cover
cover

Prolog

Der Wachmann freute sich über den pinkfarbenen Stringtanga in seinen Händen, den bis vor einer halben Stunde noch eine bildschöne junge Frau um die zwanzig unter ihrem Dirndl getragen hatte. Durch die dünnen Wände hörte er das dumpfe Dröhnen der feiernden Masse. Regulär hatte er keine offizielle Dienstpause, doch in dem Gedränge war es ihm einmal mehr gelungen, heimlich in dem kargen Nebenraum des Oktoberfest-Bierzeltes zu verschwinden, eine Zigarette zu rauchen und den kleinen unscheinbaren Vorhang zur Seite zu ziehen. Bloß ein paar Minuten würde er sich an den Damenschlüpfern erfreuen, die dort an einer Wäscheleine hingen, und das neueste Exemplar zu den anderen drapieren. Danach musste er den stündlichen Rundgang absolvieren. Einmal durch den Innenbereich, fertig. Reine Routine.

Der vom restlichen Zelt abgetrennte, etwa zwölf Quadratmeter große, L-förmige Raum war spärlich eingerichtet: Neben seinem kleinen Geheimversteck gab es einen winzigen Holztisch, vier Stühle, einen stets randvollen Aschenbecher, einen Kühlschrank mit alkoholfreien Erfrischungsgetränken, den »Material-Spind« – einen Stahlschrank, in dem diverse Utensilien der Sicherheitsmänner aufbewahrt wurden – und ein halbes Dutzend Regale mit Küchenutensilien, die im selten eintretenden Bedarfsfall von Küchenhilfen oder Spülern benutzt wurden. In den Fächern standen Konserven, haltbare Lebensmittel, gastronomische Nachfüllware, verschiedene Kanister. Neben seinem Versteck, der von ihm zärtlich als »Damenabteilung« bezeichneten Wäsche-Nische, hing ein Kalender mit Landschaftsansichten aus dem alpinen Raum. Außer den Hilfskräften und den Security-Leuten betrat so gut wie nie jemand den Raum.

Aufgrund einer Knieverletzung und den damit verbundenen, teilweise akut auftretenden Beschwerden hatte der Wachmann ein Sonderrecht erkämpft, das ihm gestattete, sich ab und an ein paar Minuten von dem Trubel abzuschotten und sich hinzusetzen, um seinem schmerzenden Knie Linderung zu verschaffen. In Wirklichkeit aber nutzte er diese Augenblicke, um in Ruhe bei einem »Zigarettchen« seiner kleinen Leidenschaft zu frönen. Seit von der Festleitung das öffentliche Rauchen für Mitarbeiter weitgehend untersagt worden war, wurden solche Räumlichkeiten rar.

Den Trick mit den Damenschlüpfern hatte er über Jahre entwickelt und verfeinert. Meistens wartete er die Stoßzeit ab, wenn das Gedränge vor dem Zelteingang besonders groß war. Sobald das Schild »Wegen Überfüllung geschlossen« aufgehängt wurde, begann seine Jagd auf die Damenwelt. Andere Kollegen nahmen Bestechungsgelder an, aber bei ihm gab es nur ein Zahlungsmittel. Dann hielt er Ausschau nach jungen, attraktiven Frauen, die alleine anstanden oder ihren Partner verloren hatten und verzweifelt versuchten, ins Zelt zu gelangen. Fast immer fand er ein Opfer. Freundlich fragte er die Hilfe suchend dreinblickenden, gut aussehenden Grazien, ob er dienlich sein könne. Dann führte er sie in den kleinen Nebenraum und stellte sie unverblümt vor die Wahl: Draußen bleiben oder Schlüpfer ausziehen. Ein angemessener Deal, wie er fand. Er genoss den Augenblick der Überraschung und des Schocks auf den Gesichtern der Damen. Doch fast alle folgten schließlich seinem Vorschlag und waren kurz danach bei ihren Freunden im Zeltinneren. Er fand das nur fair. Eine Hand wäscht die andere. Und wenn eine der Frauen tatsächlich Nein sagte – gut, dann führte er sie eben wieder ins Freie.

Seine Kollegen wussten von seinem kleinen Hobby und akzeptierten es stillschweigend, manch einer würdigte es sogar anerkennend. Sein Chef, Festwirt Strobl, hatte jedoch vor zwei Jahren, als gewisse Gerüchte über die »Leibwäschen-Leine« aufkamen, einmal eine missbilligende Bemerkung gemacht und eine Verwarnung ausgesprochen: »Privat kannst machen, was du wuist, aber bei mir gibt’s koan Schweinkram.« Seitdem war klar: Er musste auf der Hut sein und das Ganze nicht an die große Glocke hängen.

Er drapierte die neu ergatterte Trophäe mit einer Holzklammer neben die anderen Damenslips auf die Wäscheleine und begann wie üblich, die Höschen zu zählen. Er kam auf die stolze Zahl einunddreißig. Ein guter Schnitt für die erste Wiesn-Woche.

Plötzlich vernahm er das melodische Piepen des kleinen Kästchens, das außen neben der Eingangstür angebracht war und mit dem man bei richtiger Eingabe des Codes die Verriegelung entsperren konnte. Er erschrak fürchterlich und wurde augenblicklich aus seinem Glückszustand herausgerissen. Inständig hoffte er, dass es ein Spüler war, der irgendetwas nachfüllen musste. Nicht, dass am Ende der Zeltwirt hier auftauchte und ihn ertappte. Dann wäre er ein für alle Mal seinen Job losgewesen.

Er verhielt sich still hinter seinem Vorhang und versuchte, kein Geräusch zu machen. Die Tür ging auf und der Wachmann sah ihn eintreten. Ausgerechnet! Irgendetwas an ihm war unberechenbar und Furcht einflößend. Die Schlitze seiner Augen waren so schmal, dass man die Farbe der Iris nur erahnen konnte, vermutlich Grün oder Grau. Sein Kopf war meist leicht nach vorne geneigt, sodass er grundsätzlich leicht träge wirkte. Die Züge um seine Nase wirkten auf den Wachmann fast grausam und unbarmherzig. Er fühlte sich in der Gegenwart dieses Mannes äußerst unbehaglich und war jedes Mal froh, wenn er ihm nur kurz begegnen musste. Der Wachmann versuchte, geräuschlos zu atmen, spähte vorsichtig aus seinem Versteck hervor und starrte auf den unwillkommenen Besucher. Der andere bemerkte ihn nicht, schloss die Tür hinter sich, schritt direkt auf den Material-Spind zu, öffnete ihn und nahm etwas heraus. Der Wachmann schob den Kopf etwas nach vorne und kniff die Augen leicht zusammen, um genauer sehen zu können: Es war ein Paar »Achter«, im Volksmund »Handschellen« oder »Fesselzangen« genannt. Dann verschloss der ungeliebte Gast den Stahlschrank, machte kehrt und ging wieder hinaus.

1. Kapitel

Hans Josef Strauß hatte die Schnauze voll. Petras ständige Wutausbrüche nagten an seinem Nervenkostüm und allmählich auch an seinem Selbstbewusstsein. Das Einzige, was ihn derzeit halbwegs bei Laune hielt, war ein ordentlicher Bierkonsum. Auch wenn er wusste, dass es ihm körperlich schadete, war das sein einziges Ventil und sein Trost. Der bayrische Hopfen beruhigte ihn und gab ihm das Gefühl, ein gelassener Bajuware zu sein. Obwohl er ja eigentlich geborener Westfale war.

Er sah auf seine auffällig große Fossil-Armbanduhr. Es war kurz nach dreizehn Uhr. Niedergeschlagen schlenderte er über den Marienplatz, vorbei an der goldenen Mariensäule, dem Rathaus und dem Fischbrunnen, in Richtung Viktualienmarkt. Er liebte diesen Ort. Dort gab es das beste Gemüse, den besten Fisch und den besten Käse der Stadt, dort lernte man immer spannende Leute kennen, dort traf sich Hinz und Kunz, egal um welche Jahreszeit, wenn es nicht gerade schneite, schüttete oder hagelte. Im vergangenen Jahr hatte er sogar an Heiligabend zur Mittagszeit kaum einen Platz gefunden. Genau das liebte er an dieser Stadt, seinem München, das nach den zweiundzwanzig Jahren, die er inzwischen hier lebte, seine Heimat geworden war. Und doch hielt die Stadt immer noch kleine Überraschungen für ihn bereit. Es war ihm ganz recht, dass seine westfälische Verwandtschaft Vorbehalte gegen diese Oase der Leichtigkeit und Lebensqualität hatte, sollten sie nur zwischen Münster und Osnabrück glücklich werden, er war es hier, bei den hübschen Isarbrücken, dem Gärtnerplatz, den kleinen historischen Gassen rund ums Hofbräuhaus oder eben auf dem Viktualienmarkt, dem Herzen der Stadt.

Es war Oktoberfestzeit und viele der Stände entsprechend dekoriert. Jahr für Jahr dauert das größte Volksfest der Welt sechzehn Tage lang und endet stets am ersten Oktobersonntag. Heute war der letzte Septembersonntag, und das Oktoberfest hatte quasi Halbzeit. Bald bemerkte Hans Josef ein paar Wiesn-Brezn, bald eine Lichterkette aus Edelweiß, bald eine mit Lebkuchenherzen geschmückte Obstauslage. Einige Marktkunden hatten sich in feinen Zwirn gewandet, ein honoriges bayrisches Paar um die siebzig trug edle Tracht. Ein paar junge Touristen, die mit lauter Stimme englische Sätze herausposaunten, hatten sich Lederhosenimitate aus Plastik und T-Shirts mit aufgedruckten Lederhosenträgern besorgt und fühlten sich allem Anschein nach pudelwohl darin. Jeder nach seiner Façon, dachte sich Hans Josef und musste lächeln. Seine Laune war schon wieder ein wenig besser, wie er erleichtert feststellte.

Er drehte eine kleine Runde durch den Biergarten, erwog kurz, sich auf eine Halbe niederzulassen, entschied sich dann aber doch dafür, lieber im Lokal zu trinken. Trotzdem setzte er sich an einen freien Tisch unter einer Kastanie, um ein wenig das schöne Panorama zu betrachten. Der Neugier halber sah er kurz nach, was für eine Biersorte es heute im offenen Ausschank auf dem Viktualienmarkt gab: Spatenbier. Wie alle Münchner Biersorten war auch dieses Helle von hoher Qualität, allerdings mochte Hans Josef am liebsten Hacker.

Im Biergartenbereich des Viktualienmarktes wurden nämlich der Reihe nach alle Münchner Biere ausgeschenkt, jeweils für ein paar Wochen. Eines seiner hehren Ziele war es herauszufinden, in welchem Turnus die Biersorten auf dem »Viktu«, wie er den Viktualienmarkt liebevoll abkürzte, gewechselt wurden. Vielleicht alle zehntausend Liter? Oder alle sechs Wochen? Er wusste es nicht.

Denn in München konnte man die Feste feiern, wie sie fielen. Ständig gab es Anlässe für ein geselliges Beisammensein, sei es der Fasching, die Starkbierzeit, die Maifeste, die Auer Dult, der Sommer mit all den lebenslustigen Menschen, der Kocherlball am Chinesischen Turm, die Herbst-, Erntedank- und Bergkirchweihfeierlichkeiten, die Tanzböden, natürlich das Oktoberfest, die traditionellen Wintermärkte oder einfach nur die täglich stattfindenden Fröhlichkeiten in den Bars, Wirtshäusern, Kaschemmen, Stehlokalen und Studentenkneipen, in denen jeder gern gesehen war. Hans Josef Strauß atmete tief durch. Eigentlich war er ein glücklicher Mensch. Auch wenn Petra ständig versuchte, sein Glück zu zerstören.

Wieso war die Situation mit Petra nur schon wieder so entgleist? Warum war sie immer so schlecht gelaunt, so jähzornig und übergriffig? Lag es am Ende an ihm? Trieb er sie mit seiner Art zur Weißglut? Zugegeben, er war manchmal etwas zerstreut und mit den Gedanken woanders. Das hatte auch schon andere Leute gestört. Aber Petra reagierte darauf schon ausgesprochen emotional. Dauernd hatte er Angst, irgendwas falsch zu machen. Eben darum ging auch tatsächlich ständig etwas schief. Erst kürzlich hatte er ihr eine Freude machen wollen und Schokoladencroissants zum Frühstück besorgt. Erst freute sie sich, zeigte sich aber dann sofort nach Auspacken der Plunderhörnchen schwer enttäuscht, da sie grundsätzlich nur »pure« Croissants akzeptierte, alles andere war in ihren Augen eine Verfälschung. Er musste zugeben, dass sie ihm diese kleine Marotte schon zwei- oder dreimal erläutert hatte, nur war es ihm leider an jenem Morgen entfallen, woraufhin der Haussegen wieder einmal schief hing. Es war wirklich ein Teufelskreis. Einerseits wusste er, dass man als Mann nicht zu nett sein darf und dass Frauen es mögen, wenn man auch mal den Macho raushängen lässt. Aber das konnte er nur, solange er eine Frau lediglich oberflächlich kannte. Dann fühlte er sich sicher in seiner Haut, war männlich und souverän. Aber sobald er sich verliebt hatte, war er wie ein Dackel. Ein Dackel, der vor lauter Treue seinem Frauchen am liebsten von früh bis spät ihr Stöckchen holen würde. Brav, Hans Josef, feines Hundchen. Doch er konnte auch manchmal widerspenstig sein. So wie vorhin. Diesmal hatte er ausnahmsweise nicht nachgegeben.

Wie immer war Petra von einer Sekunde auf die andere zornig geworden. Einfach so, ohne Vorwarnung. Er hatte ihr von seinem Plan erzählt, sich beim Arbeitsamt wegen einer Förderung zur Existenzgründung zu erkundigen. Petra hatte spöttisch gelacht und gesagt, er erwarte doch nicht allen Ernstes, dass man ihm mit Mitte vierzig noch eine erfolgreiche Existenzgründung zutrauen würde. Das wäre so, als würde sich Hape Kerkeling für einen Komiker-Nachwuchspreis bewerben. Diesen Vergleich fanden beide lustig und sie lachten unbeschwert darüber. Doch dann kippte die Stimmung. Petra hatte ihn gefragt, warum er nicht einfach ein paar Monate auf Stütze gehe und ihr dabei helfe, die Küche zu renovieren. Er hatte geantwortet, er empfinde das als asozial, dem Staat auf der Tasche zu liegen, wenn er doch auf ehrliche Weise Geld verdienen könne. Und dass er sich doch auch an den Wochenenden gut um die Küche kümmern könne. Doch diesen Nachsatz hatte Petra schon nicht mehr gehört. Sie war aufgestanden und hatte angefangen, ihn anzuschreien, was er für ein Waschlappen sei. Sie wünsche sich einen richtigen Mann aus Korn und Schrot, der sich nicht vor einem Amt in die Hose scheißen würde. Hans Josef war ganz gelassen geblieben. Er kannte das Programm schon zu gut, es ereignete sich fast täglich. Immer war es derselbe Ablauf: Petra plärrte ihn zehn, fünfzehn Minuten lang an, dann war sie fertig und er tat so, als ob er es eingesehen hätte, und entschuldigte sich, obwohl er sich absolut keiner Schuld bewusst war. Denn er spielte in der Regel lieber das Spiel der Klügere gibt nach, auch wenn er wusste, dass das genau die falsche Verhaltensweise war. Heute allerdings hatte er anders reagiert. Warum, wusste er nicht so genau.

Vielleicht war es das Wetter. In München gab es ja immer wieder das Wetterphänomen des sogenannten »Alpenföhns«, bei dem alle Leute verrücktspielten und so ähnlich reagierten wie Werwölfe bei Vollmond oder junge Rüden beim Erschnuppern einer läufigen Hündin. Aber vermutlich war es nicht der Föhn, sondern der berühmte Tropfen, der das Fass überlaufen ließ. Wahrscheinlich hatte er einfach keine Lust mehr auf die ewig gleiche Leier gehabt. Zu lange hatte er alles nur heruntergeschluckt und versucht, die schlechte Stimmung durch falsches Verhalten nicht noch zu verschlimmern. Nein, heute war er endlich nicht mehr der Nachgiebige gewesen! Im Gegenteil: Er hatte sich eher wie ein Kind benommen, das seine Emotionen, ohne nachzudenken, einfach herauslässt. Er hatte zurückgeschrien, dass er sich nicht bevormunden lasse, und überhaupt solle sie doch ihre krummen Machenschaften durchziehen und den Staat ausnutzen, er wolle damit nichts zu tun haben. Und sie solle sich mal in Behandlung begeben wegen ihrer Schreierei. Er war sich durchaus bewusst gewesen, dass dieser Vorschlag bei seiner Freundin einen extrem wunden Punkt traf.

2. Kapitel

Drei freundliche, nicht mehr ganz junge, aber nicht minder attraktive Frauen mit jeweils einer Halben Radler in der Hand fragten lieb, ob sie sich zu Hans Josef an den Tisch setzen dürften, was er ihnen freundlich gestattete. Sie nahmen am anderen Ende der Bierbank Platz und unterhielten sich über irgendetwas, was Hans Josef nicht mitbekam, da er weiterhin in seinen Gedanken verharrte.

Er wusste nur zu gut, dass er mit seinen Worten ein heißes Eisen angefasst hatte. Petras Psyche war ein heikles Thema, und er hatte es bislang in ihrer langjährigen Beziehung grundsätzlich vermieden, sie auf ihre extremen Launen und hysterischen Anfälle anzusprechen oder ihr gar den Besuch eines Therapeuten zu empfehlen. Denn er war sich nicht sicher, ob er vielleicht gar selbst der Auslöser für ihre Anfälle war. Bei anderen Leuten war Petra immerhin umgänglich und zuvorkommend. Und oft war das, was sie sagte, wohl durchdacht und richtig. Doch die Art, wie sie es sagte, war zumeist unangebracht. Petra war eigentlich immer gestresst. Gut, sie führte ein hektisches Leben, war ein hohes Tier in der Personalabteilung einer Eventagentur und eigentlich immer unterwegs. War es da nicht normal, dass man wenig Geduld hatte? Andererseits hatte Petra auch außerordentlich reizende Seiten, die ihn wiederum versöhnten. Manchmal sendete sie ihm einfach nur eine SMS mit einem zärtlichen Kuss, weil ihr danach war. Oder sie kochte ihm Coq au Vin oder Moussaka oder machte einen unglaublichen Obazdn – alles Gerichte, die er leidenschaftlich gern aß. Und im Bett war sie, wenn sie einen guten Tag hatte, das zärtlichste und liebevollste Wesen des Universums, nur noch Leidenschaft, Hingabe, Zerbrechlichkeit und Lust. Von dem wunderbaren Duft, den sie dabei verströmte, ganz zu schweigen. Vielleicht war es überheblich von ihm, ihr ein Borderline-Syndrom oder Burn-out zu unterstellen. Aber warum konnte Petra ihn nicht so lassen, wie er war? Warum musste sie ständig an ihm herummäkeln? Andererseits: Er wollte ja auch nicht, dass Petra so ist, wie sie ist.

Eine kleine Hummel kam dahergeflogen und überlegte sich kurz, zwischen den drei Frauen und Hans Josef Platz zu nehmen, entschied sich dann aber anders.

Am liebsten hätte er jetzt bei Petra angerufen und ihr gestanden, wie sehr er sie liebte. Denn das tat er tatsächlich und wahrhaftig in seinem tiefsten Inneren. Aber jetzt zu Kreuze kriechen war Unsinn, viel zu früh, sie würde ihm nicht eine Sekunde zuhören. Er hatte neulich im Fernsehen einen Bericht über alternative Medizin gesehen, in dem ein Heilpraktiker der Schulmedizin vorwarf, immer nur die Symptome zu bekämpfen, aber niemals nachzuforschen, was denn die Ursachen für Erkrankungen sein mögen. Das traf auch für Hans Josef und seine Freundin zu.

Was könnte der Ursprung für ihre Probleme sein? Hatte er zu früh angefangen, klein beizugeben? Sendete er von sich aus Signale aus, die sie in Rage brachten? Hätte er vielleicht schon viel früher anfangen sollen, Paroli zu bieten? Vielleicht erwartete sie instinktiv strengeres Verhalten von ihm? Möglicherweise war aber auch nur das gemeinsame Zusammenleben hinderlich. Er hatte ja schon ein paar Mal überlegt, sich eine eigene Wohnung zu nehmen. Diese Option war allerdings mit massiven Stolpersteinen versehen: Sie würde ihm ganz bestimmt eine fürchterliche Szene machen, wenn er auszog. Dazu all der Aufwand mit Umzug, Kaution, der Verteilung ihrer gemeinsam erworbenen Anschaffungen – aber wenn sie zumindest räumlich voneinander getrennt wären, könnte das schon einiges an Entlastung bringen.

Er war schon immer ein relativ schrulliger Mensch gewesen und hatte ihr von vornherein gesagt, dass er allerlei Junggesellen-Allüren habe, angefangen bei der Art, wie die Butter angeschnitten werden musste, über die Reihenfolge der Tassengrößen im Schrank bis hin zu seinem Vorratswahn. Wenn nicht mindestens drei volle Packungen Cornflakes im Haus waren, wurde er nervös. Ja, es musste schwierig sein, mit jemandem wie ihm zusammenzuleben, weil er ständig neue Pläne schmiedete und es liebte, sein Leben völlig neu zu planen oder zu gestalten, wenn auch meist nur als Gedankenspiel.

Als er vor einiger Zeit nur so zum Spaß gesagt hatte, er könne sich gut vorstellen, seine gut bezahlten Sprecherjobs an den Nagel zu hängen und stattdessen als Märchenerzähler in Kindergärten zu arbeiten, war sie aus allen Wolken gefallen und hatte ihm erklärt, er müsse in seinem Alter etwas Solides machen und nicht irgendwelchen Luftschlössern nachhängen. Er hatte beteuert, das Ganze nur so dahingesagt zu haben, worauf sie noch ungehaltener geworden war und bemerkt hatte, sie fände es äußerst befremdlich, dass man etwas nur so vor sich hin brabble, und er solle doch mal autogenes Training machen. Daraufhin hatte er tatsächlich im Internet nach Möglichkeiten des autogenen Trainings geforscht, sich Bücher bestellt und mit einzelnen Übungen begonnen.

Er neigte generell dazu, Ratschläge von anderen sofort zu befolgen, dabei war ihm innerlich ganz anders zumute und er merkte, dass es unstimmig war und sich nicht richtig anfühlte. Aber es gab selten Momente, in denen er wirklich ehrlich seine Meinung sagen konnte. Und Petra fühlte sich sicherlich auch nicht wohl in diesen Momenten. Plötzlich tat sie ihm entsetzlich leid. Er spielte mit der Hand an seinem Smartphone herum und überlegte kurz, ob er es wieder anschalten sollte. Doch er wusste: Wenn er sie jetzt anrufen würde, wäre das nur die Fortsetzung der schrecklichen Szene von vorhin. Nein, es war schon richtig, dass er die Tür hinter sich zugeknallt und das Gerät ausgeschaltet hatte. Erst mal ein paar Stunden ins Land ziehen lassen, dann würde sich das schon wieder einrenken. Hoffentlich.

Er stand auf und bummelte beim Fisch Witte vorbei. Beim Anblick der saftigen Fischsemmeln lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Es waren die besten weit und breit, der Fisch hatte einen ganz herzhaft-frischen Geschmack. Aber er hatte eigentlich keinen Hunger, sondern eher Durst. Bierdurst. Er bog links ab und ging über den Dreifaltigkeitsplatz in Richtung Heiliggeiststraße. Als er am Augustiner Marktwirt, einer gemütlichen Gastwirtschaft mit einem großartigen Speisenangebot, ankam und ihm der aus dem Eingangsbereich von der Küche herwehende Bratengeruch in die Nase stieg, dachte er an die verliebten Anfangswochen mit Petra, als sie viel in Restaurants ausgegangen waren. Drei- oder viermal waren sie auch hier gewesen. Einmal hatte er versucht, sein Essen im bayrischen Dialekt zu bestellen, was ihm deutlich misslang. Sosehr er auch übte, er bekam einfach kein vernünftiges Bayrisch heraus. Die aus dem Dachauer Hinterland stammende Petra hatte sich kaputtgelacht, die Bedienung auch. Es war ein sehr vergnüglicher Abend geworden.

3. Kapitel

Hans Josef seufzte und setzte seinen Weg fort. Vorbei am ehemaligen Heiliggeiststüberl, dessen Betreiber irgendwann ihren Pachtvertrag aus der Öffentlichkeit unbekannten Gründen nicht mehr verlängern durften und ihr nettes kleines Lokal für immer schließen mussten. Seitdem lösten sich dort im fliegenden Wechsel alle paar Monate eigenartige Kaffee-Ausschänke, Eisdielen und Lebkuchenverkäufer als Pächter ab. Derzeit stand dort nur noch eine relativ lieblos hingezimmerte Theke, deren Schicksal in den Sternen stand. Zum Glück gab es nebenan noch das sehr nette kleine Trinklokal Le Clou