Wilhelm Schmid, geboren 1953 in Billenhausen (Bayerisch-Schwaben), Vater von vier Kindern, lebt als freier Philosoph in Berlin und lehrt Philosophie als außerplanmäßiger Professor an der Universität Erfurt. Zahlreiche Buchpublikationen.

www.lebenskunstphilosophie.de

Kat Menschik, geboren 1968, lebt mit ihrer Familie in Berlin und auf dem Land. Sie arbeitet für Zeitungen, Magazine und Buchverlage. Zuletzt erschien in der Insel-Bücherei: Mario Vargas Llosa und Kat Menschik, Sonntag. Erzählung (2016).

Wilhelm Schmid

Von den Freuden der Eltern und Großeltern

Mit Illustrationen von Kat Menschik

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Insel Verlag

eBook Insel Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe der

Insel-Bücherei 2513.

© Insel Verlag Berlin 2016

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Umschlaggestaltung: Kat Menschik

eISBN 978-3-458-75052-9

www.suhrkamp.de

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1. Die Liebe zwischen Eltern und Kindern

2. Liebe und Erziehung: Anleitung zu einem sinnerfüllten Leben

3. Besonderheiten der Liebe zwischen Großeltern und Enkeln

4. Und wenn Kinder Liebe entbehren müssen?

Textnachweis

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Vorwort

Familie – ein Fossil aus längst vergangener Zeit? Das Wort vielleicht, sie selbst aber lebt in Wirklichkeit in immer neuen Formen auf. Familie ist überall dort, wo Menschen sich nicht gleichgültig sind, beginnend und bei weitem nicht endend mit zweien. Im 21. Jahrhundert existiert sie in großer Vielfalt mit oder ohne Kinder in einer oder vielen Wohnungen. Soweit Eltern und Großeltern nach wie vor Familie bilden, sind auch sie andere geworden. Selbst ein Leben ohne Familie ist möglich – bevor dann in vielen Fällen Freunde zur neuen Familie werden. Nichts und niemand muss in moderner Zeit noch traditionellen, konventionellen und religiösen Normen gehorchen. Die Formen des Lebens und Zusammenlebens sind zu einer Frage des Experiments geworden, denn wie sonst sollte ausfindig zu machen sein, wie sie unter veränderten Bedingungen aussehen können?

Gerade in der historischen und persönlichen Situation, in der Familie vielfach abgewandelt und auch verloren und verlassen werden kann, tritt ihre Bedeutung umso deutlicher hervor. Bei allen Veränderungen bleibt ihre Substanz stets dieselbe: Sie ist ein Ort der Geborgenheit, an dem gewöhnlich nichts zu befürchten ist, ein Wohnraum der Seelen, die wechselseitig auf sehr viel Wohlwollen vertrauen können. In der großen, unübersichtlichen Welt ist Familie der Bau einer kleinen, überschaubaren Welt, ausreichend in sich geschlossen, um vor äußeren Bedrohungen zu schützen, ausreichend offen, um Bewegung und Abwechslung zu ermöglichen.

Je ungewisser die Verhältnisse der äußeren Welt sind, desto stärker ist das Bedürfnis, sich in diesen Kokon von Abläufen einzuspinnen, in dem jede und jeder sich aufgehoben fühlen kann. Sein ganzes Leben lang kann der Einzelne von diesem Raum aus aufbrechen und zu ihm zurückkehren: Dort sind Menschen, die meine Geschichte kennen und ich ihre, die vieles mit mir erlebt haben und ich mit ihnen, Menschen, die sich aufrichtig für mich interessieren und ich mich für sie, die mir helfen und ich ihnen. Immer ist da jemand, der ansprechbar ist und wissen will, was ich erlebt habe, was ich mache, was ich vorhabe. Was unter anderen Bedingungen unerwünschte soziale Kontrolle wäre, wird nach vielen Befreiungen in moderner Zeit zur wünschenswerten Ressource der Aufmerksamkeit.

Zweifellos ist Familie auch ein Ort der Auseinandersetzung, hier ist reichlich Gelegenheit dazu, ohne schon gleich unkalkulierbare Konsequenzen befürchten zu müssen. Gegensätzliche Interessen und Meinungen machen sich bemerkbar und toben sich aus. Wechselseitig verschaffen alle sich Erfahrungen, agieren und reagieren, streiten und versöhnen sich. Der Wunsch liegt nahe, sich all den Ärger zu ersparen, aber der Rest wäre sicherlich Langeweile. Zuweilen ist die Familie ein Irrenhaus, aber es lässt sich meist gut darin leben. In der Auseinandersetzung mit Anderen und der Abgrenzung gegen sie lernt jeder seine Vorlieben und Abneigungen, alle möglichen Gründe für und gegen seine Meinungen kennen und findet zuverlässiger als für sich allein zur Definition seiner selbst. Jede heftigere Auseinandersetzung, die durchgestanden wird, beantwortet die Frage, ob die Beziehung verlässlich und ernstgemeint ist und auch in der Gefahr noch Bestand hat.

In allen Belangen ist Familie ein Ort des Lebenlernens, ein Übungsfeld der Lebenskunst. Hier ist Menschenkenntnis zu erwerben und sind Umgangsformen einzuüben, auch aufgrund einer Sanktionierung durch die Anderen bei ihrer Missachtung. Hier entwickelt sich die Fähigkeit, Verantwortung für sich und Andere wahrzunehmen, Kompromisse einzugehen und Verabredungen einzuhalten. Mit dem umfassenden sozialen Wissen, das hier zu gewinnen ist, kommt »Sozialisierung« zustande, eine Befähigung zur Gesellschaft, die in moderner Zeit umso mehr zum Begriff geworden ist, je weniger sie sich von selbst verstand. Die kleine Zelle der Familie vermittelt einen Eindruck davon, wie schwierig es ist, Gemeinschaft zu organisieren, Fragen zu beantworten, Probleme zu lösen, Streit zu schlichten und Dinge zu verändern: Wie könnte das in der größeren Gesellschaft anders sein?

Forciert wird das Lebenlernen in der Familie durch Kinder, wenn die Erwachsenen sich darauf einlassen, mit ihnen von Neuem heranzuwachsen und das Leben und die Welt mit ihrer Entdeckungsfreude anders zu sehen. Mit ihnen ist zu lernen, wie sehr das Leben an Phasen gebunden ist, die aufeinander folgen. Stressresistenz wird in diesem Leben ganz nebenbei erworben, da Kinder immer wieder unvorhergesehene Situationen entstehen lassen, die nach schöpferischen Antworten verlangen; sie selbst erweisen sich dabei als sehr findig.

Familie ist schließlich ein Ort der Sinnerfahrung und des Glücks, zuallererst des Zufallsglücks, das darin besteht, zusammengewürfelt worden zu sein, nicht selten auch des Wohlfühlglücks: Sich miteinander wohlzufühlen, ist die Basis des Zusammenlebens. Und doch kann das Glück nicht nur aus guten Gefühlen bestehen, auch ungute müssen zeitweilig durchlebt werden. Das Zusammenleben kann mühsam sein, aber die Mühe wird reich belohnt: Menschen, die in verlässlichen Bindungen leben, werden deutlich weniger von der Frage nach dem Sinn des Lebens umgetrieben. Sinn ist erfahrbar in der sinnlichen Begegnung, im Austausch von Gefühlen und Gedanken und in der transzendenten Erfahrung eines Seins über das eigene Dasein hinaus. Jeder kann sich in Zusammenhänge eingegliedert fühlen. Je umfangreicher das Beziehungsnetz ist, desto vielfältiger sind die Zusammenhänge, die ganze Sinnfelder erzeugen und Halt geben können. Ein reiches Maß an Begegnungen und Erfahrungen reduziert die Gefahr innerer Verarmung in der Enge eines unterkomplexen Alltags.

In der Vertrautheit und Geborgenheit, die Menschen in der Familie empfinden können, ist der freie Austausch von Energien möglich. Es entsteht die menschliche Wärme, die das Leben intensiv spürbar macht und in der Menschen sich am besten entfalten können. All diese Gründe lassen erwarten, dass eine wachsende Zahl von Menschen die neuerliche Sorge um Familie zu einem Element ihrer bewussten Lebensführung, ihrer Lebenskunst macht.

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1.
Die Liebe zwischen Eltern und Kindern

Familie im engeren Sinne ist, wo Kinder sind. Diese Erweiterung der Familie war zu allen Zeiten riskant: Bis in die Moderne hinein war bereits die Geburt mit Risiken für das Leben von Mutter und Kind verbunden, die Kindersterblichkeit war hoch, und eine Familie mit vielen Kindern ernähren zu müssen, war ein absolutes Armutsrisiko. In fortgeschrittener moderner Zeit besteht das Risiko darin, das eigene Leben einer unwägbaren Veränderung auszusetzen, Beruf und Familie nicht gut miteinander vereinbaren zu können, zumindest teilweise auf Einkommen und Karriere verzichten zu müssen, und viele Alleinerziehende sind noch dazu von einem relativen Armutsrisiko bedroht.

Anders als in vormoderner Zeit sind Kinder nicht mehr automatisch Bestandteil einer Familie, vielmehr stellt sich die Frage: Sollen zur Familie auch Kinder gehören? Gegen Kinder kann sprechen, dass sie Arbeit machen, Pläne durchkreuzen, das persönliche Wohlfühlglück stören, einer problematisch erscheinenden Welt ausgesetzt werden müssen und krank zur Welt kommen können. Gescheut werden kann die Festlegung des Lebens, durch die die gewohnte Freiheit und Beweglichkeit spürbar eingeschränkt wird, privat wie beruflich. Kinder nehmen noch dazu die Lebenskraft der Eltern vorübergehend stark in Anspruch, und immer weniger Menschen sind bereit, das hinzunehmen. Auch die Beziehung zwischen zweien kann durch Kinder belastet werden, die sehr viel Aufmerksamkeit für sich beanspruchen, und sollte die Beziehung darüber zerbrechen, bleibt vielleicht einer mit der Belastung allein zurück. Überdies kosten Kinder Geld: Je moderner die Gesellschaft, desto penibler die Berechnung der materiellen Kosten – aus romantischer Sicht ein klares Indiz für den Verfall der Liebe, denn wer liebt, rechnet nicht. Wer auf ein Kind verzichtet, kann vielleicht materielle Werte gewinnen – dass der Preis dafür ist, eine Liebe fürs Leben zu verlieren, wird er wohl nie in Erfahrung bringen.

Jede und jeder trifft eine eigene Wahl, niemand soll darüber den Stab brechen. Allerdings scheinen die Gründe, die für Kinder sprechen, im Laufe der Moderne zusehends ins Hintertreffen zu geraten: Es sind zuallererst Gründe der NotwendigkeitGründe der Freiheitvon ihnenzu ihnen