender König hatte es erbaut, sondern ein bodenständiger niedersächsischer Graf. Nur zwei gedrungene Türme und der weitläufige Park deuteten darauf hin, dass es sich um ein herrschaftliches Gebäude handelte.

Ninchen probierte das Tor aus.

Langsam schwang es knarrend auf.

»Gehen wir mal rein, Mami?«

»Ich weiß nicht, ob wir das dürfen.«

»Wieso denn nicht? Komm doch!«

Ninchen trippelte bereits in den Park, und Silke folgte ihrer kleinen Tochter zögernd. Keine Menschenseele war zu entdecken. Das große Bauwerk lag wie ausgestorben da. Die Rasenflächen beschatteten wundervolle alte Rotbuchen. Auf etwas verwilderten Rabatten leuchteten die letzten Rosen des Sommers, schon ein wenig verblasst, wie schöne Erinnerungen.

»Was ist das, Mami?«, fragte Ninchen und deutete auf ein kleines Bauwerk, das im Schatten eines Fichtenwaldes ein unscheinbares Dasein führte.

»Es sieht fast so aus wie eine Kapelle.«

Das kleine Mädchen war bereits wieder neugierig an der Tür, und es gelang ihr mühelos, die schmale Pforte zu öffnen.

Auch Silke trat über die Schwelle. Eine stille, feierliche Atmosphäre umfing sie.

An der gegenüberliegenden Seite befand sich ein kleiner Altar. Darauf standen zwei Leuchter mit halb niedergebrannten Kerzen. Darüber ein Kreuz und ein Bild. Es zeigte eine Madonna mit dem Kind.

Eine blonde Madonna!

In diesem Moment brach ein Sonnenstrahl durch das schmale Bogenfenster und fiel direkt auf das Gemälde, sodass es wie von innen erhellt aufleuchtete.

»Mami, das bist ja du!«, rief Ninchen erstaunt aus.

Jäh trat Silke einen Schritt nach vorn.

Mit schreckgeweiteten Augen starrte sie auf das Marienbild. Ja – es gab keinen Zweifel, die Madonna in dem goldenen Rahmen, das war sie selbst!

Die Züge waren unverkennbar, wenn die Madonna auf dem Bild auch in ein loses altertümliches Gewand gehüllt war und das weizenblonde Haar straff zurückgekämmt trug.

»So etwas gibt es doch nicht«, murmelte Silke und trat noch näher an den Altar heran. Die Ähnlichkeit war gespenstisch!

Als ob ich mich in einem Spiegel sehe, ging es ihr durch den Sinn. Sie fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen.

»Mami, wie kommt dein Bild hierher? Und warum hast du so ein komisches Kleid an? Und wer ist das Baby auf deinem Arm?«

»Wie bitte?« Geistesabwesend blickte Silke auf ihre kleine Tochter hinunter. »Ja, weißt du, es kann sich nur um eine zufällige Ähnlichkeit handeln. Ich habe ja nie in meinem Leben einem Maler Modell gestanden.«

»Du meinst, es gibt noch eine andere Mami, die genauso aussieht wie du?«

»Sicher, eine Doppelgängerin, so etwas gibt es.« Noch immer fühlte Silke sich halb betäubt. Unwillkürlich schüttelte sie sich, als könnte sie sich auf diese Weise von dem seltsamen Bann befreien, der sie ergriffen hatte. »Oder – der Maler hat das Bild nach der Phantasie gemalt, und die Ähnlichkeit ist wirklich nichts anderes als ein Zufall.«

Sie fasste ihr Töchterchen bei der Hand und zog es aus der Kapelle. Sollte sie sich vielleicht im Schloss melden und einmal nachfragen, ob die Madonna eine bestimmte Person darstellte?

»Ach, so ein Unsinn«, sagte sie laut.

»Was ist ein Unsinn, Mami?«

»Nichts. Lass uns hier bloß schnell verschwinden, bevor uns jemand erwischt. Da ist eine Seitenpforte.«

Mit raschen Schritten verließ Silke den Schlosspark und strebte wieder auf die offene Heide hinaus. Sie war noch immer so tief in Gedanken versunken, dass sie kaum auf den Weg achtete. Beinahe wäre sie über einen frisch aufgeworfenen Erdhügel gestolpert.

Erschrocken blieb sie stehen.

Vor sich entdeckte sie in einer Grube einen Mann. Er schaufelte den Heidesand im hohen Bogen aus der Vertiefung, direkt vor Silkes und Ninchens Füße.

Die junge Frau wollte sich gerade abwenden, da bemerkte der Fremde sie. Er rief:

»Hallo! Sie haben doch nicht etwa Angst vor mir? Sehe ich vielleicht so aus, als würde ich hier heimlich eine Leiche verbuddeln?«

Er war etwa dreißig Jahre alt, hatte volles dunkles Haar und ein sympathisches wettergebräuntes Gesicht.

Silke lächelte entspannt.

»Heimlich ist gut! Mitten auf der Heide? Ich nehme an, dass Sie ein waschechter Niedersachse sind – sehr erdverbunden.«

»Hm – was man von Ihnen nicht behaupten kann.« Er schwang sich aus der Grube und zog eine Pfeife aus der Brusttasche seines Arbeitshemdes. »Sie haben nämlich einen etwas mondsüchtigen Zug um die Nase.«

Silke lachte unbeschwert auf.

Dieser Fremde strahlte so viel Natürlichkeit und Sicherheit aus, dass auch sie das Gefühl hatte, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben und nicht mehr wie im Traum daherzuwandeln.

»Ich bin wohl so blass, weil ich eben in der Schlosskapelle meinem Ebenbild gegenübergestanden ha­be!«

Der Mann bedachte sie mit einem ironischen Blick. »Passiert Ihnen das öfter?«

»O nein! Bis vor Kurzem hielt ich mich noch für völlig normal, und ich denke …« Sie stockte und nagte nervös an ihrer Unterlippe.

»Vielleicht der Geist aus der Flasche?«, fragte der Fremde trocken.

Silke hauchte ihn demonstrativ an. »Keinen Schluck! Es handelt sich auch nicht um ein geistiges Ebenbild, sondern um ein Gemälde – ein Madonnenbild.«

»Soso.«

»Sie glauben mir nicht? Fragen Sie meine Tochter!«

Der Fremde beugte sich zu dem Kind nieder.

»Entschuldige, kleine Lady, dass ich so unhöflich war. Mein Name ist Thorsten Wagner.«

»Und ich bin die Janina.«

»Genannt Ninchen«, fügte Silke hinzu und nannte ihren Namen. »Am besten wäre es vielleicht, Herr Wagner, Sie schauten sich das Bild selbst einmal an, dann können Sie uns vielleicht sagen, ob wir spinnen. Halluzinationen oder so. Es ist ja nicht weit bis zum Schlosspark.«

»Ich bin gespannt.« Thorsten Wagner steckte seine Pfeife wieder ein, und sie machten sich auf den Weg.

Als sie wenig später vor dem kleinen Altar standen, stieß der Mann verblüfft hervor:

»Tatsächlich, das könnten Sie sein! Sind Sie sicher, dass Sie nie gemalt worden sind? Vielleicht nach einem Foto?«

Silke hob ruckartig den Kopf. »Da fällt mir etwas ein! Ich habe eine ziemlich große Ähnlichkeit mit meiner Mutter, als sie etwa in meinem Alter war.«

»Das stimmt!«, bekräftigte Ninchen. »In unserem Fotoalbum, da habe ich die Omi zuerst für meine Mami gehalten.«

»Es könnte also sein, dass meine Mutter einem Maler Modell gesessen hat«, meinte Silke nachdenklich.

Thorsten Wagner hatte sich inzwischen zu dem Bild geneigt und es näher betrachtet. »Neben dem unleserlichen Signum steht die Jahreszahl 1789. So alt kann Ihre Mutter beim besten Willen nicht sein. Und Sie ja erst recht nicht, wenn ich Sie so anschaue.« Er lächelte sie hinreißend an.

»So alt ist das Bild schon. Dann verstehe ich gar nichts mehr«, seufzte Silke resignierend.

»Es könnte sich doch um eine Ur-ur-ur-Ahne von Ihnen handeln«, vermutete Thorsten Wagner.

»Das glaube ich kaum. Wir sind gar nicht aus dieser Gegend. Meine Großeltern waren Flüchtlinge aus Pommern.«

»Na und? Vor zweihundert Jahren könnten Ihre Ahnen doch ins wilde Pommernland ausgewandert sein. Ist davon nichts bekannt?«

»Wer kann seine Altvorderen schon so weit zurückverfolgen! Höchstens die alten Adelgeschlechter.«

»Vielleicht haben Ihre Großeltern das Bild aus Pommern mitgebracht und später verkauft.«

»Das glaube ich nicht. Meine Oma hat mir oft erzählt, dass sie nach dem Krieg nur mit dem, was sie auf dem Leibe trugen, in Hamburg angekommen sind.«

»Wie haben Sie das Gemälde überhaupt entdeckt? Sind Sie Gast im Schloss?«

»Ach wo. Wir sind unerlaubterweise eingedrungen. Entdeckt hat das Bild eigentlich meine kleine Tochter – durch Zufall oder aus Neugier. Wir wollen ein paar Ferientage in der Heide verbringen.«

»Wäre es nicht am gescheitesten, im Schloss nähere Erkundigungen einzuholen?«

»Daran habe ich auch schon gedacht, aber es ist mir irgendwie peinlich. Wahrscheinlich handelt es sich doch nur um eine zufällige Ähnlichkeit, und ich möchte nicht so viel Wind darum machen. Vielleicht kann ich später, bei einem Spaziergang, einmal wie zufällig mit einem Schlossbewohner zusammentreffen – an der Parkmauer oder so – und nach dem Bild fragen.«

Thorsten Wagner wandte sich an das kleine Mädchen. »Euer Papi erwartet euch wohl im Hotel?«

»Unser Papi ist im Himmel«, erklärte Ninchen lakonisch.

Und Silke fügte rasch hinzu: »Wir haben noch keine Unterkunft, aber ich nehme an, dass es nicht allzu schwer sein wird, irgendetwas zu finden, da die Zeit der Heideblüte doch fast vorbei ist.«