Cover




Anne-Laure Bondoux

Das Glück ist nicht immer gerecht

Roman

Aus dem Französischen
von Maja von Vogel

Deutscher Taschenbuch Verlag

Über Anne-Laure Bondoux

© Benoît Rajau

Anne-Laure Bondoux arbeitete nach ihrem Studium der Literatur zunächst als Lektorin. Mit ihren Büchern gehört sie zu den renommiertesten Jugendbuchautorinnen Frankreichs und ist auch international sehr erfolgreich. Unter anderem war sie für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. Anne-Laure Bondoux hat zwei Kinder und lebt in der Nähe von Paris.

 

Maja von Vogel studierte Deutsch und Französisch in Münster, Paris und Göttingen und arbeitete einige Jahre als Lektorin in einem Kinderbuchverlag, bevor sie sich als Autorin und Übersetzerin selbstständig machte. Zu ihren Übersetzungsarbeiten gehören auch sämtliche Titel von Anne-Laure Bondoux. Heute lebt Maja von Vogel in Nordwestdeutschland.

Über das Buch




Ein Monat in ihrem kleinen Ferienhäuschen in der Ardèche. Eigentlich könnte es für die Schwestern Mado und Patty ein toller Sommer werden. Doch seit ihre Eltern hier vor einem Dreivierteljahr ums Leben kamen, ist nichts mehr so, wie es war. Die Schwestern erleben ein Wechselbad der Gefühle. Da sind zum Beispiel die holländischen Brüder, in die Mado und Patty sich unsterblich verlieben und mit denen sie eine tolle Zeit verbringen. Doch Patty ist schwanger. Und der Sommer neigt sich dem Ende zu. Mado und Patty müssen sich der Realität stellen …

Impressum

Deutsche Erstausgabe

2016 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

© 2004 l’école des loisirs, Text by Anne-Laure Bondoux

Titel der französischen Originalausgabe: ›La vie comme elle vient‹,

2004 erschienen bei l’école des loisirs, Paris

© für die deutschsprachige Ausgabe:

2016 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Umschlaggestaltung: buxdesign, München, und Carla Nagel

Bild: Plainpicture

 

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

eBook-Herstellung im Verlag (01)

 

eBook ISBN 978-3-423-42971-9 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-71690-1

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/ebooks

ISBN (epub) 9783423429719








Für Coline und Tom.

Für das Team der Entbindungsstation von

Villefranche-de-Rouergue

und für Anne-Marie M.,

die so gut darin ist,

Babys auf die Welt zu helfen.

1. Kapitel

Ich beobachte Patty beim Kaugummikauen. Ihr Mund öffnet, schließt und verzieht sich. In der Stille der Wohnung zeigt das schmatzende Kaugeräusch die vergehende Zeit an wie das Ticken einer Uhr.

Sie sitzt auf dem Sofa, ein Bein unter dem Po, das andere auf dem Couchtisch. Um mich nicht zu stören, hat sie die Kopfhörer an den Fernseher angeschlossen. Sie starrt auf den Bildschirm und wartet darauf, dass ihr Nagellack trocknet. Das Fläschchen steht auf dem Tisch, neben ihren Zehen mit den hellblau lackierten Nägeln. Patty nimmt niemals roten Nagellack wie alle anderen. Sie findet Rot blöd. Überhaupt macht Patty praktisch nichts wie alle anderen.

Von meinem Platz aus kann ich den Fernseher nicht sehen. Was schaut sie sich mitten am Nachmittag nur an? Ich forsche in ihrem Gesicht nach einem Hinweis, einem Ausdruck, ob es sich um eine witzige Komödie oder um einen Dokumentarfilm über die Ming-Dynastie im alten China handelt, aber Pattys Gesicht bleibt unergründlich. Die Piercings in ihren Ohren klirren bei jeder Bewegung ihres Mundes. Tick-tack, klirr-klirr. Sie ist ein faszinierender Mechanismus. Woran denkt sie? Denkt sie überhaupt an irgendwas?

Manchmal frage ich mich, ob Patty nicht vielleicht unter Gehirnschwund leidet.

Ich strecke mich, um meine Träumereien zu beenden, und wende mich wieder meinen Unterlagen zu. Auf dem Küchentisch liegen Schulbücher und Arbeitsblätter wild durcheinander. Arbeitsblatt Nr. 21: Die Streitkräfte im Ersten Weltkrieg: Im Sommer 1914 stehen sich 170 Divisionen der Alliierten und 150 deutsch-österreichische Divisionen gegenüber.

Patty lässt eine Kaugummiblase platzen.

In Deutschland verkündet der Kaiser seinen Truppen: »Ihr werdet wieder zu Hause sein, ehe noch das Laub von den Bäumen fällt.«

Patty lässt noch eine Blase platzen. Ich seufze. Die Zeilen von Arbeitsblatt Nr. 21 tanzen vor meinen Augen. »Ehe noch das Laub von den Bäumen fällt«, hat der Kaiser zu seinen Soldaten gesagt. War das ehrlich gemeint oder hat er vergessen zu ergänzen: »ehe noch das Laub in vier Jahren von den Bäumen fällt«?

Ich kaue auf meinem Stift herum. Wie es sich wohl anfühlt, in den Krieg zu ziehen? Ich stelle mir einen Bahnsteig vor, auf dem sich lauter Männer in nagelneuen Uniformen drängen, einen Zug, der anfährt, als würde er sie ans Meer bringen, in die Ferien, nur dass dieses Mal am Ziel der Matsch der Schützengräben, Ratten, der Feind und der Tod warten.

Patty lässt die dritte Blase platzen. Das nervt mich, aber ich sage nichts. Ich höre lieber Kaugummiblasen explodieren als Bomben.

Komm schon, Mado, hör auf rumzufantasieren. Alles, was du wissen musst, sind die Ereignisse, die Namen und die Jahreszahlen. Konzentrier dich!

In vier Tagen beginnen die Abschlussprüfungen am Collège und ich muss unbedingt gut abschneiden. Der Vormundschaftsrichter hat sich in diesem Punkt sehr klar ausgedrückt: Mein schulischer Erfolg ist die unverzichtbare Voraussetzung. Wenn ich durchfalle, steht alles auf dem Spiel: mein Leben mit Patty, die Wohnung, die Ferien, die Grundlagen unserer Vereinbarung. Während unseres letzten Gesprächs vor acht Monaten hat er Patty eindringlich ins Gewissen geredet.

»Das Amt eines Vormunds ist nicht leicht und sehr verantwortungsvoll«, hat er ihr erklärt. »Sie müssen Ihre Schwester so gut wie möglich unterstützen, ihre Noten im Auge behalten, ihr beim Lernen helfen, Stress von ihr fernhalten und darauf achten, dass sie pünktlich ins Bett geht. Wenn Mado Dummheiten macht, sind Sie nach dem Gesetz dafür verantwortlich. Bei den geringsten Schwierigkeiten werden wir die Bedingungen der Vormundschaft noch einmal überdenken.«

Patty hat genickt und alle Papiere unterschrieben, die ihr vorgelegt wurden. Dann hat sie dem Richter ein Kaugummi angeboten, »um die Sache zu feiern«. Er hat sich einen der knallgrünen Streifen genommen, weil er kein zimperlicher Typ ist. Doch als ich ihn seufzen hörte, wusste ich, dass er seine Zweifel hatte. Ich habe ihm aufmunternd zugelächelt. Meine große Schwester sieht zwar nicht aus wie die ideale Erziehungsberechtigte im Sinne des Gesetzes, aber wir werden schon noch beweisen, dass wir unseren Verpflichtungen nachkommen. Großes Yazinsky-Ehrenwort!

Doch Patty ist nun mal Patty und daran wird sich auch nichts ändern.

Seit acht Monaten lebt sie in dem Glauben, alles würde prima laufen und sie müsste mich nur machen lassen. Sie geht abends aus, lädt jedes Wochenende Freunde ein und kauft sich Klamotten und Schminksachen wie früher. Sie gibt mir weder Anweisungen noch Ratschläge. Meine Klausuren und Zeugnisse unterschreibt sie kommentarlos und das war’s.

»Mado war immer gut in der Schule«, sagt sie jedes Mal zu unserer Sozialarbeiterin. »Machen Sie sich keine Gedanken.«

Wenn man sie so reden hört, könnte man meinen, das Leben sei leicht, einfach und sorgenfrei.

Nicht dass ich ihr das übel nehmen würde. Patty tut, was sie kann. Sie arbeitet hart, verdient unseren Lebensunterhalt und gibt mir Geld fürs Kino, wenn ich sie darum bitte. Sie wird niemals Papa und Mama ersetzen, aber sie ist meine Schwester. Meine allerliebste Schwester.

»Übrigens, Mado«, sagt sie plötzlich viel zu laut, weil sie immer noch den Kopfhörer aufhat. »Hab ich dir schon gesagt, dass ich am Wochenende nicht da bin?«

Ich blicke auf und ziehe die Augenbrauen hoch.

»Nein, hast du nicht.«

»Was?«

»Nein! Das wusste ich nicht.«

Sie nimmt den Kopfhörer ab und legt ihn auf das Kreuzworträtselheft, das aufgeschlagen neben ihr liegt.

»Luigi fährt mit mir nach Amsterdam.«

Ich nicke. Na so was! Von Luigi war schon länger nicht mehr die Rede.

»Was habt ihr dort vor?«

»Na, was wohl?« Patty seufzt und stellt den Fernseher aus. »Wir machen uns ein romantisches Wochenende, was hast du denn gedacht?«

Ich setze schnell ein wissendes Lächeln auf und vertiefe mich wieder in meine Unterlagen.

»Bist du sauer?«, erkundigt sich meine Schwester.

»Ich? Nein.«

Sie pustet auf ihre Fußnägel, damit der Lack schneller trocknet. »Du magst Luigi nicht, oder?«

»Doch, doch, ich mag ihn.«

»Lügnerin.«

Ich schlucke schwer. Um nichts in der Welt würde ich mich in Pattys Beziehungsgeschichten einmischen. Sie ist zwanzig, ich bin fünfzehn, und ich weiß, dass wir in dieser Hinsicht, wie in so vielen anderen, auf verschiedenen Planeten leben. Ich habe Luigi nur drei- oder viermal gesehen, aber das hat mir gereicht. Ich fand ihn hässlich, dumm und ungepflegt.

»Was soll’s«, sagt Patty. »Denk doch, was du willst. Schließlich fahre ich nach Holland und nicht du.«

»Allerdings.«

»Außerdem musst du lernen. Dir wird schon nicht langweilig werden.«

»Bestimmt nicht.«

»Die Prüfungen sind am Mittwoch, oder?«

»Am Montag.«

»Schon? Verdammt, wie schnell die Zeit vergeht!«

Plötzlich überkommt mich eine schreckliche Traurigkeit und ich presse die Lippen aufeinander. Die Zeit vergeht wirklich schnell … auch wenn man dachte, sie wäre für immer stehen geblieben.

Der Unfall ist nun schon neun Monate her. Es war im Oktober, dem Monat, in dem »das Laub von den Bäumen fällt«, wie der Kaiser sagen würde. Papa und Mama hatten sich eine Woche freigenommen, abseits vom Gewimmel der Schulferien. Sie sind in unser Ferienhaus in der Ardèche gefahren. Auf einer schmalen Serpentinenstraße mit starkem Gefälle haben die Bremsen des Autos versagt.

»Mado?«

Ich zucke zusammen. Patty steht direkt vor mir und sieht mich besorgt an.

»Alles in Ordnung«, murmle ich. »Ich hab nur an meine Prüfungen am Montag gedacht.«

Sie schluckt die Lüge nur allzu gern, erleichtert, nicht »darüber sprechen« zu müssen. Trotzdem lässt sie sich nicht so leicht täuschen, das weiß ich. Sie hat meinen starren Blick gesehen und meine feuchten Augen. Sie weiß ganz genau, dass ich an sie gedacht habe.

»Hast du Schiss?«, fragt sie und zeigt auf meine Unterlagen.

»Ein bisschen.«

»Das geht vorbei, glaub mir.«

Sie spricht diese Plattitüde mit einer unbeholfenen Zärtlichkeit aus, die meine inneren Dämme fast zum Einsturz bringt. Höchste Zeit, das Thema zu wechseln, bevor die Tränen ansteigen und die Flut der Trauer uns mit sich reißt.

»Los, beweg deinen Hintern, Mado!«, ruft Patty mit gespielter Fröhlichkeit. »Heute essen wir bei Lolo!«

Ich lächle, so gut ich kann. Patty … Wir beide haben so viel gemeinsam wie eine Schildkröte und ein Pavian, aber ich liebe sie trotzdem. Mit ihrem grellen Nagellack, ihren Piercings, ihren wilden, blondierten Haaren, ihren Kreuzworträtseln, ihren zerrissenen Jeans und ihrem Luigi … Patty ist meine Schwester, mein amtlicher und allerliebster Vormund, meine einzige Familie, mein Rettungsring.

2. Kapitel

Ich habe in den letzten Monaten eine Menge gelernt. Das meiste lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Alles ist relativ. Vielleicht klingt es blöd, aber vor dem Unfall meiner Eltern wusste ich nicht, was das heißen soll. Ich lebte im Absoluten, was offenbar normal in meinem Alter ist. Ich HASSTE oder LIEBTE etwas. Ich fand jemanden BLÖD oder SUPER. Ich war der Meinung, es gäbe nichts SCHLIMMERES im Leben, als von meinen Eltern zur Schule gebracht zu werden, und nichts TOLLERES, als am Samstagabend mit meinen Freundinnen ins Kino zu gehen. Alles war so klar. Schwarz oder weiß. Cool oder uncool.

Inzwischen habe ich gezwungenermaßen gelernt, auf Nuancen zu achten.

Patty, zum Beispiel.

Vor dem Unfall habe ich mich nicht besonders gut mit ihr verstanden. Ich fand sie vulgär, dumm, peinlich und aufdringlich. Sie war zwar schon seit einem Jahr ausgezogen, aber das änderte nichts an den Spannungen zwischen uns. Jeden Samstag fiel Patty bei uns ein. Sie stürmte die Wohnung, die ich seit ihrem Auszug mit Papa und Mama allein bewohnte, und verteilte tonnenweise dreckige Wäsche auf den Badezimmerfliesen. Mama wusch ihre Sachen, während Patty auf dem Sofa herumlümmelte und stundenlang telefonierte. Natürlich quatschte sie nur belangloses Zeug.

»Was bringt es, seine Unabhängigkeit zu erklären, wenn man jeden Samstag wieder zum Kind wird?«, fragte ich meine Eltern genervt. »Wenn Patty noch hier wohnen würde, würde sie wenigstens im Haushalt mithelfen und …«

Mein Vater hob einen Finger, um mich zum Schweigen zu bringen. »Wenn es bei dir so weit ist, wirst du schon sehen. Bevor man endgültig davonfliegt, braucht man eine Zeit des Übergangs. Du darfst später auch unsere Waschmaschine benutzen, versprochen!«

Im Grunde genommen war ich ein bisschen eifersüchtig. Patty lebte frei wie ein Vogel mit ihrer nervtötenden Leichtigkeit und konnte trotzdem ins warme Nest zurück, wann immer es ihr gefiel. Ich hingegen musste die elterliche Sorge ertragen, im Haushalt helfen und für die Schule lernen. Alles erschien mir schwer, freudlos und beklemmend.

»Vergiss nicht, dass Patty die ganze Woche bis spät in die Nacht arbeitet«, fügte Mama hinzu. »Wie soll sie sich da auch noch um ihre Wäsche kümmern?«

Ich zuckte mit den Schultern. Pattys Job war mir so fremd wie der Mars. Dabei hatten wir einige Male in dem Restaurant gegessen, in dem Patty kellnerte, und ich hatte gesehen, wie sie von einem Tisch zum anderen gerannt war, Bestellungen aufgenommen, Essen serviert und Glasscherben aufgefegt hatte, wenn etwas zu Bruch gegangen war. Natürlich war das anstrengend, aber dafür konnte sie sich den ganzen Tag ausruhen, während ich im Unterricht sitzen musste!

Dann geschah der Unfall. Kein Papa mehr. Und keine Mama.

Als wir beim Vormundschaftsrichter saßen, wurde mir klar, dass ich nie bei meiner Schwester hätte bleiben können, wenn sie nicht gearbeitet hätte. Da wir keine anderen Verwandten in Frankreich haben, wäre ich bis zur Volljährigkeit in ein Kinderheim oder eine Pflegefamilie gekommen. Lieber sterben!

Papa und Mama hinterließen uns die Wohnung, das Ferienhaus und ein bisschen Geld, das sie auf die Seite gelegt hatten. Patty konnte wieder bei uns einziehen und mich mit Essen und Kleidung versorgen. Sie wurde mein Vormund. Im Januar hat sie sogar bessere Arbeitszeiten durchgesetzt. Sie hat die Mittagsschicht übernommen und muss jetzt nur noch jeden zweiten Samstag arbeiten, damit sie mehr Zeit für mich hat.

Heute ist Patty immer noch vulgär, peinlich und aufdringlich. Manchmal frage ich mich, ob sie nicht unter Gehirnschwund leidet. Aber ich habe auch festgestellt, dass sie unendlich großzügig ist, gerne feiert, Sinn für Humor hat, sehr lebenslustig ist und mich vollkommen respektiert, auch wenn ich anders bin als sie.

Deshalb gebe ich mir meinerseits Mühe. Ich mache ihr Komplimente zu den hässlichsten Klamotten, kritisiere ihre Freunde nicht, auch wenn es mir manchmal schwerfällt, ich lasse sie ihre Musik voll aufdrehen, und ich habe mich schließlich sogar halbwegs mit dieser schrecklichen, lauten und verqualmten Kneipe angefreundet, in die sie mich jedes Mal schleppt, wenn meine Traurigkeit überhandnimmt.

Bei Lolo ist Patty die Königin. Sie kennt alle, duzt den Wirt, spielt hysterisch kreischend Flipper und Tischfußball und stellt mich den anderen Gästen immer als »ihre kluge kleine Schwester« vor, wenn ich dabei bin.

Bei Lolo gibt es Hotdogs und fettige Pommes. Auf dem Boden liegen Sägemehl und zerdrückte Zigarettenkippen, in einer Vitrine stehen die Pokale und Medaillen des Boxvereins von nebenan und man sitzt auf braunen Kunstlederbänken. Ich trinke eine Limonade und Patty ein Bier. Zum Nachtisch gibt uns der Wirt oft eine Portion seiner ekelhaften Mousse au Chocolat aus. Beim Essen tue ich immer so, als könnte ich gar nicht genug davon bekommen. Wahrscheinlich glaubt er inzwischen, seine Mousse sei die beste der Welt. Aber das stört mich nicht. Was zählt, ist die Absicht.

Auch an diesem Abend kommt es, wie es kommen muss. Nach dem Hotdog und vier Partien Flipper fragt mich der Wirt, ob ich ein bisschen Mousse au Chocolat möchte. Ich sage Ja und Patty bestellt sich schnell auch eine Portion.

»Bist du sicher?«, fragt der Wirt und kneift sie in die Taille. »Hast du in letzter Zeit nicht ein bisschen zu viel Süßes gegessen?«

Patty mustert ihren Bauch. Es stimmt, seit einigen Wochen trägt sie lieber etwas weitere Klamotten. Aber sie zuckt nur mit den Schultern.

»Jetzt sei doch nicht so, Lolo! Gönn mir ein bisschen was!«

Sie dreht sich zu mir um und zwinkert mir zu. »Ab morgen bin ich auf Diät!«

Ich zwinkere zurück. Patty und ich sind tatsächlich nicht gerade Meisterinnen der ausgewogenen Ernährung. Seit wir uns um alle Mahlzeiten selbst kümmern, kommen Salat und Gemüse kaum noch auf den Tisch. Kein Wunder, dass Patty zugenommen hat.

»Ich mache mit«, sage ich, um sie zu ermutigen.

»Bist du verrückt? Nicht vor den Prüfungen! Du musst essen, Mado. Denk dran, du befindest dich mitten im Wachstum.« Sie beugt sich zu mir rüber. »Ich bring dir Waffeln aus Amsterdam mit. Die sollen köstlich sein. Du kannst sie dann bei den Prüfungen essen, okay?«

Während ich mit dem Bierdeckel spiele, denke ich an das lange, einsame Wochenende, das vor mir liegt. Hoffentlich versinke ich ohne meine Schwester in unserer Wohnung voller Erinnerungen nicht in Depressionen. Ich traue mich nicht, Patty zu bitten, nicht zu fahren, die Reise abzusagen und bei mir zu bleiben, für immer und ewig …

»Wieso fahrt ihr eigentlich nach Amsterdam?«, frage ich nur. »Luigi sollte dich lieber nach Italien mitnehmen, schließlich ist er Italiener.«

Patty macht einen Schmollmund. »Amsterdam ist billiger.«

Ein Schatten zieht über ihr Gesicht. Ihr Lächeln ist verschwunden, als hätte sie plötzlich keine Lust mehr auf die Reise.

»Zweimal Mousse au Chocolat für die hübschen Schwestern«, ruft der Wirt und stellt die Schälchen vor uns hin.

Sofort lächelt Patty wieder. »Guck nicht so, Mado! Hör auf, dir den Kopf zu zerbrechen, und iss. Eines Tages fahre ich mit dir nach Italien, versprochen!«

Ich versenke meinen Löffel in der Mousse au Chocolat. Für heute Abend versuche ich mir Pattys Lebensmotto anzueignen: das Leben so genießen, wie es kommt, auch wenn es ungenießbar ist, und dabei immer schön lächeln.

3. Kapitel

Samstag, 18.00 Uhr

Der erste Tag allein war schließlich gar nicht so schlimm, wie ich befürchtet hatte. Ich bin spät aufgestanden, habe lange gebadet, Mathe und Französisch gelernt, nachmittags eine Packung Kekse gefuttert und fast gar nicht an meine Eltern gedacht.

Jetzt muss ich nur noch den Abend überstehen. Die hereinbrechende Dunkelheit, die sich verändernden Geräusche, die Stimmen aus den Nachbarwohnungen und dieses hartnäckige Gefühl, nicht auf derselben Party eingeladen zu sein wie sonst alle … Abends ist alles anders. Abends ist alles schwerer.

Ich räume meine Bücher und Unterlagen weg und überlege, wie ich die nächsten Stunden am besten hinter mich bringe. Soll ich fernsehen? Musik hören? Ein bisschen spazieren gehen? Patty auf ihrem Handy anrufen? Ich kann mich nicht entscheiden, darum trete ich auf den Balkon, stütze die Ellbogen auf die Brüstung und atme kurz durch.

Wenn ich in den letzten Monaten noch etwas Wichtiges gelernt habe, dann, dass das eigene Unglück den anderen Angst macht.

Ich werde nie den Herbstmorgen vergessen, an dem ich nach einer Woche Abwesenheit wieder zur Schule gegangen bin. Natürlich wussten alle Bescheid: die Lehrer, die Schüler, die Pausenaufsicht und sogar die Eltern der Schüler.

»Kennen Sie Mado Yazinsky aus der 9c? Sie hat ihre Eltern bei einem Autounfall verloren. Die beiden waren sofort tot. Das Auto ist in einer Schlucht zerschellt. Stellen Sie sich das mal vor!«

Natürlich konnte sich das niemand wirklich vorstellen.

Als ich den Schulhof betrat, kamen meine Freundinnen auf mich zu. Olivia, Maude, Sabrina und Judicaëlle, eine ganze Beerdigungsgesellschaft! Sie sahen so traurig aus, als wären ihre Eltern gestorben und nicht meine. Plötzlich musste ich lachen, ich konnte einfach nicht anders. Sie haben es nicht verstanden. Wie konnte ich nur lachen, wo doch solch ein Unglück geschehen war? Ich spürte ihre verblüfften und missbilligenden Blicke.

»Das ist die Anspannung«, behauptete ich.

»Verstehe«, log Sabrina.

Maude und Judicaëlle nickten.

»Bist du sicher, dass du schon wieder zur Schule gehen solltest?«, fragte Olivia.

»Das lenkt mich ab«, sagte ich.

Dieses Mal meinte ich es ernst. Es war keine Lösung, den ganzen Tag zu Hause zu sitzen, Trübsal zu blasen und sich immer wieder mit denselben Erinnerungen zu quälen. Sogar die Psychologin hatte mich ermuntert, wieder in die Schule zu gehen.

Dann standen wir zu fünft auf dem Schulhof und warteten stumm auf das Klingeln. Sabrina trug einen neuen Pullover, blasslila und grau, superhübsch. Ich traute mich nicht, sie darauf anzusprechen, weil ich nicht oberflächlich wirken wollte. Judicaëlle war am vergangenen Samstag auf der Party von Mathieu gewesen. Ich hätte gerne gewusst, wie es gewesen war, ob Laura Gabriel geküsst und Éléonore mit Kevin getanzt hatte … Aber ich traute mich nicht, sie zu fragen.

Da wurde mir klar, dass ich ab sofort ständig auf der Hut sein musste, um den Erwartungen der anderen zu entsprechen. Ich hatte traurig und zermürbt auszusehen, und damit basta. Ein anderes Verhalten kam nicht infrage. Meine Freundinnen rissen sich ebenfalls zusammen. Sie lachten nicht, stießen mich nicht an, redeten mit mir weder über traurige noch über lustige Dinge und vermieden Tabuwörter wie »Papa«, »Mama« und sogar »Auto« …

Diese unangenehme Situation dauerte einige Tage. Dann entspannte sich die Lage ganz allmählich. Um mich nicht traurig zu machen, lachten meine Freundinnen jetzt lieber ohne mich, amüsierten sich ohne mich und erzählten sich ihre alltäglichen Geschichten ohne mich. Sie wollten mich nicht wirklich fallen lassen. Ich war bereits am Boden.

Während des nächstens Halbjahrs habe ich mich mit Jeanne angefreundet, einem Mädchen, mit dem ich mich vor dem Unfall nie getroffen hätte. Mit ihr konnte ich über meine Eltern und mein neues Leben reden. Es war leichter, weil wir uns vorher nicht besonders gut gekannt hatten. Sie nahm mich so, wie ich war: Mado, die Waise, Mado, die allein mit ihrer großen Schwester lebt, die manchmal traurig und abwesend ist, mit der man aber auch lachen kann, die neue Mado. Keine Ahnung, was aus der alten geworden ist … Wahrscheinlich ist sie zusammen mit dem Auto in die Schlucht gestürzt. Die alte Mado gibt es nicht mehr.

Mitten in meine Gedanken hinein klingelt das Telefon. Es ist Jeanne. Als sie hört, dass ich ganz allein bin, fragt sie, ob ich bei ihr übernachten will. Bei ihr ist immer was los, es geht stets laut und lebhaft zu. Genau das, was ich brauche! Der Abend ist gerettet.

Bevor ich meine Sachen packe und verschwinde, rufe ich Patty auf dem Handy an, um ihr Bescheid zu sagen.

Es läutet fünf- oder sechsmal, bis sie endlich abnimmt. Ihre Stimme klingt irgendwie anders als sonst.

»Störe ich?«, frage ich.

»Nein, kein Problem.«

»Ich übernachte heute bei Jeanne. Morgen Nachmittag bin ich wieder da.«

»Von mir aus. Tu, was du für richtig hältst.«

Ich schweige verwirrt. Patty klingt nicht gerade wie eine glückliche Verliebte, die auf Wolke sieben schwebt. Ob sie sich mit Luigi gestritten hat?

»Stimmt was nicht?«, frage ich.

»Nein, alles klar. Ich bin im Hotel. Ich … ich war gerade unter der Dusche.«

Das riecht auf hundert Kilometer nach einer Lüge. Plötzlich sehe ich Patty vor mir, ganz allein in dieser fremden Stadt und am Boden zerstört, weil Luigi, den ich noch nie mochte, mit ihr Schluss gemacht hat, und sie zu stolz ist, um etwas zu sagen.

»Ist das Hotel schön?«, frage ich weiter.

»Superschön«, antwortet Patty mit einem gezwungenen Lachen. »Wir haben ein großes Zimmer mit Fernseher …«

Im Hintergrund sind hallende Stimmen und zuschlagende Türen zu hören.

»Und wie ist Amsterdam so?«

»Nett.«

»Hast du eine Mühle gesehen?«

»Doch nicht mitten in der Stadt, du Dummkopf.« Patty seufzt. »Luigi wartet. Ich muss jetzt Schluss machen.«

»Viel Spaß«, sage ich halbherzig. »Bis morgen.«

»Schönen Abend noch, Mado. Grüß Jeanne von mir.«

Ende des Gesprächs. Ich bleibe mit hängenden Armen im Flur stehen. Warum klang Patty so müde, angespannt und traurig? Und was waren das für Geräusche im Hintergrund? Es hat sich eher nach einer Bahnhofshalle oder einem Flughafen angehört. Jedenfalls nicht nach einem gemütlichen Hotelzimmer.

Ich überlege kurz, ob ich sie noch einmal anrufen soll, doch dann lasse ich es sein. Schließlich ist Patty die Große, die Erwachsene! Und es war ihre eigene Entscheidung, übers Wochenende wegzufahren und sich eine schöne Zeit zu machen. Ich werde mir nicht den Abend verderben lassen, weil ich mir Sorgen um sie mache. Außerdem wäre es kein großer Verlust, wenn sie sich von Luigi getrennt hätte. So wie ich Patty kenne, wird sie es überleben.

Als ich die Wohnungstür hinter mir zuschlage, ist es, als würde ich einen Sarg schließen. Klack! Schlaft gut, ihr Geister! Ich werde mich woanders amüsieren!

 

Als ich am Sonntagabend Pattys Schlüssel im Treppenhaus klirren höre, kann ich meine Erleichterung trotz allem nicht verbergen und laufe ihr entgegen.

»Wie geht’s, Pat? War’s schön? Bist du sehr müde?«

Sie sieht schlecht aus, aber gleichzeitig scheinen ihre Augen intensiver zu leuchten als sonst. Ich schließe daraus, dass das Wochenende stürmisch war, aber alles gut ausgegangen ist. Ich habe das Abendessen vorbereitet und frage sie, ob sie Hunger hat.

»Nein danke, ich hab unterwegs ein Sandwich gegessen.«

»Schade, ich hatte ein Diät-Menü vorgesehen: Gurken, grüner Salat und magerer Schinken.«

Patty scheint gar nicht zuzuhören. Sie wirft ihre Keilabsatzschuhe in die Ecke, geht direkt ins Wohnzimmer und lässt sich aufs Sofa fallen. Als ich sie genauer anschaue, wird mir klar, warum sie so schlecht aussieht. Sie ist nicht geschminkt! Sofort ist mein Misstrauen wieder da. Hier stimmt was nicht! Das Einzige, was Patty davon abhält, sich das Gesicht anzumalen, ist eine Krankheit. Und selbst dann muss es schon eine richtig schwere Grippe sein.

»Du siehst nicht so richtig fit aus«, murmle ich vorsichtig. »Wirst du etwa krank?«

Patty greift nach der Fernbedienung und stellt den Fernseher an, ohne zu antworten. Plötzlich traue ich mich nicht mehr, weiter zu fragen, und setze mich einfach neben sie. Es fängt gerade eine Reportage über das Leben reicher Leute an. Das interessiert mich nicht die Bohne, aber ich verkneife mir einen Kommentar. Patty hat sich in der Sofaecke zusammengerollt. Diese Haltung kenne ich nur zu gut, es ist die des verletzten Kindes. Wie oft habe ich sie so zusammengekauert gesehen, mit leerem Blick, während ihre Finger mit einer blondierten Haarsträhne herumspielen? Wenn es ihr nicht gut geht, wird Patty wieder zum Kind. Fehlt nur noch, dass sie am Daumen lutscht. Als Papa und Mama noch lebten, habe ich mich über sie lustig gemacht. Jetzt nicht mehr.

Im Fernsehen erklärt ein Mann in einem sehr teuren Anzug gerade der Kamera, dass er einen kleinen Empfang »im engsten Kreis« plant. Es sind dreihundert Leute eingeladen. In der riesigen Küche seiner Luxusvilla wirbeln Dutzende von Köchen zwischen ihren Töpfen herum. Soßen werden angerührt, Fleisch wird gebraten, Fisch gedünstet und das Dessert angerichtet.

Mir läuft das Wasser im Mund zusammen und ich will gerade etwas sagen, da springt Patty plötzlich vom Sofa und rennt auf die Toilette. Verdutzt klappe ich den Mund wieder zu. Durch die Tür höre ich, wie Patty sich die Seele aus dem Leib kotzt.

Vorsichtshalber schalte ich den Fernseher aus. Als Patty zurückkommt, ist sie leichenblass.

»Du hast recht«, sagt sie. »Ich bin krank. Ich gehe ins Bett.«

»Ich auch. Die Prüfungen fangen morgen um acht Uhr an.«

Während sie in ihrem Zimmer verschwindet, versucht sie, einen Witz zu machen. »Vielleicht sind es ja deine Prüfungen, die mir den Magen umdrehen!«

4. Kapitel

Als ich am nächsten Morgen die Wohnung verlasse, ist Patty noch nicht auf. Aber das ist nichts Ungewöhnliches, sie war schon immer eine Langschläferin. Ihre Tür steht einen Spalt offen und ich sehe sie schlafen, unter ihrer Decke zu einer Kugel zusammengerollt. Sie sieht friedlich aus. Beruhigt mache ich mich auf den Weg in die Schule. Vielleicht hat Patty sich ja das ganze Wochenende mit Waffeln vollgestopft. Die Waffeln, die sie mir mitbringen wollte, hat sie offenbar auch gegessen, denn ich konnte sie nirgendwo entdecken.

Den Rest des Tages konzentriere ich mich auf meine Prüfungen: Geschichte, Geografie und Mathe. Die Aufgaben sind nicht allzu schwer, und ich bringe am Ende meiner Geschichtsklausur sogar den Ausspruch des Kaisers vom Sommer 1914 unter, als er seinen Soldaten versprochen hat, sie würden nach Hause zurückkehren, »ehe noch das Laub von den Bäumen fällt«.

Als ich diesen letzten Satz schreibe, bekomme ich eine Gänsehaut. Wie kann sich inmitten dieses Gemetzels eine solche Poesie entfalten? Ist das menschliche Genialität, diese Fähigkeit, selbst in den schlimmsten Situationen etwas Schönes erblühen zu lassen? Nachdem sich die Gänsehaut wieder gelegt hat, schraube ich meinen Füller zu und sitze bis zum Klingeln reglos auf meinem Platz, versunken in seltsame Gedanken über das Leben und den Tod. Das Leben, das die Soldaten an die Front treibt, und der Tod, der sie zurück nach Hause bringt. Das Leben, das meine Eltern dazu treibt, den Herbst auf dem Land zu genießen, und der Tod, der sie aus der Kurve reißt. Das Leben, das mich vorwärtstreibt, der Tod, der mich zurückhält.

Als ich die Schule verlasse, bin ich etwas benommen, aber ansonsten recht zuversichtlich. Die drei Wochen intensives Lernen haben sich gelohnt. Ich denke sogar kurz an den Vormundschaftsrichter. Wenn alles gut geht, werde ich ihm am Tag der Ergebnisse ein Päckchen Kaugummi schenken!