Sawatzki, Andrea Ihr seid natürlich eingeladen

PIPER

Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.de

ISBN 978-3-492-97539-1

Oktober 2016

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016

Covergestaltung: Favoritbüro, München

Covermotiv: Paul Viant RF / Getty Images

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.

1.

Kapitel

»Mami?«

»Rolfi! Schön, dass du anrufst! Wie geht es dir?«

»Gut. Und euch?«

»Wunderbar, mein Schatz. Wann kommst du mal wieder nach Hause? Hast du schon Heimweh nach uns?«

»Mami, ich bin neunzehn.«

»Eben deswegen. Du bist erst neunzehn. Ich weiß gar nicht mehr, wie du aussiehst.«

»Mami, das ist doch Quatsch!«

»Na ja, vielleicht ein bisschen übertrieben. Aber sag doch mal, wie geht es dir denn?«

»Gut. Hab ich doch schon gesagt. Und ich habe eine super Neuigkeit für euch.«

»Aha?« Was konnte das sein? Blieb er für immer in L. A.? Hoffentlich klang ich nicht zu skeptisch.

»Ein Mädchen.«

Ein Mädchen? Was hatte das zu bedeuten?

»Wie bitte?«

»Es wird ein Mädchen.«

»Was wird ein Mädchen?«

»Du wirst Oma.«

Ich spürte, wie mein Puls sich beschleunigte. Ein schrilles Piepsen in meinem Kopf kündigte einen Tinnitus an.

»Mami?«

Ich zog mir einen Küchenstuhl heran und sank darauf nieder.

»Mami? Was ist denn? Freust du dich nicht?«

»Was hast du da gerade gesagt?«

»Wir bekommen ein Kind.«

Ich schluckte. Wir?

»Wer wir? Rolfi, jetzt lass dir doch nicht jeden Satz aus der Nase ziehen.«

»Candy und ich.«

Rolfi hatte mir noch nie von einer Candy erzählt. »Wer ist Candy?«

»Meine Freundin. Das heißt, jetzt ist sie noch meine Freundin, aber wir wollen heiraten. Am besten würde uns allen Mitte Juni passen, da haben wir Semesterferien. Und außerdem ist das Kind da noch nicht geboren. Dann kann es später in einer richtigen Familie aufwachsen, das ist Candys Eltern sehr wichtig.«

Mir wurde heiß und kalt.

»Ach, ihre Eltern wissen es schon länger?«

»Ja, klar, die leben ja schließlich hier.«

Hörte ich da einen Vorwurf in seiner Stimme? Ich biss mir auf die Zunge. »Ach so. Natürlich.«

Meine schweißnasse Hand umklammerte das Telefon. Jetzt nur ruhig bleiben. Sachlich. Mütter sollten in schwierigen Situationen ruhig und sachlich bleiben. Der Fels in der Brandung sein. Ich hörte mich sagen:

»Und wie sind die Eltern so?« Wie konnten die das so einfach durchgehen lassen? Musste man hier nicht mehr Verantwortungsbewusstsein zeigen?

»Nett.«

»Aha. Und die sprechen Englisch, ja?«

»Ja, nein, nicht alle.«

»Was heißt das, was sprechen sie denn dann?«

»Der Vater Englisch, die Mutter Chinesisch. Die ist aber nur die Stiefmutter oder die Nanny oder was weiß ich.«

»Die Nanny von wem?«

»Von Candy.«

»Ist Candy nicht in deinem Alter?«

»Doch, natürlich.«

»Wieso braucht sie dann eine Nanny?«

»Keine Ahnung, ich blick da nicht so durch. Kannst sie ja dann selber fragen … Vielleicht ist sie auch von früher übrig geblieben. Ist doch auch nicht so wichtig.«

Aber ich ließ nicht locker. Mir war das schon wichtig. Wer war diese Candy? »Wie … übrig geblieben? Was meinst du denn damit?«

»Aus Candys Kindheit. Ich weiß es nicht, Mami.«

»Also sind die Eltern gar nicht zusammen?« Ich hatte so viele Fragen.

»Keine Ahnung. Aber sie wohnen zusammen in einem Haus.«

»Das ist doch komisch, findest du nicht? Ein Paar, das gar kein Paar ist und dann noch zusammenwohnt …?«

»Mami, echt, ich weiß es nicht. Ich bin ja auch nicht mit den Eltern zusammen, sondern mit Candy.«

»Ja …Und wie stellst du dir das jetzt alles vor? Ich meine, wo soll die Feier denn stattfinden?«

»Am besten bei euch, dann müsst ihr die teuren Flüge nicht zahlen.«

»Das ist aber lieb von dir, Rolfi, dass du so an uns denkst.«

Rolfi studierte nämlich inzwischen in Los Angeles. Medizin. An der UCLA. Ich bewunderte ihn sehr dafür. In einer Fremdsprache zu studieren ist kein Leichtes.

»Außerdem möchte Candy meine Freunde kennenlernen und sehen, wo ich gelebt habe.«

Augenblicklich schmolz ich dahin. »Aber natürlich! Und deine Familie, deine Geschwister, Papi und mich …«

»Genau. Aber euch lernt sie ja sowieso kennen.«

»Ja, das lässt sich wohl nicht verhindern.« Ich biss mir auf die Zunge, weil mir auffiel, dass ich schon wieder wie meine Mutter klang.

»Mami, jetzt schnapp nicht gleich wieder ein …«

»Ich schnappe gar nicht ein. Ich mag nur nicht, wenn du so mit mir redest.«

»Wie denn?«

»Als wären wir dir überhaupt nicht wichtig.«

»Das habe ich doch überhaupt nicht gesagt.«

»Ja, aber es hört sich für mich so an. Tut mir leid. Warum stellst du mich auch vor vollendete Tatsachen?«

»Wieso bist du denn jetzt so aggressiv? Freu dich doch auch mal für mich.«

»Erstens: Ich bin nicht aggressiv! Du bist aggressiv. Obwohl du gar kein Recht dazu hast. Ich meine, entschuldige mal, Rolf, ich muss das ja auch erst mal verdauen. Du bist erst neunzehn! Und zweitens: Worüber soll ich mich bitte freuen? Du bist erst neunzehn.«

»Eben. Ich bin volljährig. Ich kann mit meinem Leben machen, was ich will. Und ich kann so viele Kinder in die Welt setzen, wie ich lustig bin. Pass auf, Mami, verdau erst mal. Ich melde mich später wieder.«

Damit legte er auf. Ohne einen Gruß. Mein schlechtes Gewissen war grenzenlos. Und ich war wütend. Wie konnte er mich so überrumpeln?

Ich weiß nicht, wie lange ich auf meinem Küchenstuhl saß. Irgendwann kamen Gulliver und Othello in die Küche, blieben vor mir stehen und sahen mich an. Aus ihren Hundeaugen sprach tiefe Anteilnahme, und irgendwann legte Gulliver mir seine Schnauze auf die Schulter, was ihm nicht weiter schwerfällt, weil er eine Dogge ist. Othello leckte meine Füße und versuchte dann, mir die Socken auszuziehen.

Wie auf Knopfdruck löste sich der Knoten in meinem Kopf, und ich heulte los. Gulliver trat einen Schritt zurück und betrachtete mich wieder. Dann gähnte er ausgiebig und schlich zurück in den Flur. Nicht mal Gulliver hatte Verständnis für meine Gefühle! Unser Dackel warf mir noch einen verächtlichen Blick zu, dann trabte er geschäftig hinter seinem Artgenossen her.

Ich schleppte mich zur Couch im Wohnzimmer und sackte dort zusammen.

Mein neunzehnjähriger Sohn wollte eine Frau heiraten, die ich überhaupt nicht kannte. Eine Fremde! Mit fremdem Familienanhang. Und dann bekamen die beiden auch noch ein Baby. Hätte ich ihn nur nie nach Amerika gehen lassen! Ich wusste von Anfang an, dass das nicht gut für Rolfs Geisteszustand sein würde. Wahrscheinlich hatte ihm diese Candy einfach den Kopf verdreht. Urplötzlich erschien vor meinem inneren Auge die junge Pamela Anderson. Sie hatte nichts an außer ihrem kleinen Bikini. Mit wogenden Brüsten tänzelte sie an Rolfi vorbei, der gerade an seiner Abschlussarbeit für die Universität schrieb. Wie unter Drogen erhob er sich, ließ alles stehen und liegen und folgte Pamela an den Strand, um mit ihr eine Familie zu gründen.

Ich schüttelte den Kopf, um die schrecklichen Bilder zu vertreiben.

Zumindest hatte ich herausgefunden, dass Candys Vater Amerikaner und seine zweite Frau Chinesin war. Also sozusagen Candys Stiefmutter.

Was sollte ich nur machen, wenn die alle herkamen: Mein Englisch reicht gerade mal, um nach dem Weg zu fragen, und Chinesisch spreche ich gar nicht. Aber wer spricht schon Chinesisch? Das ist eine völlig überflüssige Sprache. Kein Mensch außer chinesischen Touristen spricht bei uns Chinesisch. Ich habe mich jedenfalls noch nie für die chinesische Kultur interessiert. In chinesischen Restaurants sollen ja lebende Affen serviert werden, denen man vor den Gästen den Schädel abschlägt. Hab ich mal gelesen. Dann löffelt man das noch warme Affenhirn aus der Hirnschale. Mein Magen krampfte sich bei dieser Vorstellung zusammen, und meine Ohren summten.

Aus dem Flur ertönte ein zaghaftes Fiepsen. Gulliver und Othello mussten raus. Ich erhob mich seufzend aus den Polstern und trottete nach draußen, um mir den Mantel anzuziehen.

Ein bisschen frische Luft würde mir jetzt guttun!

2.

Kapitel

»Ist doch cool.« Ricarda biss in ihre Möhre. Sie machte gerade eine Rohkostkur.

Matz kämpfte mit seinen Nudeln. »Also, ich find’s scheiße. Wenn das Baby da ist, bin ich schon elf. Da kann ich ja gar nichts mit anfangen.«

»Babys, die elfjährig geboren werden, gibt es noch nicht, du Schwachmat!«

Ricarda verdrehte die Augen, während sie versuchte, die Möhre im Mund zu zerkleinern.

»Ricarda, würdest du bitte aufhören, bei Tisch so zu reden?«

Wenn jetzt noch die Kinder einen Streit vom Zaun brachen, würde ich einen Nervenzusammenbruch bekommen. Ich spürte es ganz deutlich. Meine Augenlider vibrierten. Das tun sie immer, bevor ich kollabiere.

»Ist das bio?«

»Was ist bio?«

»Die Möhren, die schmecken nach Gift.«

»Dann iss was anderes.«

»Ich kann nichts anderes essen, Mami. Ich mache eine Rohkostkur! Schon vergessen?«

»Dann iss deine Möhren, und beschwer dich nicht. Für mich ist es auch nicht leicht, deine ständigen Marotten mitzumachen.«

Hitze stieg mir in den Kopf, und es rauschte in meinen Ohren.

»Ey, ich hab nur gefragt, ob das bio ist. Ich hab keine Lust, an Krebs zu krepieren!«

»So, jetzt ist verdammt noch mal endlich Ruhe! Das ist ja nicht zum Aushalten! Iss deine verdammten Möhren, und halt den Mund, das ist ja unerträglich heute!«

Gerald war aus seiner Lethargie erwacht und schrie so laut, dass es selbst das Rauschen in meinen Ohren übertönte.

»Gerald, würdest du dich bitte zusammenreißen? Wir sind doch nicht schwerhörig.«

»Ich geh auf mein Zimmer, das ist mir echt zu viel hier«, sagte Ricarda pampig und stand vom Tisch auf.

»Ricarda, nimm bitte dein Gemüse mit. Das wird welk, wenn es jetzt nicht gegessen wird«, rief ich ihr nach.

Ricarda drehte sich in der Tür noch mal zu mir um. »Ach, um dein Gemüse machst du dir Sorgen, ja? Aber wenn ich an Krebs krepiere, weil das alles kein bio ist, ist dir das egal, ja?« Damit wandte sie sich ab und knallte die Tür hinter sich zu.

Gerald sah mich an. »Und das lässt du zu?«

»Du doch auch, Gerald, oder hab ich deine Antwort überhört?«

»Das ist mir hier alles zu blöde.« Auch Gerald stand auf und pfefferte die Serviette auf den Tisch. »Ich muss noch ein paar Unterlagen fürs Amt durchsehen.«

»Nein, Gerald. Du setzt dich jetzt bitte wieder hin und redest mit mir darüber, wie wir das mit der Hochzeit machen sollen.«

Er sah mich aus müden Augen an. Dann holte er tief Luft und ließ sich wieder auf den Stuhl fallen. »Das ist mir alles zu viel, Gundula. Wenn ich von der Arbeit nach Hause komme, möchte ich mich ausruhen. Ich habe schließlich einen anstrengenden Tag hinter mir.«

»Ich auch, Gerald. Ich auch.«

Er stieß laut hörbar Luft durch die Nase aus, setzte sich dann aber wieder an den Tisch und aß schweigend weiter. Irgendwann fasste ich mir ein Herz und erzählte meiner Familie am Abendbrottisch von Rolfis schrecklichem Geständnis. Gerald erhob das Gesicht zur Decke und sah aus, als würde er ein Stoßgebet zum lieben Gott schicken. Wenn Sie mich fragen, ein bisschen sehr theatralisch, so schlimm war das ja nun auch wieder nicht. Aber so ist es immer mit Gerald. Er übertreibt manchmal maßlos. Vielleicht wäre es wirklich besser für ihn gewesen, seine Schlagerkarriere weiterzuverfolgen, anstatt im Finanzamt zu versauern. Dann hätte er täglich die Gelegenheit, seinen Gefühlen auf der Bühne freien Lauf zu lassen, und müsste sie nicht am Abendbrottisch ausleben.

»Wieso müsst ihr jeden Tag streiten?« Matz hielt immer noch die Gabel mit den Nudeln in die Luft und betrachtete uns unglücklich.

Ich strich ihm die Haare aus der Stirn. »Matz, wir streiten nicht, wir diskutieren. Das fällt bei Erwachsenen manchmal etwas heftiger aus.«

»Aber wieso schreit ihr immer? Ihr könnt doch auch normal reden.«

Ich sah zu Gerald, der die Nudeln auf seinem Teller betrachtete, als wären sie vom Aussterben bedrohte indonesische Fadenwürmer. Strongylidae indonesiae.

Dann griff er seufzend zur Gabel und ging zum Angriff über.

»Gerald, sag doch auch mal was.«

Er blickte auf. »Hm?«

Ich nickte ihm aufmunternd zu. »Deine Mutter und ich, wir sind eben sehr impulsiv …« Er grinste schief und zwinkerte Matz zu. Das wirkte fast wie ein Eingeständnis von Schuld. Aber ich wollte nicht sofort einlenken und sagte:»Ja, und dein Vater ist ein richtiger Temperamentsbolzen.«

Gerald ließ die Gabel sinken, und die Spaghetti flutschten auf den Teller zurück.

»Gundula, höre ich da einen Unterton? Eine minimale Disharmonie? Eine winzige Verstimmung?«

»Ach Gerald, hör schon auf. Ich würde jetzt wirklich gern über Rolfis Zukunft reden.«

»Dem steht doch nichts im Weg, Liebes. Schieß los.«

3.

Kapitel

»Du kennst sie nicht?«

»Nein, Mutti. Sie lebt in Los Angeles. Wo sollte ich sie denn kennengelernt haben, Herrgott noch mal?«

»Und was machen ihre Eltern?«

»Keine Ahnung, die kenne ich doch auch nicht.«

»Gundula, bitte … Ich meine, welchen Hintergrund hat die Familie? Sind das anständige Leute?«

»Mutti, ich weiß es nicht. Wir lassen das einfach auf uns zukommen.«

»Gundula, ich sage dir nur eins: Das kannst du nicht zulassen. Das wird schiefgehen, hör auf meine Worte. Du kannst nicht zulassen, dass Rolf sich eine wildfremde Person zur Frau nimmt! Und dann auch noch eine schwangere!«

»Mutti, schwanger war sie ja nicht immer schon, daran hat er ja schließlich auch seinen Anteil.«

»Das ist doch völlig egal. So junge Leute haben keine Zukunft, wenn da so früh ein Kind im Weg ist. Ich weiß, wovon ich rede. Ich war damals auch noch viel zu jung, als ihr geboren wurdet.«

»Du warst vierundzwanzig, als ich kam, Mutti.«

»Eben. Mein ganzes Leben hat das über den Haufen geworfen. Ich war Hausfrau und Mutter. Das habe ich gern gemacht, für euch, natürlich, denn das ist ja die Aufgabe der Frau, für die Nachkommen zu sorgen. Aber ich selbst hatte nicht viel davon. Und es dankt dir später keiner, dass man sein Leben geopfert hat. Übrigens war ich dreiundzwanzig, als du kamst.«

Ich schluckte. Warum konnte ich eigentlich nie mit meiner Mutter reden, ohne eins reingewürgt zu bekommen?

»Na ja, es gab aber hoffentlich auch schöne Momente, als wir klein waren.«

»Natürlich! Aber wenn ich an diese ganzen Kinderkrankheiten denke, Gott steh mir bei. Ihr hattet nun wirklich alles, was man sich nur vorstellen kann. Gegen den Brechdurchfall, den du mal drei Tage lang hattest, waren die Läuse Kinkerlitzchen. Obwohl ich danach das ganze Haus desinfizieren musste.«

»Ja, Mutti. Schlimm, ich weiß. Unsere Kinder hatten auch schon mal Läuse.«

»Das kannst du dir gar nicht vorstellen, wie schlimm das war. Ihr hattet sie beide! Gleichzeitig! Heute gibt es ja Mittel, die man schon aufsprühen kann, bevor die Läuse kommen. Dann ist man ja schon gewappnet. Früher wurden wir vor vollendete Tatsachen gestellt. Da half nur noch Ammoniak.«

»Ich weiß …« Ich erinnere mich ungern an meine Läusezeit. Meine Mutter steckte meinen Bruder und mich dann zusammen in die Badewanne und schüttete uns Ammoniak über den Kopf, bis uns übel wurde. Die Augen brannten wie Feuer, die Kopfhaut löste sich fast ab, und nach der halbstündigen Einwirkzeit war das Badewasser irgendwann ganz schön kalt. Kein Wunder, dass mein Bruder sich zu einem Hypochonder entwickelt hat. Er war pausenlos krank. Auf die Läuse folgte eine Erkältung und darauf eine Salmonellenvergiftung, weil meine Mutter ihn mit gequirlten rohen Eiern fütterte, um dem geschwächten Körper die notwendigen Nährstoffe zuzuführen.

Die Stimme meiner Mutter holte mich in die Realität zurück.

»Gundula?«

»Ja?«

»Ich habe dich gefragt, was du jetzt vorhast.«

»Ich plane die Hochzeit, Mutti. Was soll ich sonst machen? Die findet im Juni statt – ihr seid natürlich herzlich eingeladen.«

4.

Kapitel

»Wie sieht sie aus?«

»Das weiß ich nicht, Susanne. Ich kenne sie noch nicht.«

»Aber du musst doch wissen, wie sie aussieht?«

»Rolf sagt, sie sei sehr hübsch.«

»Das sagen sie alle am Anfang. Die Frage ist, ob sich das auch hält. Immerhin muss sie Rolf ja noch für die nächsten hundert Jahre gefallen. Da braucht man gute Gene, sonst geht die Ehe gleich in den ersten Jahren den Bach runter. Und was ist mit der Familie, haben die Geld?«

»Ich weiß es nicht, Susanne. Wirklich, ich habe keine Ahnung. Aber der Vater hat wohl einen Imbiss. Oder einen Autoverleih, das hab ich jetzt nicht so präsent.«

»Das muss man doch wissen!«

»Es gibt ja noch andere Aspekte …«

»O Gott«, rief meine Schwiegermutter aus. »So ein Nudelverkäufer von der Straße. Die habe ich auf meiner Chinareise zuhauf gesehen. Die haben so einen Bauchladen mit Nudeln drin. Oder Heuschrecken oder Würmer. Die verdienen doch nichts!«

»Der Vater ist kein Chinese, nur die Stiefmutter. Und sie leben in Los Angeles, nicht in China. Außerdem – wir müssen Candy ja nicht heiraten.«

»Wie heißt die?«

»Candy.«

»Candy ist kein Name, das ist eine Unterwäschemarke.«

»Keine Ahnung. So heißt sie jedenfalls.«

»Ach nein, da hab ich was verwechselt. Das ist so ein Fitnessding von Madonna. Aber ein richtiger Name ist das jedenfalls nicht. Vor allem heißen Chinesen nicht Candy.«

»Sie ist ja auch keine Chinesin. Nur ihre Stiefmutter. Candy ist Amerikanerin.«

Aber Susanne hörte nicht zu und redete einfach weiter.

»Vielleicht haben wir ja noch mal Glück gehabt, und es liegt eine Verwechslung vor. Das sind in Wirklichkeit gar keine Chinesen …«

»Sie ist ja auch keine«, wiederholte ich und sah auf die Uhr. »Nur die Stiefmutter. Der Vater heißt Reginald.«

»Da fällt mir aber ein Stein vom Herzen. Und wie heißt die Stiefmutter?«

»Haneu oder so ähnlich.«

»Ist das nicht Schwäbisch?«

»Keine Ahnung.«

»Vielleicht ist die Mutter ja sogar Deutsche. Das wäre ein Segen.«

»Mmh.«

»Gundula, was bist du denn so einsilbig?«

»Bin ich doch gar nicht.«

»Doch, bist du.«

»Na ja, es geht ja jetzt auch nicht um die Eltern, sondern um Rolfi und seine Frau, das andere ergibt sich dann schon von selbst.«

»Also, ich weiß nicht, wie du es schaffst, so ruhig zu bleiben. Du musst auch mal an die Zukunft deines Sohnes denken. Das kann doch alles in einem Fiasko enden.«

Ich wartete darauf, dass sie mir erklären würde, woraus sie diese Erkenntnis gewonnen hatte, aber sie schwieg. Deshalb fragte ich:

»Wieso denn?«

»Weil du nicht vorausschauend bist, Gundula. Das warst du noch nie. Was haben die Kinder denn zu erwarten, wenn der Imbissverkäufer mal stirbt? Die meisten Imbissverkäufer, die ich kenne, sind bis über beide Ohren verschuldet.«

»Woher kennst du dich denn mit Imbissverkäufern aus?«

»Mallorca, Ibiza … da ist alles voll mit denen.«

Ich verstand immer noch nicht, worauf sie hinauswollte.

»Aber Rolf heiratet doch die Tochter …«

»Denk doch mal weiter, Kind, das ist ja furchtbar mit dir. Wenn der Vater mal stirbt, wird da nichts außer Schulden sein.«

»Na und?« Ich wurde plötzlich sehr müde. Sie fuhr unbeirrt fort:

»Rolfi ist, was seine Karriere betrifft, doch jetzt schon auf dem Abstellgleis …«

»Wieso das denn?«

»Weil er noch studiert und bald eine arbeitslose Frau und ein uneheliches Kind haben wird. Was hat er da in der Berufswelt noch für Chancen? Die Konkurrenz schläft nicht. Und deswegen wäre es ein schöner Gedanke gewesen, dass mal Geld fließt, wenn die Eltern sterben.«

»Ach so, das würde ja aber noch dauern.«

»Und von euch haben sie ja auch nicht viel zu erwarten, wenn ihr mal das Zeitliche segnet.«

»Das ist ja noch ein bisschen hin.«

Irgendwann musste sie doch mal durch sein mit dem Thema. Aber Susanne hatte sich gerade erst warm geredet.

»Und was zieht sie an? Diese Candy?«

»Keine Ahnung.«

»Ich habe eine Freundin auf Mallorca, die macht die schönsten Hochzeitskleider weit und breit. Teresa. Sie näht wahr gewordene Blütenträume, du fällst tot um, wenn du die siehst, versprochen. Teresa soll sich schon mal Gedanken machen. Welche Maße hat sie denn, die Kleine?«

»Weiß ich nicht.«

»Gott, Gundula, du weißt aber auch gar nichts.«

»Ich kann Rolfi mal fragen. Aber vielleicht möchte sich seine Frau das Kleid ja selber aussuchen.«

»Kann sie doch auch! Gibt doch Internet. Ich sage Teresa, sie soll mir ein paar Entwürfe mailen, und die leite ich dann weiter. Gib mir mal die Kontaktdaten von ihr.«

»Von wem?«

»Gott, von dieser Candy. Hörst du mir überhaupt zu?«

Meine Stimmbänder waren wie gelähmt. Aber sie brauchten auch nicht zu funktionieren, denn Susanne redete schon weiter.

»Ist auch egal, Liebes. Teresa kann dir dann auch gleich was mitschneidern, damit wir uns nicht blamieren. So Ausländer denken ja bei uns Deutschen immer nur an Kohlköpfe. Denen werden wir es zeigen! Wie sieht denn der Vater aus? Ist er klein? Chinesen sind immer so verdammt klein.«

»Er ist Amerikaner.«

»Wie kommt er denn da an eine Chinesin? Vielleicht leidet er ja unter Zwergenwuchs.«

»Wieso?«

»Weil alle Chinesen klein sind. Eine Chinesin kommt an einen normalen Mann doch gar nicht ran.«

»Susanne, bitte!«

»Von der Größe her. Hör mal, ich habe vor ein paar Jahren diese Rundreise durch China gemacht. Die waren da nicht besonders groß. Wie hat er sie denn jetzt kennengelernt?«

Susannes Worte strömten an mir vorbei, und da sie sowieso keine Antworten von mir erwartete, schaltete ich endgültig ab und überließ ich mich den Bildern meiner Fantasie.

Ich sah meine Schwiegermutter vor mir, die in einem riesigen rosafarbenen Tüllkleid und einem noch größeren Hut aus Spitze und Blumenranken die Kirchentreppen hinunterschwebt, um Candys Vater und seine Familie zu begrüßen. Candys Vater ist kleiner als sie und ganz dünn. Man sieht ihn kaum. Neben ihm stehen seine noch winzigere chinesische Frau, und Candy muss man sogar mit der Lupe suchen. Plötzlich steht Susanne vor dem Vater und reicht ihm schwungvoll die Hand zum Kuss. Der Mann verschwindet fast unter der Last eines Bauchladens, den er sich umgeschnallt hat. Nicht mal zur Hochzeit seiner Tochter nimmt er sich frei. Er ist sehr fleißig. In dem Bauchladen stapeln sich Mützen aus Hundefell und Schlüsselanhänger aus getrockneten Hundepfoten. Der Chinese Reginald schrumpft, plötzlich ist er so klein, dass man ihn kaum noch erkennen kann, aber das stört Susanne nicht, sie hebt ihn kurz hoch, um ihm einen Kuss auf den Mund zu geben. Dann stellt sie ihn wieder ab, und als sie sich bückt, um den Rest der Familie zu begrüßen, trifft ihn ihre Hutkrempe an der Schläfe, und er gleitet tot zu Boden. Schädelbruch.

»Gundula?«

»Ja?«

»Meine Güte, hörst du mir denn nie zu? Gib mir einfach sämtliche Daten, die du über diese Familie hast. Und dann werde ich mich im Internet schlaumachen, mit wem wir es da zu tun haben.«

Ich war zu erschöpft, um noch etwas erwidern zu können.

»Okay.«

»Weißt du was, Gundula?«

»Nein, Susanne.«

»Langsam freu mich sogar ein bisschen. Das kann schick werden, da begegnen sich ja auch fremde Kulturen. So musst du es auch mal sehen, nicht nur von der negativen Seite. Aber wenn ich dir einen Tipp geben darf: Du musst endlich mit den Vorbereitungen loslegen, damit das ein Fest wird, das allen in Erinnerung bleibt. Soll ich vielleicht vorbeikommen und dir helfen? Ich könnte das einrichten.«

5.

Kapitel

Ich weiß nicht, woher ich die Kraft nahm. Aber ich wählte sofort die nächste Nummer, die meines Bruders.

Seine Frau nahm ab. Rose. »Und wieso nicht in der Kirche?«

Ihre Telefonstimme zitterte.

»Weil sie das in Los Angeles machen.«

»Aber das ist doch nicht richtig. Wo bleiben wir denn da?«

»Wir feiern jetzt erst mal standesamtlich.«

»Also, Gundel, dann müssen der Hadi und ich noch mal darüber nachdenken, ob wir uns die teure Reise leisten können. Zu einer richtigen Hochzeit wären wir natürlich schon gern gekommen. Aber eine Hochzeit ohne Kirche ist ja keine richtige Hochzeit. So ohne Gottes Segen, und der Standesbeamte ist kein Pfarrer, der kann doch die Verantwortung für das junge Glück gar nicht übernehmen. Der ist ja nicht von Gott gesandt. Und das Kind, sagst du, wird nicht getauft?«

»Ich weiß es nicht, Rose. Es ist ja auch noch gar nicht auf der Welt.«

»Also, ich versteh euren Rolf nicht, dass er sich eine Frau aussucht, die so gar nicht gläubig ist. Ich mein, versteh mich nicht falsch. Der Hadi und ich, wir lassen allen Leuten ihre Rechte und ihre Freiheit, aber wenn es die eigene Familie betrifft, fühlt man sich ja schon irgendwie verantwortlich. Jeder weiß, dass standesamtliche Ehen schneller geschieden werden als die kirchlichen.«

»Rose, sie heiraten ja kirchlich. Aber erst später. Sie haben wohl zu viel Verwandtschaft, die konnten nicht alle mit nach Berlin kommen. Denen war sehr wichtig, dabei zu sein, wenn das Mädchen heiratet.«

»Aber uns ist es doch auch wichtig.«

»Rose, ihr könnt ja zur Hochzeit nach Amerika fliegen. Daran hindert euch doch keiner.«

»Das ist uns aber zu teuer.«

Langsam verließ mich nun doch die Kraft für ein längeres Gespräch. Außerdem war ich abgelenkt, weil Matz ununterbrochen an meinem Pullover herumzuppelte.

»Matz, lass das doch bitte, was willst du denn?«

»Ich hab Hunger.«

»Dann nimm dir was aus dem Kühlschrank.«

»Da ist nichts.«

»Gundel?«

»Ja, Rose?«

»Weißt du, das wäre halt auch mal eine Gelegenheit gewesen, Amerika näher kennenzulernen. Amerika war schon immer mein Traum. Aber das ist für normale Leute eben zu weit weg.«

»Ja.«

»Die haben da auch eine ganz andere Kultur, weißt du? Und nach China wollte ich auch schon immer. Das hätte man dann gleich miteinander verbinden können. Normalerweise müssen ja die Brauteltern für so was aufkommen.«

»Für was?« Ich kam nicht mehr mit.

»Dafür, die jungen Mädchen in die neuen Familien einzugliedern.«

»Das war früher so. Das ist inzwischen anders, Rose.«

Ich packte Matzens Hand, die immer noch an meinem Pullover herumriss.

»Matz, hör bitte auf, du leierst meinen Pulli aus.«

»Ich hab Hunger.«

»Herrgott, lass mich jetzt in Ruhe mit Tante Rose telefonieren, oder es setzt was.«

»Du bist blöd, Mama.«

»Gundel?«

»Ja, Rose.«

»Es geht mich ja nichts an, aber was hast du da gerade zum Matz gesagt?«

»Was? Weiß nicht, was hab ich denn gesagt?«

»Du hast gesagt: Es setzt was.«

»Da musst du dich verhört haben, Rose.«

»Gundel, es geht mich ja nichts an, aber man soll Kinder heutzutage nicht mehr hauen. Wenn du deinem Sohn mit Schlägen drohst, wird er das von dir übernehmen und irgendwann seine Mitschüler einschüchtern. Oder gar die Lehrer. Stell dir das vor. Das wird dann eine Spirale der Gewalt. Wir Erwachsenen sollen ja für die Kinder Vorbilder sein, damit sie sich nach uns strecken können und …«

»Rose, das weiß ich selbst.«

In Anbetracht der Tatsache, dass Rose selbst keine Kinder hat und wahrscheinlich nie welche haben wird, weil sie zu fett und zu alt und zu blöd ist, nahm sie den Mund ganz schön voll.

»Jetzt werd nicht gleich fuchsig, Gundel, ich meine das ja nur gut.«

»Danke, Rose, weiß ich doch. Kommt ihr also jetzt zur Hochzeit oder nicht? Ich frage nur wegen des Essens.«

»Na, essen werden wir wohl lieber nichts. Der Hadi hat es ja nicht so mit deiner Kost, und ich hab meine Probleme mit den Keimen, wenn nicht alles einwandfrei ist.«

Ich erinnerte mich an unser letztes Weihnachtsfest, zu dem Rose all ihre Mahlzeiten in Tupperware mitgebracht hatte, weil sie befürchtete, dass mein Essen verseucht sein könnte. Und Hadi musste ich mit Hundefutter ruhigstellen, weil er unter Laktose- und Weißmehlallergie leidet und ich außer Pizza nichts im Haus hatte. Das Hundefutter hat ihm übrigens gut geschmeckt. Mir wäre es sowieso lieber, wenn Hadi und Rose zu Hause blieben. Der Rest der Familie würde die Hochzeit schon anstrengend genug machen. Deshalb lenkte ich ein:

»Rose, ihr müsst nicht kommen. Ich kann das verstehen, wenn euch das alles zu viel wird. Überlegt es euch in Ruhe, und wir telefonieren morgen noch mal.«

»Also, wenn wir uns das Hotel sparen könnten, wäre es natürlich einfacher für uns. Dann müssten wir nur unser Essen und die Zugreise übernehmen.«

»Wir haben leider nicht so viel Platz, Rose. Ich weiß nicht genau, mit wie vielen Leuten die Familie anreist, aber die können wir schlecht alle ins Hotel abschieben …«

»Aber das versteh ich jetzt nicht, Gundel. Wir gehören doch auch zur Familie.«

»Ja, schon, aber die anderen dann ja auch.«

»Aber uns kennt ihr länger.«

Ich atmete tief durch. Wenn Rose sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, ließ sie nicht locker. Grauenhaft. Wie ein angegrauter Klammeraffe.

»Ich muss darüber nachdenken, Rose.«

In der Küche krachte es, und ich hörte Matz schreien.

»Ich ruf dich an!«, waren meine letzten Worte. Dann rannte ich los.

6.

Kapitel

Matz saß inmitten eines Schlachtfelds auf dem Boden und hielt sich den Arm. Er sah aus, als wäre er gerade aus einer Kläranlage geklettert, über und über mit dickflüssiger brauner Pampe beschmiert.

»Matz!« Ich ging neben ihm in die Knie und wischte seine Augen frei. Er öffnete sie und sah mich an.

»Was machst du denn, um Gottes willen?«

»Ich wollte mir einen Smoothie machen«, krächzte er mit tränenerstickter Stimme. Neben ihm lag der neue Mixer oder zumindest das, was von ihm übrig war. Ich hatte ihn mühsam mit meinen angesparten Treuepunkten beim Supermarkt erstanden.

»Scheiße«, rutschte es aus mir heraus. Dann hob ich das Teil hoch und inspizierte den Schaden. Außer dem Gehäuse war nicht mehr viel von ihm übrig. Das Glas war zerbrochen und nicht mehr zu gebrauchen.

»Scheiße darf man nicht sagen, Mami.«

»In Ausnahmesituationen darf man das sagen. Zumindest als Mutter.«

An den Wänden klebte Obstbrei, und ich bereute zutiefst, die Küche vor vier Wochen nicht mit abwaschbarer Farbe gestrichen zu haben, wie Susanne mir geraten hatte. Manchmal lag sie doch nicht so falsch.

»Oh, verdammt. Was für ein verf… Scheißtag.«

Ich watete zur Spüle und fischte einen Lappen unter Bananen- und Orangenschalen hervor, während ich Matz eine Standpauke hielt.

»Wie oft muss ich dir eigentlich noch sagen, dass du nicht an meine Küchengeräte gehen sollst? Du hast schon meine beste Pfanne und meine gute Küchenwaage auf dem Gewissen.«

»Ich wollte aber wissen, wie viel Gulliver wiegt.«

»Das kann ich dir sagen, Matz. Siebzig Kilo. Und die Küchenwaage ist ausgelegt für drei Kilo. Jedes Kind weiß, dass man eine Dogge nicht auf eine Küchenwaage setzen kann.«

»Andere Waagen gibt’s aber bei uns nicht.«

Das stimmte leider. Gerald hatte der Badezimmerwaage nach Weihnachten den Todesstoß versetzt, weil sie ihn angeblich schikanieren wollte.

Ich begann, die Pampe von den Wänden zu wischen.

»Komm, Matz. Steh auf, und stell dich unter die Dusche.«

»Ich glaub, ich hab mir den Arm gebrochen.«

»Dann ist es ja gut, dass du nicht auf den Händen laufen musst. Los jetzt.«

Matz erhob sich schwerfällig und trottete aus der Küche.

»Du bist überhaupt nicht lieb, Mami. Das ist alles nur passiert, weil du mir nichts zu essen gibst.«

Ich hielt kurz inne und blickte ihm nach. Er hat recht, schoss es mir durch den Kopf. Ich bin keine gute Mutter. Ich bin nicht lieb. Ich kaufe keinen Joghurt mit der Ecke und schaffe es nicht mal, die Hochzeit meines Sohnes zu organisieren. Andere Mütter würden sich darüber freuen.

Ich brauchte einen Plan.

7.

Kapitel

»Rolfi?«

»Ja, Mami.«

»Wie geht es dir, mein Großer? Alles gut?«

Es entstand eine kleine Pause, in der Rolfi zu überlegen schien, was der wahre Grund meines Anrufs sein könnte. Dann sagte er zögerlich: »Ja.«

»Freust du dich?«

»Ja.«

»Sag mal, kannst du mir kurz die Telefonnummer deiner Schwiegereltern geben?«

»Wozu?«

»Ich möchte persönlich mit ihnen reden und mich vorstellen.« Nach meinem Wocheneinkauf war ich jetzt in der Stimmung, gleich alles Unangenehme zu erledigen. Und dazu gehörte für mich auch dieser Anruf, der mir sprachlich einiges abverlangen würde.

»Du kannst doch überhaupt kein Englisch.« Konnte mein Sohn Gedanken lesen?

»Natürlich kann ich Englisch.«

»Seit wann?«

»Schon immer.«

Ich dachte an mein »Nice to meet you« und »How do you do«. Immerhin ein Anfang.

»Mami, lass mal lieber. Ich klär das alles und melde mich dann bei euch.«

»Warum denn? Ich muss mich doch persönlich vorstellen.«

»Musst du nicht.«

»Wieso muss ich nicht? Das macht man so.«

»Weiß nicht …Was sollen die denn von uns denken, wenn du da anrufst?«

Ich schluckte. So weit war es also schon gekommen. Rolfi schämte sich für seine eigene Mutter.

»Weißt du, du lernst sie doch auf der Hochzeit kennen. Das ist doch früh genug, und da kann ich dann übersetzen. Oder Ricky oder Papi.«

»Papis Englisch ist auch nicht besser als meines.«

»Doch. Papi kann Englisch. Papi hatte es sogar im Abitur.«

»Denkst du, auf der Realschule hatte ich keine Fremdsprachen?«

»Mami, das ist echt peinlich. Lass doch einfach Papi da anrufen.«

»Papi weiß gar nicht, worum es geht!«

»Dann erklär’s ihm. Ich muss jetzt los. Kolloquium.«

»Was?«

»Ich hab jetzt eine Vorlesung. Ich muss los.«

»Gibst du mir erst noch die Nummer?«

»Ich schick sie nachher dann Papi, muss jetzt los. Tschau!«

Es knackte in der Leitung, dann war er weg.

Lange saß ich da und starrte die Wand an. Dann stand ich auf und begann, meine Einkäufe in den Kühlschrank zu räumen. Zwanzig Joghurt mit der Ecke neben all den anderen Lebensmitteln in zwei Fächern unterzubringen ist gar nicht so einfach. Ich drückte und quetschte so lange herum, bis endlich alles passte. Rasch knallte ich die Tür zu, bevor alles herausfiel, und lehnte mich erschöpft dagegen.

Am Abend fragte ich Gerald, ob Rolfi ihm die Telefonnummer unserer zukünftigen Verwandten geschickt habe. Er habe sich schon gefragt, was er mit der Nummer solle, denn die Planung der Hochzeit habe ich ja übernommen, antwortete Gerald abwesend. Ich erzählte ihm empört, dass Rolfi ihm die Nummer geschickt habe, weil er mir ein Telefonat mit seinen amerikanischen Schwiegereltern nicht zutraue.

Augenblicklich schwoll Geralds Brustkorb auf den doppelten Umfang an.

»Na schön, dann muss ich mich wohl darum kümmern.«

Wieso widersprach er Rolfi nicht? Unfassbar. Aber so leicht wollte ich es ihm nicht machen. »Und was willst du denen sagen?«

»Dass sie sich wegen der Hochzeit bei dir melden sollen.«

»Gerald …«

Er blickte von seiner Zeitung auf. Zum Feierabend setzt er sich gern in seinen Ohrensessel im Wohnzimmer und informiert sich ausgiebig über das Weltgeschehen. Dann ist nicht mehr viel mit ihm anzufangen.

»Was?«

»Hörst du mir denn nie zu?«

»Doch, natürlich, liebe Gundula.«

Gerald spürt instinktiv, wenn meine Geduld nur noch an einem seidenen Fädchen hängt. Deshalb setzte er sich aufrecht hin und nahm die Lesebrille ab.

Er betrachtete seine Hände, während er bedächtig den Kopf hin- und herwiegte. Dann sagte er endlich:

»Stimmt. Deine Englischkenntnisse sind wirklich nicht überragend.«

Ich schluckte meinen Stolz hinunter. »Pass auf, Gerald. Du rufst diese Leute jetzt an und schaltest auf Lautsprecher, ich flüstere dir auf Deutsch zu, was du sagen sollst, und du sagst es einfach auf Englisch.«

»So machen wir’s. Gib mir das Telefon.«

Ich lief zur Anrichte, holte den Apparat und überreichte ihn Gerald.

»Nummer?«, war sein einziger Kommentar, während er seine Lesebrille wieder aufsetzte und zurechtrückte. Dann räusperte er sich vernehmlich und sah mich erwartungsvoll an. Waren wir hier im Krankenhaus, war ich die OP-Schwester, die auf »Tupfer« reagiert und ihm das Instrument anreicht?

»Hallo, Gundula, jemand zu Hause? Die Nummer bitte!«

»Die Nummer hab ich nicht.«

Manchmal leidet Gerald unter akuter Verkalkung.

»Gerald. Darum geht es doch die ganze Zeit. Die Nummer hast du, weil Rolfi sich nicht mit mir blamieren wollte.«

»Ach ja, stimmt. Hol mir mal das Handy aus meiner Aktentasche.«

Ich lief in den Flur und kramte das Handy hervor. Dann ging ich zurück ins Wohnzimmer und hielt es Gerald hin.

»Gundula, ich kann nicht alles gleichzeitig. Tipp meinen Code ein, und such Rolfs letzte SMS mit der Nummer.«

Ich tat, wie mir geheißen, und fing an, ihm die Nummer zu diktieren:

»001 424 3521 234

»Halt! Nicht so schnell, Gundula, da kommt ja keiner mit …«

Ich wiederholte die Nummer in Zeitlupe, und Gerald tippte jede Ziffer langsam und sorgfältig mit dem Zeigefinger ein. Er atmete stoßweise und legte die Stirn in Falten, als würde er nicht eine Telefonverbindung aufbauen, sondern eine Bombe entschärfen.

»Hast du’s?«

»Ja, Gundula. Ich habe es. Amerika ist nicht Sindelfingen, da muss man sich beim Tippen etwas mehr konzentrieren. Jetzt sei bitte leise.«

»Ich bin gar nicht da.«

»Pscht!«

Er sah mich an und nickte mir zu, als sich am anderen Ende der Leitung offensichtlich jemand meldete.

»Yes, hello! This is Mr. Gerald Bundschuh, I am very glad to hear you! I am the father of Rolf Bundschuh, the nice boy with the brown hair who will soon marry your daughter, haha!«

Er lachte, als hätte er gerade einen tollen Witz gemacht. Für mich klang es eher wie Unsicherheit, wahrscheinlich genierte er sich wegen seines schlechten Englisch.

Er zwinkerte mir zu. Dann lauschte er in den Hörer.

»What?«

»I am very sorry, the connection is bad, I cannot understand you very good, but I make you a …«

Er stockte und sah mich hilfesuchend an.

»Gundula, was heißt ›Vorschlag‹ auf Englisch?«

»Promise«, sagte ich und war ein bisschen stolz. »Ah, I can make you a promise about the wedding …«

»Gerald?«

»Pscht!«

»Gerald …«

»Sei still, Gundula, ich verstehe nichts. What? Sorry, my wife is talking all the time, I am very sorry, so I could not understand what you were saying.«

»Gerald!«

Gerald ließ den Hörer sinken.

»Herrgott noch mal, was ist denn?«

»Mach bitte mal den Lautsprecher an!«

»Welchen … Ach so …«

Er drehte und wendete das Telefon und suchte nach dem Lautsprecherknopf.

»Hier ist nichts. Schau mal auf der Ladestation.«

Ich rannte zum Telefontischchen und drückte den Knopf an der Ladestation.

Augenblicklich erfüllte ein Knistern den Raum.

Dann rief eine Frauenstimme wie von fern: »Hello, Gelald?«

»Yes! I am here. I can hear you. How do you do?«

Das Gespräch zog sich ziemlich in die Länge, weil Gerald ernsthafte Probleme mit der Verständigung hatte. Seiner Meinung nach sprach die Schwiegermutter einen Dialekt, der sich in der deutschen Sprache nur mit Plattdeutsch oder Niederbayerisch vergleichen ließ. Also für Menschen, die der herkömmlichen deutschen Sprache mächtig sind, absolut unverständlich bleibt.

Ich konnte das aber nicht abschließend beurteilen, weil ich zu wenig verstand.

Am Ende des zweistündigen Telefonats waren wir trotzdem um einiges schlauer:

Candys Familie würde im Juni, zwei Tage vor der Hochzeit, in Berlin ankommen. Sie würden mit dreizehn Personen einfliegen. Gerald wäre fast der Hörer aus der Hand gefallen. Er fragte mindestens zehnmal nach, ob wirklich dreizehn Leute kommen würden. Aus dem Hörer kam wiederholt ein: »Yes. Nice.« Candys Mutter erzählte uns noch einiges mehr. Sie war wirklich sehr nett und aufgeschlossen, aber wir verstanden von all dem kaum etwas. Der Vater kam erst gar nicht ans Telefon, um uns zu begrüßen. Irgendwann legte Gerald auf. Er war sehr erschöpft. Auf seiner Stirn hatten sich Schweißperlen gebildet. Schließlich sagte er matt:

»Ich weiß nicht, Gundula, ob ich diese Hochzeit überleben werde. Wieso kann sich dieser Kerl nicht einfach eine Deutsche zur Frau nehmen. Das ist doch idiotisch!«

Dann ging er in die Küche, machte sich noch eine Leberwurststulle, aß sie missmutig und legte sich dann ins Bett.

Hoffentlich würde er auf der Hochzeit nicht auch gleich schlappmachen.

8.

Kapitel

Die nächsten Wochen verbrachten wir damit, die Hochzeitsvorbereitungen zu treffen. Wir hatten exakt zwei Monate Zeit dafür. Zum Glück hatte Rolf alle bürokratischen Hindernisse mithilfe des Vaters eines Freundes, der im Bezirksamt arbeitet, erstaunlich rasch gelöst. Und ich hatte mich bereit erklärt, die letzten Formalitäten vor Ort zu erledigen, was mir zugegebenermaßen etwas schwerfiel. Ich habe mit Ämtern nicht viel am Hut. Gerald schwärmt immer von der Übersichtlichkeit der deutschen Behörden und der Höflichkeit der Beschäftigten dort, aber freiwillig hat er sich auch noch nie eine Wartenummer gezogen. Wahrscheinlich wüsste er auch gar nicht, wie das funktioniert. Er würde wahrscheinlich stundenlang auf seinem Stuhl sitzen und darauf warten, dass ihn jemand aufruft.

Ich hatte auch nicht meinen besten Tag und habe mich erst mal in den Gängen des Gebäudes verirrt und landete danach in dem Raum für die Scheidungsangelegenheiten. Als ich darauf hingewiesen wurde, dass ich im falschen Wartezimmer saß, fragte ich mich bestürzt, ob das nicht ein schlechtes Omen für Rolfis Ehe sei … Aber als ich das Bezirksamt drei Stunden später wieder verließ, war ich doch auch ein bisschen stolz darauf, die Hochzeit meines Sohnes beinahe ohne fremde Hilfe in die Wege geleitet zu haben. Zumindest was den administrativen Teil betraf.

Zum Glück haben wir auch unsere Kinder zu äußerster Selbstständigkeit erzogen, die machen eigentlich alles selbst, wenn man sie lang genug lässt. Zum Beispiel habe ich sie im Winter grundsätzlich ohne Mantel in die Schule laufen lassen, wenn sie der Meinung waren, dass man im Winter keinen Mantel braucht. Und siehe da, nach erfolgreich überstandener Grippe trugen sie zusätzlich und ohne Murren auch noch Schal und Mütze, wenn sie rausmussten. Man darf die Kinder nicht zu sehr verwöhnen, sie lernen viel schneller, wenn man sie früh genug auf die eigenen Füße stellt. Man muss allerdings bereit sein, Opfer zu bringen, und man muss über gut funktionierende Verdrängungsmechanismen und starke Nerven verfügen. Haschplätzchen zu Weihnachten, explodierende Mixer und zerdrückte Küchenwaagen dürfen nicht dazu führen, dass man seine Position vorzeitig aufgibt. Man muss als Mutter der Fels in der Brandung bleiben, an dem die Widrigkeiten, die eine den Kindern frühzeitig übertragene Selbstständigkeit mit sich bringen kann, abprallen.

»Mami?«

Ricarda stand im Wohnzimmer und holte mich aus meinen Gedanken zurück in die Realität.

»Ja, mein Schatz?«

»Was machst du da?«

»Nichts. Ich meine, ich bastle ein bisschen, damit wir den Hochzeitstisch schön dekorieren können.«

»Und was soll das werden, wenn es fertig ist?«

Ich guckte auf den Seidenpapierhaufen vor mir. Irgendwas war in meiner Bastelzeitschrift schlecht erkennbar abgebildet. Zwar hatte ich extra eine Zeitung mit Bebilderung gekauft, aber wenn ich versuchte, die zurechtgeschnittenen Seidenpapiere wie auf der Abbildung zu Blüten zusammenzukleben, verklumpten sie im nächsten Moment. Ricarda hob mit spitzen Fingern ein Blütenwürstchen vom Tisch auf, hielt es sich vor die Nase und betrachtete es von allen Seiten.

»Wo is ’n da oben?«