Jonas, Anna Das Hotel am Drachenfels

PIPER

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Für meine Mutter

978-3-492-97330-4

September 2016

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016

Covergestaltung: Mediabureau di Stefano, Berlin

Covermotiv: Lee Avison/Trevillion Images (Frau);

lizard/123RF.com (Rahmen), Martin Ratter (Landschaft)

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Wie rauscht der stolze Strom einher,

Entzückt durch dieses Zaubertal,

Und jede Krümmung zeigt uns mehr

Und neue Schönheit jedesmal.

Lord Byron (1788–1824)

Teil I

Familienbande

✯✯ 1 ✯✯

»Ich habe es immer schon gesagt!«, rief Karl seinem Bruder zu, während er sich aufs Pferd schwang. »Zur Ehe sind wahrlich andere geschaffen als ich.«

In hellem Grau wölbte sich der Morgenhimmel über den Wäldern. Alexander sah zu Karl, der die Zügel der tänzelnden Stute kurz hielt, sie einen Moment lang gewähren ließ, ehe er sie unter seinen Willen zwang. Auf die Art verfuhr Karl auch mit Frauen, nur bei Julia wollte es ihm nicht gelingen.

»Du tust ihr weh«, sagte Alexander und ließ offen, ob er Julia meinte oder die Stute, die unter Karls Händen gehorsam den Hals wölbte.

Die beiden Männer lenkten ihre Pferde auf einen Weg, dessen Boden noch ganz aufgeweicht war. In den frühen Morgenstunden hatte es geschneit, und graue Wolkenschlieren kündigten an, dass die Unterbrechung nur von kurzer Dauer sein würde. Wagen und Pferdehufe hatten das Weiß auf den Zufahrtswegen bereits in grauen Matsch verwandelt.

»Wo war Julia gestern Abend?«, fragte Alexander.

»Sie war spazieren – bei dieser Kälte! Und noch dazu nur im Abendkleid. Wüsste ich es nicht besser, würde ich denken, sie sei nicht recht bei Verstand.«

»Sie wirkt niedergeschlagen. Vielleicht fehlt es ihr einfach an Beschäftigung. Warum machst du ihr nicht noch ein Kind?«

Karl hob die Schultern. »Sie hat doch schon zwei, und geändert haben sich die Dinge mitnichten. Im Gegenteil, nach Valeries Geburt war sie geradezu schwermütig. Diese Strategie ist also von zweifelhaftem Wert.«

Sie trieben die Pferde in einen scharfen Trab und fielen wenig später in Galopp. Schneematsch spritzte unter den trommelnden Hufen auf.

»Sie ist ein anderes Leben gewöhnt«, nahm Alexander das Thema wieder auf, als sie die Pferde zügelten.

Karl blickte einen Moment lang schweigend zu Boden, dann sah er seinen Bruder an. »Dann hätte ihr Vater es sich besser überlegen müssen, wem er sie zur Frau gibt.« Wobei er einräumen musste, dass er es schlechter hätte treffen können. Julia von Landau war schon immer ein hübsches Mädchen gewesen – mit dunklem Haar, graugrünen Augen und nicht zuletzt einer hinreißenden Figur. Ihr Widerspruch konnte einem durchaus lästig werden, aber im Großen und Ganzen überwogen die Vorteile. Was Julia anging, so hätte sie es ebenfalls schlechter treffen können. Aber auch besser, das konnte Karl ohne das geringste Zögern eingestehen, denn er hatte keineswegs den Ehrgeiz, ein tadelloser Ehemann zu sein.

Sie passierten den Burghof, und Karl überlegte für einen Moment, eine kurze Rast einzulegen, denn noch zog es ihn nicht heim. Er entschied sich dann jedoch dagegen und trieb sein Pferd wieder in den Trab. Die morgendlichen Momente vollkommener Freiheit waren zu rar, zu kostbar.

Nachdem sie fast eine Stunde durch den Wald geritten waren, verließen sie das dichte Unterholz, und der Weg wurde wieder breiter. Vor ihren Augen erhob sich ein weißes, säulenbestandenes Haus mit Giebeln, Erkern, Balkonen, Mansarden, kleinen Türmchen und einer großen Veranda. Hohe, filigran wirkende Fenster durchbrachen die Fassade. Ruhig lag es da und verriet nichts von der emsigen Geschäftigkeit, die bereits lange vor Morgengrauen eingesetzt hatte, während die Gäste noch in tiefem Schlaf lagen. Das Hotel Hohenstein – nahe genug am Rhein, um den Gästen eine Anreise ohne Beschwerlichkeiten zu ermöglichen, und doch weit genug abgelegen, um das Bedürfnis der erholungssuchenden Gäste nach Idylle und Abgeschiedenheit zu stillen.

Als sich die Brüder dem Haus näherten, bemerkte Karl einen Mann, der im Schatten einer Baumgruppe stand und zum Hotel sah. Er hatte – unabsichtlich oder nicht – einen Platz gewählt, der ihn vor neugierigen Blicken vom Haus her schützte, jedoch nicht so versteckt war, dass man ihn fragwürdiger Absichten verdächtigen konnte. Seine Kleidung wirkte weltmännisch-elegant, der Mantel war nach neuester Mode geschnitten, die Hosen ebenfalls. Der Mann hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und trug einen steifen Hut auf seinem dunklen Haar. Er schien die Reiter gehört zu haben, denn er drehte sich zu ihnen um und musterte sie eingehend. Dann neigte er den Kopf und lächelte.

»Guten Morgen, die Herren.«

Karl und Alexander erwiderten den Gruß und zügelten die Pferde.

»Ein sehr schönes Anwesen«, sagte der Mann. »Das Hotel Hohenstein, nicht wahr?«

»Ja, es gehört unserem Vater, Maximilian Hohenstein«, antwortete Karl.

»Ah, Karl und Alexander Hohenstein, vermute ich?«

»Sie vermuten richtig.«

Der Mann nickte, unterließ es jedoch, sich seinerseits vorzustellen, was für Karl nur den Schluss zuließ, dass seine Kinderstube unzureichend gewesen sein musste. Gut gekleidet, aber keine Erziehung. Neureich, womöglich gar einer dieser Emporkömmlinge aus Amerika, da konnte es ja jeder Bauer zu etwas bringen, um sich hernach in seiner alten Heimat als reicher Herr aufzuspielen. Bis ihn dann seine Manieren, oder besser gesagt, das Fehlen selbiger enttarnte.

»Sind Sie Gast bei uns, oder können wir Ihnen in irgendeiner Weise behilflich sein?«

»Sie könnten mir sagen, wie ich am schnellsten zurück nach Königswinter komme. Ich gestehe, ich bin ordentlich durchgefroren und habe auf meinem Spaziergang wohl einige Umwege gemacht.«

Karl überließ es Alexander, eine genaue Wegbeschreibung zu liefern, und musterte den Mann. Süddeutsch gefärbter Dialekt und eine Haltung, die andeutete, dass der Mann in Karl und Alexander seinesgleichen zu erkennen schien. Der Mann bedankte sich.

»Es war mir ein Vergnügen«, antwortete Alexander mechanisch. »Einen schönen Aufenthalt wünsche ich Ihnen.« Gelegentlich kam er doch hervor, der höfliche Sohn eines Hoteliers. »Vielleicht begegnet man sich ja auf der einen oder anderen Feierlichkeit.«

Wieder lächelte der Mann. »Gewiss sogar.« Dann drehte er sich um und schlug den von Alexander beschriebenen Weg ein.

Die letzten Klavierklänge zerstoben in der Luft, beinahe gewaltsam, als hätten sie nur darauf gewartet, entfesselt zu werden, ehe sie erstarben. Johannas Hände ruhten auf den Tasten. Sie senkte den Kopf, die Augen geschlossen, und atmete tief ein. Der Sturm, den die Musik in ihr entfacht hatte, legte sich wieder.

Das Klappern von Hufen war zu hören, und Johanna erhob sich, um aus dem Fenster zu sehen. Ihre Brüder kehrten zurück, das hieß, es war bereits Zeit fürs Frühstück, und Johanna war noch nicht einmal angekleidet. Eilig verließ sie das Musikzimmer und lief in ihre eigenen Räumlichkeiten.

Sich für ein Kleid zu entscheiden, ging schnell, da war die passende Frisur schon aufwendiger. Nicht zum ersten Mal stellte Johanna sich vor, wie Karls weizenblondes Haar zu ihrem Gesicht wirken würde. Oder Alexanders nur um wenige Nuancen dunkleres. Ihr eigenes war kupferrot, was ihr großen Kummer bereitete. Die Hoffnung, es könne sich in ein Kastanienbraun verwandeln wie bei Julia, deren Haar als Kind auch rot gewesen war, hatte sie längst zu Grabe getragen. Seufzend öffnete sie ihren Haarknoten am Hinterkopf, und die dichten Strähnen fielen ihr glatt auf den Rücken. Aus Zeitgründen entschied sie sich für einen schlichten Zopf, zog ein hellblaues Tageskleid an und verließ ihr Zimmer.

Eine schwere Eichenholztür trennte den privaten Wohnbereich vom Hotelbetrieb. Karl und Julia bewohnten die Bel Étage, wobei die Mahlzeiten meist gemeinsam im großen Speisezimmer des Erdgeschosses in der Wohnung von Maximilian Hohenstein eingenommen wurden. Die Hotelküche verköstigte nicht nur die Gäste, sondern auch die Familie, sodass im Wohnbereich keine weitere Küche gebaut worden war.

Als Johanna das Speisezimmer betrat, war bereits die ganze Familie versammelt, lediglich die Kinder frühstückten zusammen mit ihrem Kindermädchen im Spielzimmer. An den beiden Schmalseiten der Tafel saßen Johannas Eltern, Maximilian Hohenstein und seine Gattin Anne. Zur Linken des Hausherrn hatten Karl und Julia ihren Platz, gegenüber saßen Alexander und Johanna. Das Frühstück wurde von den beiden Lakaien aufgetragen, streng überwacht durch den Hausverwalter, der neben der Tür zum Speisesaal stand. Kurz darauf erschien eines der Stubenmädchen mit einem silbernen Tablett, auf dem die Post lag. Drei Briefe, alle für Maximilian Hohenstein.

Johanna aß nur wenig und trank dafür umso mehr Kaffee, was ihre Mutter stets tadelte. Als sie gerade nach einer Scheibe Toast greifen wollte, schob ihr Vater seinen Stuhl mit einem Ruck zurück und erhob sich ungestüm. In der Hand hielt er einen der Briefe, sein Gesicht war aschfahl geworden.

»Albert«, er winkte den Ersten Lakai zu sich. »Schick einen der Botenjungen nach Bonn zu Herrn Rechtsanwalt Schürmann.«

Nun sah auch Karl vom Frühstück auf. »Sagte er nicht, er sei bis Januar verreist?«

Ihr Vater hielt inne, und seine Hand ballte sich in einer Faust um den Brief. »Ist die Kanzlei über die Feiertage nicht besetzt? Was ist mit seinem Sozius?«

»Der ist auf verspäteter Hochzeitsreise.«

Maximilian Hohenstein murmelte etwas über den Verfall einer Gesellschaft, in der keiner mehr arbeiten wollte, und wandte sich Richtung Tür.

»Was ist passiert?«, fragte nun auch Johannas Mutter.

»Nichts von Bedeutung. Ich muss nur rasch ein paar Briefe schreiben und etwas …« Der Rest des Satzes verlor sich in Gemurmel, als Maximilian Hohenstein raschen Schrittes aus dem Zimmer eilte.

Johanna sah Karl an, aber der zuckte nur mit den Schultern und widmete sich wieder seinem Frühstück. Sie selbst schlang den Toast sehr undamenhaft hinunter, spülte mit Kaffee nach und erhob sich ebenfalls. Noch ehe ihre Mutter Einwände erheben konnte – der Moment war gut abgepasst, denn mit vollem Mund sprach diese nie –, hatte Johanna das Speisezimmer bereits verlassen.

Betrat man das Hotel durch den Haupteingang, gelangte man zunächst in das weitläufige, in weißgoldenem Marmor gehaltene Vestibül, in dem sich auch die Rezeption befand. Clubsessel gruppierten sich um niedrige Tische, verborgen hinter Säulen und umgeben von Farnen und kleinen Palmen, sodass für wartende Gäste der Eindruck von privater Abgeschiedenheit entstand. In der Mitte stand ein marmorner Brunnen, in dem Wasser aus fein ziselierten Blütenkelchen floss.

Auch an diesem Morgen trafen neue Wintergäste ein, und täglich wurden weitere erwartet. Das Hotel war bis in den Februar hinein komplett ausgebucht. Pagen in dunkelgrünen Livreen luden Gepäck aus den Hoteldroschken, während die Angestellten an der Rezeption den Gästen ihre Zimmer zuwiesen. Zwei breite, geschwungene Treppen führten hinauf zur Galerie der Bel Étage.

Als Kinder hatten Johanna und Alexander das Hotel gründlich erforscht, natürlich ohne das Wissen ihres Vaters, der es nicht geduldet hätte, wenn die Ruhe der Gäste gestört worden wäre. Und was Maximilian Hohenstein sagte, war normalerweise Gesetz in der Familie, das hatte auch Karl feststellen müssen, der sich nach Jahren der Freiheit plötzlich in den Fesseln einer Ehe wiederfand, die er nicht gewollt hatte. Wenn Alexander nicht auf der Hut war, drohte ihm dasselbe Schicksal. Um sich selbst machte Johanna sich wenig Sorgen, sie wusste mit ihrem Vater umzugehen, auch wenn dieser der Meinung war, er gebe den Ton an.

Das Haus befand sich in emsiger Geschäftigkeit, um die große Silvesterfeier vorzubereiten. Es war der letzte Tag des Jahres, und feiern, das wusste Johanna, konnten ihre Eltern. Sie selbst würde in einem smaragdgrünen Abendkleid die breite Treppe hinunterschreiten, eine Prinzessin in Maximilian Hohensteins Königreich.

Draußen vor dem Hotel dagegen herrschte Stille. Das imposante Gebäude schmiegte sich in die dichten Wälder des Siebengebirges und wirkte um diese Jahreszeit, wenn man es aus der Ferne sah, wie eine weiße Perle auf rotbraunem Samt. Natürlich hatte man den Baumbestand in unmittelbarer Nähe des Hauses roden müssen, um den weitläufigen Garten anlegen zu können. Außerdem gab es hinter den Stallungen einen Auslauf für die Pferde, und an schönen Tagen brachten die Stallburschen sie an langen Hanfleinen durch den Wald zu einer Koppel, die auf einer Lichtung angelegt war. Ein Teil des angrenzenden Waldgebiets gehörte der Familie Hohenstein und wurde von den Urlaubern gerne für kleinere Ausflüge mit den Kindern genutzt.

An diesem frostigen Vormittag jedoch sah Julia Hohenstein nur Mabel Ashbee am Waldesrand stehen. Die Engländerin war in einen dicken Mantel gehüllt und starrte auf Wege, die von wirrem Geäst überspannt waren und sich in winterlicher Stille verloren. Seit ihre Tochter vor gut neunzehn Jahren in den Wäldern verschollen war, kehrte sie Jahr für Jahr mit ihrem Mann hierher zurück. Und immer stand sie am Jahrestag des Verschwindens am Wald und sah ins schattige Dunkel. Julia wusste, dass Freunde und Bekannte oftmals mit Ungeduld auf die fortwährende Trauer der Frau reagierten, aber sie mochte sich nicht vorstellen, wie es ihr erginge, wenn sie Valerie verlor und das Schicksal ihrer Tochter auch fast ein Vierteljahrhundert später noch im Ungewissen läge.

Ihr Bruder Philipp hatte sich in einem Brief angekündigt, und Julia freute sich auf sein Kommen. Eine vertraute Person in ihrem nahen Umfeld würde ihr guttun, gerade am Ende des Jahres, wenn Julia ihre Familie besonders vermisste. Anne Hohenstein, Karls Mutter, mochte ihre Schwiegertochter nicht, aber das beruhte auf Gegenseitigkeit. Und Julia spielte ihre Rolle tadellos, ließ keinen Zweifel daran, wer später die Hausherrin sein würde, und hatte zudem zwei Kinder zur Welt gebracht: einen Sohn als Erstgeborenen – beinahe jeder Mann hatte Karl auf die Schulter geklopft, als sie kurz nach ihrer Hochzeit schwanger geworden war, als seien die Momente lustvoller Verzückung eine grandiose Leistung seinerseits gewesen – und eine Tochter, die gleichfalls hinreißend war. Karl war zwar stolz auf seinen Sohn, bevorzugte aber seine Tochter, die er auf den Schultern herumtrug und überall als das schönste Mädchen in deutschen Landen pries. Dafür konnte man ihm schon so einiges verzeihen.

Natürlich bekam Julia mit, was die Leute so redeten, genauso wie sie die Blicke bemerkte, die die Stadtmädchen Karl und seinem Bruder Alexander zuwarfen. »Die reinste Landplage!«, riefen die Mädchen lachend, ihre zwinkernden Augen verrieten jedoch, dass ihnen diese Landplage gar nicht so unlieb war. Dieses Jahr trieben die beiden es wieder besonders schlimm, vor allem Karl, der über die Wiesen jagte und brachliegende Felder mit Pferdehufen aufwühlte. »Wie sein Vater früher«, stöhnten die Frauen und sorgten dafür, dass ihre Töchter nicht unbeaufsichtigt waren, wenn die hohe schlanke Gestalt des jungen Reiters auftauchte.

Julia hätte gerne gewusst, ob sich am Vorabend außer ihr noch jemand gefragt hatte, wo Karl in der einen Stunde gewesen war, in der er die Abendgesellschaft verlassen hatte, ehe er entspannt lächelnd wieder durch die Flügeltüren in den Salon getreten war. Sie hatte auf ihre Art reagiert und die Gesellschaft schweigend verlassen, hatte im Mondschatten der Bäume gestanden und erbärmlich gefroren. Aber sie musste Haltung wahren, und dies war die einzige Art, auf die ihr dies möglich war.

Von Weitem sah Julia Charles Avery-Bowes, amerikanischer Geschäftsmann und ebenfalls ein Stammgast des Hotels, den es Winter für Winter wieder hierher zog. Zwar war er in Begleitung seiner Ehefrau angereist, aber er ging immerzu allein spazieren. Niemanden verwunderte das mehr, Personal wie Gäste hatten sich bereits daran gewöhnt. Helena Avery-Bowes dagegen bekam man kaum zu Gesicht. Sie verließ ihr Zimmer fast nie, nahm auch die Mahlzeiten dort ein und ging ab und zu in den Abendstunden spazieren. Die Menschen ergingen sich bereits seit Jahren in den wildesten Vermutungen, einige behaupteten gar, sie sei ein Vampir.

Als Julia zum Haus zurückkehrte, trugen Dienstboten eine schwere Kiste in den Garten, wo später das Feuerwerk stattfinden würde. Julia mied den Hoteleingang und ging stattdessen durch die Tür, die zum privaten Familientrakt führte. Zur gleichen Zeit betrat Karl den Korridor von der gegenüberliegenden Seite und wirkte für einen Moment überrascht, als sei es ungewöhnlich, seine Ehefrau hier anzutreffen.

»Was hat deinen Vater so aufgeregt?«, fragte sie.

Karl zuckte mit den Schultern. »Irgendeine lästige Rechtsangelegenheit, er wollte nicht näher darauf eingehen.«

Unwillkürlich suchte sie seine Hemdbrust nach verräterischen Spuren ab. Karl schien es zu bemerken, denn ein spöttisches, kleines Lächeln spielte um seine Mundwinkel. Julia starrte auf seinen Hals. Dann auf seine Krawatte. Sie war tadellos gebunden gewesen beim Frühstück, nun war der Knoten locker, als hätte jemand daran herumgezerrt. Unwillkürlich stieg das Bild von Karl und einer anderen Frau in ihr auf, beide in leidenschaftlicher Umarmung verschlungen, die Hände einer anderen Frau festgekrallt in seinen Kragen. Wortlos zog Julia den Knoten an seiner Krawatte auf und band sie neu. Er musste wissen, wie sehr er sie mit seinem Verhalten demütigte. Sie hoffte nur, dass er es nicht schlimmer machte, indem er sich entschuldigte oder gar leugnete. Karl schwieg, beobachtete sie, während ihre weiß behandschuhten Hände die Krawatte banden. Ohne ihm in die Augen zu sehen, drehte Julia sich um und ging die Treppe hinauf.

✯✯ 2 ✯✯

Jahr für Jahr kam Frédéric de Montagney nach Königswinter und ließ bei seinen Aufenthalten nichts unversucht, um Johanna zu verführen. Diese gab sich gelangweilt, genoss aber in Wahrheit die hinreißende Aufmerksamkeit des Franzosen. So stand sie denn auch in dieser Nacht an seiner Seite, während man im Hotel Hohenstein das Jahr 1904 in einem rauschenden Fest verabschiedete.

Das Licht der Kronleuchter brach sich im Kristallglas, ließ den Diamantschmuck der Damen funkeln, verlieh dem Marmorboden einen warmen, cremegelben Schimmer. Die Kapelle spielte einen Tanz nach dem anderen, Herren wirbelten die Damen zu Walzerklängen durch den Festsaal, Gelächter war zu hören, das Klirren hauchdünner Gläser. Die Feier erstreckte sich bis in die beiden angrenzenden kleineren Säle, in denen die Gäste in Gruppen zusammenstanden und sich unterhielten. Büfetts waren auf langen, von weißen Tischtüchern bedeckten Tischen aufgebaut, Kellner in schwarzem Servierfrack trugen Tabletts durch die Menge und achteten darauf, dass es den Gästen an nichts fehlte.

Frédéric de Montagney war sicher der charmanteste Gast, den das Hotel beherbergte, und Johanna konnte nicht leugnen, dass sie sich von seinen fortwährenden Bemühungen um ihre Gunst geschmeichelt fühlte. Ihr Vater wäre von der Aussicht auf einen Schwiegersohn aus dem französischen Adel sicher hingerissen. Wobei Johanna nicht wusste, ob Frédéric wirklich eine Ehe anstrebte oder einfach nur auf der Suche nach Zerstreuung war. Auf jeden Fall konnte es nicht schaden, ihn ein wenig hinzuhalten.

Und dann war da noch Victor Rados, ein ungarischer Schriftsteller auf der Suche nach Inspiration im Siebengebirge, der es Johanna gegenüber ebenfalls nicht an Aufmerksamkeit fehlen ließ. Er kam meist schon im Spätherbst an und verbrachte seine Zeit mit langen Spaziergängen in der Umgebung. Johanna mochte seine Art zu sprechen, die warme, dunkle Stimme, den leichten ungarischen Akzent, der sein Deutsch brach. Seine Mutter stammte aus Österreich, und er kannte die Sprache von Kindsbeinen an. Wer von den Töchtern der Gäste nicht für Frédéric schwärmte, schwärmte für Victor. Er war durchaus anziehend, das war nicht zu leugnen, mit seinem schwarzen Haar, den dunklen Augen und dem gewandten Auftreten. Hätte Johanna nicht diese Schwäche für düstere Byron-Helden, hätte er durchaus im Rennen um ihre Gunst sein können. Byrons Gedicht über den Drachenfels hatte sie wieder und wieder gelesen, beseelt von dem Wunsch, sie hätte damals schon gelebt und es hätte ihr gegolten.

Nur eines fehlt des Rheines Strand:

In meiner deine liebe Hand!

Sie seufzte und sah zur Verandatür, durch die Karl und Julia in den Salon getreten waren. Augenscheinlich standen sie in bester Harmonie beieinander, lächelnd, Julias Hand leicht auf Karls Arm ruhend. Aber da war auch diese Starre in ihren Schultern, die Art, wie Julias Gesicht kaum merklich von ihm abgewandt war.

»So würden Sie bei der Aussicht auf eine Nacht mit mir nicht aussehen«, sagte Frédéric, und Johanna gab ihm mit dem Fächer einen Klaps auf den Arm.

»Und ich war der Meinung, die stellten Sie mir fortwährend in Aussicht.« Sie schenkte ihm ein Lächeln, das ihn im Ungewissen darüber ließ, worauf er hoffen durfte. An seinem Blick sah sie, dass es wirkte. Touché, dachte sie und wandte sich ab.

Noch vor Mitternacht verschwand das erste Schmuckstück. Als Julia bemerkte, wie sich eine der Damen an den Hals fasste, suchend zu Boden sah, ihren Begleiter ansprach und dieser nun ebenfalls den Kopf senkte, wusste sie, es war wieder so weit. Ein sich jährlich wiederholendes Ritual, wobei der Dieb stets so dreist war, seine Fingerfertigkeiten vor den Augen der Öffentlichkeit zu üben. Es schien, als wolle er beweisen, dass er jedem von ihnen ganz nahe war, und unwillkürlich berührte Julia ihre eigene Halskette, ein Geschenk von Karl zur Geburt ihres zweiten Kindes.

Maximilian Hohensteins Gesicht lief rot an, als ihm der Verlust des Schmuckstücks zugetragen wurde, und kurz darauf schwappte das Wort Diebstahl wie eine Welle durch den Salon. Wie jedes Jahr fürchteten die Hohensteins um ihr Renommee. Wer wollte schon in einem Hotel nächtigen, in dem ein Dieb sein Unwesen trieb? Allerdings schien dieser spezielle Dieb – von einer Diebin sprach seltsamerweise nie jemand, obwohl man die Dienstmädchen keineswegs von den Verdächtigungen ausnahm – die Leute zu faszinieren. Es wurde eifrig spekuliert; zahlreiche Gäste legten in dem Bestreben, dem Geheimnis auf die Schliche zu kommen, ein regelrecht detektivisches Gespür an den Tag.

Wer war nicht schon alles verdächtigt worden. Die Dienstboten sowieso, für sie war die Sache sehr unerfreulich, und noch in dieser Nacht stand ihnen wieder die Durchsuchung ihrer Quartiere bevor. Julia bemerkte, dass Maximilian bereits diskret entsprechende Anweisungen gab. Die Detektive, die er eingestellt hatte, um dergleichen Vorfälle zu verhindern, waren offenbar bestrebt, wenigstens diese Aufgabe auszuführen. Man munkelte, es könnte sogar ein Gast sein, aber das wurde wieder verworfen. Wer von den gutbetuchten Besuchern des Hotels hatte dergleichen denn nötig? Vielleicht der ungarische Schriftsteller, die waren bekanntlich arm. Doch Victor Rados entstammte einer sehr vermögenden Familie, damit entrückte er wieder der Aufmerksamkeit der achtsamen Beobachter. War es womöglich einer der Hohensteins selbst? Das jedoch brachten die Spekulanten nur flüsternd hervor und fügten sogleich hinzu, dass diese dergleichen erst recht nicht nötig hätten.

»Die Neue.« Maximilian nickte in Richtung einer jungen Frau, deren adrette Haube eine Spur zu kokett auf dem aschblonden Haar saß.

»Sie kann es nicht gewesen sein«, antwortete Karl. »Das würde ja bedeuten, sie schliche sich Jahr für Jahr hier ein.«

Aber Maximilian beobachtete sie dennoch aus leicht verengten Augen. Ein Diebstahl an ihrem ersten Abend war ihm offenkundig verdächtig. »Wer hat sie noch mal empfohlen?«

»Philipp von Landau.«

»Referenzen?«

»Die werden gut gewesen sein, sonst wäre sie nicht eingestellt worden.« Karl zuckte mit den Schultern, und Julia, die schweigend daneben stand, betrachtete die junge Frau. Diese ging mit einem Tablett durch die Menge, war geschickt und anstellig, aber auch ein wenig unsicher. Sie war nicht im Hause von Landau angestellt gewesen, und Julia fragte sich, von welcher Art die Referenzen waren, die Philipp dazu bewogen hatten, sie zu empfehlen.

Karl dachte offenbar dasselbe. »Ich habe sie bei euch nie gesehen.«

»Vielleicht kannte Philipp sie über einen Freund.«

Maximilian nickte abwesend, dann lächelte er und mischte sich wieder unter die Leute. Jede seiner Gesten deutete an, dass er die Situation unter Kontrolle hatte und es keinen Anlass zur Sorge gab. Dennoch hatte sich eine leise Vorsicht in die Gesellschaft geschlichen, man war auf der Hut.

Maximilian Hohenstein würde das Schmuckstück ersetzen, wie er es stets tat. Wobei nicht selten – mit Bedauern, aber dennoch nachdrücklich – betont wurde, der ideelle Wert übertreffe den materiellen bei Weitem, sodass die Bestohlenen das Haus Hohenstein oft reicher verließen, als sie es betreten hatten.

»Rück deine Haube gerade, Mädchen. Du wurdest als Dienstmädchen eingestellt, nicht als Kokotte.«

»Ja, Frau Hansen.« Henrietta stellte das Tablett ab und kam dem Befehl der Haushälterin nach. Eigentlich gehörte die Bewirtung der Gäste nicht zu ihren Aufgaben, aber drei der Kellner waren erkältet, und man konnte den Gästen nicht zumuten, von einem Diener mit roter, verquollener Nase bedient zu werden. Die Lakaien halfen nun aus, aber auf die Schnelle war es nicht mehr möglich gewesen, einen weiteren männlichen Dienstboten zu mieten, und so war der Hausverwalter auf die Notlösung verfallen, das Stubenmädchen servieren zu lassen.

»Jetzt sieh zu, dass du die nächsten Odöwre in den Salon trägst.«

Hors d’œuvre, lag es Henrietta auf der Zunge, aber sie schwieg, da sie ahnte, dass ihre Antwort als vorlaut gelten würde. Abgesehen davon konnte man die Häppchen kaum mehr als Appetitanreger bezeichnen, da das riesige Büfett bereits vor langer Zeit geplündert worden war. Sie nahm jedoch gehorsam das Tablett und ging zurück in den Salon. Auf dem Weg dorthin begegnete sie Alexander Hohenstein, dem jüngeren Sohn der Familie, der ihr unters Kinn griff und ihr sagte, sie habe Prachtaugen. Ein vielsagendes Zwinkern folgte, dann ließ er sie ihrer Wege gehen.

»Und ich dulde kein Anbandeln mit dem jungen Herrn Hohenstein«, fügte Frau Hansen hinzu, die das neue Hausmädchen auf dem Weg durch den Korridor nicht aus den Augen gelassen hatte. »Du wärst nicht die Erste, die mit einem dicken Bauch auf der Straße landet.«

Henrietta hatte von Alexander Hohensteins Abstechern in die Dienstbotenquartiere durchaus gehört. Auch sein Bruder schien trotz seiner hübschen Ehefrau der einen oder anderen Liebschaft nicht abgeneigt zu sein, wobei man munkelte, er hielte sich dabei eher an junge Frauen aus Bonn und Königswinter. Von Maximilian Hohenstein drohte keine Gefahr, der ging seine Affären sehr diskret ein und gewiss nicht im selben Haus, das seine Ehefrau bewohnte. Sie würde sich also hauptsächlich vor Alexander in Acht nehmen müssen. Solange er nur versuchte, sie zu verführen, machte sie sich keine Sorgen. Zwang er sich ihr jedoch auf, sah die Sache anders aus. Aber Philipp hatte versprochen, dass er im Januar kam. Sollte sie in Bedrängnis geraten, würde er den Hohenstein-Spross in die Schranken weisen.

Als sie mit dem Tablett den Salon betrat, atmete sie tief durch. Ihr widerstrebte die Unterwürfigkeit, die ihre Tätigkeit ihr aufzwang, und sie befürchtete, durch eine unbesonnene Handlung oder einen Fehler als Hochstaplerin enttarnt zu werden. Philipp hatte ihr zwar alles gesagt, was es zu wissen gab – und das war mehr, als Henrietta geahnt hatte –, aber sie hatte ein Ziel, das sie um jeden Preis erreichen wollte. Als die Nachricht vom Diebstahl durch den Saal geraunt wurde, war sie furchtbar erschrocken, denn an ihrem ersten Tag würde man sie wahrscheinlich als Erste verdächtigen. Frau Hansen hatte sie jedoch beruhigt, die Diebstähle traten jedes Jahr im Winter auf, weshalb sie gänzlich unverdächtig war.

Henriettas Blick fiel auf Maximilian Hohenstein, der sich elegant inmitten der Menge bewegte, huldvoll mal hierhin, mal dorthin lächelte. Selbst als sie an ihm vorbeiging, nahm er sie nicht wahr, das Tablett ja, die junge Frau, die es trug, nicht. In seiner Welt war sie nicht mehr als ein Möbelstück, sie war ihm keinen Blick wert, es sei denn, es gab einen Grund, sie zu tadeln.

Konrad Alsberg beobachtete die Flut der Gäste, die aus den erleuchteten Sälen hinaus in den Garten strömte. Auch das Personal hatte offenbar die Erlaubnis bekommen, dem Schauspiel beizuwohnen, und reihte sich hinter den Gästen auf. Beiläufig, als sei er ebenfalls ein Gast des Hauses, der einen abendlichen Spaziergang gemacht hatte, schlenderte er durch den Garten. Man bemerkte den fremden Herrn zwar, aber da das Hotel eine Ansammlung von Menschen war, die einander nicht kannten, und er elegante Abendgarderobe trug, kam niemand auf die Idee, ihn zu fragen, ob er eingeladen war oder nicht. Ohne das geringste Zögern mischte er sich unter die Menge.

Selten bekam Konrad ein Feuerwerk zu sehen, das aufwendiger und großartiger war als jenes, mit dem das Haus Hohenstein das Jahr 1905 begrüßte. In dem gerodeten Areal bestand offenbar auch nicht die Befürchtung, man könne den Wald in Brand setzen, und so fuhr man alles auf, was die moderne Feuerwerkskunst zu bieten hatte. Von allen Seiten hörte Konrad Ausrufe des Erstaunens. Sogar einige Kinder, denen man zum Jahresende offenbar die Zügel gelockert hatte, standen zusammen mit ihren Kindermädchen auf den Balkonen und lachten vor Entzücken, während das bunte Farbenspiel über ihre kleinen Gestalten wetterleuchtete.

Das Spektakel dauerte eine halbe Stunde, zurück blieb nur der Geruch nach Rauch und Schwefel. Obgleich alle Leute ihre Mäntel übergezogen hatten, schienen sie genug von der Kälte zu haben, denn frierend beeilte man sich, wieder ins Innere des Hauses zu gelangen.

Konrad sah sich um. Beeindruckend. Dabei war es nicht so, dass dies das erste Luxushotel war, das er betrat, aber es war das erste, das ihm gehörte. Lächelnd ging er zum Büfett, probierte einen Cracker mit Kaviar, wischte sich die Hände an einer Serviette ab, die ihm ein Diener beflissen reichte, und schlenderte durch den Saal. Kurzzeitig zog er in Erwägung, eine der Damen zum Tanz aufzufordern, um den Moment noch ein wenig auszukosten und Maximilian in seiner scheinbaren Unbekümmertheit zu beobachten, die nichts anderes sein konnte als vorgetäuscht, denn Konrad hatte sein Kommen angekündigt. Dann entschied er sich jedoch dagegen und ging auf den Hausherrn zu, der mit einem Lächeln dastand, das nur ein wahrhaft erfolgreicher Mann auf den Lippen führte. Erst sah Maximilian ihn nicht, dann jedoch rutschte ihm das Lächeln von den Lippen, die Farbe wich aus seinem Gesicht.

»Was für ein grandioses Schauspiel, Maximilian.«

Konrad neigte in spöttischem Respekt den Kopf.

»Wir haben uns nichts zu sagen«, antwortete Maximilian kalt und wandte seinen Blick ab.

Karl, der an der Seite seines Vaters stand, taxierte ihn, schien aber einen Moment zu brauchen, ehe er ihn einordnen konnte.

»Wir hatten bereits das Vergnügen«, sagte Konrad.

Nun sah Maximilian seinen Sohn an, als vermute er einen feindlichen Überläufer.

»Er fragte uns heute Morgen nach dem Weg«, erklärte Karl.

Maximilians Blick wurde keineswegs gnädiger.

»Darf ich erfahren, worum es geht?«, wollte Karl, nun an Konrad gewandt, wissen.

»Ich bin sozusagen das bestgehütete Geheimnis im Leben deines Vaters.«

Bei der persönlichen Anrede erschien eine kleine Falte zwischen Karls Brauen.

»Wir sind Halbbrüder, wir teilen uns einen Vater mit einer Schwäche für schöne Frauen.« Konrad lachte. »Und dein Großvater war der Meinung, wir sollten uns auch sein Erbe teilen.«

»Ich habe das Testament angefochten«, sagte Maximilian nun mit gepresster Stimme.

»Das ist mir bekannt, doch vergeblich, wie wir beide wissen.«

»Du hast dich all die Jahre nicht um das Hotel gekümmert, damit verlierst du jeden Anspruch.«

»Da würden dir meine Anwälte schwerlich zustimmen, deine eigenen vermutlich ebenfalls nicht, wenn sie etwas von ihrem Handwerk verstehen.«

»Und warum tauchst du genau jetzt auf?«

»Mir gefiel es in den Kolonien nicht mehr. Und da dachte ich mir, warum nicht endlich mal mein Erbe antreten?«

Karl schwieg immer noch und wirkte, als müsse er die Neuigkeit erst einmal verdauen.

»Nun gut, besprechen wir die Einzelheiten später. Ich brauche ein Zimmer.«

»Wir sind bis unter das Dach ausgebucht«, sagte Maximilian.

»Wenn ich mich richtig erinnere, steht mir ein ganzer Wohntrakt zu. Die zweite und dritte Etage.«

»In der Bel Étage wohnen wir.« Offenbar hatte Karl seine Stimme wiedergefunden. »Das Stockwerk darüber ist unbewohnt, es wird einige Zeit dauern, es wohnlich herzurichten.«

Wieder sah sein Vater ihn mit einem Blick an, als habe er einen Verräter in den eigenen Reihen erkannt.

»Oh, darum kümmere ich mich schon.« Konrad nickte ihm und Maximilian grüßend zu und verließ den Saal. Er schlenderte durch die hell erleuchtete Halle, von der aus ein hoher Türbogen in einen breiten Korridor führte. Ein dunkelhaariges Dienstmädchen mit einem Stapel Wäsche kam ihm entgegen, und er hielt es auf, um zu fragen, wo er die Haushälterin oder den Hausverwalter finden konnte.

»Die sind beide im Gesellschaftszimmer neben der Küche.« Das Mädchen beschrieb ihm den Weg. Er dankte ihr und verließ die Halle wieder, um in die Tiefen des Dienstbotenbereichs abzutauchen. Die Gänge wurden karger, und als er an einer hölzernen Hintertreppe vorbeikam, hörte er ein Kichern. Alexander Hohenstein hatte eines der Dienstmädchen aufgehalten und hielt es umschlungen, um ihm einen Kuss zu rauben. Das Mädchen wehrte sich halbherzig, lachte dabei aber immer wieder hell auf. Konrad räusperte sich vernehmlich, und Alexander gab das Mädchen frei, das mit hochrotem Gesicht seine Haube zurechtrückte und über den Korridor floh.

»Neigen wir zu Indiskretionen?« Konrad hob die Brauen.

»Fragt wer?« Alexander zeigte nicht das geringste Anzeichen von Verlegenheit, schien ihn jedoch erkannt zu haben, denn er wirkte überrascht.

»Wo finde ich das Gesellschaftszimmer?«

Der junge Mann musterte Konrads Abendgarderobe und lächelte ein wenig herablassend. »Das für Ihresgleichen liegt auf der entgegengesetzten Seite des Korridors im Bereich der gepflegten Langeweile. Falls Sie auf der Suche nach ein wenig Vergnügen sind, stimmt die Richtung.«

Konrad lachte leise, dankte ihm und setzte seinen Weg fort. Eine kräftige Frau in einem schwarzen Kleid, an dessen Taille ein Schlüsselbund befestigt war, trat eben aus der Küche und scheuchte zwei Lakaien samt Tabletts hinaus: »Beeilt euch ein wenig, die Herrschaften warten.« Dann bemerkte sie Konrad und straffte sich unwillkürlich. »Gnädiger Herr?«

»Ich bin auf der Suche nach der Haushälterin oder dem Hausverwalter.«

»Ich bin Frau Hansen, die Haushälterin. Gibt es ein Problem mit einem der Dienstboten?«

»Nein, keineswegs. Ich brauche ein Zimmer.«

Nun legte sich die Stirn der Frau in Dackelfalten. Das Ansinnen schien ihr seltsam, vor allem, da er dafür extra den Dienstbotentrakt aufsuchte. »Die Zuteilung der Zimmer ist Sache der Angestellten an der Rezeption. Unser Nachtportier …«

»Ich bin kein zahlender Gast«, unterbrach Konrad sie. »Ich benötige eines der Zimmer im privaten Haustrakt, in der zweiten Etage. Richten Sie eines her. Eine Grundreinigung wird um diese Uhrzeit schlechterdings nicht möglich sein, das sehe ich ein, sorgen Sie einfach dafür, dass ich dort schlafen kann.«

»Aber …«

»Morgen trifft mein Kammerdiener ein, auch er muss passend untergebracht werden. Und nun schicken Sie einen Pagen, der mein Gepäck ins Zimmer trägt.«

Frau Hansen holte tief Luft und stieß empört hervor: »Wer sind Sie, dass Sie hier Befehle geben, wie es nur den Herrschaften Hohenstein zusteht?«

»Ich bin Ihr neuer Dienstherr.«

✯✯ 3 ✯✯

Julia hörte das Jauchzen ihrer Kinder, noch ehe sie das Spielzimmer betrat. Gerade stoben der dreijährige Ludwig und seine um ein Jahr jüngere Schwester Valerie kreischend davon, während Karl ihnen auf allen vieren nachjagte. Seinen Gehrock hatte er achtlos über die Lehne eines Stuhls geworfen, seine Krawatte lag auf dem Boden daneben. Mit wildem Gelächter lief Valerie davon, während Karl so tat, als schaffe er es nicht, sie zu fangen. Dann richtete er sich auf, war mit zwei Schritten bei ihr und warf sie hoch in die Luft. Valeries Jauchzen wurde zu einem lauten Kieksen, als Karl sie durchkitzelte und wieder auf den Boden setzte. Während das Mädchen davonlief, stürzte sich Ludwig auf ihn und riss ihn fast zu Boden. Karl befreite sich und machte nun Jagd auf den Jungen, was Ludwig mit lautstarker Begeisterung und einem fortwährenden »Du kriegst mich nicht!« beantwortete.

An der Wand zur Linken standen das Kindermädchen und Frau Hansen, die Karl verliebte Blicke zuwarfen. »Als wäre es erst gestern gewesen, dass er hier herumgetollt ist«, sagte Frau Hansen, und das Kindermädchen nickte mit feuchten Augen. In dem Bild hatte sich vermutlich nur die Größe ihres Schützlings geändert.

Maximilian betrat den Raum nun ebenfalls und beobachtete das Treiben, doch sein Blick entbehrte jeglicher nostalgischen Verklärung. Karl erhob sich vom Boden und strich sich das Haar aus der Stirn. Die Kleinen klammerten sich an seine Beine. »Gnade, Kinder, ich kann nicht mehr.« Er war in der Tat ziemlich außer Atem.

»Noch einmal, Papa!«, bettelte Ludwig, und Valerie steuerte ebenfalls ein »Einmal!« bei.

Karl schien hart zu bleiben, doch dann beugte er sich in einer plötzlichen Bewegung hinunter, packte Valerie und warf sie wieder in die Luft. Das Kind kreischte vor Vergnügen.

»Jetzt ich, Papa!«, schrie Ludwig. »Jetzt ich!« Im nächsten Augenblick flog er Richtung Zimmerdecke. Julia wagte kaum, hinzusehen.

»So, das reicht jetzt.« Karl strich sich erneut das Haar zurück, ein vergebliches Unterfangen, denn einige Strähnen fielen ihm prompt wieder in die Stirn. Dann griff er nach seinem Gehrock, zog ihn über und hob seine Krawatte auf.

»Ah«, sagte Maximilian, »wie ich sehe, besinnst du dich langsam wieder darauf, wie alt du bist. Dann können wir uns ja endlich unserem Problem widmen.«

»Welchem Problem?« Karl drehte sich zu Julia, damit diese ihm die Krawatte binden konnte.

In Maximilians Blick mischten sich Unglauben und Fassungslosigkeit. »Konrad Alsberg, was sonst?«

»Das Testament ist unanfechtbar, dachte ich.«

»Stimmt, daher müssen wir uns etwas anderes überlegen.«

»Nun ja, wenn es unanfechtbar ist, wüsste ich nicht, welchen legalen Weg es geben sollte, ihm seinen Anteil streitig zu machen.«

»Hältst du diese Reaktion auf die Beschneidung deines Erbes für angemessen?«

Seit einer Woche wohnte Konrad Alsberg nun im Hotel, wobei ihn, abgesehen von den Dienstboten, die seinen Wohntrakt herrichteten, niemand zu Gesicht bekam. Er empfing Briefe, schickte den Botenjungen täglich mit Korrespondenz nach Königswinter und war ansonsten damit beschäftigt, sich wohnlich einzurichten. Inzwischen war sein Kammerdiener eingetroffen, ein angenehmer Mann um die vierzig, der sich mit dem übrigen Personal bestens verstand.

»Er kommandiert hier jeden herum, als hätte er das Recht dazu!«, ereiferte er sich.

»Aber er hat das Recht. Und wie du ja selbst sagtest, hast du bereits erfolglos versucht, ihm seinen Anteil streitig zu machen.«

Die Haushälterin steckte ebenso wie der Hausverwalter in einer Zwickmühle, denn obwohl sie den Hohensteins nicht in den Rücken fallen wollten, konnten sie Konrad Alsberg als rechtmäßigem Besitzer den Gehorsam nicht verweigern. Da Maximilian und Anne Hohenstein dies wussten, hielten sie das Personal aus dem Disput heraus. Schließlich wollte man nicht, dass die Gäste Anlass zur Unzufriedenheit hatten, wozu es unweigerlich kommen würde, wenn das Personal in den Zwist hineingezogen würde. Da war es besser, die Dinge erst einmal laufen zu lassen und abzuwarten, wie sich alles weiterentwickelte.

»Wir müssen ihn loswerden, egal wie.«

»Oh, sag das doch gleich.« Karl wandte sich an Julia. »Liebes, holst du mir bitte mein Jagdgewehr?«

Maximilian lief dunkelrot an und richtete den Zeigefinger auf seinen Sohn. »Ich warne dich, Karl, es ist mir bitterernst.«

»Was erwartest du von mir? Soll ich da erfolgreich sein, wo deine Anwälte gescheitert sind? Ist Konrad Alsberg nicht sogar selbst Jurist?«

»Ja, offiziell, er hat aber den deutschen Landen vor Jahren den Rücken gekehrt und sich in den Kolonien herumgetrieben. Vielleicht gibt es dort einen Punkt, wo wir ansetzen können, einen Skandal, der ihn hierher getrieben hat.«

»Welche Art von Skandal sollte das wohl sein, die ihn um sein Erbe bringt?«

»Was weiß denn ich? Sieh zu, dass du dich nützlich machst, oder ich überdenke, ob Alexander nicht doch der geeignetere Haupterbe wäre.«

Karl lachte spöttisch, aber Julia hörte den Missklang darin. »Sicher doch, Vater, ich werde tun, was ich kann, damit du das Hotel nicht in Alexanders fähige Hände legst.«

Es schien, als wolle Maximilian noch etwas sagen, besann sich jedoch anders und ließ seinen Sohn einfach stehen. Julia sah, wie es in Karl brodelte.

»Was wirst du tun?«, fragte sie vorsichtig.

Er hob in einer knappen Geste die Schultern. »Du weißt ja, wie oft ich schon mit meinen Ideen gescheitert bin, Vater hört mir ja kaum zu. Vielleicht bringt Konrad Alsberg endlich frischen Wind hier herein.«

»Also wirst du dich nicht gegen ihn stellen?«

»Ich werde mir anhören, was er zu sagen hat. Vater weiß seit Jahren, dass sie zu gleichen Teilen geerbt haben, und hat es nicht für nötig gehalten, auch nur einem von uns etwas davon zu erzählen. Als würde Konrad Alsberg verschwinden, wenn man ihn nur lange genug ignoriert.«

Julia hatte den Neuankömmling nur kurz gesehen und fand, dass er eine interessante Ausstrahlung hatte, gelassen, mondän. Äußerlich hatte er mit Maximilian nicht die geringste Ähnlichkeit. Karl kam nach seinem Vater, hatte – ebenso wie Alexander – dessen Augen, ein fast silbriges Eisblau, und helles Haar. Konrad Alsberg hingegen war dunkelhaarig und hatte braune Augen. Offenbar ein Erbe seiner Mutter, von der Julia nur wusste, dass der alte Hohenstein »sie aus irgendeiner Gosse gezogen hatte«, um bei Maximilians Worten zu bleiben, die freilich nicht für ihre Ohren bestimmt gewesen waren. Zudem war Konrad Alsberg jung, knapp zehn Jahre älter als Karl, was ihn in Maximilians Augen ebenfalls nicht befähigte, mit ihm das Hotel zu leiten. Es passte nicht in sein Weltbild, mit einem Mann gleichgestellt zu sein, der nicht nur ein Bastard war, sondern darüber hinaus kaum älter als seine Söhne, die er an der kurzen Leine führte.

»Wirst du Nachforschungen über ihn anstellen?«, fragte Julia.

»Ja.«

»Und dann?«

»Dann sorge ich dafür, dass er sich vor meinem Vater in Acht nimmt.«

Julias Lippen formten ein lautloses O, ihre Augen weiteten sich überrascht.

»Mein Vater würde es Nestbeschmutzung nennen.«