Der Geisterjäger 11 – Rick Masters wird verraten

Der Geisterjäger –11–

Rick Masters wird verraten

Roman von Andrew Hathaway

Widerstrebend betraten die Zwillinge das Gewölbe. Sie zitterten vor Angst. Gleichzeitig brannten sie auf das Kommende.

In dem kalten, feuchten Raum brannte nur eine einzige schwarze Kerze. Sie beleuchtete eine vermummte Gestalt, die von Kopf bis Fuß in schwarze Gewänder gehüllt war. Über den Kopf hatte sich der Unbekannte eine schwarze Kapuze gestülpt.

»Tretet näher!« forderte er die Zwillinge mit dröhnender Stimme auf. Das Echo brach sich an den Wänden des Gewölbes. »Vor achtzehn Jahren wurdet ihr in dieser mitternächtlichen Stunde geboren. Heute sollt ihr die höheren Weihen des Bösen empfangen!«

Er streckte beschwörend die Hände aus.

»Ich werde das Böse rufen!« verkündete er mit hallender Stimme. »Von jetzt an werdet ihr treue Diener sein!«

Er sagte nicht, wessen Diener. Hätte er es getan, wären der junge Mann und die junge Frau schreiend aus dem Gewölbe geflohen.

*

Arnold Blackfield schreckte aus dem Schlaf hoch, als ihn jemand unsanft an der Schulter rüttelte.

»Ja, was ist denn?« murmelte er und blinzelte in das helle Licht der Deckenlampe. Seine Frau stand vor dem Bett. »Ist etwas passiert, Martha?«

Martha Blackfield konnte sich nur mit Mühe beherrschen. »Sie sind nicht da!« stieß sie schluchzend hervor. »Sie sind weg!«

Arnold Blackfield schüttelte den Schlaf ab und warf einen Blick auf die Uhr neben seinem Bett. »Wer ist weg?« fragte er und stellte fest, daß es halb ein Uhr nachts war.

»Die Kinder!« Mrs. Blackfield ließ sich erschöpft auf den Bettrand sinken. »Ich habe in ihren Zimmern nachgesehen. Die Kinder sind nicht da!«

Arnold Blackfield starrte seine Frau an. »Und deshalb regst du dich auf?« fragte er fassungslos. »Martha, die ›Kinder‹, wie du sie nennst, sind achtzehn Jahre alt. Wieso wundert es dich, wenn sie um halb ein Uhr nachts nicht in ihren Betten liegen? Und wieso siehst du überhaupt in ihren Zimmern nach? Sie sind volljährig, vergiß das bitte nicht. Sie wollen Selbständigkeit haben, aber keine Mutter, die sie kontrolliert.«

»Du verstehst überhaupt nichts!« schrie Martha Blackfield unbeherrscht. »Sie sind nicht da! In ihrer Geburtsnacht!«

Blackfield ließ sich mit einem erleichterten Seufzen zurücksinken. »Ach, das ist es!« Er tastete nach den Zigaretten auf dem Nachttisch, obwohl der Arzt sie ihm verboten hatte. »Deine Angewohnheit, am 3. August um Mitternacht zu den Kindern zu gehen! Jetzt begreife ich! Früher, als sie noch ganz klein waren, haben sie geschlafen und nichts davon gemerkt, daß du ihnen gratuliert hast. Genau in ihrer Geburtsstunde. Und später waren sie dann immer wach und haben sich über deinen Besuch gefreut.« Er legte die brennende Zigarette im Aschenbecher ab und faßte seine Frau an den Schultern. Lächelnd blickte er ihr ins besorgte Gesicht. »Martha! Die Kinder haben noch mit siebzehn auf dich gewartet. Heute sind sie achtzehn geworden. Und heute warten sie eben nicht mehr. Sie sind irgendwo und feiern. Ist das so schlimm? Wir müssen uns daran gewöhnen, daß unsere Kinder erwachsen geworden sind.«

Martha Blackfield bebte am ganzen Körper. »Das ist es auch nicht, Arnold«, flüsterte sie. »Seit Tagen schon merke ich, daß mit Robert und Stella etwas nicht stimmt. Seit Tagen sind sie so merkwürdig, daß ich Angst um sie habe.«

»Ich habe nichts gemerkt«, behauptete ihr Mann.

»Das glaube ich gern.« Martha Blackfield nickte nachdrücklich. »Du kümmerst dich ja auch nur um deine Firma. Glaub mir, mit den Kindern stimmt etwas nicht.«

Jetzt runzelte Arnold Blackfield die Stirn. Er wußte, daß er sich auf seine Frau verlassen konnte. Wenn sie behauptete, mit Robert und Stella wäre etwas nicht in Ordnung, dann stimmte das auch.

»Rauschgift?« fragte er knapp. »Das ist doch im Moment ganz groß in Mode.«

Sie schüttelte energisch den Kopf. »Nein, bestimmt nicht. Sie stehen nicht unter Drogeneinfluß. Das kann ich beurteilen. Nein, sie sind verschlossen, verstört, nervös. Wenn man sie anspricht, erschrecken sie. Gestern hat Stella mich wie eine Fremde angesehen und mich mit einem Namen genannt, den ich noch nie gehört habe. Ich habe ihn mir auch nicht gemerkt. Er klang so fremd.«

Nachdenklich zog Arnold Blackfield an seiner Zigarette. »Und das so plötzlich?« Er kratzte sich über das Kinn. Die Bartstoppeln gaben ein sirrendes Geräusch von sich. »Das kann ich mir einfach nicht erklären. Ich werde mit den beiden sprechen, wenn sie wieder da sind.«

Martha Blackfield wagte ein scheues Lächeln. »Das ist gut, Arnold. Vielleicht hilft das. Aber wo sind sie jetzt?«

Ihr Mann zuckte die Schultern. »Sie feiern mit Freunden, da gehe ich jede Wette ein. Du solltest dir nicht so große Sorgen machen. Komm, geh wieder in dein Zimmer, nimm eine Schlaftablette und ruh dich aus! Du hast es nötig.«

Seine Frau nickte und verließ das Zimmer. Er wußte allerdings jetzt schon, daß sie nicht schlafen, sondern auf die Rückkehr ihrer Kinder warten würde.

»Achtzehn Jahre alt«, murmelte er, als er sich wieder auf die Seite drehte und das Licht löschte. »Großjährig, aber die Mutter macht sich noch immer Sorgen.«

Arnold Blackfield dachte nicht mehr lange über das angeblich so seltsame Verhalten seines Sohnes und seiner Tochter nach. Er kannte die beiden als sehr vernünftige junge Menschen. Und er konnte sich absolut nicht vorstellen, welche Probleme sie haben sollten.

Außerdem war er überzeugt, daß er alles in einer kurzen Aussprache mit Robert und Stella klären konnte.

*

Rick Masters hatte vor Jahren versucht, sich einen Namen als Privatdetektiv zu machen. Das war ihm auch gelungen. In London und sogar darüber hinaus war er ziemlich bekannt geworden.

Dann allerdings hatte seine Karriere durch einen Zufall eine abrupte Wendung genommen. Er war auf das Wirken übersinnlicher Mächte gestoßen.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er nichts von Geistergeschichten und Erzählung über Dämonen gehalten. Schwarze Magie war für ihn nur ein leeres Wort gewesen, genauso wie Weiße Magie.

Seit diesem Erlebnis jedoch gehörte er zu den Eingeweihten. Er hatte seine Kenntnisse vertieft, und nachdem er festgestellt hatte, wie oft übersinnliche Kräfte in das Leben der Menschen eingriffen, hatte er sich ganz auf dieses Spezialgebiet konzentriert.

Seither genoß er als Geisterdetektiv einen ausgezeichneten Ruf, der in Kreisen von Eingeweihten weit verbreitet war. Auch in den Zeitungen wurde er häufig erwähnt, wenn er einen spektakulären Fall zu einem guten Ende gebracht hatte. Allerdings wurden in solchen Reportagen die wahren Hintergründe nicht enthüllt. Sie blieben im Verborgenen. Übersinnliches hatte keinen Platz in nüchternen Schlagzeilen.

Unterstütz wurde der Geisterdetektiv bei seiner Arbeit von Scotland Yard und dort besonders von Chefinspektor Kenneth Hempshaw. Meistens war es jedoch so, daß Rick dem Chefinspektor half und nicht umgekehrt.

Dann war da noch Hazel Kent, Ricks Freundin. Eigentlich hatte sie genug damit zu tun, die Kent-Werke zu leiten, doch sie fand immer wieder Zeit, ihren Freund zu unterstützen. Mehrmals war sie dadurch sogar schon in höchste Gefahr geraten.

Ein Helfer durfte auch nicht unerwähnt bleiben, und das war Ricks Hund Dracula. Der kleine weiße Mischling war ein Geschenk Hazels. Rick hatte ursprünglich vorgehabt, aus ihm einen richtigen Polizeihund zu machen, diesen Gedanken jedoch aufgegeben. Der an einen Spitz erinnernde Hund hatte trotzdem eine wichtige Aufgabe übernommen. Abgesehen von seiner Intelligenz verfügte er über unverdorbene Instinkte. Daher zeigte er oft das Wirken einer übersinnlichen Macht an, wenn Menschen noch nichts davon merkten.

Im weitesten Sinn hätte man den Hund als »Geisterspürer« bezeichnen können.

In dieser Nacht vom 2. zum 3. August erfüllte Dracula keine Aufgabe, sondern schlief. Noch dazu an seinem Lieblingsplatz, nämlich zu Ricks Füßen im Bett seines Herrn. Wenn Dracula sich einmal diesen Platz erobert hatte, ließ er sich durch fast nichts mehr vertreiben. Wurde er trotzdem unruhig, mußte es dafür einen besonderen Grund geben.

Rick Masters schlief friedlich. Eigentlich hätte nichts seine Ruhe stören können. Das Telefon war an den automatischen Anrufbeantworter angeschlossen, die Türklingel abgestellt.

Trotzdem schreckte der Geisterdetektiv hoch und blickte verschlafen um sich. Er erwartete das Klingeln des Telefons, weil Eingeweihte wußten, wie sie trotz des Anrufbeantworters zu ihm vordringen konnten. Es blieb jedoch still.

Was hatte ihn dann geweckt?

Automatisch griff der Geisterdetektiv nach seinem beleuchteten Wecker und las die Zeit ab. Es war ein Uhr nachts.

Als er ein leises Winseln hörte, kannte er die Ursache der Störung. Dracula! Rick schaltete das Licht ein.

Der Hund lag am Bettende zusammengekauert und hatte die großen, fledermausähnlichen Ohren angelegt. Zitternd drückte er sich an Ricks Bein und klapperte mit den Zähnen. Von dieser Berührung und dem Geräusch war Rick also aufgewacht.

Fragte sich nur, warum Dracula sich so verhielt.

»Mußt du nach draußen?« fragte der Geisterdetektiv, aber der Hund reagierte nicht.

Der Geisterdetektiv preßte die Lippen aufeinander. Jetzt kannte er nur mehr eine Erklärung für Draculas Benehmen. Übersinnliche Kräfte waren in dieser Wohnung oder wenigstens in der Nähe am Werk.

Vorsichtig richtete sich Rick im Bett auf. Jeden Moment rechnete er mit einem Angriff, der jedoch nicht erfolgte. Auch als er aufstand und sich einen Morgenmantel überwarf, geschah nichts.

Trotzdem war der Geisterdetektiv auf der Hut. Im Laufe der Zeit hatte er sich zahlreiche unversöhnliche Gegner geschaffen. Viele von ihnen waren für immer gebannt. Doch andere waren am Leben, saßen in Gefängnissen oder entzogen sich dem Zugriff der Polizei. Das waren meistens Geister und Dämonen, die man nicht einsperren konnte und die der Geisterdetektiv vertrieben hatte.

Es konnte jedoch schon einmal vorkommen, daß ein solcher Bann nicht ewig hielt. War ein Geist zurückgekommen, dessen Macht Rick einst gebrochen hatte? Oder versuchte ein Mensch, böse Kräfte zu beschwören und gegen Rick Masters einzusetzen?

Im Moment verfolgte der Geisterdetektiv keinen Fall. Er gönnte sich ein paar ruhige Tage. Mit der Ruhe schien es jedoch jetzt vorbei zu sein.

Es war schwül in London. Die Sommernächte brachten keine Abkühlung, und schon längst war ein reinigendes Gewitter fällig. In dieser Nacht stand es bevor. Durch die offenen Fenster seines Wohnbüros in der Londoner City sah Rick mächtige schwarze Wolkentürme, die über London hingen. Das Wetterleuchten hatte bereits eingesetzt.

Das nahende Gewitter konnte jedoch kein Grund für Draculas Angst sein. Der Hund fürchtete sich nicht vor Blitz und Donner. Rick war ganz sicher, daß ihn eine übersinnliche Macht bedrohte.

Er durchsuchte das Wohnbüro, ohne etwas zu finden. Er hörte den Anrufbeantworter ab, doch auch da hatte sich nichts getan. Er überprüfte die Eingangstür. Niemand hatte versucht, sie aufzubrechen.

Endlich lehnte sich der Geisterdetektiv aus den Fenstern und sah an den Hauswänden hinauf und hinunter. Nichts. Die ersten schweren Regentropfen klatschten auf seinen Kopf. Windstöße fauchten durch die Straßen.

Trotz der ungebrochenen Hitze schloß Rick Masters die Fenster. Er schaltete den Ventilator ein, legte sich auf sein Bett und betrachtete Dracula. Der Hund stand langsam auf, streckte sich und kam dann mit einem verlegenen Wedeln zu Rick.

Der Geisterdetektiv kraulte ihn. »Solltest du dich geirrt haben?« fragte er leise und schüttelte den Kopf. »Das hast du doch sonst nie getan!«

Er gab sich selbst eine Antwort. Nein, sein Hund hatte sich bestimmt nicht getäuscht. Seine Instinkte waren unbestechlich.

Also hatte eine übersinnliche Kraft gewirkt, die aber jetzt erloschen war. Rick zerbrach sich vergeblich den Kopf, was das gewesen sein könnte. Er kam nicht dahinter.

Da er dieses Problem im Moment nicht lösen konnte, schlief er weiter. Das Licht ließ er eingeschaltet, und auf seinem Nachttisch lagen seine Pistole und seine Silberkugel, eine mächtige Waffe der Weißen Magie.

Er schlief auch nicht mehr richtig, sondern döste nur, bereit, auf jeden Angriff zu reagieren. Eine innere Stimme warnte ihn, daß Gefahr drohte.

Und auf seine Vorahnungen konnte sich der Geisterdetektiv ebenso verlassen wie auf die Instinkte seines Hundes.

*

Robert und Stella Blackfield waren nicht mehr in der Lage, die Wahrheit zu erkennen. Sie ahnten nicht, daß sie nicht aus freien Stücken in das Gewölbe gekommen waren. Sie wußten nicht, daß sie keinen eigenen Willen mehr besaßen, sondern nur noch wie Marionetten agierten. Und sie kannten den Mann nicht, der die Fäden zog.

Langsam gingen sie auf den Vermummten zu, der ihnen lockend zuwinkte. Sie blieben vor dem schwarzen Steintisch stehen, auf dem die ebenfalls schwarze Kerze brannte.

»Eure Geburtsstunde ist die wichtigste Stunde in eurem Leben«, erklärte der Unbekannte. »Und heute werdet ihr zum zweiten Mal geboren. Wollt ihr?«

Die Zwillinge nickten.

»Wir wollen«, erklärten sie wie aus einem Mund.

Es war nicht ihr Wille, aber sie mußten es aussprechen, damit sie ganz in Abhängigkeit gerieten.

»Dann berührt diesen Altar des Bösen, damit ich euch die Weihen erteile!« befahl der Vermummte.

Mit unsicheren Schritten traten sie an den steinernen Tisch heran und streckten die Hände aus. Stella Blackfield zögerte noch einen Moment, bis sie einen Blick aus den schwarzen Augen des Magiers auffing. Durch die Sehschlitze seiner Kapuze hindurch richteten sich die zwingenden Augen auf das Mädchen.

Stella nickte und tat den letzten, den entscheidenden Schritt. Sie legte ihre Hände neben die ihres Bruders auf die kühle Steinplatte.

»Und nun sprecht mir nach«, befahl der Magier. Unter seinem Umhang zog er ein Schwert hervor, umklammerte es mit beiden Händen und hob es hoch in die Luft empor. »Wir geloben…«

Er ließ sie schwören, immer und überall und unter allen Umständen die Befehle ihres Meisters zu befolgen. Die beiden willenlos gemachten jungen Menschen wiederholten den Schwur mit monotonen Stimmen, ohne den Sinn zu begreifen.

Auch jetzt erfuhren sie nicht, wer ihr Meister war. Das war auch nicht nötig. Der Magier war sich seiner Sache sicher. Ganz gleich, wieviel sie wußten, wenn er befahl, würden sie gehorchen. Und nur darauf kam es an.

Auch nach der Ableistung des Eides blieben Robert und Stella Blackfield regungslos stehen. Noch hatten sie die sogenannte Weihe nicht erhalten.

Der Magier hielt die Schwertspitze dicht über die Kerzenflamme, bis sie rotglühend wurde. Seine Augen waren auf die beiden Unglücklichen gerichtet.

Das Leuchten des glühenden Metalls schien sich auf seine Augen zu übertragen. Die schwarze Iris begann zu strahlen, bis sie jede Farbe verloren hatte. Durch diese Augen hindurch glaubten Robert und Stella, in ein fernes, für Menschen unerreichbares Land zu sehen, in ein Gebiet, in dem namenloses Grauen herrschte.

Die beiden empfanden jedoch keine Angst mehr. Dazu standen sie bereits zu stark im Bann des Magiers.

Ein mächtiger Donnerschlag ließ das Gewölbe erbeben. Der Magier stieß ein schauerliches Lachen aus.

»Sogar die Natur steht mit uns im Bunde!« rief er triumphierend. »Der Pakt ist besiegelt! Ihr seid nun die Sklaven des Meisters! Ihr werdet tun, was er befiehlt!«

»Wir werden tun, was der Meister befiehlt«, wiederholten Robert und Stella mit seelenlosen Stimmen.