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Hrsg. Gitta Rübsaat

Die Farben des Herbstes

Natur- und Lebenszeiten


26 Autoren schrieben für einen guten Zweck: Rita Bittner, Heidrun Böhm, Ralf von der Brelie, Angela Ewert, Doris Frese, Annelie Heyer, Phil Humor, Silvia Hunziker, Anneliese Koch, Sieglinde Koch, Enya Kummer, Martina Laurenz, Elke Lehmann, Matthias März, Martina Pawlak, Marcel Porta, Willy Rencin, Gitta Rübsaat, Manuela Schauten, Stephanie Schauten, Roland Schilling, Helga Schmiedel, GaSchu, Lisa Skydla, Ute Wunderling, Elisabeth Zimmerer.


BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Impressum

 

 

Die Originalausgabe erschien im August 2016

bei BookRix GmbH & Co.KG als e-book

www.bookrix.de

 

Der Nettoerlös dieses Buches geht ohne Abzüge an die

"Arca Fabiana - Tierrettung Azoren e.V." 

 

Copyright © 2016 Gitta Rübsaat (Hrsg. und Mitautor)

Alle Rechte liegen bei den Autoren

Cover Illustration: ©Heike Helfen

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung der Autoren zulässig.

Das gilt vor allem für Vervielfältigungen, Übersetzungen,

so wie das Speichern und Verarbeiten in elektronischen Systemen.

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

 

  1. - Elisabeth Zimmerer - Herbst
  2. - Enya Kummer - Drachentanz
  3. - Annelie Heyer - Wie ich unsichtbar wurde
  4. - Roland Schilling - Overthrill und Zuckerwatte
  5. - Matthias März - Im Spätherbst am See
  6. - Manuela Schauten - Sankt Martinstag
  7. - GaSchu - Herbststürme
  8. - Angela Ewert - Herbsterinnerungen –
  9. - Willy Rencin - Herbsttour der Erinnerungen
  10. - Elke Lehmann - Grünkohl
  11. - Gitta Rübsaat - Der kleine Unterschied
  12. - Lisa Skydla - Hundeleben mit Katzen
  13. - Anneliese Koch - Die verliebte Fee
  14. - Phil Humor - Es herbstet für F. M. Dostojewski
  15. - Martina Pawlak - Verschlossene Türen
  16. - Silvia Hunziker - Zur Zwetschgenzeit im Landdienst
  17. - Ralf von der Brelie - Herbstleben
  18. - Elisabeth Zimmerer - Eine schwäbische Geschichte
  19. - Sieglinde Koch - Der Brief
  20. - Stephanie Schauten - Das Rausches des Windes
  21. - Roland Schilling - Oktoberwald
  22. - Annelie Heyer - Katharina im Herbst ihres Lebens
  23. - Gitta Rübsaat - Erntedankfest
  24. - Doris Frese - Jung sein, das kann jeder ...
  25. - GaSchu - Herbstliches
  26. - Anneliese Koch - Was man vom Älterwerden
  27.   (nicht)unbedingt wissen muss -
  28. - Phil Humor - Herbstwald
  29. - Heidrun Böhm - Herbststurm
  30. - Helga Schmiedel - Rettungsaktion
  31. - Martina Laurenz - Herbstblattgeflüster
  32. - Ute Wunderling - Älter werden - ist nicht alt…
  33. - Gitta Rübsaat - SimJü
  34. - Marcel Porta - Herbstzeitlose
  35. - Anneliese Koch - Seerosen
  36. - Rita Bittner - Totennacht
  37. - Enya Kummer - Nachtbegegnungen
  38. - Ingrid Alias - Abschied im November
  39. - Doris Frese - Anhang
  40.     Der Herbst und seine Gedenk- und Feiertage
  41.     Der   9. Monat im Jahr - September
  42.     Der 10. Monat im Jahr - Oktober
  43.     Der 11. Monat im Jahr- November
  44. - Ute Wunderling - Es herbstelt in Franken
  45. - Unsere Spendenbücher

Elisabeth Zimmerer - Herbst

 

Herbst

Elisabeth Zimmerer

 

Ich liebe diese Herbsttage,

wenn der Wald rotgrüngoldenblau brennt. 

Ich liebe nebelhafte Gespinste über

 sterbendem Beerengesträuch,

 taunasse gilbende Gräser,

 die lila Gesichter der Herbstzeitlose,

 Silberdisteln am Wegrand.

 Ich liebe den unwirklich blauen Himmel,

 wenn die Sonne die sterbende Natur tröstet.

 Ich liebe die Spatzenschelte in frostgequälten

Blüten. 

Ich liebe das herbstliche Sterben mit der 

Hoffnung auf ein Wiedererwachen. 

 

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Enya Kummer - Drachentanz

Drachentanz

Enya Kummer

 

Es ist Oktober, ein sonniger Tag nahe dem Nordseestrand. Fast ist es, als wolle sich der längst vergangene Sommer noch einmal zurückmelden. Aber obwohl das Wetter herrlich ist, künden sich die Herbststürme bereits an. Ein starker Wind treibt die weißen Wolken scheinbar im Zeitraffer am Himmel entlang und verändert immer wieder das blaue Band, das sich endlos bis zum Horizont hinzieht. Das am Sommerende wehende, goldgelbe Korn, wellengleich in seiner Bewegung, ist lange geerntet. Doch das Goldgelb der Stoppelfelder hebt sich warm vom kühlen Blau des Himmels ab.

 

Die kleine Marie hüpft aufgeregt um ihren Vater herum, der gerade einen Drachen hinauf in dieses Blau schickt. Zusammen haben sie ihn zu Hause gebaut und mit hierher genommen auf das Feld, um ihn steigen zu lassen, ihm ein Stück Freiheit zu geben. Lustig sieht es aus, wie er seinen bunten Schwanz im Wind tanzen lässt, sich windet, scheinbar herabstürzt, um sich dann wieder im Aufwärtsschwung den weißen Wattewölkchen zu nähern.

„Ich will auch mal!“, ruft Marie aufgeregt und tippelt neben dem Vater her, der Mühe hat, den Drachen zu halten. Der Wind schwingt sich in Böen auf, ebbt ab. Es ist schwer, die Kontrolle zu behalten. So zögert der Vater zunächst, Marie die Schnur zu überlassen. Doch dann wird es ruhiger, der Wind gönnt sich eine Pause.

„Aber gut festhalten!“, sagt der Vater zu dem Mädchen, als er ihm den Griff in die Hand drückt, an dem die Drachenschnur befestigt ist. Und wie Marie festhält! Mit beiden Händen umklammert sie die hölzerne Stange. Die Arme gestreckt, den Kopf weit in den Nacken gelegt, schaut sie dem Drachen zu, wie er fröhlich seine Kapriolen schlägt. Manchmal steht er still in der Luft, dann wieder wiegt er sich sanft hin und her.

 

Plötzlich frischt der Wind erneut auf und zerrt an der Schnur. Marie beginnt zu laufen, wird mitgezogen von der unsichtbaren Kraft.

 

„Warte!“, ruft der Vater, aber Marie hüpft über das Feld. Kleine Sprünge, sie wird mitgerissen und es sieht aus, als wolle sie sich auch in die Luft erheben. Auf wunderbare Weise scheint das Mädchen mit dem Drachen zu tanzen, leichtfüßig, wie von einer stummen Melodie geführt. Auf einmal aber schießt der Drachen empor, dreht sich ein paar Mal und steigt höher und höher. Marie sitzt am Boden, die leeren Hände nach oben gestreckt und schaut ihm hinterher. 

„Flieg, flieg!“, hört der Vater sie rufen, als er herbeieilt.

„Warum hast du losgelassen?“, fragt er und kniet sich zu dem Mädchen hinunter.

Marie zögert und meint dann: „Ich glaube, er wollte es. Er hat so doll gezogen, da musste ich ihn einfach freilassen. Jetzt besucht er bestimmt die Wolken.“

„Vielleicht hast du recht“, meint der Vater, „aber schade ist es trotzdem.“

Beide schauen dem immer kleiner werdenden Drachen nach, wie er als bunter Punkt den Wolken scheinbar näher kommt. 

„Ob er es wohl bis zur Sonne schafft?“, fragt Marie.

Der Vater schüttelt den Kopf. „Nein, meine Kleine, der Weg ist zu weit für ihn. Und er würde verbrennen. Du weißt, die Sonne ist sehr heiß.“

 

Marie nickt. „Aber er schafft es bestimmt bis über die Wolken. Und dann kann er die Sonne immer sehen, sogar im Winter.“

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Annelie Heyer - Wie ich unsichtbar wurde

 Wie ich unsichtbar wurde

Annelie Heyer

 

Langsam, ganz langsam wurde ich unsichtbar.

Erst fiel es mir nicht auf. Jahrelang nicht. Ich kann auch nicht sagen, seit wann ich unsichtbar wurde.

Es ist mindestens fünfzehn Jahre her.

 

Als ich neununddreißig Jahre alt wurde, gab ich im Freundes- und Bekanntenkreis kund, dass ich nun meine Generalbeichte ablegen wolle.

„Ach“, sagten sie, „warum denn das.“

„Weil ich meine, dass mit neununddreißig die Jugend vorbei ist. Nun muss es seriöser zugehen.“

Mit der Seriosität wurde es langsam auch langweilig und ich schob die Beichte noch drei Jahre hinaus.

Doch dann musste ich mich einer Unterleibsoperation unterziehen.

Von nun an ging’s bergab.

Eine Hormontherapie und das erfolgreiche Bemühen, nicht mehr zu rauchen, ließen die Pfunde klettern.

Ich hätte mir ein Pflaster auf den Mund kleben müssen, dass einzige, garantiert erfolgreiche Mittel zum Abnehmen.

Andererseits sah ich ganz schlanke, modisch gekleidete und wohl frisierte Damen meines Alters, in der Stadt promenieren.

Drehten sie sich herum und ich sah in faltige Gesichter, die so gar nicht zum übrigen Outfit passen wollten, fand ich das erst recht nicht schön. 

Man muss zu seinem Alter stehen, ansonsten macht man sich leicht lächerlich.

Ich schloss Frieden mit dem Älterwerden und seinen weniger erfreulichen Seiten. Noch bin ich gesund, besuche ein, meinem Alter entsprechenden Fitnessclub und pflege mich, das muss sein.

 

Doch nun wurde ich unsichtbar.

Kein anerkennender Pfiff oder der gewisse Blick, den Männer so unnachahmlich senden - alles weg.

Nicht plötzlich, aber es fällt mir immer öfter auf.

Nun ja, jetzt kann man andere Dinge genießen:

Ein gutes Essen, ohne die Kalorien zu zählen, mit einem hervorragenden Wein dazu, ist auch nicht zu verachten.

Gemütlichere Schuhe, mit denen ich lange und ohne Fußbeschwerden laufen kann.

Weniger lange Abende in verräucherten Kneipen.

Ein wesentlich entspannteres Gespräch mit Männern, ohne die entsprechenden Antennen auszufahren.

Enkelkinder knutschen und den Ausruf: „Oma, hör’mal!“ genießen.

 

Die Erkenntnis wächst, jedes Alter hat seine guten und weniger guten Seiten.

 

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Roland Schilling - Overthrill und Zuckerwatte

 Overthrill und Zuckerwatte

Roland Schilling

 

Als ich neulich in der Stadt einkaufen war, wurde ich auf einen Flyer aufmerksam. Er war von einem örtlichen Omnibusunternehmer. Sie boten eine Fahrt zum Münchner Oktoberfest an.

 

Ich wollte schon immer mal live den Bieranstich mit dem Oberbürgermeister der Stadt München und vor allem mit unserem Ministerpräsidenten sehen. Ich nahm den Flyer mit und beschloss, eine Familienkonferenz ein zu berufen.

„Familie,“ sagte ich, als ich sie alle versammelt hatte, „wir hatten schon lange keinen Familienausflug mehr.“ Während ich den Flyer auf den Tisch legte, fuhr ich fort. „Wie wär's mit dem Oktoberfest in München, nächsten Samstag.“

 

Mein Sohn David nahm den Flyer in die Hand. „Mit dem Bus?“, fragte er in einem Ton, als ob ich ihn mit dem Heuwagen vor der Disko absetzten wollte.

„Na, wir können auch eine Stretchlimo mieten“, antwortete ich.

„Au ja,“ rief meine Tochter Lena begeistert.

„Das war ein Scherz“, konterten mein Sohn und ich im Duett.

„Also“, fing ich an, ihnen die ganze Sache schmackhaft zu machen, „wir werden mit einem brandneuen luxuriösen Reisebus fahren. Er wird uns direkt an der Theresienwiese absetzen. Wenn wir mit dem eigenen Auto fahren würden, müssten wir außerhalb parken und dann schauen, wie wir irgendwie mit öffentlichen Verkehrsmitteln da hin kommen.“

 

Das hatte sogar meinen Sohn überzeugt. Er fand das Oktoberfest an sich schon cool und wollte auch mal den ultimativen Overthrill einer der Achterbahnen erleben, was immer das auch sein sollte. Meine Tochter wollte sich den Bauch mit Zuckerwatte voll stopfen, wie sie es ausdrückte. Na ja, wie viel Zuckerwatte kann schon in so eine Neunjährige rein passen. Und meine Frau erhoffte sich, einigen Prominenten zu begegnen. Die Sache war also beschlossen. Oktoberfest, wir kommen. Nächsten Samstag würden wir uns aufmachen, das weltweit größte Volksfest der Welt - O-Ton Reiseveranstalter - zu besuchen.

 

Am nächsten Samstag klingelte um 5 Uhr früh der Wecker. „Warum so früh, Frau?“, nörgelte ich in mein Kopfkissen, aus einem wunderschönem Traum gerissen, „der Bus fährt doch erst um Acht.“

„Willst du etwa aus dem Bett in die Klamotten springen, ohne duschen und ohne Frühstück? Und die Kinder müssen wir auch noch fertig machen!“, antwortete sie.

„Warum willst du denn die Kinder fertig machen? Sie haben doch nichts getan“, murmelte ich, noch immer schlaftrunken. Während meine Frau aufstand, drehte ich mich nochmal zur Seite. „So früh krieg ich sowieso kein Frühstück runter. Für mich nur einen Eimer Kaffee bitte,“ murmelte ich und gönnte mir noch die fünf Minütchen Schlaf.

Dann aber raffte ich mich auf. Schließlich war der Ausflug ja meine Idee. Was war ich nur für ein Vorbild für meine Kinder. Als ich mich zum Badezimmer aufmachte, sah ich meinen Sohn am Türstock lehnen. „Lena!“, sagte er nur und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Badezimmertür.

„Oje“, bemerkte ich, „das kann dauern.“

Mein Sohn stimmte mir stumm nickend zu. Meine Tochter legt sehr viel Wert auf ihr Äußeres. Obwohl, oder gerade weil sie erst Neun ist. Da steht sie ihrer Mutter in nichts nach. Bevor nicht auch das letzte Härchen da sitzt, wo es sitzen soll, wird das Badezimmer nicht verlassen.

„Ich schau' mal. Was der Kaffee macht,“ teilte ich ihm meine weitere Vorgehensweise mit.

 

In der Küche hatte meine Frau bereits ganze Arbeit geleistet und ein reichliches Frühstück auf den Tisch gezaubert. Es tat mir ja Leid, dass sie sich so viel Mühe gemacht hatte, doch ich bekam so früh wirklich keinen Bissen hinunter. Nur das schwarze Gold des Morgens, meinen Kaffee.

Meine Frau warnte mich, dass ich vor Mittag wahrscheinlich nichts mehr zu Essen bekam und riet mir, doch wenigstens ein Brötchen für die Fahrt einzupacken. Doch ich lehnte ab. Ein echter Mann hält so was aus.

Als wir fertig waren, machten wir uns auf den Weg zum Busbahnhof, wo der Reisebus uns bereits erwartete. Pünktlich um Acht fuhr er los. Der Busfahrer begrüßte uns, erzählte einige Fakten über das Oktoberfest, teilte uns mit, wo und wann wir uns bei der Abfahrt wieder treffen sollten, erinnerte uns daran, dass Samstag war und die Geschäfte zu einem Einkaufsbummel einluden, bemerkte noch, dass er Snacks und Getränke während der Fahrt zum Verkauf anbot und wünschte uns noch einen schönen Tag auf dem Oktoberfest.

Das mit den Snacks hätte er lieber nicht sagen sollen. Eine Stunde nach Fahrtantritt meldete sich mein leerer Magen. Ich rutschte nervös auf meinem Sitz hin und her. Meine Frau fragte, was ich hätte.

„Ich hab Hunger“, antwortete ich.

„Na, dann geh vor und hol dir was!“, befahl sie.

Ich ging nach vorne und holte mir einen Schokoriegel. Ich kam ziemlich missmutig wieder zurück. „Was ist denn jetzt schon wieder?“, fragte meine Frau, als sie meine finstere Mine sah.

„Zwei Euro hat er dafür verlangt“, sagte ich und hielt ihr den Schokoriegel unter die Nase.

„Na, dann iss ihn schnell, bevor du zur Diva wirst!“, lachte sie. Sie spielte damit auf einen Werbespott im Fernsehen an, aber sie hatte ja Recht. Nächstes Mal würde ich auf sie hören und mir was von zu Hause mitnehmen.

Kurz vor 10 Uhr kamen wir dann in München an. Der Busfahrer erinnerte jeden noch einmal daran, wann wir uns hier wieder einzufinden hätten.

 

Um 12 Uhr sollte der Anstich sein. Genug Zeit also, um gemütlich in Richtung des Zeltes zu schlendern, in dem das Ereignis stattfinden sollte. Dort angekommen, sahen wir schon eine enorme Menschenmenge, die sich vor dem Zelt versammelt hatte.

„Vielleicht haben sie noch nicht geöffnet“, mutmaßte meine Frau.

Doch als wir uns näherten, sahen wir den Grund des Menschenauflaufs. Ein großes Schild klärte uns auf: „Wegen Überfüllung geschlossen.“

„Na, sauber“, sagte ich, „Und jetzt?“

„Shopping!“ kam postwendend die Antwort meiner Tochter. Wir mussten ihr zustimmen. Es machte keinen Sinn, von jetzt, bis spät Abends auf diesem Festplatz rum zu lungern. Wenn wir schon mal in München waren, konnten wir uns auch mal die Stadt ansehen.

Wir verließen also die Wiesn und machten uns auf den Weg in die Innenstadt. Mein Sohn blieb am Bordstein stehen und sah nach links und rechts und wieder nach links. Ich wusste nicht, wonach er schaut und fragte ihn deshalb.

„Wartest du, bis der gestrige Tag vorbei kommt, oder was?“

„Ich schau nach einem Taxi“, war seine Antwort. „Ein Taxi“, rief ich, „wozu hat dir der Herr zwei gesunde Beine gegeben? Wir laufen.“

Ich fand, der kurze Abstecher in die Stadt war eine gute Idee, doch für meine beiden Damen musste der Bummel durch die Kaufhäuser die Hölle gewesen sein. Alles, was sie kaufen wollten, müssten sie ja bis zum Abend mit sich herumschleppen.

Jedenfalls sahen wir den Bieranstich dann doch noch live. Auf einem Großbildfernseher in einem Kaufhaus.

Als wir unseren Stadtausflug beendet hatten, gingen wir zurück zur Wiesn. Mein Sohn wollte endlich mit der Achterbahn fahren. Meine Tochter war noch zu klein dafür, was uns eine Messlatte am Eingang verriet. Also stellten nur mein Sohn und ich uns der Gefahr, wie echte Männer. Kaum hatte ich mich in den engen Sportsitz eingefädelt, schloss sich der Sicherheitsbügel mit einem beängstigenden zischenden Geräusch.

Was ich nicht wusste war, dass das keine her­kömmliche Achterbahn war, bei der die Wagen ruckelnd auf eine Anhöhe gezogen wurden, um sich dann todesmutig in die Tiefe zu stürzen. Nein! Dies war eine so genannte Katapultachterbahn. Bei der wirst du abgeschossen, so schnell schaust du nicht. Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes.

 

Die Beschleunigung beim Start der Wagen drückte mich dermaßen in die Rückenlehne, dass ich dachte, man würde uns auf den Mond schießen. Ich wusste nicht, wie viele Schrauben, Wellen oder Loopings wir durchrasten. Ich wusste nicht, was oben und unten war. Ich wusste noch nicht einmal mehr, in welcher Stadt wir uns befanden, als die Wagen so abrupt bremsten, dass ich dachte, der Sicherheitsbügel würde mir einige Rippen brechen.

Als ich ziemlich benommen und umständlich aus­stieg, lachte mein Sohn.

„Na wie war's?“, wollte er wissen.

„In so ein Höllending kriegst du mich mein ganzes Leben nicht mehr rein!“, antwortete ich.

Doch zum Ausruhen war keine Zeit. Denn schon hatte mich meine Tochter an der Hand und zerrte mich zur gegenüber liegenden Geisterbahn. In diesem Fahrgeschäft schloss sich der Bügel nicht zischend, man musste ihn manuell schließen.

„Wenigstens werden wir da nicht rein geschossen“, bemerkte ich, als wir auch schon in die Finsternis der Schattenwelt eintauchten.

Bei jedem gruseligem Pappkamerad, der uns entgegen sprang, stieß meine Tochter einen gellenden Schrei aus. Dabei hielt sie die ganze Zeit meine Hand. Am Ende dachte ich, meine Hand wäre in einen Schraubstock geraten.

Endlich waren unsere Seelen erlöst und der von einem Teufel geschobene Wagen hielt polternd an der frischen Luft des Oktoberfestes.

„Ich will noch mal!“, rief meine Tochter begeistert, als wir das Fahrgeschäft verließen.

„Aber du hattest da drin doch Angst“, entgegnete ich, während ich meine Hand schüttelte, um wieder etwas Gefühl rein zu kriegen.

„Nö“, antwortete sie.

„Aber warum hast du dann geschrien wie am Spieß?“

Sie lächelte, „Na, weils Spaß gemacht hat.“ Weibliche Logik, sag ich da nur.

 

Aber es gab ja noch so viel zu sehen. Meiner Tochter kaufte ich noch ihre Zuckerwatte, meinem Sohn Popcorn, meiner Frau ein Lebkuchenherz mit irgend­einem sinnfreien Spruch und mir eine 500g Tüte gebrannte Mandeln. Ich brauche immer gebrannte Mandeln, wenn ich auf einer Kirmes bin. Das ist ein Naturgesetz.

Dann betraten wir den Himmel der Bayern. So jedenfalls stand es auf einem großen Schild über der Bühne des Festzeltes. Es war eines der wenigen Zelte, die nicht wegen Überfüllung geschlossen waren, aber es herrschte doch ziemliches Gedränge. Mühsam kämpften wir uns durch die Reihen, als ich eine Gruppe Jugendlicher sah, die Anstalten machten, ihren Tisch zu verlassen.

„Da wird was frei!“, teilte ich meiner Familie mit und lotste sie zu dem frei werdenden Tisch. Ein sich im mittleren Alter befindliches Paar verblieb noch sitzen, deshalb fragte ich höflich, ob diese Plätze noch frei seien.

„Jo, freili!“, war die Antwort des stilecht in Lederhose, Trachtenjacke und Gamsbarthut gekleideten Mannes. Seine Frau im feschen Dirndl, lächelte uns freundlich zu, während wir Platz nahmen.

Die Bedienung nahm die leeren Krüge unserer Vorgänger mit und unsere Bestellung auf. Ich bestellte zwei Maß Bier für mich und meine Frau, eine Maß Spezi, also das beliebte Cola-Orangensaft Misch­getränk, für meinen Sohn und eine Limo für meine Tochter.

Erstaunlich kurze Zeit später kam sie mit einer enormen Menge Maßkrüge im Arm zurück und stellte diese knallend auf den Tisch, während sie mir die Summe, die ich für die Getränke zu zahlen hätte, ins Ohr brüllte. Inzwischen schleuderte nämlich die Kapelle auf der Bühne ein ohrenbetäubendes 'Prosit der Gemütlichkeit' durchs Zelt. Ich blätterte die Euros auf den Tisch, die wir sonst nicht mal in einer Woche für Getränke ausgaben.

Nachdem sie uns unsere Getränke hingeschoben hatte, nahm sie den Rest der Maßkrüge wieder an sich, um sie an andere Gäste zu verteilen. Auch unser bayuwarischer Sitznachbar hatte eine frische Maß erhalten und prostete uns zu. Klirrend begegneten sich unsere Krüge und der erste Schluck kühles Oktoberfestbier rann unsere Kehlen hinab.

 

Inzwischen hatte ein weiteres Paar, das eindeutig dem schwäbischem Volksstamm zu zuordnen war, die noch verbleibenden zwei Plätze an unserem Tisch entdeckt und nahm Platz. Die Kapelle spielte deutsche Schlager aus längst vergangenen Tagen, wahrscheinlich um das Zelt von den ganzen Jugendlichen zu befreien, denn auch meine Kinder wollten sich lieber noch mal den Festplatz ohne ihre Erziehungsberechtigten ansehen.

 

Nach einem erneutem „Prosit der Gemütlichkeit“ verabschiedete sich die Kapelle in eine kurze Pause. Die Bedienung kam mit einem Arm voll leerer Krüge und einem „Kim glei!“, das an die Neuankömmlinge an unserem Tisch gerichtet war, vorbei gehuscht.

Wenig später kam sie dann wieder vorbei, um die Bestellung der beiden Schwaben auf zu nehmen. Der Mann orderte eine Maß Bier und seine Frau fragte ganz freundlich: „Ham se au a Glas Wasser?“

Mein bayrischer Nachbar lachte schallend. „Wennst a Wasser saufn willst, gehst and Isar,“ meinte er.

Seine Frau knuffte ihn mit dem Ellbogen in die Seite, womit sie ihm wohl zu verstehen gab, dass er sich mit seinen Äußerungen etwas zurück halten sollte. Die Schwäbin tat aber so, als hätte sie diese Bemerkung überhört.

Schließlich hatte die Kapelle ihre Pause beendet und kam als Rockband wieder. Einige hatten ihre Blasinstrumente gegen E-Gitarren ausgetauscht und kündigten an, dass sie nun einige Songs der 'Spider Murphey Gang', einer Münchner Band, spielen werden. Schon als die ersten Klänge des Gitarrenintros von „Skandal im Sperrbezirk“ das Zelt erbeben ließen, standen die ersten Gäste auf den Bänken und klatschten im Rhythmus mit.

 

Auch meinen bayrischen Freund, der anscheinend schon einigen dieser Maßkrüge den Garaus gemacht hatte, hielt es nicht länger auf seinem Sitz. Umständlich kletterte er auf die Bank und klatschte und stampfte zum Takt der Musik, dass ich dachte, gleich würde die Bank durchkrachen und wir würden Bekanntschaft mit dem harten Bierzeltboden machen. Doch bayrische Bierbänke halten anscheinend einiges aus.

 

Inzwischen kamen auch unsere Kinder zurück. Meine Tochter hatte Glück an der Losbude, sie hatte eine Captain Kitty Plüschfigur im Arm. Sie setzte die weiße Stoffkatze vor sich auf den Tisch. Als mich der Typ mit seiner Augenklappe, dem Knopfauge und dem aufgestickten Lächeln angrinste, kam mir der Kerl irgendwie suspekt vor. Irgendwoher kam er mir bekannt vor, ich wusste nur im Moment nicht woher.

 

Außerdem waren sie noch mal in der Geisterbahn. Ich erkannte es daran, weil mein Sohn seine Hand schüttelte, um wieder Gefühl rein zu bekommen Als die Band „Sommer in der Stadt“ spielte, standen fast alle Gäste auf den Bänken und sangen oder lallten - je nach Verfassung - den Song mit. Schräg gegenüber von uns tanzten sogar zwei junge Damen in feschen Minidirndln auf dem Tisch. Ein Blick von meiner Frau sagte mir aber, dass mich die zwei bayrischen Grazien nicht weiter zu interessieren hätten.

 

Außerdem war es schon ziemlich spät und wir mussten uns auf den Weg machen, wenn wir den Bus nicht verpassen wollten. Als wir das Zelt verließen, spielte die Band, wie zum Abschied, noch einmal das „Prosit der Gemütlichkeit“. Nur diesmal in der Hardrockversion.

 

Ein letztes Mal schlenderten wir über den nun bunt glitzernden und leuchtenden Festplatz, der in eine vielstimmige Melodie getaucht war. Wir stiegen in unseren Bus ein, der uns sanft nach Hause schaukelte. Unsere Kinder waren so müde, dass sie gleich in ihre Zimmer verschwanden, während meine Frau und ich den Tag noch bei einem Glas Wein Revue passieren ließen.

Dann gingen auch wir zu Bett. Und ich träumte noch lange von 'Overthrill und Zuckerwatte'.

 

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