image

Klaus-Peter Hufer

Argumentationstraining gegen Stammtischparolen

Klaus-Peter Hufer

Argumentationstraining gegen Stammtischparolen

Materialien und Anleitungen für Bildungsarbeit und Selbstlernen

© WOCHENSCHAU Verlag

Dr. Kurt Debus GmbH

Schwalbach/Ts., 10. Auflage 2016

www.wochenschau-verlag.de

Gesamtherstellung: Wochenschau Verlag

ISBN 978-3-7344-0293-7 (epub)
ISBN 978-3-8792-0054-2 (Buch)

Inhalt

1. Worum es geht

Wer kennt sie nicht, die Situation – beim Familienfest beispielsweise? Den ganzen Tag über war alles friedlich, man schwelgte in gemeinsamen Erinnerungen, alberte herum, die Stimmung war gut. Doch dann am Abend, als die Feier schon fortgeschritten war, wurde es heftig. Onkel Albert wütete wegen der seiner Meinung nach „viel zu lauen Strafordnung”, kritisierte „die Fernseher und den Teppichboden im Gefängnis“ und forderte lauthals die Todesstrafe: ausgerechnet Onkel Albert, ansonsten die Liebenswürdigkeit in Person. Der Familienfrieden ist von nun an dahin. Gerade noch erreicht man den Abschluss der Feierlichkeit, ohne dass es zum Eklat kommt. Danach aber, zu Hause, allein, kommen die Überlegungen: Warum schmerzt es, wenn Onkel Albert so heftig wird? Hätte man nicht doch etwas deutlicher dagegen setzen müssen? Hätte man es überhaupt gekonnt?

Oder das Gespräch am Gartenzaun, das zunächst so dahinplätschert, doch dann lauter wird, wenn es auf einmal um Politik geht und plötzlich vom immer freundlichen Nachbarn starke Sprüche zu vernehmen sind? Das Gerede an der Ladenkasse, wenn Ausländer „zu viel“ einkaufen? Oder die Bäckersfrau, die an der Theke über die mangelnde Bereitschaft von Jugendlichen schimpft, noch „richtig“ arbeiten zu wollen? Das Fußballspiel, wenn über die „Bimbos“ der gegnerischen Mannschaft hergezogen wird? Die Schulklasse, in der allgemeiner Frust zur Sprache kommt und von den Meinungsführern „die Ausländer“ als die Schuldigen für die Ausbildungsplatzmisere erklärt werden? Und natürlich der Stammtisch, wenn schwadroniert, räsoniert und politisiert wird, die Stimmen lauter, die Meinungen heftiger vorgetragen und die Aussagen schärfer werden?

Warum hat man nicht interveniert? Aber hätte man da eine Chance gehabt?

Das „Argumentationstraining gegen Stammtischparolen“ will helfen, in Zukunft solche Situationen besser zu bewältigen. Es will zu beherztem Verhalten verhelfen und Hilfen geben für sinnvolles Argumentieren. Es will aber auch die Grenzen eines verbalen Engagements aufzeigen. Es will ganz praktisch Handlungsformen und -wege sowie angemessene Argumentationsstrategien in schwierigen Situationen aufzeigen. Darüber hinaus gibt es auch Materialien an die Hand, um die hinter den Parolen und Sprüchen liegenden psychologischen, sozialpsychologischen, soziologischen und politischen Motive und Faktoren besser verstehen zu können.

Aber etwas verstehen zu können heißt nicht, es auch zu entschuldigen. Vielmehr soll ermuntert werden, Partei zu ergreifen, und zwar für

sowie gegen

1.1 Zum Gebrauch dieses Buches

Dem „Argumentationstraining gegen Stammtischparolen“ liegen Erfahrungen aus etlichen Seminaren dieser Art in verschiedenen Einrichtungen der Erwachsenenbildung zugrunde. Durchgeführt wurden diese Veranstaltungen in mehreren Bundesländern, in Großstädten wie im ländlichen Bereich. Sie waren teilweise offen ausgeschrieben und damit für jedermann zugänglich, teilweise wurden sie speziell für besondere Zielgruppen (Lehrer und Lehrerinnen, Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen, Dozenten und Dozentinnen von Zivildienstschulen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in antirassistischen Projekten) angeboten. Immer hatten diese Angebote den Titel: „Argumentationstraining gegen Stammtischparolen“.

Das vorliegende Buch ist gedacht für alle, die nicht mehr passiv dabeisitzen und zuhören wollen, wenn dumpfe und martialische Parolen verkündet werden. Es richtet sich sowohl an Moderatoren/Moderatorinnen von Gruppen in Einrichtungen der Erwachsenenbildung und Jugendbildung als auch an Mitglieder selbstorganisierter Initiativen. Der Text kann auch gelesen werden von „Autodidakten“, Menschen also, die für sich selbst Hintergrund und Handlungswissen erarbeiten möchten.

Im Folgenden werden anhand des möglichen Verlaufs eines Argumentationstrainings gegen Stammtischparolen die jeweiligen Lernschritte und die Hintergründe vorgestellt. Dazu werden weiterführende und vertiefende Texte angeboten:

images

I = Informationen, die für den Moderator/die Moderatorin eines Argumentationstrainings als weiterführendes und/oder vertiefendes Angebot gedacht sind. Diese Texte sind sprachlich mitunter verdichtet, so dass sie sich nicht immer für den Einsatz in einer Lerngruppe eignen. Bedarfsweise können sie aber auch Grundlage eines Gruppengesprächs sein. Selbstlernern (Autodidakten) sei die Lektüre der mit „I“ markierten Stellen in den mit „A“ gekennzeichneten Kapiteln ausdrücklich empfohlen.

images

M = Materialien, die an der betreffenden Stelle als Kopien in die Gruppe eingebracht werden können, um das Gespäch anzuregen und/oder eine gemeinsame Basis an Wissen zu vermitteln. Diese Textstellen sollten auch von Selbstlernern gelesen werden.

images

Ü = Übung; hier wird ein Interaktions- und/oder Kommunikationsspiel durchgeführt, um entweder „Bewegung“ in die Gruppe zu bringen, die Situation aufzulockern oder einen Wechsel der Aktivitäten herbeizuführen.

images

A = Autodidakten, Leserinnen und Leser, die nicht an einem Gruppentraining teilnehmen, sich gleichwohl fit machen wollen für eine bessere Gesprächssituation, erhalten hier Hinweise zum Selbstlernen und Selbstüben. Bei den mit „A“ gekennzeichneten Übungen wird die direkte Anrede gewählt. Wer sich im Selbsttraining bessere argumentative Fähigkeiten aneignen und etwas über die Hintergründe und Umstände von Stammtischparolen erfahren möchte, der achte vor allem auf das (A) hinter den Kapitelüberschriften. Diese Abschnitte sind, obwohl sie sich am Gruppenverlauf orientieren, auch für Eigenlektüre und Selbststudium geeignet.

Der gesamte vorliegende Text sollte als Angebot verstanden werden. Er kann auch als „Steinbruch“ dienen, um je nach Länge des Trainings Sequenzen auszuwählen; nach eigenem Gusto kann der Seminarinhalt und -verlauf ergänzt und erweitert werden.

Der Band kann also auf verschiedene Weise genutzt werden: einmal als Orientierungs- und Leitfaden für Seminarleiter und -leiterinnen, zum anderen auch als persönliche Animation und Information für jeden und jede, der/die sich mit Vorurteilen, Diskriminierungen, Rassismus und Rechtsextremismus auseinander setzen und gegen diese engagieren will.

1.2 Was ist ein Argumentationstraining?

Ein Argumentationstraining ist eine Art Werkstatt, ein Labor, eine offene Lernsituation. Das Lernen geschieht hier nicht durch Belehrung, sondern durch das gemeinsame Üben und die spielerische Auseinandersetzung der Beteiligten mit der Realität. Hier bekommt man auch – aber keineswegs nur – Wissen geliefert, vorrangig aber erfährt man Neues durch das Ausprobieren und gemeinsame Nachdenken. Der Prozess bestimmt den Lernweg und das -ergebnis, und an diesem Prozess sind alle beteiligt. Autodidakten/Selbstlernern wird empfohlen, sich in die Situation einer Gruppe hineinzuversetzen.

Beim Argumentationstraining werden politische Erklärungen, Argumente, Schlagwörter und Parolen auf ihre emotionale Basis und Wirkung und sachliche Angemessenheit hin überprüft und eventuelle Gegenstrategien erprobt. Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen haben Gelegenheit, gemeinsam mit anderen ihre politischen Deutungen auszutauschen, vielfach gehörte politische Erklärungsmuster diskursiv zu erörtern und auf ihre Plausibilität oder aber Fragwürdigkeit hin zu bedenken. In der Erwachsenenbildung ist ein Motiv, an einem Argumentationstraining teilzunehmen, die Ohnmacht und Überforderung angesichts einer zunehmenden Informationsfülle einerseits und grober Vereinfachungen andererseits. Im Rollenspiel werden erlebte Argumentationsnöte simuliert, dann die betreffenden Politikthemen inhaltlich erarbeitet und ihre u.U. populistischen (= sich den Massen anbiedernden) Vereinnahmungen mit Hilfe sozialpsychologischer Erkenntnisse erklärt. Das Ziel ist, den Teilnehmenden zu Selbstsicherheit bei der Konfrontation mit aggressiven und entsprechend vorgetragenen Parolen zu verhelfen. Inhaltlich ist das Argumentationstraining zwischen politischer Psychologie, Rhetorik, Selbsterfahrung und politischer Grundinformation angesiedelt. Der geeignete Zeitrahmen ist ein Mehrtages- oder Wochenendseminar. Die Teilnehmenden verhandeln weitgehend autonom; die Leiter und Leiterinnen beschränken sich auf die Rolle als Impulse gebende Moderatoren, die gleichwohl sachlich gut vorbereitet sein müssen, um aufkommendem Informationsbedarf zu entsprechen. Das Training will einen Beitrag dazu leisten, die Diskursfähigkeit (I 1) Einzelner wie auch der Gesellschaft insgesamt zu erhöhen.

images

images

Diskurs

„Im ursprünglichen Wortsinn wurzelt der Begriff Diskurs im lateinischen Verb discurrere: auseinander laufen, sich zerstreuen; im alltäglichen vortheoretischen Gebrauch ist er etwa gleichbedeutend mit Rede, Diskussion und Gespräch.

Seit Anfang der 70er-Jahre hat dieser Begriff eine vielfältige Verwendung in den Human- und Gesellschaftswissenschaften erfahren und wurde zu einem theoretischen Schlüsselbegriff des Gesellschaftsverständnisses. Er steht für die Verabschiedung aller Erwartungshaltungen an sozialtechnologische Entwürfe und metaphysische oder geschichtsphilosophische Letztbegründungen gesellschaftlicher Gegenwart und Zukunft. (…)

Besonders einflussreich und international erfolgreich ist (…) die vor allem von Jürgen Habermas vorgenommene kommunikationstheoretische Ausformulierung des Diskurs- und Vernunftbegriffs, die auch unter dem Begriff der Diskursethik abgehandelt wird. Indem Habermas die Grundregeln des Diskurses, dem es um die Klärung von grundsätzlich wichtigen normativen und empirischen Fragen sowie um individuelle Wahrhaftigkeiten geht, in der Situation des kommunikativen Handelns pragmatisch von allen Beteiligten anerkannt sieht, glaubt er, ein universelles gesellschaftliches Minimum an Vernunft, ein wenn auch äußerst reduziertes, aber doch immer noch einigendes Band der Gesellschaft (,die Einheit der Vernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen‘) feststellen zu können.”

(Paul Ciupke: Diskurs, in: Hufer, Klaus-Peter [Hrsg.]: Außerschulische Jugend- und Erwachsenenbildung, [Bd. 2 des Lexikons der politischen Bildung, hrsg. von Georg Weißeno], Schwalbach/Ts. 1999, S. 50f)

1.3 Was ist mit „Stammtisch“ gemeint?(A)

Nicht jeder Stammtisch ist einem Hort finstersten und reaktionärsten Flach- und Stumpfsinns gleichzusetzen. Natürlich gibt es auch bei Wein und Bier kultivierte Gespräche. Und jede/jeder hat wohl schon die Situation erlebt, wenn – von Alkohol und Gruppengefühl beflügelt – die Gedanken ihren freien Lauf nahmen und in „Utopia”, der besten aller Gesellschaften, landeten. Und keineswegs soll die Stammtischparole umgedreht und dadurch eine neue in Umlauf gebracht werden, indem das Klischee des „Stammtisches“ zur allgemein gültigen Realität erklärt wird.

Aber „Stammtischparolen“ sind dennoch markant und bekannt. Jeder weiß, was damit gemeint sein kann: platte Sprüche, aggressive Rechthaberei, kategorisches Entweder-Oder, dezidierte Selbstgerechtigkeit. Dafür soll die „Stammtischparole“ als eine Chiffre, ein Kennzeichen, ein Stellvertreterbegriff, ein Synonym stehen.