Finch, Paul Besessen

PIPER

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Übersetzung aus dem Englischen von Velten Arnold

ISBN 978-3-492-97281-9

Juli 2016

© Paul Finch 2015

Titel der englischen Originalausgabe:

»Obsession«

Deutschsprachige Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Covermotiv: FinePic®, München

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

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Eigentlich stand Kelly nicht gerade auf Thriller oder Horrorfilme. Na schön, sie hatte nichts dagegen, sich solche Filme zusammen mit Tom im Kino anzusehen, aber zu Hause ließ sie es eher bleiben. Deshalb wusste sie nicht recht, wie es dazu gekommen war, dass sie an diesem Abend auf einmal Scream guckte.

Sie hatte erst seit Kurzem Satellitenempfang, daher war die Riesenpalette an Filmen, die ihr gratis zur Verfügung stand, noch ziemlich neu für sie. Allerdings war die Auswahl auf den diversen Filmkanälen an diesem Abend ausnahmsweise ziemlich mau gewesen. Auf einem lief Blind Date, eine romantische Komödie, die sie liebte, aber schon zweimal gesehen hatte; auf einem anderen Schindlers Liste, der sich angesichts des bereits vorgerückten Abends wahrscheinlich zu lange hinziehen würde; und schließlich Scream. Als sie das erste Mal etwas von diesem Film gehört hatte, hatte sie sich vorgenommen, ihn sich auf keinen Fall jemals anzusehen, doch beim Zappen durch die Sender war sie zufällig bei der Eingangsszene von Scream gelandet, in der eine junge Frau von einem fremden Anrufer terrorisiert wird. Selbst dies hatte sie nicht wirklich gepackt, aber sie hatte gerade in ihrem Sessel gesessen, eine Tasse mit heißem Kakao in den Händen gehalten, und da war es am bequemsten gewesen, einfach weiterzugucken. Wie erwartet, machte der Film ihr natürlich Angst. Vielleicht war das der Grund dafür, dass sie sich, als sie glaubte, vor ihrem Haus jemanden gehört zu haben, im ersten Moment zurechtwies, endlich erwachsen zu werden und aufzuhören, sich so albern zu benehmen. Das Geräusch war bestimmt auf ihre übersteigerte Einbildungskraft zurückzuführen.

Doch es hatte sich wirklich so angehört, als ob da draußen jemand wäre.

Irgendein leises Quietschen. Wie von einem Finger, der außen am Wohnzimmerfenster entlangglitt.

Sie warf einen Blick auf die Uhr. Zehn vor zehn. Es war noch relativ früh.

Ein gurgelnder Schrei drang aus dem Fernseher. Sie wandte den Blick zum Bildschirm und sah, starr vor Entsetzen, wie der mit einer Kapuze und einer Totenmaske vermummte Killer auf Henry Winkler einstach, den sie zuletzt in Happy Days als Fronzie gesehen hatte … was sie irgendwie daran erinnerte, dass es sich bei dem, was sie da sah, auch wenn es viel zu realistisch wirkte, nur um Schauspielerei handelte und noch dazu um eine ziemlich abstruse.

»Mensch, Mädel!«, wies sie sich zurecht, stellte die Tasse auf die Armlehne, durchquerte das Zimmer bis zum Fenster und zog den Vorhang zur Seite. Der Garten vor dem Haus lag in Dunkelheit da, doch der phosphorgelbe Schein der Straßenlaternen drang wie eine Vielzahl Speere durch das Dach der ordentlich geschnittenen Hecke, die den Garten umgab. Da draußen waren jede Menge Autos unterwegs, und zudem hatte sie auch noch ihre Nachbarn. Es war lächerlich, sich in so einer dicht besiedelten urbanen Gegend wie dieser vor Angst in die Hose zu machen.

Ein erneuter Schrei drang aus dem Fernseher. Sie nahm die Fernbedienung und schaltete das Gerät ab. Dann stand sie da, lauschte und bildete sich ein, irgendwo draußen auf dem Flur ein leises metallisches Klicken gehört zu haben. Konnte das die Klinke der Haustür gewesen sein?

Kelly wusste, dass es nicht die Türklinke gewesen war. Doch sie verließ trotzdem das Zimmer, schlüpfte in ein paar flauschige Hausschuhe, band den Gürtel ihres Bademantels zu, den sie über ihrem Nachthemd trug, knipste das Licht im Flur an und starrte in Richtung Haustür. Was auch immer das für ein Geräusch gewesen war, es gab jetzt jedenfalls kein Anzeichen dafür, dass jemand die Klinke herunterdrückte. Und selbst wenn, wäre es egal. Die Tür aus massiver Eiche war zweifach verschlossen, doch um auf der sicheren Seite zu sein, hielt sie es für besser, sich kurz zu vergewissern, ob die beiden Schlösser auch wirklich verriegelt waren.

Sie ging vorsichtig zur Tür und fragte sich, was sie tun würde, wenn die Tür direkt vor ihrer Nase nach drinnen fliegen würde.

Was natürlich nicht passierte. Die Schlösser waren verriegelt. Sogar die Sicherheitskette war angelegt.

Etwas beruhigter legte sie ihr Ohr an das Holz und lauschte. Einen Augenblick lang bildete sie sich ein, auf der anderen Seite ein lautes Atmen zu hören, als ob dort jemand stünde und darauf wartete, hereingelassen zu werden. Doch nachdem sie ein wenig länger gehorcht hatte, wurde ihr bewusst, dass sie sich geirrt hatte. Es war nur das übliche Grundrauschen, das man zu dieser späten Stunde oft hörte, wenn das vorstädtische London sich für die Nacht bereitmachte. Doch um ganz sicher zu sein, legte sie ihr Ohr noch einmal an die Tür. Und weil sie eine dieser obsessiven Frauen war und wusste, dass sie die ganze Nacht kein Auge zumachen würde, wenn sie nicht weitere, unanfechtbare Beweise dafür hätte, dass alles in Ordnung war, schloss sie in einer spontanen Reaktion die Schlösser auf. Selbst das barg keine allzu große Gefahr, da ja die Sicherheitskette noch angelegt war. Sie spähte durch den schmalen Spalt, den die Kette zuließ. Da draußen war niemand, nur der gepflasterte Weg, der über den frisch gemähten Rasen vom Haus wegführte. Sie konnte gerade so bis zu der Stelle sehen, an der der Weg in ein paar Stufen überging, die auf die Zufahrt hinunterführten. Da vorne stand auch niemand. Dank des schwachen Scheins, der aus dem Haus fiel, konnte sie sehen, dass auch sonst nirgendwo jemand im Vorgarten war.

Um absolut sicher zu sein, löste sie die Sicherheitskette und öffnete die Tür vollständig.

Tom würde aufgebracht sein. Er würde das Ganze als weiteres Argument dafür nutzen, sie davon zu überzeugen, zu ihm zu ziehen. »Ich weiß, dass du sehr auf deine Unabhängigkeit bedacht bist, Kell«, würde er sagen. »Aber als Frau alleine zu wohnen, ist nicht ganz ungefährlich. Erst recht, wenn du der Welt auch noch alle naselang zu zeigen versuchst, dass es dir egal ist, dass es dir nichts ausmacht und du keine Angst hast.«

Sie hatte keine Angst, weil es nichts gab, wovor sie Angst haben müsste, sagte sie sich, als sie auf die Fußmatte hinaustrat. Es war ein warmer Augustabend, und ja … was sie da hörte, war das ganz normale verblassende städtische Grundrauschen Londons.

Sie sah nach rechts, an der Vorderseite des Hauses entlang. Der von drinnen durch die Fenster fallende Schein tauchte den Rasen, die Blumenbeete und die ordentlich zurechtgeschnittenen Büsche in helles Licht. Selbst für eine Katze wäre es unmöglich gewesen, sich zu verstecken. Als Nächstes blickte Kelly nach links, zur nächsten Ecke des Hauses. Wenn hier draußen jemand mit der Absicht lauerte, über sie herzufallen, würde er sich dort verstecken. Bis zu der Ecke waren es gerade mal zweieinhalb bis dreieinhalb Meter. Er konnte hinter der Ecke hervorgeschossen kommen, ohne dass sie auch nur mitbekam, was passierte. Doch niemand stürzte hinter der Ecke hervor. Und sie wusste, dass dies auch nicht passieren würde. Sie ging sogar hin und lugte um die Ecke. Von ihrem Standpunkt aus konnte sie an der Seite des Hauses entlangsehen, bis ganz nach hinten, wo die Apfelbäume standen. Dahinten war auch niemand. Warum sollte dort auch jemand sein?

Selbstsicher, weil sie ihre Angst bezwungen hatte, ging Kelly zurück ins Haus, verriegelte beide Schlösser und legte die Sicherheitskette vor. Sie löste den Gürtel ihres Bademantels, ging zurück ins Wohnzimmer und ließ sich wieder in den Sessel sinken. Während sie erneut an ihrem Kakao nippte, überlegte sie, ob sie Scream noch einmal einschalten sollte. Sie hatte keine Angst, sagte sie sich, der Film war einfach nur bescheuert.

Erst in dem Moment, da sich eine Gestalt hinter dem Sessel aufrichtete und ihr eine behandschuhte Hand auf die Schulter legte, realisierte sie, dass sie nicht allein im Zimmer war.

Kelly sprang auf, der Schrei, den sie ausstoßen wollte, blieb ihr im Hals stecken.

Sie wirbelte herum und starrte den Eindringling mit offenem Mund und hervortretenden Augen an, die wie Enteneier aussahen.

In einer einladenden Geste bot er ihr die Hand an, die zuvor auf ihrer Schulter gelegen hatte. Doch obwohl sie kein einziges Wort herausbrachte, ließ ihr Gesichtsausdruck keinen Zweifel daran zu, dass sie die Geste nicht erwidern würde. Und so ballte sich die Hand zu einer großen, schweren Faust und krachte mit voller Wucht gegen die Seite ihres Kopfes.

Heck traf Gemma im Treppenhaus der Polizeiwache von Bethnal Green. Sie kam von der Kantine herunter, während er hinaufging. Sie blieben beide stehen und betrachteten einander. Er hatte die Wohnung an diesem Morgen vor ihr verlassen, deshalb war er einen Moment lang baff, wie büromäßig gestylt sie aussah: Sie trug eine schicke Bluse unter einem eleganten Blazer, dazu einen eng geschnittenen Rock und Schuhe mit hohen Absätzen. Ihr Make-up war perfekt, das aschblonde Haar hatte sie zu einem Zopf zusammengeflochten. Dann fiel ihm ein, dass sie um zehn einen Termin bei dem Gremium gehabt hatte, das über ihre Beförderung zum Sergeant zu befinden hatte.

»Wie ist es gelaufen?«, fragte er.

Sie sah ihn nachdenklich an. »So weit gut. Aber wahrscheinlich nicht so gut wie bei dir. Wie ich gehört habe, hast du Adam Fairbrass geschnappt, den mutmaßlichen Säureattentäter.«

Heck zuckte mit den Achseln und grinste.

»Hübscher Fang«, sagte sie.

»Ich hatte Glück.«

Sie verpasste seiner linken Wange mit der flachen Hand eine schallende Ohrfeige.

»Aua!«

»Du kannst dich glücklich schätzen, dass ich dich nicht zum Teufel jage.« Mit diesen Worten drängte sie an ihm vorbei und stapfte die Treppe hinunter ins Erdgeschoss. Noch ganz benommen, taumelte er hinter ihr her ins Kriminalbüro, in dem sich außer ihnen gerade niemand befand. Immer noch wütend, zog sie ihren Blazer aus, hängte ihn über die Lehne ihres Stuhls, knallte ihre Tasche auf den Schreibtisch und holte einige Unterlagen aus ihr hervor.

»Also gut, was sollte das gerade?«, fragte er und betastete seine linke Wange.

Sie wirbelte zu ihm herum, die Hände zu Fäusten geballt und in die Hüften gestemmt. »Glaubst du im Ernst, ich hätte Lust, jeden Abend zu einem Typen nach Hause zu kommen, dessen Gesicht aussieht wie das Hinterteil eines gegrillten Schweins?«

»Was hätte ich denn tun sollen?«, protestierte er. »Fairbrass entwischen lassen?«

»Wie ich gehört habe, hast du ihn in Mile End über die Fußgängerbrücke verfolgt, die über die Eisenbahnlinie hinwegführt, richtig?«

»Ja, stimmt.«

»Nur du allein?«

Er zuckte erneut mit den Achseln. »Ich war nun mal der Beamte vor Ort.«

»Obwohl er mit einem Schlachtermesser und einem Glas voller Schwefelsäure bewaffnet war?«

Heck wusste nicht, was er sagen sollte. »Wir sind … Wir sind Polizisten, Gemma. Das ist nun mal unser Job.«

»Und Risikoabwägungen spielen keine Rolle, oder was?«, konterte sie. »Du hast mindestens zwei Funksprüche abgesetzt, in denen du mitgeteilt hast, dass du hinter dem Arschloch her bist. Du hast sogar seinen Namen genannt, Mark … was bedeutet, dass du ihn sofort erkannt hast. Wir haben alles über ihn in den Akten. Wir wissen, wo er wohnt, wo er arbeitet und mit wem er sich herumtreibt. Wir hätten ihn später mit einem kompletten Zugriffteam festnehmen können. Ohne jegliches Risiko einzugehen.«

Heck schüttelte den Kopf. »Gemma, er hat sieben Frauen entstellt. Frauen, die er nicht einmal kannte. Er hat sich ihnen einfach auf der Straße genähert und ihnen den Mund weggeätzt. Es war mein Fall. Ich hatte ihn in Reichweite … und hätte ihn unter keinen Umständen entwischen lassen.«

Sie schüttelte den Kopf, ging zu dem Schrank mit den Tee- und Kaffeeutensilien und stellte den Wasserkocher an. Schweigend löffelte sie Kaffeepulver in ihre Tasse und wartete, bis das Wasser brodelte. »Du meinst, du wolltest nicht, dass ihn jemand anders festnimmt«, sagte sie dann.

»Das zu behaupten, ist ziemlich unfair …«

Sie goss das kochende Wasser über das Pulver. »Es gab absolut keinen Grund für dich, so ein Risiko einzugehen, Mark.«

Die Tür flog auf, und die menschliche Bowlingkugel, die Detective Sergeant Shannon darstellte, stand da. »He, Heck, gute Arbeit!« Er streckte ihm einen hochgereckten Daumen entgegen. »Volltreffer, mein Junge! Toller Erfolg!«

»Danke, Dave«, entgegnete Heck.

Shannon verzog sich wieder. Auf dem Flur vor dem Büro stand jetzt nur noch ein uniformierter Beamter, der in seinem Notizbuch herumblätterte. Heck versuchte es auf eine andere Weise und umarmte Gemma von hinten. Sie versteifte sich, aber nur ganz leicht. Er streichelte ihre Wange.

»Pass auf, dass du mit dieser Sauerei nicht meine Bluse verschmierst«, wies sie ihn in sanfterem Tonfall zurecht.

Auf Hecks Hemd und seiner Krawatte zeichnete sich ein kreuzstichartiges Muster winziger Blutströpfchen ab. Er war Fairbrass während der Festnahme nicht bewusst hart angegangen, doch der »East-End-Säure-Werfer«, wie die Medien ihn getauft hatten, war nicht nur bewaffnet gewesen, sondern zudem auch noch geistesgestört, weshalb Heck den Kerl bei dessen Überwältigung nicht mit Samthandschuhen hatte anfassen können.

»Ich habe dich ausdrücklich darauf hingewiesen, dass du keine unnötigen Risiken eingehen sollst«, fuhr Gemma fort. »Wenn du es trotzdem tust, bereitet mir das Sorgen.«

Das war eine amüsante Vorstellung – dass es tatsächlich irgendetwas auf diesem Planeten gab, das Detective Constable Gemma Piper Sorgen bereiten konnte. Doch Heck, beziehungsweise Detective Constable Mark Heckenburg, wusste, worauf sie hinauswollte. In letzter Zeit nahm sie es mit den Vorschriften zusehends genauer und wurde, was die Einhaltung der vorgesehenen Prozeduren anging, immer pedantischer, da sie immer mehr in ihre Rolle als angehende Detective Sergeant hineinwuchs und es zusätzlich zu ihren sonstigen Aufgaben als ihre Pflicht ansah, dafür zu sorgen, dass alle anderen auf dem rechten Weg blieben. Und obwohl Heck offiziell mit ihr zusammen war, führte dies dazu, dass seine eher unkonventionelle Herangehensweise an den Gesetzesvollzug sie in den Anfangstagen ihrer Beziehung vielleicht einmal beeindruckt haben mochte, ihr jedoch neuerdings zu missfallen schien.

»Ich konnte ihn doch nicht entkommen lassen, ohne auch nur die Verfolgung aufzunehmen«, wandte Heck in dem Versuch ein, es ihr zu erklären. »Hättest du mich je mit den gleichen Augen gesehen, wenn ich es nicht getan hätte?«

Sie befreite sich aus seiner Umarmung und ging zurück zu ihrem Schreibtisch. »Versuch nicht, mir so zu kommen – das zieht bei mir nicht.«

»Ich kenne allerdings eine gewisse Detective Constable, die exakt das Gleiche getan hätte wie ich«, entgegnete er, »auch wenn sie mit ihrem Auftritt heute Morgen zweifellos das Auswahlgremium überzeugt haben dürfte und im nächsten Jahr um diese Zeit wahrscheinlich bereits eine Detective Sergeant sein wird.«