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ᚹᚢᛖᚾᛊᚺᛏ
ᛁᛗᛒᚫ ᛞᛖᛗ ᚺᚫᛗᚫᛚ

Mario Lichtenheldt
Jule Konrad

Das Geheimnis der
Runenmeisterin

Moritz und seine Freunde
im Brunnen der Zeit

Inhalt

Was bisher geschah

Im Labyrinth der Zeit

Das Mädchen im Moor

Ein rätselhafter Brunnen

Der Archivar

Im Tal der verlorenen Sonne

Imbas Baum

Déjà-vu5)

Hamal

Die Götter schweigen

Älrun

Im Brunnen der Zeit

Imba bleibt zurück

Rückkehr – aber wohin?

Hamal und das unheimliche Grab

Gap – Jakob und Imba in der Nebelwelt

Mannas

Heimweh

Zwei Unendlichkeiten

Eine Krone für Harigast

Jakob im Geheimarchiv

Wieder bei Imba

Imbas Traum

Pfohltag

Die Weisheit der Runenmeisterin

Maigel

Schwarzes Licht

Folge dem rechten Weg!

Geschichten am Feuer – Das Geheimnis der Runenmeisterin

Das Pergament des toten Archivars

Das Grab des Hexenjägers

- Der Schöpfer der Götter

Drei Wege durch die Zeit

Die Zeit ist rund!

Der Beweis

Epilog

Hans Stein

Maria und Leon

Hamal und Maigel

Quellen und Begriffserklärungen

Über die Autoren

Jule Konrad

Mario Lichtenheldt

Weitere Bücher der Autoren

Was bisher geschah

Während einer Mondscheinwanderung finden Moritz und seine Freunde ein in den Fels geritztes Zeichen, das ihnen den Weg zu einem geheimnisvollen Höhlenlabyrinth weist. Dort entdecken sie mysteriöse Sternenbilder an den Höhlenwänden, die Moritz schon aus einem uralten Buch auf Omas Dachboden kennt. Eine Abbildung der Himmelsscheibe von Nebra ist dort zu sehen, obwohl doch diese Scheibe erst vor wenigen Jahren entdeckt wurde. Die merkwürdig surreale Begegnung mit dem Mädchen vom Siebenstern macht den damals 10- und 11-jährigen Freunden schließlich bewusst, dass eine große Gefahr nicht nur die Wälder ihrer Thüringer Heimat, sondern das Leben, die Gesundheit und das Glück vieler Menschen, Tiere und Pflanzen bedroht, eine Gefahr, die man nicht sehen, hören oder anfassen kann…

Vier Jahre später

Die Mädchen und Jungen sind inzwischen 14 Jahre alt, doch von der Existenz des unterirdischen Labyrinths ahnt außer ihnen noch immer niemand etwas. Ein Alleingang in die unerforschten Tiefen der Höhle hätte beinahe schlimme Folgen für Moritz gehabt, wäre Anne ihm nicht heimlich gefolgt, denn ein von der Höhlendecke herabstürzender Felsbrocken verfehlt den Jungen nur knapp.

Aber was ist das? Das Bruchstück entpuppt sich als versteinerter Saurierschädel!

In der Absicht, ihre Höhle vor den nun anrückenden Wissenschaftlern geheim zu halten, schleppen die Teenager das Fossil zu einer nahen Lichtung. Sie ahnen nicht, dass sich ausgerechnet dort, wo sie den Saurierkopf notdürftig vergraben, vor Jahrhunderten ein Friedhof befand.

Als Professor Rudolf Altmeier vom Museum für Ur- und Frühgeschichte den versteinerten Schädel bergen will, bricht er in ein darunter liegendes Grab ein, welches die Knochen einer Frau und eines Kindes birgt.

Wann lebte der versteinerte Saurier? Wer waren die Frau und das Kind? Und was hat es mit den Gerüchten um den Hexenturm nahe beim Dorf auf sich?

Für die Jugendlichen beginnt eine spannende, emotionale Spurensuche, in deren Verlauf ihnen schließlich klar wird, wie eng die Vergangenheit ihres kleinen Thüringer Dorfes mit dem Schicksal, der Vergangenheit und der Zukunft der Menschheit verwoben ist.

***

Im Labyrinth der Zeit

Freitag, 10. Juni – irgendwo im Thüringer Schiefergebirge

Ob es dort oben wirklich Leben gibt?“, grübelt Anne, nachdem sie minutenlang schweigend zum Sternenzelt hinauf geschaut hat, „Wesen, die denken, fühlen und lieben können wie wir?“

Es ist nicht die erste warme Sommernacht, die Anne gemeinsam mit Moritz im Freien verbringt und dabei Geschichten und Vermutungen über Vergangenheit und Zukunft der Menschen spinnt. Anne genießt es immer wieder, mit wie viel Gefühl und Leidenschaft der Junge von all diesen Dingen schwärmt.

Befreundet sind die beiden 15-jährigen schon seit ihrer Kindergartenzeit. So mancher im Dorf hält Moritz und Anne sogar für Geschwister. In den vergangenen Monaten allerdings ist aus der jahrelangen, gewohnt selbstverständlichen Freundschaft eine stille und unglaublich tiefe Liebe gewachsen.

„Die Wahrscheinlichkeit, dass wir nicht allein im Universum sind, ist jedenfalls größer als Null!“, reißt Moritz Anne aus ihren Gedanken.

„Wie kommst du denn darauf?“ Anne wendet den Blick von den Sternen ab und Moritz zu. Das Funkeln in seinen hellblauen Augen verrät ihr, dass Moritz schon wieder Feuer und Flamme für das Thema ist.

„Weil es uns gibt!“ antwortet der Junge. „Die Chancen, dass es so etwas wie Leben noch anderswo im Weltall gibt, stehen also gar nicht schlecht.“

„Hm, wie sie wohl aussehen mögen?“, grübelt Anne. „Wahrscheinlich überhaupt nicht so, wie wir uns Außerirdische immer vorstellen. Vielleicht sind sie ja winzig klein, so dass wir sie gar nicht bemerken würden?“

„Oder sie sind unsichtbar, für unsere fünf Sinne nicht wahrnehmbar“, spekuliert Moritz. „Das Problem ist, dass wir keine Ahnung haben, auf welche Art sie mit uns Kontakt aufnehmen würden – wenn sie das überhaupt wollen.“

„Wie meinst du das?“

„Ganz einfach: Wir glauben, sie senden uns irgendwelche Nachrichten, die wir dann entschlüsseln. Und dann denken die einen, es käme zu einer großen Verbrüderung, während die anderen befürchten, die Außerirdischen könnten uns erobern oder gar vernichten. Aber was wäre denn, wenn sie auf eine ganz andere Weise Kontakt suchen?“

„Und wie?“

„Indem sie uns zuerst einmal zeigen, was sie von uns wissen, was wir für sie sind – und uns dann zum Vergleich ihre eigene Geschichte erzählen.“

„Aha! Dann ist also unsere eigene Geschichte der Schlüssel zum Verständnis der Fremden?“

„Ja, so ähnlich“, antwortet Moritz. „Das bedeutet aber auch, dass derjenige, der sich auf eine Reise zu anderen bewohnten Planeten begibt, vorher wissen muss, worauf er sich einlässt. Sollten wir Menschen irgendwann eine fremde Zivilisation besuchen, dann tragen wir diese hohe Verantwortung, die Verantwortung für die anderen, die selbst nicht reisen können.“

„Interessante Theorie!“, findet Anne und lehnt den Kopf an Moritz‘ Schulter, den Blick wieder nachdenklich hinauf zum Nachthimmel gerichtet.

„Keine Theorie! Notwendigkeit!“, erwidert Moritz und streicht Anne nebenbei eine hellblonde Haarsträhne aus der Stirn. „Ich habe mal eine Geschichte gelesen, in der zwei Männer den Einschlag eines Meteoriten ganz in ihrer Nähe beobachten. Natürlich wollen sie der Sache auf den Grund gehen und entdecken auch wirklich den Einschlagsort in einem Waldsee. Mit dem Boot fahren sie hinaus, geraten in einen Strudel und werden ohnmächtig. Als sie wieder zu sich kommen, befinden sie sich in einer Art Labyrinth.“1)

„Der Meteorit war natürlich ein außerirdisches Raumschiff!“, wirft Anne ein.

„Das denken Robert und Carol – so heißen die beiden Freunde – zunächst auch. Doch als sie sich an die Kälte und die Dunkelheit gewöhnt haben, entdecken sie plötzlich überall Kopien von Fischen und schließlich sogar Kopien von sich selbst, Puppen, so, als hätte jemand versucht, Fische und Menschen nachzubauen!“

„Wozu sollte jemand so etwas tun?“

„Um uns zu verstehen! Um uns zu be-greifen, so wie Kinder mit Hilfe von Spielsachen ihre Welt begreifen und verstehen lernen. Spielsachen sind auch Kopien oder Teile davon! Irgendjemand oder irgendetwas hat also versucht, Fische und Menschen nachzubauen, um zu verstehen, womit er es zu tun hat. Warum? Weil Fische und Menschen zufällig die ersten Lebewesen waren, denen der Außerirdische auf der Erde begegnet ist. Warte nur ab, die Geschichte geht ja noch weiter! Die beiden Männer versuchen also, das unbekannte Objekt, in das sie geraten sind, zu erkunden – und dann geschieht etwas völlig Verrücktes!“

Anne richtet sich auf und hört gespannt zu. Irgendwie schafft es Moritz immer wieder, sie in den Bann seiner fantastischen Geschichten zu ziehen. Er hat die Stirn leicht gerunzelt, ein Anzeichen dafür, dass er sich ganz in seine Gedanken vertieft hat. Mit raschen Handbewegungen untermalt er seine Erzählung.

„Das Innere des Objekts besteht aus zahllosen verschlungenen Gängen, Röhren oder Schläuchen, die so groß sind, dass man darin aufrecht gehen kann. Lichtsignale pulsieren an den Wänden entlang. Fast sieht es so aus, als ob das Ding lebt, in dem sie sich befinden!“, treibt Moritz Annes Spannung auf die Spitze. „Und dann sehen Robert und Carol in der Ferne zwei Gestalten – zwei Menschen!“

„Du meinst, dass es diesmal keine toten, sondern lebendige Kopien sind!“, vermutet Anne.

„Wieder falsch!“, antwortet Moritz lächelnd. „Es sind keine Kopien! Als die beiden Fremden nahe genug herangekommen sind, glauben Robert und Carol, ihren Augen nicht trauen zu können: Die beiden Fremden sind nämlich sie selbst! Sie sind sich selbst begegnet!“

Anne stutzt, dann kommt ihr ein Gedanke: „Wie damals im Keller deiner Oma, als wir noch klein waren und dachten, da käme jemand mit einer Taschenlampe auf uns zu – und dann war es nur ein Spiegel an einem alten Kleiderschrank, in dem wir uns selbst gesehen haben!“, vermutet sie.

„Nein, diesmal ist es kein Spiegel!“, widerspricht Moritz erneut. „Der andere Robert und der andere Carol gehen also an Robert und Carol vorüber und verschwinden schließlich in der Ferne, irgendwo im Dunkel des Labyrinths.“

Anne schüttelt sich unwillkürlich. „Gespenstisch! Du meinst, der richtige Robert und der richtige Carol beobachten, wie ihre Kopien an ihnen vorüber gehen!“

„Aber es sind ja keine Kopien! Und außerdem: Welcher Robert und welcher Carol ist denn der richtige?“, fragt Moritz.

„Wie? Jetzt verstehe ich gar nichts mehr! Ein Mensch kann doch nicht zweimal existieren, jedenfalls kann es keine zwei Originale geben!“, meint Anne skeptisch.

„Robert und Carol existieren ja auch gar nicht zweimal!“, antwortet Moritz.

„Du bringst mich noch zur Verzweiflung!“ Halb lacht, halb schimpft Anne. „Wie soll das denn gehen? Und was hat das überhaupt mit den Außerirdischen zu tun, die Kontakt zu uns suchen?“

„Anne, verstehst du es denn nicht?“, wundert sich Moritz. „Die beiden befinden sich im Inneren eines Organismus, in dem andere Naturgesetze gelten, als bei uns, Naturgesetze, von denen wir noch gar keine Ahnung haben! Sie haben sich selbst gesehen, aber in der Zukunft! Sie haben ihre eigene Zukunft gesehen! Später begegnen sie sich noch einmal – diesmal aber mit umgekehrter Rollenverteilung; jetzt sind sie in der Zukunft und sehen sich in der Vergangenheit. Sie sind in eine Zeitschleife geraten!“

„Cool! Aber auch ziemlich verrückt. Und wozu das Ganze?“, fragt Anne.

„Das bleibt am Ende offen. Im Buch heißt es nur, dass es sich um den letzten Kontaktversuch eines sterbenden außerirdischen Lebewesens gehandelt haben könnte.“

„Ein sterbender Außerirdischer?“, staunt Anne.

„Ja, ein Wesen, das auf irgendeine Weise die Zeit beherrschen kann und diese Fähigkeit dazu nutzt oder nutzen wollte, mit uns in Kontakt zu treten.“

„Aber wie sollte das gehen?“

„Überleg doch mal!“, antwortet Moritz geheimnisvoll.

Die Nacht ist kühl geworden. Moritz und Anne rücken näher zusammen und kuscheln sich in eine Decke. Ein kleines Feuer wärmt ihre nackten Füße und der Duft gebackener Kartoffeln weckt den Appetit der beiden. Vom nahen Waldsee zieht Nebel herüber. Hinter den uralten Eichen, die Anne und Moritz seit Kindesbeinen kennen und die sich niemals zu verändern scheinen, lauert das Teufelsmoor, ein nicht sehr großes, aber gespenstisch anmutendes sumpfiges Loch, von dem man sich lieber fern hält.

„Wie auch immer“, meint Anne schließlich. „Wenn die Außerirdischen mit mir Kontakt aufnehmen wollen, dann müssen sie das morgen tun. Ich bin nämlich müde.“

„Ich auch“, gähnt Moritz.

„Na dann“, flüstert Anne und zieht Moritz kurzerhand mit sich ins Zelt. Beide verkriechen sich in ihren Schlafsäcken, doch kurz bevor Anne die Augen zufallen, rückt sie noch ein wenig näher an Moritz heran und drückt liebevoll seine Hand. Moritz lächelt sie an, Anne unterdrückt mühsam ein Gähnen, ihre Lider flattern.

„Was könnte uns jemand aus einer anderen Welt mitteilen wollen, ein fremdes Wesen, das ganz anders ist als wir und das dennoch unsere Vergangenheit besser kennt als wir selbst – und unsere Zukunft…?“

Der Schlaf löst Annes Gedanken in einen wohligen Hauch auf…

Noch lange schaut Moritz das schlummernde Mädchen an, von dem nur noch die Nasenspitze aus der wärmenden Hülle herausschaut.

***

Das Mädchen im Moor

Hilfe! Moritz! Komm schnell!“

„Anne?“ Erschrocken fährt Moritz auf. Anne ist weg!

„Moritz! Schnell! Beeil dich!“

Das kommt aus Richtung Teufelsmoor! Aber warum…?

So schnell er kann schlüpft Moritz aus seinem Schlafsack, schnappt sich die Taschenlampe und rennt los – barfuß durch die Dunkelheit über spitze Steine und durch Dornengestrüpp. Ein gespenstisches Bild bietet sich ihm dar, als er die rabenschwarze Silhouette des Mädchens am Rand des Sumpfes entdeckt. Mit zwei Schritten ist er bei Anne und greift besorgt nach ihrem Arm. Doch Anne sieht ihn gar nicht richtig an.

„Da!“ schreit sie nur und zeigt mit weit aufgerissenen Augen aufs Moor hinaus. „Moritz, da ertrinkt jemand!“ Die Panik in Annes Stimme ist echt. Sie ist völlig außer sich vor Angst.

Schlagartig wird Moritz klar, was vor seinen Augen geschieht: In einigen Metern Entfernung vom Ufer ragt eine schwarze Hand aus dem Sumpf, über dem seltsame Irrlichter fluoreszieren.

„Da kommen wir nicht ran, ohne uns selbst zu gefährden!“, schätzt Moritz die Situation augenblicklich richtig ein. „Hast Du dein Smartphone dabei?“

„Ja, habe ich doch immer!“, antwortet Anne und ärgert sich sogleich über sich selbst, weil sie vor lauter Schreck die einfachste und wichtigste Regel für solche Notfälle völlig vergessen hat.

„Ruf die Rettungsleitstelle an! Die sollen die Feuerwehr und die Bergwacht alarmieren, schnell! Und den Rettungsdienst!“, fordert Moritz und rennt los.

„Wo willst du denn hin?“, ruft Anne ihm ängstlich nach.

„Die Luftmatratzen holen!“

Keine Minute später ist Moritz mit zwei Luftmatratzen und einem Seil wieder da, das er nun an einer der Ösen befestigt, um sich dann auf einem der Luftpolster in den Sumpf gleiten zu lassen. In der Ferne hören die beiden Teenager Sirenengeheul.

Die Hand ist immer noch da – unbeweglich! Gespenstisch! Das Moor ist auch viel zu still, unheimlich still. Wer auch immer da gerade ertrinkt, gibt keinen Laut von sich. Er rudert nicht und schlägt auch nicht um sich. Und doch ist das, was dort draußen im Moor starr in die Dunkelheit ragt, zweifellos eine menschliche Hand. Es dauert nur Sekunden, bis Moritz sie erreicht hat.

„Na komm schon!“, ächzt Moritz, bäuchlings auf der Matratze liegend, während Anne das Seil straff hält und hofft, dass der Junge nicht ebenfalls ins Moor gezogen wird.

„Zieh!“, schreit Moritz – und Anne zieht aus Leibeskräften.

„Es geht!“, ruft Moritz ihr zu. „Gut so!“

Mit einem schmatzenden Geräusch taucht der Kopf des Ertrinkenden auf – und dann gibt das Moor den Körper frei, den Körper eines Menschen und doch ist Moritz sofort klar, dass für dieses schwächliche, bemitleidenswerte Wesen jede Hilfe zu spät kommt.

Blaulichter blinken; es wird lebendig im Wald. Starke Scheinwerfer tauchen das sonst stockdunkle Kesselmoor in grelles Licht. Moritz und Anne jedoch bemerken es kaum. Wie festgefroren knien sie vor dem reglosen Körper, den sie aus dem Moor gezogen haben. Am Ufer, im hohen Gras liegt ein Mensch, ein Mädchen, das zu schlafen scheint und obwohl ihre Haut selbst bei Licht eher schwarz als braun wirkt, ist ihr Gesicht wunderschön. Ihr Leib indes weist furchtbare Verletzungen auf; mehrere Rippen sind zu sehen, ihre Beine sind seltsam verdreht und das Mädchen ist erschreckend abgemagert, nur Haut und Knochen, schwarze Haut, wie Leder.

Aber das Gesicht, dieses zauberhaft schöne Gesicht…

Moritz ist den Tränen nahe. Anne zittert am ganzen Körper. Sie tastet nach Moritz‘ Hand, sucht seinen Halt.

Und auch Jakob starrt fassungslos auf das tote Mädchen, dass zu seinem Todeszeitpunkt höchstens so alt gewesen sein kann wie er selbst. Jakob muss noch vor der Feuerwehr und der Polizei aufgetaucht sein. Wie ein Schatten war er plötzlich da, aber erst jetzt bemerken Moritz und Anne den Freund, der kein einziges Wort spricht und auf dessen Gesicht sich eine tiefe, erschütternde Trauer abzeichnet.

„Alles in Ordnung, Jakob?“, fragt Anne erschrocken. „Und wo kommst du so plötzlich her?“

Jakob antwortet nicht.

„Sie ist schon lange tot“, flüstert plötzlich Marina, die junge Polizistin aus dem Dorf, die Moritz und Anne schon lange kennen und die irgendwann wie aus dem Nichts neben den drei Freunden auftaucht.

„Meinst du, dass man ihren Mörder trotzdem noch finden kann?“, schluchzt Anne und starrt immer noch in das Gesicht der Toten.

„Nein“, antwortet Marina. „Das ist kein Fall für die Polizei. Sie ist eine Moorleiche und vielleicht starb sie schon vor vielen hundert Jahren. Das Moor hat ihren Körper erhalten – und ihr Gesicht …“

Anne zuckt zusammen. Was war das? Hat sich die Tote bewegt? Oder war es nur das Wildgras im Wind? Oder war es die uralte Eiche, an deren Fuß das Mädchen zu schlafen scheint?

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Es sieht aus, als ob der Baum seine Wurzeln schützend um ihren Kopf gelegt hat …

Ein Feuerwehrmann deckt die Leiche mit einem Tuch zu; das Gesicht lässt er frei, so als habe er Angst, dieses wunderschöne Antlitz durch die Berührung zu zerstören.

„Aber wer hat sie so zugerichtet?“, möchte Moritz wissen.

„Wahrscheinlich niemand“, antwortet Marina. „Das Moor enthält Stoffe, die den Körper konservieren, aber diese Stoffe sind nicht überall gleichmäßig verteilt. Vielleicht ist irgendwo Luft an den Körper gekommen – und wo Luft ist, da beginnen Bakterien und Pilze ihr zerstörerisches Werk.“

„Sie hat rote Haare!“, bemerkt Anne, die nun wieder etwas ruhiger geworden ist. Sie lässt Moritz‘ Hand los, bleibt aber ganz nah bei ihm stehen.

„Auch das kann vom Moor kommen“, erklärt Marina und nimmt Anne in die Arme. „Vielleicht war sie in Wirklichkeit blond wie du?“

„Was ist denn das?“, fragt plötzlich Moritz und zeigt auf die Füße des Mädchens, die unten aus dem Tuch herausragen. Oberhalb ihres rechten Knöchels sind zwei graubraune Ringe erkennbar. „Sind das Fußfesseln?“

„Merkwürdig“, staunt Marina. „Sowas habe ich noch nie gesehen! Vielleicht ist es Schmuck? Manche Mädchen tragen doch auch heute noch hübsche Ringe oder Bändchen am Knöchel.“

„Wir bleiben hier, bis der Professor mit seinem Team kommt!“, wendet sich nun ein Feuerwehrmann an Marina und ergänzt mit einem flüchtigen Blick auf das tote Mädchen: „Sie muss zurück ins Moor!“

„Nein!“, schreit Anne laut auf. „Sind Sie verrückt!“

„Doch!“, sagt plötzlich Jakob ganz ruhig und hält Anne sanft zurück, als sie mit wütendem Blick auf den Feuerwehrmann losgeht.

„Jakob!“ Anne ist fassungslos. „Warum…?“

Der Feuerwehrmann bleibt ganz ruhig, legt Anne die Hand auf die Schulter und erklärt mit väterlichem Ton: „Es ist nur für ein paar Stunden. Das Moor hat ihren Körper geschützt und erhalten. An der Luft trocknet er aus und wird binnen kurzer Zeit zerfallen. Das möchtest du doch nicht, oder?“

Nein, das möchte Anne nicht.

Inzwischen hat sich Moritz im Zelt trockene Sachen angezogen und Anne eine dicke Decke mitgebracht. Marina und ein Feuerwehrmann aus dem Dorf haben in der Nähe ein kleines Feuer entzündet und kochen Tee. Die anderen Helfer kehren still und nachdenklich zu ihren Einsatzfahrzeugen zurück und selbst deren Motoren scheinen, aus Rücksicht auf das tote Mädchen, leiser zu brummen als sonst. Niemand versucht, Moritz, Anne und Jakob nach Hause zu schicken. Die drei bleiben bei dem Moormädchen – bis am nächsten Tag Professor Rudolf Altmeier vom Museum für Ur- und Frühgeschichte eintrifft, genau der Professor, den die Freunde vor gar nicht allzu langer Zeit kennengelernt haben, als sie in der Saurierhöhle den versteinerten Kopf eines Eotyrannus und nicht weit davon das Grab einer Frau und ihres Kindes gefunden hatten.

Samstag, 11. Juni – Teufelsmoor

„Ich glaube, ich werde mir hier im Dorf ein Häuschen kaufen“, scherzt Professor Altmeier, als er in die ihm wohlbekannten Gesichter von Moritz, Anne und Jakob blickt. „Dann bin ich immer gleich da, wenn ihr wieder etwas Neues …. ähm …. ich meine natürlich etwas Altes entdeckt!“ Als der Professor die offensichtliche Trauer der drei Freunde bemerkt, schlägt er sofort einen ernsteren und nachdenklicheren Ton an.

Inzwischen versammeln sich immer mehr Leute um die Polizeiabsperrung. Sogar der Bürgermeister und ein paar Fotografen von der Zeitung sind jetzt da.

„Wie lange könnte die Tote im Moor gelegen haben?“, möchte ein Journalist wissen.

„Das kann ich im Moment noch nicht sagen“, antwortet der Professor. „Dazu müssen wir den Körper erst genauer im Labor untersuchen.“

„Wurde sie ermordet?“, fragt ein anderer.

„Sie ist weder gefesselt, noch sind auf den ersten Blick Spuren einer Gewalttat sichtbar, aber auch das werden wir hoffentlich herausfinden.“

„Aber sie trägt Fußfesseln!“, widerspricht eine junge Frau mit Kamera.

„Nein!“, widerspricht der Professor. „Solche Ringe kennen wir von anderen Funden aus einer lange zurückliegenden Epoche. Sie bestehen vermutlich aus Bronze und dienten als Schmuck oder zu rituellen Zwecken.“

„Und sonst ist sie völlig nackt?“, fragt ein junger Mann mit einem Tablet-Computer.

„Ja, aber das bedeutet nicht, dass sie auch so gestorben ist. Die Kleider könnten sich zersetzt haben. Das kommt darauf an, woraus sie bestanden haben und wie sich das Moor chemisch zusammensetzt.“

Inzwischen haben Silvia, Professor Altmeiers Assistentin, und ein paar Männer vom Museum damit begonnen, einen großen Metallbehälter aufzustellen und möchten nun wissen, wo genau in der vergangenen Nacht die Hand aus dem Moor ragte. Anne erklärt es, so gut sie sich erinnert, aber irgendwie sieht das Moor bei Tag ganz anders aus und so scheinen die Wissenschaftler nicht recht zufrieden mit ihrer Antwort und fragen immer noch weiter, ob sie sich auch ganz sicher sei.

„Wozu müssen Sie das denn so genau wissen?“, fragt das Mädchen schließlich genervt.

„Nun, normalerweise bergen wir Moorleichen, indem wir sie samt dem umgebenden Moor ausgraben und ins Labor bringen, denn jede noch so kleine Veränderung der Umgebung könnte dazu führen, dass der Körper durch Umwelteinflüsse oder Bakterienbefall angegriffen wird. Hier ist das leider nicht mehr möglich, also müssen wir den Behälter mit Moor aus genau dem Bereich füllen, wo ihr das Mädchen gefunden habt.“

„Was hattest du eigentlich mitten in der Nacht am Teufelsmoor zu suchen?“, fragt Moritz und wundert sich, weshalb ihm diese Frage nicht schon früher eingefallen ist.

„Gar nichts!“, antwortet Anne. „Ich musste eben mal raus – und da hab ich das seltsame Leuchten hinter den knorrigen Bäumen gesehen!“

„Ein Leuchten?“, mischt sich nun der Professor erstaunt in das Gespräch ein. „Das ist ja interessant! Welche Farbe hatte das Licht?“

„Grün oder blau oder irgendwas dazwischen“, antwortet Anne. „Es sah ziemlich gruselig aus durch die dicken Äste, als ob ein Geist in die Baumwipfel aufsteigt!“

„Sowas kommt über Mooren manchmal vor. Man weiß aber noch immer nicht genau, wodurch diese Lichterscheinungen hervorgerufen werden“, erklärt Professor Altmeier. „Vielleicht gab es in der Tiefe irgendeine chemische Reaktion, durch die leuchtende Gase an die Oberfläche gestiegen sind und wodurch vielleicht auch die Tote nach oben gedrückt wurde. Oder eine elektrische Entladung infolge …“

Mitten im Satz bricht der Professor ab.

„Silvia! Rufen Sie bitte sofort das Geoforschungszentrum in Potsdam an und fragen Sie nach, ob es im thüringisch-fränkischen Raum irgendwelche Erdbewegungen gegeben hat. Solche Lichter können eine Begleiterscheinung von Erdbeben sein!“, erklärt der Professor aufgeregt und setzt dann nachdenklich hinzu: „… oder ein Vorbote!“

Die Journalisten umringen den Professor und die Leute vom Museum nun noch aufgeregter und machen sich Notizen.

„Ein Erdbeben?“, fragt auch Anne furchtsam.

„Keine Angst!“, antwortet der Professor lächelnd. „Die meisten Beben merkt man gar nicht, aber die empfindlichen Instrumente der Seismologen zeichnen sie trotzdem auf. Das ist wichtig, weil man dadurch manchmal größere Beben vorhersagen kann. Überlegt mal! Gleich hier in der Nähe gibt es einen gewaltigen Staudamm …!“

„Können Sie bitte mal kommen?“, ruft ein Mann dem Professor von weitem zu. Er und seine Mitarbeiter sind gerade dabei, das Mädchen behutsam in den Behälter zu betten, doch irgendetwas scheint ihre Aufmerksamkeit zu fesseln. Silvia hat sich Handschuhe angezogen und macht sich an den Knöchelringen des Mädchens zu schaffen.

„Das sind Runen!“, staunt der Professor, während Silvia ihm eine riesige Lupe reicht. „Unglaublich!“

„Was sind Runen?“, fragt Anne.

„Germanische Schriftzeichen!“, antwortet der Professor noch immer fassungslos. „Völlig untypisch für diese Gegend!“

„Können Sie das lesen?“, fragen Moritz und eine junge Journalistin gleichzeitig.

„Ja … eigentlich schon, aber …“ Sekundenlang betrachtet Professor Altmeier die winzigen Buchstaben. „Es ergibt keinen Sinn! Was da steht, ist verschlüsselt!“

„Vielleicht sollten wir die Ringe und den Körper getrennt analysieren?“, schlägt Silvia vor. „Es kann Wochen dauern, bis wir den Körper untersuchen können, denn zuvor muss er konserviert werden!“

„Wenn Sie mir verraten, liebe Silvia, wie Sie das anstellen wollen, gerne!“, meint Professor Altmeier lächelnd.

Erst jetzt fällt der Assistentin und den Freunden auf, dass die Ringe viel zu eng sind, um einfach abgestreift zu werden. Auch bei genauerer Betrachtung findet sich weder ein Verschluss, noch eine Naht und wenn man bedenkt, dass der Unterschenkel des Mädchens zu Lebzeiten noch dicker gewesen sein muss, stellt sich die Frage, auf welche Weise die Ringe überhaupt an die Stelle gelangt sind, an der sie sich heute befinden.

„Wer auch immer dem Mädchen die Ringe hätte entwenden wollen – er hätte ihr den Fuß amputieren oder die Ringe zerstören müssen!“, resümiert der Professor nachdenklich.

„Vielleicht ist sie in die Ringe hineingewachsen?“, meldet sich Jakob leise zu Wort, ohne den Blick von dem Moormädchen zu lassen. Erst jetzt, als die Wissenschaftler den Behälter verschließen, erkennen Moritz und Anne, dass Jakob weint.

„Hey! Sie war wahrscheinlich schon tot, lange bevor wir geboren wurden!“, versucht Anne ihn zu trösten.

„Aber sie sieht gar nicht aus, als ob sie tot ist!“, antwortet der Junge, der für gewöhnlich eine unerschütterliche Frohnatur besitzt. Seine traurigen Augen sind noch immer direkt auf die Tote gerichtet. „Sie schläft so friedlich und wenn diese verdammten Verletzungen nicht wären … Sie ist wunderschön … immer noch!“

„Vielleicht erfahren wir etwas über sie, wenn man die Schriftzeichen auf den Fußringen entschlüsselt hat“, meint Silvia. „Unser Dr. Niedecke im Museum ist ein Profi auf diesem Gebiet. Der Professor wird ihm die wenigen Buchstaben so bald wie möglich per Mail zuschicken.“

„Dürfen wir uns die Zeichen einmal anschauen?“, fragt Moritz.

„Natürlich, kommt mit!“

Nachdenklich betrachtet Moritz die seltsamen Runen, die der Professor von den beiden Ringen per Bleistift auf ein Blatt Papier übertragen hat – und dann entdeckt er etwas, das er schon kennt.

„Schau mal!“, flüstert er Anne zu. Hinter den eigentlichen Runen folgt eine kurze Reihe weiterer, sehr einfacher Zeichen – eine Kombination aus waagerechten und senkrechten Strichen!

„Wie damals in der Höhle!“

„Was das zu bedeuten hat, wissen wir leider noch nicht“, meint Professor Altmeier, der das Interesse der Jugendlichen bemerkt hat. „Ihr wisst nicht zufällig, worum es sich handeln könnte?“

„Wir? Nein!“ Die Teenager schütteln alle drei gleichzeitig die Köpfe.

Donnerstag, 16. Juni – bei Anne zu Hause

Schneller als gedacht gelingt es den Wissenschaftlern, mehr über das Mädchen herauszufinden. Eine winzige Gewebeprobe, die man der Toten vor der Konservierung entnommen hat, kann auf die Zeit um das Jahr 400 datiert werden.

Auch die Ringe werden entfernt, ohne den Körper zu beschädigen. Dabei kommt den Wissenschaftlern der Umstand zugute, dass das Moor die Knochen des Mädchens fast vollständig aufgelöst hat, nicht aber den restlichen Körper. Jetzt erinnert sich auch Moritz, dass ihm bereits in jener Nacht, als er das Mädchen aus dem Moor gezogen hat, die seltsame Gelenkigkeit aufgefallen war – als ob ihr Körper aus Gummi oder Leder bestehen würde.

„Dann ist sie seit über 1.600 Jahren tot!“, stellt Anne nachdenklich fest, als der Professor die drei Freunde ein paar Tage später zu Hause besucht.

„So ist es“, bestätigt Professor Altmeier und schiebt den Jugendlichen eine Mappe im Format A 3 über den Tisch. „Wir haben Fotos gemacht!“, erklärt er und lächelt vielsagend, damit andeutend, dass jene Mappe etwas sehr Wichtiges enthält.

„Die sind ja wunderschön!“, ruft Anne begeistert, als sie die Mappe aufschlägt.

„Ja, Silvia hat die Ringe mit einer Speziallösung gereinigt und fotografiert“, freut sich der Professor. Nun funkeln und glänzen sie in leuchtend rötlichem Gold auf einer bordeauxroten, samtigen Unterlage.

„Jetzt sehen sie wieder genauso aus wie vor 1.600 Jahren!“, haucht Anne leise.

„Was die wohl wert sind?“, fragt Moritz.

„Sie sind unbezahlbar!“, antwortet der Professor. „Das Material ist zwar nur Bronze, aber was auch immer die Schriftzeichen bedeuten mögen – etwas Vergleichbares gibt es auf der ganzen Welt nicht!“

Jetzt erst fällt den beiden Jungen auf, dass die Ringe nicht nur außen, sondern auch auf ihrer Innenseite dicht mit hauchzarten Schriftzeichen übersät sind.

„Haben Sie die Runenschrift schon entschlüsselt?“, möchte Jakob wissen.

„Nein“, antwortet Professor Altmeier enttäuscht. „Unser Dr. Niedecke ist zwar ein Spezialist auf diesem Gebiet, aber am Geheimnis eures Moormädchens beißt er sich wohl die Zähne aus. Wahrscheinlich ist der Code ganz einfach zu knacken, denn die Menschen damals hatten ja noch keine Computer. Vielleicht haben sie irgendeine heilige Formel benutzt, von der wir heute keine Ahnung mehr haben, um jeden einzelnen Buchstaben anders als den jeweils vorhergehenden im Alphabet zu verschieben.“

„Eine heilige Formel?“, staunt Moritz. „Was soll das denn sein?“

„Na zum Beispiel traten die Walküren2) – das sind Streitmädchen – immer zu neunt auf, neun Mädchen mit schwarzem, neun Mädchen mit weißem Gewand. Die Neun ist also eine heilige Zahl. Eine einfache Methode, einen Text zu verschlüsseln wäre also z. B., jeden Buchstaben im Alphabet um 9 Stellen zu verschieben und statt A zum Beispiel ein J zu schreiben, statt B ein K, statt C ein L und so weiter.“

„Aber die Menschen damals hatten doch sicher noch nicht unser Alphabet?“, gibt Moritz zu bedenken.

„Richtig!“, freut sich der Professor. „Sie hatten gar kein Alphabet, sondern ein Futhark!“

„Was ist denn nun wieder ein Futhark?“, fragt Jakob und ist etwas genervt, weil der Professor mit jeder Antwort wieder neue Fragen aufwirft.

„Futhark ist ein Kunstwort. Es setzt sich zusammen aus den ersten 6 Buchstaben des germanischen Alphabetes“, erklärt Professor Altmeier.

„Futhark hat aber 7 Buchstaben!“, bemerkt Anne sofort.

„Nein!“, widerspricht der Professor lächelnd, „denn das ‚th‘ gilt als ein Buchstabe, wie im Englischen!“

Laute und Begriffsrunen

A

Ansuz, Ase

ᚩ, ᚪ

AR

 

 

 

B

Berkano, Birke

 

C

 

 

 

 

D

Dagaz, Tag

 

 

E

Ehwaz, Pferd

 

 

Ei

Ihwa, Eibe, Zauberbaum

 

 

F

Fehu, Vieh, Wohlstand

 

G

Gebo, Gabe

 

 

H

Hagalaz, Hagel, Verderben

ᚻ, ᚽ

I

Isa, Eis, schleichendes Unheil

 

J

Jera, Jahr, Ernte, fruchtbare Zeit

 

K

Kenaz, Kein, Kahn

L

Laguz, Wasser, See, Lauch (?)

 

M

Mannaz, Mann … ? … Stammvater

N

Naudiz, Not, Zwang, Unfreiheit

 

Ŋ

Ingwaz, Yngvi, Ing

 

O

Othala, Erbgut, Besitz, Stammgut

 

 

P

Perthro, Fruchtbaum

 

 

Q

 

 

 

 

R

Raidho, Ritt, reiten, Fahrt, Wagen

 

S

Sowilo, Sol, Sonne, Sigel, Edelstein

 

T

Tiwaz, Tyr, Ziu, Zio, Ehre, Stier

 

TH

Thurisaz, Riese, Dorn, Unhold

 

U

Uruz, Ur, Urstier, Auerochse

 

V

 

 

 

 

W

Wunjo, Wunsch, Wonne, Weide

*

 

X

 

 

 

 

Y

 

Yr

 

Z

Elhaz, Algiz, Elch, Ried, Binse

ᛦ, ᛧ, ᛨ

 

* Vend: gehört nicht zum älteren Futhark, hier als Ersatz für den Laut V

Das ältere Futhark

Runen

Laut heute, Buchstaben

ᚠ ᚢ ᚦ ᚨ ᚱ ᚲ ᚷ ᚹ

1. Aett 1 – 8

F U TH A R K G W

ᚺ ᚾ ᛁ ᛃ ᛇ ᛈ ᛉ ᛊ

2. Aett 9 – 16

H N I J Ei P Z S

ᛏ ᛒ ᛖ ᛗ ᛚ ᛜ ᛞ ᛟ

3. Aett 17 – 24

T B E M L Ŋ* D O

* sprich: eng bzw. ng

„Wenn Ihr Dr. Niedecke das übersehen hat, dann verschiebt er also, um den Text zu entschlüsseln, die jeweiligen Buchstaben um eine Stelle zu weit – und bekommt als Ergebnis nur ein wirres Durcheinander von Buchstaben, die keinen Sinn ergeben!“, grübelt Moritz. Anne zwinkert Moritz kurz zu und drückt unauffällig seine Hand. Moritz hat mal wieder weiter gedacht als alle anderen im Raum.

„Dr. Niedecke kennt natürlich die Besonderheiten der Runenschrift, aber im Prinzip hast du recht: Wenn man eine einzige Besonderheit der Runenschrift übersieht, bekommt man als Ergebnis nur Unsinn heraus!“

„Können Sie uns das Futh… Dings …, also das germanische Alphabet vielleicht aufschreiben?“, fragt Anne.

„Oh! Ihr wollt selbst eine Übersetzung versuchen!“, freut sich der Professor. „Natürlich! Habt ihr mal ein Blatt Papier?“

Schnell hat der Professor drei Reihen seltsamer Schriftzeichen aufgemalt und tatsächlich können die drei Teenager mit etwas Fantasie in der ersten Zeile das Wort „Futhark“ erkennen.

„Das Futhark ist unserem Alphabet in manchem Punkt überlegen!“, erklärt Professor Altmeier weiter. „Es wird stets in dieser Form, also in exakt diesen drei Reihen geschrieben! Eine Reihe nennt man ein Aett, das heißt zu Deutsch: Acht, weil jedes Aett aus 8 Runen besteht. Es gibt drei Aetts, also 3 x 8 = 24 Runen. Jede Rune steht an einer ganz bestimmten Stelle im Futhark, so dass ich sagen könnte: Rune (unser A) steht an 4. Stelle im 1. Aett. Will ich die Rune (A) verschlüsselt ausdrücken, könnte ich, statt (A) zu sagen, 41 sagen, oder 4/1 oder 4.1.“

„Das ist ja irre!“, staunt Moritz. „Und wenn man dann jede Rune noch dadurch verschlüsselt, dass man sie z. B. um nur 2 Stellen verschiebt, statt (A) also ein (K) schreibt, also statt 41 dann 61, dann wird es noch komplizierter.“

„Richtig!“, bestätigt der Professor. „Und dann kommt der nächste Haken: Irgendwann bin ich am Ende des Futharks angekommen. Will ich z. B. die letzte Rune, also das (O), verschlüsseln, so kann ich schreiben 83, weil (O) an 8. Stelle im 3. Aett steht. Will ich die Rune (O) zusätzlich verschlüsseln, indem ich sie um 2 Stellen verschiebe, muss ich wissen, dass das Futhark nur 24 Buchstaben bzw. Runen hat und ich also wieder am Anfang beginnen muss. Statt 83 schreibe ich also (U) oder 21.“

„Aber ein Computer kann diesen Code doch sicher ganz leicht knacken?“, glaubt Moritz.

„Ja schon, solange sich die Verschlüsselungsmethode nicht mitten im Text ändert!“, antwortet der Professor. „Nehmen wir an, der Schlüssel ist eine heilige Formel aus mehreren heiligen Zahlen in einer bestimmten Reihenfolge, die sich dann auch noch an verschiedenen Tagen des Jahres ändert.“

„Dann fängt unser Computer an, zu qualmen, weil er die heiligen Regeln von vor 1.600 Jahren nicht kennt und diese Regeln auch keiner Logik folgen, sondern wahrscheinlich irgendeiner Religion, von der wir heute keine Ahnung mehr haben“, folgert Jakob.

„Dürfen wir die Fotos behalten?“, möchte Anne wissen.

„Ja, gerne!“, antwortet der Professor. „Vielleicht fällt euch ja noch etwas auf, das wir Profis übersehen haben! Ihr kennt ja vielleicht das Sprichwort: Er sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht! Ach ja! Was ich euch noch sagen wollte: Ein Erdbeben gab es in jener Nacht übrigens nicht! Weder das Geoforschungszentrum in Potsdam noch die automatische Überwachungsstation in der Staumauer ganz in der Nähe hat irgendwas Verdächtiges registriert.“

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