Haydon, Elizabeth Tochter der Erde

Übersetzung aus dem Amerikanischen von Christine Strüh

ISBN 978-3-492-98275-7

April 2016

© Elizabeth Haydon 2000

Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Prophecy«

TOR Fantasy/Tom Doherty Associates, LLC, New York 2000

© Piper Fahrenheit, ein Imprint der Piper Verlag GmbH,

München/Berlin 2016

Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2004

Covergestaltung: Tanja Winkler

Covermotiv: Unsplash (Frau) und maria-anne (Erde)

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

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Für die Friedensstifter und für Unterhändler

Für die Albtraumjäger und jene, die aufgeschlagene Knie küssen

Für diejenigen, die die Ordnung unserer Welt durch ihre Kinder stärken, eins nach dem anderen Für die Vermächtnisstifter, die Geschichtenschreiber Für diejenigen, die die Vergangenheit ehren,

indem sie die Zukunft formen

Für diejenigen,

für die Elternschaft eine Berufung ist

Und vor allem für diejenigen, die mir am nächsten sind Mit all meiner Liebe

Die Prophezeiung der Drei

Die Drei werden kommen; früh brechen sie auf, spät treten sie in Erscheinung,

Die Lebensalter des Menschen:

Kind des Blutes, Kind der Erde, Kind des Himmels.

Ein jeder Mensch, entstanden im Blute und darin geboren,

Beschreitet die Erde, wird von ihr genährt, Greift zum Himmel und genießt seinen Schutz, Steigt indes erst am Ende seiner Lebenszeit zu ihm auf und gesellt sich zu den Sternen. Blut schenkt Neubeginn, Erde Nahrung.

Der Himmel schenkt zu Lebzeiten Träume – im Tode die Ewigkeit.

So sollen sie sein, die Drei, einer zum anderen.

Die Prophezeiung des ungebetenen Gasts

Er geht als einer der Letzten und kommt als einer der Ersten,

Trachtet danach, aufgenommen zu werden, ungebeten, an neuem Ort.

Die Macht, die er gewinnt, indem er der Erste ist,

Ist verloren, wenn er als Letzter in Erscheinung tritt. Unwissend spenden die, die ihn aufnehmen,

ihm Nahrung,

In Lächeln gehüllt wie er, der Gast;

Doch im Geheimen wird die Vorratskammer vergiftet. Neid, geschützt vor seiner eigenen Macht –

Niemals hat, wer ihn aufnimmt, ihm Kinder geboren, und niemals wird dies geschehen,

Wie sehr er sich auch zu vermehren trachtet.

Die Prophezeiung des Schlafenden Kindes

Das Schlafende Kind, sie, die Jüngstgeborene, Lebt weiter in Träumen, doch weilt sie beim Tod, Der ihren Namen in sein Buch zu schreiben gebot, Und keiner beweint sie, die Auserkorene.

Die Mittlere, sie liegt und schlummert leise, Zwischen dem Himmel aus Wasser und treibendem Sand,

Hält stille, geduldig, Hand auf Hand,

Bis zu dem Tag, an dem sie antritt die Reise.

Das älteste Kind ruht tief, tief drinnen

Im immer-stillen Schoß der Erden.

Noch nicht geboren, doch mit seinem Werden

Wird das Ende aller Zeit beginnen.

Die Prophezeiung des letzten Wächters

Im Innern des Kreises der Vier wird stehen ein Kreis der Drei –

Kinder des Windes sie alle, und doch sind sie’s nicht, Der Jäger, der Nährer, der Heiler.

Furcht führt sie zueinander, Liebe hält sie zusammen, Um zu finden, was sich verbirgt vor dem Wind.

Höre, o Wächter, und besehe dein Schicksal: Der, welcher jagt, wird auch beschützen,

Der, welcher nährt, wird auch verlassen, Der, welcher heilt, wird auch töten,

Um zu finden, was sich verbirgt vor dem Wind.

Höre, o Letzter, auf den Wind:

Der Wind der Vergangenheit wird sie geleiten nach Haus

Der Wind der Erde wird sie tragen in die Sicherheit

Der Wind der Sterne wird singen das Mutterlied, das ihrer Seele am vertrautesten klingt,

Um das Kind vor dem Wind zu verbergen.

Von den Lippen des Schlafenden Kindes werden kommen Worte von höchster Weisheit:

Hüte dich vor dem Schlafwandler, Denn Blut wird das Mittel sein,

Um zu finden, was sich verbirgt vor dem Wind.

INTERMEZZO

Meridion

Meridion saß im Dunkeln, völlig in seine Gedanken vertieft. Auch die Instrumententafel des Zeit-Editors war dunkel; im Augenblick stand die riesige Maschine still, die glänzenden Streifen der durchsichtigen Filme waren aufgespult und jede Rolle sorgfältig mit Vergangenheit oder Zukunft beschriftet. Die Gegenwart, wie stets ein flüchtiger silberner Nebel, lag unter der Lampe des Editors, drehte und wandelte sich im Dämmerlicht von einem Herzschlag zum anderen.

Über Meridions Knien lag ein uralter Strang, ein Geschichtenfaden aus der Vergangenheit. Es war ein Filmfragment von unermesslicher Bedeutung, am einen Ende jedoch verbrannt und völlig zerfasert. Behutsam hob Meridion ihn hoch, drehte ihn in der Hand und seufzte tief.

Die Zeit war zerbrechlich, vor allem, wenn man sie mechanisch beeinflusste. Er hatte mit dem spröden Film äußerste Vorsicht walten lassen, aber unter dem Druck der Zahnräder im Zeit-Editor war er gerissen, hatte Feuer gefangen, und das Bild, das Meridion benötigte, war verbrannt. Jetzt war es zu spät; der Augenblick war für immer verloren, und mit ihm auch die Information, die er enthielt. Die Identität des Dämons, den er suchte, würde verborgen bleiben. Es gab kein Zurück, jedenfalls nicht auf diesem Weg.

Meridion rieb sich die Augen und lehnte sich zurück in das durchsichtige, funkelnde Aurafeld, das mit seiner Lebensessenz verbunden war und das er nun zu einer Art Stuhl geformt hatte. Die muntere Melodie, die ihn umgab, wirkte stärkend und belebend, klärte seine Gedanken und half ihm, sich zu konzentrieren. Es war sein Namenslied, die seinem Leben eingeborene Melodie. Eine in der ganzen Welt einmalige Schwingung, verbunden mit seinem wahren Namen.

Der Dämon, den er suchte, besaß auch große Macht über Namen. Meridion war in die Vergangenheit gereist, um ihn zu finden, hatte nach einem Weg gesucht, die Zerstörung abzuwenden, die jener Dämon sorgfältig über die Zeit hinweg geplant hatte, aber er war ihm entwischt. F’dor waren Meister der Lüge, Väter des Betrugs. Sie besaßen keine körperliche Form, sondern ergriffen Besitz von unschuldigen Wesen, lebten in ihnen oder benutzten sie, sodass sie ihren Willen taten, bis sich dem Dämon irgendwann die Gelegenheit bot, zu einem neuen, mächtigeren Wirt weiterzuziehen. Selbst aus der Ferne, selbst von der Warte der Zukunft aus gab es kaum eine Möglichkeit, sie zu entdecken.

Aus diesem Grund hatte Meridion die Zeit beeinflusst, hatte Stücke aus der Vergangenheit zerschnitten und neu angeordnet, um eine besonders begabte Benennerin mit den beiden Geschöpfen zusammenzubringen, die ihr möglicherweise helfen konnten, den Dämon aufzuspüren und zu vernichten. Er hatte gehofft, dass diese drei auf ihrer Seite der Zeit in der Lage sein würden, die Heldentat zu vollbringen, ehe es zu spät war, die Pläne des Dämons zu durchkreuzen und der Zerstörung Einhalt zu gebieten, welche das Land nunmehr auf beiden Seiten der Welt heimsuchte. Doch sein Plan war riskant gewesen. Wenn man verschiedene Leben zusammenbrachte, war das noch lange keine Garantie dafür, dass die sich daraus ergebenden Möglichkeiten entsprechend genutzt werden würden.

Schon jetzt sah sich Meridion mit den unglücklichen Folgen seiner Handlungen konfrontiert. Als sich die Vergangenheit selbst zerstört hatte, war der Zeit-Editor beim Abspulen der Zeitfäden so heiß gelaufen, dass Filmfetzen abgerissen waren und über der Maschine in der Luft geschwebt hatten. Der Gestank des verbrannten Zeitfilms war scharf und ätzend; er stieg Meridion unerbittlich in die Nase, drang in seine Lungen und ließ ihn bei dem Gedanken erzittern, welchen Schaden er unabsichtlich der Zukunft antun mochte, indem er sich in die Vergangenheit eingemischt hatte. Aber nun war es zu spät.

Meridion wedelte mit der Hand über die Instrumententafel des Zeit-Editors. Sofort erwachte die gigantische Maschine röhrend zum Leben, und ihre komplizierten Linsen wurden von einer starken Lichtquelle im Innern erhellt. Ein warmer Glanz ergoss sich über die großen Glasscheiben, welche die Wände des kreisförmigen Raums bildeten und bis zur durchsichtigen Decke hinaufreichten. Die funkelnden Sterne, die noch einen Augenblick zuvor in der Dunkelheit aus jedem Winkel unter und über ihm sichtbar gewesen waren, verschwanden im Schein der reflektierten Helligkeit. Meridion hielt das Stück Film ins Licht.

Die Bilder waren noch da, aber schwer zu erkennen. Die zierliche Frau konnte er deutlich sehen, denn ihr mit einem schwarzen Band zurückgebundenes Haar schimmerte golden und warf das Strahlen des Sonnenaufgangs zurück. Sie stand in der Morgenfrühe inmitten der majestätischen Berglandschaft, in der er sie und ihren Gefährten zuletzt erspäht hatte. Behutsam blies Meridion auf den Geschichtenstrang, um ihn vom Staub zu befreien, und lächelte, als die Frau auf dem Bild fröstelnd den Mantel enger um sich zog. Sie blickte hinunter in das Tal, das sich zu ihren Füßen erstreckte, gefleckt vom Frühlingsfrost und dem Zwielicht der Dämmerung.

Ihr Reisegefährte war schwieriger zu finden. Hätte Meridion nicht schon vorher gewusst, dass er da war, hätte er ihn niemals entdeckt, denn er war in den Schatten fast vollständig verborgen. So brauchte er eine Weile, um die Umrisse des Mantels auszumachen, der ja dafür gedacht war, seinen Träger vor den Blicken der Welt zu verbergen. Eine schwache Nebelspur stieg von ihm auf und vermischte sich mit dem Tau, der im Sonnenlicht verdunstete.

Leider bewahrheitete sich Meridions Verdacht: Der Geschichtenstrang war genau zum falschen Zeitpunkt verbrannt, sodass die Benennerin keine Gelegenheit mehr hatte, einen Blick auf den Botschafter des F’dor zu werfen, ehe er oder sie Ylorc erreichte. Meridion hatte durch ihre Augen gesehen und auf den Moment geharrt, in dem sie den Handlanger des Dämons erspähte, wie der Seher es geraten hatte. Weit in der Ferne konnte er einen schmalen Schatten ausmachen; das war bestimmt die Botschafterkarawane. Die zierliche Frau hatte sie bereits gesehen, aber jetzt war die Gelegenheit vorüber. Und er hatte sie verpasst.

Er dämpfte das Licht im Zeit-Editor und lehnte sich in der Dunkelheit seines Zimmers zurück, um nachzudenken, in seiner Glaskugel schwebend, inmitten der Sterne. Es musste doch noch ein weiteres Zeitfenster geben, eine andere Möglichkeit, wieder in ihre Augen zu gelangen.

Meridion blickte durch die endlose Glaswand neben sich und hinunter auf die Erde, viele Meilen unter ihm. Flüssiges schwarzes Feuer kroch langsam über ihre verfinsterte Oberfläche, legte auf seinem Weg ganze Kontinente in Schutt und Asche und brannte rauchlos in der toten Atmosphäre. Am Rand des Horizonts stieg ein neues Glühen auf; bald würden die Brandherde sich treffen, und das Wenige, was noch übrig war, würde ein Raub der Flammen werden. Meridion musste all seine Kraft zusammennehmen, um nicht laut aufzuschreien. In seinen dunkelsten Träumen hätte er sich dergleichen nicht vorzustellen vermocht.

In seinen dunkelsten Träumen … Bei dem Gedanken fuhr er hoch. Die Benennerin konnte in ihren Träumen in die Vergangenheit und die Zukunft sehen, manchmal sogar, wenn sie nur die Schwingungen vergangener Ereignisse las, die noch in der Luft hingen oder die an einem Gegenstand hafteten. Träume gaben Schwingungsenergie ab; wenn er die Spur eines ihrer Träume finden konnte – wie Staub, der im Nachmittagslicht sichtbar schwebte –, dann konnte er sie zu ihr zurückverfolgen und sich abermals hinter ihren Augen einnisten, in der Vergangenheit. Meridion beäugte die Spule, die den brüchigen, von ihm notdürftig zusammengeklebten Geschichtenfaden hielt; schlaff hing er am Hauptflügel des Zeit-Editors.

Kurz entschlossen packte er die alte Rolle und zog den Film mit einem Ruck heraus, wobei er die Bruchstelle sauber unter der Linse des Zeit-Editors platzierte. Dann justierte er das Okular und blickte hindurch. Das Stück Film war dunkel, und zuerst erkannte er so gut wie nichts. Nach einer Weile jedoch gewöhnten sich seine Augen daran, und er erhaschte einen goldenen Lichtschimmer, als die Benennerin in ihrer dunklen Kammer seufzte und sich im Schlaf umherwälzte. Meridion lächelte.

Nach kurzem Nachdenken wählte er zwei silberne Instrumente aus, ein Sammelwerkzeug mit einer haardünnen Spitze und ein winziges Siebkörbchen, an das ein langer schlanker Stiel gelötet war. Das Geflecht des daumennagelgroßen Körbchens war fein genug, dass es selbst das kleinste Staubkorn auffangen konnte. Mit größter Sorgfalt blies Meridion auf das Filmbild und hielt unter der Linse Ausschau nach einer Reaktion. Nichts. Er blies noch einmal, und diesmal stieg ein winziger weißer Funken von dem Faden auf, so klein, dass nicht einmal Meridion mit seinen außerordentlich empfindlichen Augen ihn ohne Vergrößerung hätte sehen können.

Geschickt fing Meridion das Stäubchen mit dem Sammelwerkzeug auf und legte es in den Korb. Dann wartete er, ohne den Vorgang eine Sekunde aus den Augen zu lassen, bis die Lampe des Zeit-Editors den hauchdünnen Faden beleuchtete, der es mit dem Film verband. Schließlich wandte er sich um und atmete aus. Er hatte einen Traumfaden eingefangen.

Vorsichtig zupfte er ihn weiter heraus, bis er lang genug war, um ihn unter die stärkste der Linsen zu legen. Ohne den Blick von dem Faden abzuwenden, winkte er in Richtung einer der Behälter, die über dem Editor in der Luft schwebten. Die Türen öffneten sich, und eine winzige Flasche mit einer öligen Flüssigkeit rutschte an die Kante des Innenfachs, sprang dann in die Luft und glitt sanft nach unten, bis sie auf der glänzenden Prismenscheibe zur Ruhe kam, die neben Meridion in der Luft schwebte. Noch immer den Faden fixierend, damit er ihn nur nicht aus dem Auge verlor, entkorkte Meridion die Flasche mit der einen Hand und entfernte behutsam den Tropfenzähler. Dann hielt er sie über den Faden und drückte kräftig.

Das Glas unter der Linse schwirrte in rosa-gelbem Nebel, dann wurde es wieder klar. Meridion streckte die Hand aus und drehte den Sichtschirm zur Wand. Es würde einen Augenblick dauern, bis er sich zurechtfände, aber so war es stets, wenn man aus dem Innern eines Traums heraus beobachtete, den ein anderer ersann.

Albträume

In der Nacht, bevor Rhapsody sich in die Obhut des Mannes gab, den sie kaum kannte, jenes Mannes, dessen Gesicht sie nie gesehen hatte, schlief sie nicht sonderlich gut. Da sie hellsichtig war, also mit der Gabe bedacht war, Visionen aus der Zukunft wie der Vergangenheit zu empfangen, war sie an ruhelosen Schlaf und arge Träume gewöhnt; aber in dieser Nacht war es irgendwie anders.

Lange, qualvolle Stunden lag sie wach und kämpfte mit nagenden Zweifeln, die ihr gewiss als Warnung dienen sollten. Es drehte sich dabei nicht einmal um irgendeine besondere Vorahnung, sondern schlicht um die Regeln des gesunden Menschenverstandes. Bis zum Morgen war sie sich völlig unsicher, ob ihre Entscheidung, ohne den treuen Schutz ihrer Freunde mit diesem Mann auf Reisen zu gehen, wirklich klug war.

Das Feuer in dem kleinen, schlecht ziehenden Kamin brannte leise, während sie sich herumwälzte und zwischen Schlaf und Wachen vor sich hin murmelte. Die stummen Flammen warfen pulsierende Lichtflecke auf Wände und Decke ihrer winzigen fensterlosen Schlafkammer tief im Innern des Bergs. Als Achmed in Ylorc König der Firbolg geworden war, hatte er den Sitz seiner Macht den ›Kessel‹ genannt; in dieser Nacht aber hatte er mehr Ähnlichkeit mit der Unterwelt.

Achmed hatte kein Hehl daraus gemacht, dass er Rhapsodys Plan, den Berg zusammen mit Ashe zu verlassen, ganz und gar nicht billigte. Von dem Augenblick an, als die beiden Männer sich auf den Straßen von Bethe Corbair begegnet waren, hatten sie ein offenkundiges Misstrauen gegeneinander gehegt; die Spannung, die in der Luft lag, ließ Rhapsodys Kopfhaut prickeln, als wäre sie statisch aufgeladen. Doch Vertrauen gehörte sowieso nicht zu Achmeds hervorstechenden Eigenschaften. Mit Ausnahme von ihr und Grunthor, seinem riesenhaften Sergeanten und langjährigen Freund, beehrte er, soweit Rhapsody wusste, niemanden damit.

Im Grunde machte Ashe einen recht netten und harmlosen Eindruck. Bereitwillig hatte er Rhapsody und ihren Gefährten in Ylorc, ihrer abweisenden Bergheimat, einen Besuch abgestattet. Ihm schien es nichts weiter auszumachen, dass Ylorc das Lager der Firbolg war und dass diese primitiven, zuweilen recht grausamen Kreaturen von den meisten Menschen als wahre Ungeheuer gefürchtet wurden.

Ashe hatte keinerlei Vorurteile gezeigt; freundlich hatte er mit den grimmigen Bolg-Häuptlingen am selben Tisch gespeist, hatte sich nicht weiter an deren ungehobelten Tischmanieren gestört und geflissentlich ihre Angewohnheit ignoriert, Knochensplitter auf den Boden zu spucken. Und er hatte ohne zu zögern zu den Waffen gegriffen, um das Firbolg-Reich gegen einen Angriff der Hügel-Augen zu verteidigen, dem letzten Stamm, der Achmed bisher noch nicht die Lehenstreue geschworen hatte. Seine Regentschaft als Kriegsherr war ja noch verhältnismäßig neu und längst nicht eingespielt. Falls es Ashe in irgendeiner Weise belustigte oder ärgerte, dass Rhapsodys Gefährten zu solch monströser Größe aufgestiegen waren, zeigte er es jedenfalls nicht.

Andererseits zeigte Ashe ohnehin sehr wenig. Stets hielt er das Gesicht sorgfältig unter der Kapuze seines Umhangs verborgen, eines sonderbaren Kleidungsstücks, das ihn in Nebel einzuhüllen schien und es seinem Gegenüber noch schwerer machte, ihn zu erkennen.

Rhapsody rollte sich im Bett herum und stieß einen langen, gequälten Seufzer aus. Sie akzeptierte Ashes Recht auf Heimlichkeiten; sie wusste, dass viele Überlebende des großen cymrischen Krieges entstellt und verkrüppelt heimgekehrt waren. Aber der Gedanke, er könnte mehr zu verbergen haben als eine hässliche Narbe, ließ ihr einfach keine Ruhe. Gesichtslose Männer hatten schon in vielen verschiedenen Bereichen ihres Lebens ihr Unwesen getrieben.

In der Dunkelheit der Höhlenkammer öffnete Rhapsody die smaragdgrünen Augen. Wie zur Antwort glühte das Feuer auf; von den Überresten der verkohlten, weiß glühenden Holzscheite stiegen kleine Rauchschwaden empor und krochen den Kamin hinauf, der vor Jahrhunderten in den Berg gehauen worden war, als Ylorc noch Canrif hieß und den Cymrern als Königssitz diente. Rhapsody holte tief Luft und sah zu, wie noch mehr Rauch emporwallte und über der Glut eine kleine Wolke bildete.

Sie schauderte; der Rauch war in ihr Gedächtnis eingedrungen und hatte dort ein unerwünschtes Bild heraufbeschworen; nicht eine der alten Erinnerungen an ihr ehemaliges Leben auf den Straßen von Serendair, ihrer Inselheimat, die unter den Fluten des Meeres auf der anderen Seite der Welt begraben lag. Jene Zeit des Missbrauchs und der Prostitution, die sie so lange in ihren Träumen heimgesucht hatte, störte ihren Schlaf nicht mehr.

Jetzt träumte sie meist von den Schrecken dieses neuen Landes. Nacht um Nacht bescherte ihr grausige Gedächtnisbilder an das Haus der Erinnerungen, eine alte Bibliothek in der neuen Welt, und an einen Feuervorhang, der einen dunstigen Tunnel bildete. Am Ende der Rauchsäule hatte ein Mann gestanden, ein Mann in einem grauen Mantel, ganz ähnlich dem, den Ashe trug. Ein Mann, den die gefundenen Dokumente eindeutig als Rakshas ausgewiesen hatten. Ein Mann, der Kinder gestohlen und sie ihres Blutes wegen geopfert hatte. Ein Mann, dessen Gesicht sie ebenfalls nicht gesehen hatte. Die Übereinstimmungen setzten ihren Nerven gewaltig zu.

Verschwommen stellte Rhapsody fest, dass die glimmenden Kohlen nicht viel dazu taten, die Feuchtigkeit aus der Kammer zu vertreiben. Ihre Haut fühlte sich kalt und feucht an, die klammen Decken klebten an ihr und kratzten. Ihr schweißnasses Haar verhedderte sich im Nacken mit der Kette des Medaillons, das sie nie abnahm, und ziepte schmerzhaft, als sie sich reckte, um sich aus den Fesseln des Bettzeugs zu befreien.

Schon wollte sich ihr Magen in kalter Sorge zusammenziehen, da kam ihr ein pragmatischer Gedanke. Achmed war wohl ihr bester Freund in diesem Land, die säuerliche Kehrseite ihrer fröhlichen Münze, und auch er neigte dazu, so verschleiert durch die Welt zu gehen, dass sie ihn nicht richtig sehen konnte.

Nach all der Zeit staunte sie immer noch darüber, dass sie diesem zum König aufgestiegenen Meuchelmörder so nahe gekommen war, einem Mann, dessen Lebensziel darin zu bestehen schien, einen jeden Menschen zu verärgern, der mit ihm in Kontakt trat. Sie war ihm nicht sonderlich dankbar gewesen, dass er sie gegen ihren Willen durch den Bauch der Erde geschleift und sie aus Serendair herausgeholt hatte, ehe vulkanisches Feuer die Insel verschlungen hatte. Zwar hatte sie im Lauf der Zeit aufgehört, ihr Schicksal zu hassen, aber in einer winzigen Ecke ihres Herzens würde sie ihm niemals vergeben, obgleich sie ihm ihr Leben verdankte. Und dennoch hatte sie ihn und Grunthor lieben gelernt.

Auch die Firbolg hatte sie inzwischen ins Herz geschlossen, hauptsächlich, weil sie sie durch die Augen ihrer beiden Freunde sah, die halb bolgischer Abstammung waren. Trotz der primitiven Natur und der kriegerischen Neigungen der Höhlenbewohner hatte Rhapsody viele Aspekte ihrer Kultur schätzen gelernt, die erstaunlich hoch entwickelt war und bewundernswerter als manches, was man bei ihren menschlichen Gegenstücken in den Provinzen von Roland antraf. Die Firbolg folgten ihren Führern aus Respekt und Furcht, nicht willkürlich oder aufgrund zweifelhafter Familientraditionen; sie verwendeten ihre spärlichen medizinischen Kenntnisse darauf, die Geburten zu erleichtern und die Kinder und ihre Mütter zu schützen – ein moralischer Grundsatz, den Rhapsody aus vollem Herzen unterstützte. Die etwas verfeinerte soziale Struktur, die Achmed und Grunthor eingeführt hatten, begann gerade Fuß zu fassen, als klar wurde, dass Rhapsodys Reise unabdingbar war.

Rhapsody räkelte sich auf den Rücken, auf der Flucht vor ihren Träumen und der Suche nach einer bequemeren Lage, aber leider war ihr die Erfüllung beider Wünsche nicht vergönnt. Wieder fiel sie den Gedanken anheim, die da durch ihren Kopf wirbelten.

Mit dem Fund der Kralle hatte sich alles verändert. Aus den Tiefen der Gewölbe von Ylorc hatten sie die Kralle eines Drachen ans Tageslicht gefördert, mit einem Griff versehen, sodass sie als Dolch dienen konnte. Jahrhundertelang hatte sie anscheinend ungestört in der Tiefe geruht, selbst als die Bolg die Berge übernommen und sich das verlassene cymrische Reich angeeignet hatten. Doch nun lag der Dolch an der Erdoberfläche, und der Drache, dem die Kralle gehört hatte, würde diese fühlen, würde ihre Schwingungen im Wind schmecken. Rhapsody glaubte, dass er irgendwann kommen würde, um sie sich zurückzuholen. Sie hatte die Legenden von der mächtigen Drachin Elynsynos gehört, hatte die wilden, Grauen erregenden Statuen des Tiers im cymrischen Museum und auf den Dorfplätzen überall in Roland gesehen, und von daher zweifelte sie nicht daran, dass der Drache einen giftigen Zorn nährte. Bilder jenes Zorns hatten die Parade ihrer Albträume in dieser letzten Nacht in Ylorc angeführt und sie das erste von vielen Malen zitternd aus dem Schlaf emporschrecken lassen.

Um die Bolg vor den verheerenden Folgen dieses Zorns zu bewahren, hatte sie beschlossen, den Wyrm zu suchen und ihm den Dolch zurückzugeben, obgleich Achmed und Grunthor heftig widersprochen hatten. Doch Rhapsody hatte sich nicht von ihrem Plan abbringen lassen; allein schon die Vorstellung, dass ihre adoptierten Bolg-Enkel unter dem Feueratem des Drachen zu Asche zerfallen würden, hatte ihre Entschlossenheit gestärkt. Auch dieser Traum gehörte zu denen, die sie immer wieder heimsuchten, wenngleich die Opfer des Drachen gelegentlich wechselten. Ihre Träume trafen da keine Unterscheidung.

Sie hatte Angst um Jo, das Straßenmädchen, das sie im Haus der Erinnerung gefunden und an Stelle einer Schwester angenommen hatte. Auch um Stephen fürchtete sie, den freundlichen jungen Herzog von Navarne, und um seine Kinder, die sie ebenfalls ins Herz geschlossen hatte. All diese Menschen, die sie liebte, wurden in ihren Albträumen vor ihren Augen abwechselnd bei lebendigem Leibe gebraten. Diese Nacht hatte Herzog Stephen die Ehre gehabt.

In seinem Schloss hatte sie zum ersten Mal eine Statue von Elynsynos erblickt. Stephen hatte bereits seine Frau, seinen besten Freund Gwydion von Manosse und zahllose andere Bewohner seines Herzogtums verloren; sie waren allesamt den unerklärlichen Gewaltausbrüchen zum Opfer gefallen, die das Land seit geraumer Zeit heimsuchten. Rhapsody wäre am Verlust ihrer Welt und ihrer Familie fast zugrunde gegangen; nun waren die Bolg und ihre Freunde zu ihrer Familie geworden. Diese Familie womöglich schutzlos einem Angriff auszusetzen wäre fast so schlimm wie der erste Verlust, in gewisser Hinsicht sogar noch schlimmer. Ashe behauptete, er wisse, wo der Drache zu finden sei. Für ihre Lieben war sie bereit, ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Nur konnte Rhapsody in diesem Land der Lügen nicht sicher sein, dass sie ihnen nicht gar noch mehr Gefahr einbrockte, wenn sie mit Ashe ging.

Rhapsody wälzte sich auf die Seite und verhedderte sich erneut in die rauen wollenen Decken. Nichts schien mehr einen Sinn zu ergeben. Es war unmöglich zu entscheiden, auf wen oder was sie vertrauen konnte; nicht einmal auf ihre eigenen Gefühle konnte sie sich verlassen. Ihr blieb nichts anderes übrig, als zu beten, dass die Träume von einer bevorstehenden Zerstörung Warnungen waren und nicht etwa Vorahnungen wie die, welche ihr damals den Untergang Serendairs angekündigt hatten. Aber wie dem auch sein mochte, sie würde es erst endgültig wissen, wenn es womöglich zu spät war.

Als sie wiederum in einen unruhigen Schlaf verfiel, schien es ihr, als hätte sich der Rauch des Feuers verdichtet und ein Band in der Luft gebildet, ein durchsichtiges Band, das sich um ihre Träume wand und hinter ihren Augen verankerte.

Achmed die Schlange, König der Firbolg, litt ebenfalls unter Albträumen und fühlte sich von ihnen ausgesprochen verunsichert. Schlafängste waren Rhapsodys Spezialität, und Achmed war im Allgemeinen dagegen immun. Schließlich hatte er im Wachzustand mehr als genug gelitten, damals in der alten Welt. Wie froh er war, dieses Leben hinter sich gelassen zu haben!

Die starren Wände des Kessels, seines Regierungssitzes im Innern des Bergs, gewährten ihm für gewöhnlich dunklen, erholsamen Schlaf, traumlos und nicht von den Schwingungen der Luft gestört, auf die er so besonders empfindlich reagierte. Sein dhrakischer Körper, Geschenk der Rasse seiner Mutter, war ihm Fluch und Segen zugleich. Er verlieh ihm die Gabe, die Zeichen der Welt zu lesen, die für die Augen und den Verstand seiner Zeitgenossen nicht erkennbar waren. Aber der Preis dafür war hoch; er fand kaum Ruhe und Frieden, denn er musste sich Tag für Tag mit dem Ansturm zahlloser unsichtbarer Eindrücke auseinander setzen, die für andere schlicht ›das Leben‹ darstellten.

Daher war er höchst angetan davon, dass die Festung tief im Felsen des dunklen Bergreichs von Ylorc lag. Glatt polierte Basaltwände umschlossen die stille, reglose Luft seines königlichen Schlafgemachs und hielten den Lärm und den Tumult der Welt draußen von ihm fern. Seine Nächte waren meist störungsfrei und ruhig und tröstlich in ihrem Schweigen.

Aber nicht so diese Nacht.

Fluchend warf sich Achmed im Bett herum und fuhr schließlich zornig hoch. Nur mit Mühe konnte er sich zurückhalten, den Korridor hinunter zu Rhapsodys Zimmer zu laufen, sie aus dem Schlaf zu reißen und zu fragen, was eigentlich in sie gefahren sei, warum sie die Gefahr nicht erkannte, die sie mit ihrer Unternehmung herausforderte. Doch das hätte wenig Sinn gehabt, denn Achmed wusste die Antwort auf diese Frage längst.

Rhapsody nahm viele Dinge einfach nicht wahr. Für eine Frau mit einem so scharfen Verstand und einer ansonsten so wachen Auffassungsgabe war sie bei den offensichtlichsten Tatsachen oft erstaunlich schwer von Begriff, und wenn sie etwas nicht glauben wollte, ignorierte sie es einfach.

Ursprünglich hatte Achmed angenommen, dies sei Teil der Veränderungen, die sie alle durchgemacht hatten, Teil der Metamorphose, die eingetreten war, als sie auf ihrer Flucht aus Serendair durch das Inferno im Bauch der Erde gegangen waren. Seit sie dem Feuer entronnen waren, hatte sich Rhapsody verwandelt; die Flammen hatten sie nicht nur körperlich unversehrt gelassen, sondern ihre natürliche Schönheit geradezu ins Übernatürliche gesteigert. Achmed war nicht nur fasziniert von der Kraft, die ihr jetzt innewohnte, sondern auch von ihrer schlichten Unfähigkeit, ihre Veränderung selbst zu erkennen. Jedes Mal, wenn sie auf der Straße die Kapuze abnahm, wurde sie von den Leuten mit offenem Munde angestarrt; aber dieser Umstand hatte sie nicht etwa zu der Überzeugung gebracht, dass sie wunderschön aussah, sondern im Gegenteil dazu geführt, dass sie sich vorkam, als wäre sie missgestaltet.

Achmed trat heftig gegen das Laken, das sich um seinen Fuß gewickelt hatte. Als er Rhapsody besser kennen gelernt hatte, war ihm klar geworden, dass ihre Neigung zur Selbsttäuschung schon lange vor ihrem Marsch durchs Feuer bestanden haben musste. Es war ihre Art, sich einen letzten Rest Unschuld zu bewahren, ihr leidenschaftlicher Drang, an das Gute zu glauben, wo es nicht vorhanden war, zu vertrauen, wo es keinerlei Grund dazu gab.

Auf der Straße hatte sich ein solch unschuldiger Glaube bestimmt nicht so leicht aufrechterhalten lassen. Immerhin hatte Rhapsody mit einem Diener von Achmeds damaligem Meister verkehrt – mit Michael, dem Wind des Todes – und war durch ihn gewiss den härtesten Realitäten ausgesetzt worden. Dennoch hielt sie stets Ausschau nach einem glücklichen Ausgang der Dinge und versuchte die Familie, die sie vor tausend Jahren verloren hatte, um jeden Preis neu zu erschaffen, indem sie jede Waise und jedes Findelkind adoptierte, die ihr über den Weg liefen. Bisher hatte diese Neigung lediglich dazu geführt, dass man ihr das Herz brach, was Achmed, nebenbei bemerkt, völlig kalt ließ. Doch mit ihrem nächsten Plan drohte sie nicht nur ihr eigenes Leben aufs Spiel zu setzen, und das beunruhigte ihn zutiefst.

Irgendwo draußen in der unendlichen Weite der westlichen Länder gab es ein menschliches Wesen, das einen Dämon beherbergte, da war er sich sicher; er hatte das Werk des F’dor schon früher gesehen. Schließlich war er selbst der unfreiwillige Sklave eines Dämons gewesen. Die F’dor waren eine alte, böse Rasse, aus dunklem Feuer geboren, aber Achmed hatte die Hoffnung gehegt, der Letzte von ihnen sei mit ihrer Inselheimat untergegangen. Hätte er selbst im serenischen Krieg mitgekämpft, der bald nach seiner Flucht ausgebrochen war, hätte er für ihre endgültige Ausrottung gesorgt und dafür auch seinen letzten Mord begangen – was damals ja ohnehin sein Metier gewesen war.

Aber er war frühzeitig von der Insel entflohen. Ein ganzes Jahrtausend, bevor er von der Wurzel wieder an die Erdoberfläche gelangt war – eine halbe Welt entfernt, auf der anderen Seite der Zeit –, hatte der Krieg geendet, und Serendair war in den Fluten versunken. Und diejenigen, die den Konflikt überlebt hatten, diejenigen, welche die Katastrophe hatten nahen sehen und klug genug gewesen waren, rechtzeitig die Flucht zu ergreifen, hatten ohne jeden Zweifel das Böse mit sich an diesen neuen Ort getragen.

Die Geschichte konnte ohne weiteres als schlechtester Scherz der Weltgeschichte durchgehen. Achmed hatte die unzerstörbare Kette des Dämons zerbrochen, war vor etwas geflohen, vor dem man eigentlich nicht fliehen konnte, war dem entgangen, dem man nicht entgehen konnte, nur um es hier wieder zu finden. Irgendwo da draußen lauerte es nun auf ihn, unerkennbar mit einem der Millionen Einwohner dieses neuen Landes verbunden, und wartete ab, bis die Zeit reif war. Für den Augenblick waren sie anscheinend in Sicherheit; das Böse hatte die Berge noch nicht erreicht, so weit er es beurteilen konnte.

Aber nun wollte diese hirnlose Frau den Schutz seines Reiches verlassen. Wenn sie überlebte, würde sie am Ende noch als Sklavin des Bösen zurückkehren, ohne es zu ahnen.

In früheren Zeiten wäre das auf eine verdrehte Art tatsächlich etwas Gutes gewesen. Wenn der F’dor sich an sie gebunden hätte, wäre es unnötig gewesen, selbst loszuziehen und ihn zu suchen. Sobald Rhapsody zu den Zahnfelsen, den Firbolg-Bergen, zurückgekehrt wäre, hätte Grunthor sie vor seinen Augen getötet, während er das Bannritual durchführte. Dies war eine weitere Gabe, die ihm seine Rasse als HalbDhrakier verlieh: der seltsame Totentanz, dem er beigewohnt, den er aber nie selbst vollführt hatte; ein Tanz, der den Dämon an der Flucht hinderte, wenn sein Wirt starb, und ihn zusammen mit seinem menschlichen Körper – in diesem Falle Rhapsodys – für immer vernichtete. Wenn sich herausgestellt hätte, dass sie doch nicht besessen gewesen wäre, hätte keiner von ihnen großartig getrauert.

Doch inzwischen war alles anders geworden. Grunthor liebte Rhapsody abgöttisch und verteidigte sie mit jeder Faser seines monströsen Wesens. Mit seiner Größe von siebeneinhalb Fuß und der Breite eines Zugpferds war er ein Bollwerk, das man in seiner leidenschaftlichen Entschlossenheit nicht unterschätzen durfte.

Und selbst Achmed war zu der Erkenntnis gekommen, dass es nützlich war, Rhapsody in der Nähe zu haben. Neben ihrer überwältigenden Schönheit, welche die Firbolg in Schrecken oder zumindest in Ehrfurcht versetzte, war da noch ihre Musik – eines der nützlichsten Werkzeuge in ihrem Arsenal, wenn es darum ging, die Eroberung des Berges und das Voranschreiten der Firbolg-Zivilisation zu unterstützen.

Rhapsody war eine Liringlas, eine Himmelssängerin, ausgebildet in der Wissenschaft des Benennens. In ihrer Musik wohnte eine Schönheit, die ihr ebenso angeboren war wie ihre körperliche Erscheinung. Die Schwingungen, die von ihr ausgingen, wirkten beruhigend und lindernd auf die empfindlichen Adern direkt unter Achmeds Haut. Schon vor langer Zeit war Achmed zu dem Schluss gekommen, dass dies einer der Gründe war, warum er Rhapsody als liebenswerte Nervensäge akzeptieren konnte, statt sie als echtes Ärgernis zu empfinden, wie es ihm bei den meisten anderen seiner Mitmenschen erging.

Praktisch einsetzen ließ sich ihre Musikalität indes vor allem durch ihre Fähigkeit, zu überzeugen, Furcht einzuflößen, Wunden zu heilen, aber auch zu verletzen und Schwingungen zu erkennen, die nicht einmal Achmed selbst identifizieren konnte. Rhapsody hatte bei der Eroberung des Berges eine wichtige Rolle gespielt; ohne ihre Mitwirkung hätte das Unterfangen bestimmt viel länger gedauert und wäre wesentlich blutiger verlaufen. Er schätzte diese Talente sehr, während Rhapsody sie leider eher für zweitrangig hielt.

Stattdessen verbrachte sie viel Zeit damit, ihre musikalische Heilergabe zum Einsatz zu bringen, indem sie den Verwundeten vorsang, um ihre Schmerzen zu lindern und ihre Angst zu beschwichtigen – tröstliche Maßnahmen, von denen Achmed argwöhnte, dass sie die Bolg eher verwirrten, und über die er sich deshalb über alle Maßen ärgerte. Gleichzeitig hatte er jedoch ihr Bedürfnis, Leid zu mindern, zu dulden gelernt; es sicherte ihm nämlich ihre Unterstützung bei all den Dingen, die er selbst für notwendig erachtete.

Aber Rhapsody hatte nicht nur bei der Eroberung des Berges geholfen, sie war auch für das Aushandeln der Verträge mit Roland und Sorbold verantwortlich gewesen, hatte das Anpflanzen der Weinberge organisiert und ein Erziehungssystem eingeführt; lauter Dinge, die für den übergreifenden Gesamtplan unabkömmlich waren. Inzwischen respektierte Achmed ihre Ideen und verließ sich auf sie fast ebenso wie auf Grunthor; und deshalb fühlte es sich für ihn umso mehr wie ein Vertrauensbruch an, dass sie jetzt mit Ashe weggehen wollte. Zumindest erklärte Achmed sich damit das stechende Gefühl der Frustration, das er seit dem Augenblick empfand, als sie angekündigt hatte, mit diesem Eindringling loszuziehen, diesem Fremden, der sich in Nebel und Geheimnisse hüllte.

Schon bei dem Gedanken, dass sie am Morgen Ylorc verlassen würde, wurde ihm kalt. Wieder fluchte er, fuhr sich mit den schmalen Händen durch das verschwitzte Haar und setzte sich ärgerlich auf den Stuhl vor dem Feuer, das nicht recht brennen wollte. Eine Weile starrte er in die winzigen Flämmchen und erinnerte sich daran, welche Wirkung die Durchquerung des Feuerwalls im Bauch der Erde auf Rhapsody gehabt hatte: Unbewusst hatte sie die Kraft und das Wissen des Feuers in sich aufgenommen und war selbst von allen körperlichen Unzulänglichkeiten gereinigt worden. Seit diesem Augenblick reagierte jedes Feuer, von der flackernden Kerzenflamme bis zum lodernden Freudenfeuer, mit der gleichen Ehrfurcht und Bewunderung auf sie wie die Menschen; es spiegelte ihre Stimmung, spürte ihre Gegenwart, befolgte ihre Befehle. Achmed brauchte ihre Kraft hier, hier in diesem kalten Berg.

Der Firbolg-König beugte sich vor; die Ellbogen auf die Knie gestützt, die gefalteten Hände an den Mund gelegt, dachte er nach. Vielleicht waren seine Sorgen unbegründet. Rhapsody hatte den Anfang gemacht, und ihre Arbeit schritt zügig voran. Das Hospital und das Hospiz liefen reibungslos, und die Weinberge wurden selbst im Winter sorgfältig von den Firbolg gepflegt, die Rhapsody in der Kunst der Landwirtschaft unterwiesen hatte. Nun erlernten die Bolg-Kinder die Techniken, die ihr Volk gesünder machen und ihnen ein längeres Leben bescheren würden und die sie außerdem stärkten, sodass sie sich besser gegen die Männer von Roland verteidigen konnten. Unter Rhapsodys Wirken war der leblose Berg warm geworden. Tag und Nacht loderte in den cymrischen Schmieden das Feuer für die Herstellung von Stahl für Waffen und Werkzeuge, und die erhitzte Luft zirkulierte durch den Berg. Ursprünglich waren die Werkstätten von Gwylliam eingerichtet worden, der Canrif erbaut, regiert und später dann den Krieg angezettelt hatte, der zu seiner Zerstörung führen sollte. Die Bolg würden Rhapsody wohl schon vermissen.

Außerdem war Rhapsodys Status als Benennerin eine Versicherung dagegen, dass sie unbemerkt zur widerstrebenden Sklavin des Dämons werden würde. F’dor waren Meister der Lügen, verschlagen und heimlichtuerisch; Benenner dagegen hatten sich der Wahrheit verpflichtet, und ihre Macht war fest mit dieser Verpflichtung verknüpft; dadurch, dass sie ihr Denken und Sprechen beständig nach der ihnen bekannten Wahrheit ausrichteten, begriffen sie diese auf einer tieferen Ebene als die meisten anderen. Schon als Achmed ihr zum ersten Mal begegnet war, hatte Rhapsody gezeigt, dass sie sich auf den Gebrauch der Macht eines wahren Namens verstand, auch wenn dies eher unbeabsichtigt geschehen war.

Einige Herzschläge nur, bevor sie ihm und Grunthor im alten Land über den Weg gelaufen war, hatte man ihn noch bei dem Namen gekannt, der ihm bei seiner Geburt gegeben worden war: der Bruder. Er war versklavt gewesen, dazu verdammt, die vom Gestank verbrannten Fleisches verpestete Luft einzuatmen, den widerlichen Geruch des F’dor, dessen Diener er damals gewesen war und der sich im Besitz seines wahren Namens befunden hatte. Die unsichtbare Kette um seinen Hals war von Sekunde zu Sekunde enger geworden – zweifelsohne hatte der F’dor Verdacht geschöpft, dass er hatte weglaufen und dem letzten schrecklichen Befehl entfliehen wollen.

Und im nächsten Augenblick war er buchstäblich über Rhapsody gestolpert, die sich auf der Flucht vor ihren Verfolgern befunden hatte, kopflos durch die Nebenstraßen von Ostend gerannt war und versucht hatte, den lüsternen Absichten von Michael, dem Atemverschwender, zu entkommen. Ein leichtes Lächeln umspielte Achmeds Lippen, als er die Augen schloss und die Erinnerung noch einmal in sich aufleben ließ.

Verzeiht, wenn ich aufdringlich erscheine, aber bitte seid so gut und nehmt euch meiner an. Adoptiert mich. Ich werde mich auch erkenntlich zeigen.

Er hatte genickt, ohne recht zu wissen, warum.

Danke vielmals. Sie hatte sich umgedreht und sich an die Stadtwachen gewandt, die sie verfolgt hatten. So ein Zufall! Meine Herren, Ihr kommt gerade zur rechten Zeit, um Bekanntschaft mit meinem Bruder zu machen. Bruder, darf ich vorstellen: Das sind die Büttel der Stadt. Meine Herren, das ist mein Bruder. Achmed, die Schlange.

Das Reißen seines unsichtbaren Halsbands war unhörbar gewesen, aber er hatte es in seiner Seele vernommen. Zum ersten Mal, seit der F’dor ihm seinen Namen geraubt hatte, war die Luft, die er einsog, klar gewesen und hatte den scheußlichen Geruch aus seiner Nase und seinem Kopf verjagt. Seither war er frei, erlöst von der Versklavung und einer Verdammnis, die irgendwann gefolgt wäre, und diese Fremde, diese winzige Halb-Lirin-Frau, war seine Retterin gewesen.

In ihrer Panik hatte sie seinen alten Namen ausgesprochen – ›der Bruder‹ –, diesen dann aber für immer in etwas Lächerliches, aber Sicheres verwandelt, und ihm damit sein Leben und seine Seele zurückgegeben, über die ein anderer befohlen hatte. Jetzt noch sah er in der Erinnerung den Ausdruck des Schreckens in ihren klaren grünen Augen; sie hatte keine Ahnung gehabt, was sie da getan hatte. Selbst als er und Grunthor sie durch das Land und schließlich hinunter zu den Wurzeln der Sagia geschleppt hatten – dem riesigen Baum, der den Lirin, dem Volk von Rhapsodys Mutter, heilig war –, hatte sie sich noch in dem Irrglauben befunden, dass es ihm darum ginge, sie vor dem Atemverschwender zu retten. Soweit er wusste, war sie bis heute fest davon überzeugt.

Sollte der F’dor also über sie kommen und sich an ihre Seele binden, so wäre das leicht zu erkennen. Wenn sie von einem dämonischen Geist, der zur Lüge geboren war, besessen wäre, würde sie nicht mehr als Benennerin wirken können und ihre Wahrheitsmacht verlieren. Ein kleiner Trost angesichts all der Gefahren, die irgendwo außerhalb seines Landes und seines Schutzes auf sie lauerten.

Achmed schauderte und blickte zur Feuerstelle. Die letzten Kohlen waren heruntergebrannt, in einem dünnen Rauchfaden verschwunden.

Mitten in den Baracken der firbolgschen Bergwache träumte auch Grunthor – was äußerst selten vorkam. Anders als der Firbolg-König war er ein schlichter Mann mit einer schlichten Gesinnung. Demzufolge hatte er auch schlichte Albträume.

Doch unter seinen Träumen hatten oft zahlreiche Leute zu leiden.

Wie Achmed war auch Grunthor halb bolgischer Abstammung, aber seine andere Hälfte war bengardisch, eine Rasse riesenhafter Wüstenbewohner mit grusligen Gesichtszügen und öliger, ledriger Haut, die sie vor den Auswirkungen der Sonneneinstrahlung schützte. Die Bolg-Bengard-Kombination war für das Auge so abstoßend, wie Rhapsodys MenschenLirin-Mischung anziehend wirkte, selbst für die Empfindung der Bolg, deren Wertschätzung für Grunthor höchstens von ihrer Furcht vor ihm in den Schatten gestellt wurde – eine Einstellung, die Grunthor durchaus behagte.