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Buchinfo

Kaya traut ihren Augen nicht! Hat der Reitstallbesitzer tatsächlich eine Freundin? Was passiert mit dem Stall, wenn darüber seine Ehe in die Brüche geht? Und was wird dann aus ihr und ihrer Mädchenclique? Kaya und ihre Freundinnen sind voll und ganz gefordert, um diese Herausforderungen zu meistern. Dabei scheuen sie kein Risiko!

Ein Pferdeabenteuer, das mitten ins Herz geht!

Autorenvita

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© Dieter Wehrle

Gaby Hauptmann ist eine Vollblutjournalistin: Nach einem Volontariat bei der Tageszeitung SÜDKURIER (Konstanz) hatte sie ein eigenes Pressebüro in Lindau, war Chefredakteurin der Ersten Stunde von seefunk radio bodensee, wechselte zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk (SWF 1 u. SWF3) und begann gleichzeitig fürs Fernsehen (HR u. SWF, Unterhaltung und Dokumentationen) zu arbeiten. Sie war Regisseurin, Produzentin und Moderatorin, unter anderem moderierte sie 2002/03 mit Lea Rosh die Literatursendung „Willkommen im Club“. 1995 erschien mit „Suche impotenten Mann fürs Leben“ ihr erster Bestseller, seitdem hat sie über 30 Bücher (darunter das Kinderbuch „Rocky – der Racker“ und die beiden Jugendreiterserien „Alexa – die Amazone“ und „Kaya“) geschrieben, wurde in 35 Ländern verlegt, hat allein in Deutschland knapp über 8 Millionen Bücher verkauft, wovon sechs Bücher bisher verfilmt wurden und viele als Hörbücher zu haben sind.

Gaby Hauptmann

Frei

wie der

Wind

Kaya scheut kein Risiko

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Für Georgy

(mehr über meinen geliebten Kater im Kapitel "Für Georgy")

1. Kapitel

Der silbergraue Wagen auf der rechten Autobahnspur wurde langsamer, dann wieder schneller, dann bremste er von Neuem ab, sodass Simone Waldmann kurz vor dem Ende des Beschleunigungsstreifens eine Vollbremsung hinlegen musste. Kaya schoss nach vorn in den Sicherheitsgurt.

»So ein Idiot!«, schnaubte Simone.

Es war ein diesig-nebliger Nachmittag Anfang Februar, und außer dem silberfarbenen Wagen war auf der Autobahn weit und breit niemand zu sehen. Simone gab wieder Gas, fuhr auf die Überholspur und sah, als sie auf einer Höhe waren, zu dem silberfarbenen Pkw hinüber.

»Ein alter Herr«, sagte sie zu Kaya, die ebenfalls hinüberschaute. Ein grauhaariger Mann saß dort mit stur geradeaus gerichtetem Blick aufrecht hinter dem Lenkrad. »Tja«, kicherte Simone, »1920 war ein Beschleunigungsstreifen noch ein Fremdwort.« Sie grinste Kaya an. »Egal, er weiß es nicht besser.« Und damit gab sie Gas.

Simone Waldmann hatte Kaya gefragt, ob sie mitkommen wolle. Sie musste ihre Tochter Charlotte und deren Pony Flying Dream von einem Dressur-Lehrgang abholen. Und weil Kaya Dreamy aus alter Verbundenheit sehr gernhatte und auch die Mutter ihres Freundes mochte, hatte sie zugestimmt. Zudem hatte sie an diesem Sonntag nichts anderes vorgehabt. Ihr eigenes Pony, Sir Whitefoot, hatte sie am Morgen schon geritten, und ihr Freund Chris war immer noch nicht von seinem Praktikum in Südafrika zurückgekehrt. Sie war dankbar gewesen, dass sich ihr dieser Ausflug angeboten hatte. So kamen ihre Eltern nicht auf die Idee, ihr im Restaurant irgendeine Aufgabe zuzuweisen. Oder zu Hause im Haushalt, was noch schlimmer gewesen wäre.

Sie reckte sich in ihrem Sitz und sah hinaus. Die graue Landschaft flog geradezu hinter den Fenstern vorbei. Simone Waldmann war eine flotte Autofahrerin. »In ganz Deutschland keine Sonne«, sagte sie gerade. »Und kein Schnee. Das war schon ein trostloser Januar, hoffentlich gibt es nicht auch noch einen trostlosen Februar.«

Kaya sagte nichts dazu. Für sie würde der Februar alles andere als trostlos sein. In zwölf Tagen würde Chris wieder nach Hause kommen, und das allein war schon ein absolutes Highlight, Wetter hin oder her.

Unwillkürlich musste Kaya an die Tage zurückdenken, da sie ihn in Südafrika besucht hatte. An die gemeinsame Arbeit in der Buschschule »Daktari« und ihre gemeinsame Pferdesafari von der Pferderanch »Wait-a-little« aus, die mitten im Busch lag. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihr aus: Sehnsucht und Freude darüber, dass nach der langen Zeit, in der sie beide »nur« befreundet gewesen waren, endlich ein Paar aus ihnen geworden war. Mit dreizehn hatte sie sich in Chris verliebt. Und jetzt endlich, nach drei Jahren, hatte er ihre Liebe erwidert.

»Aha, jetzt ist der Opa aufgewacht!«, sagte Simone.

Kaya warf einen Blick in den Außenspiegel. Tatsächlich, der silberfarbene Wagen folgte ihnen. Sie spähte zum Tacho hinüber. 160 Stundenkilometer. Das hätte sie dem alten Herrn ja gar nicht zugetraut.

»Vielleicht braucht er einfach jemanden, der ihm vorausfährt.« Das kannte sie von ihrem eigenen Vater. Wenn es draußen diesig war oder er bei Dunkelheit fahren musste, hängte der sich auch gern mal an einen anderen Fahrer dran.

»Möglich. Jedenfalls zieht der hier ganz schön ab!«

Simones eigener Geländewagen war in der Inspektion. Weil sie für den Pferdehänger einen Wagen mit Anhängerkupplung brauchte, hatte die Werkstatt ihr diesen Ersatzwagen gestellt.

»Und er scheint nicht mal Sprit zu schlucken!«

Simone tippte auf die Tankanzeige.

»Selbst wenn ich mal so richtig Gas gebe!«

Sie trat das Gaspedal durch, und Kaya wunderte sich. Dass sie sich überhaupt Gedanken über den Spritverbrauch machte? Die Familie hatte so viel Geld, da fiel ein Liter mehr oder weniger doch gar nicht ins Gewicht. Vielleicht ging es ihr ja wirklich eher um den Umweltaspekt.

Simone warf einen Blick in den Rückspiegel. »Jetzt ist der Graue weg.«

»Haben wir es eilig?«, wollte Kaya wissen.

»Na ja, bis wir fertig sind – Hänger angehängt, mit dem Trainer gesprochen, Rechnung bezahlt, Charlotte und das Pony eingesammelt, nach verlegten Halftern, Gerten und Kleidungsstücken gefahndet –, geht noch mal gut Zeit drauf. Besser, wir sind etwas früher da. Außerdem mag ich nicht die Letzte sein …«

Das sah ihr ähnlich, dachte Kaya. In ihrem Beruf als Steueranwältin hatte sie auch immer die Nase vorn. Kaya kannte sie gar nicht anders als stets pünktlich, überaus korrekt, dabei aber auch immer ausgelassen fröhlich. Außerdem wirkte sie mit ihrer sportlichen Figur und den blonden, schulterlangen Haaren jünger, als sie tatsächlich war. Eine wirklich patente Frau, das hatte sogar Kayas kritische Mutter spontan festgestellt.

»Erzähl mir doch ein bisschen was von Südafrika«, schlug Simone vor. »Und vor allem von dieser Pferderanch ›Wait-a-little‹. Sollten wir da auch mal hin, mein Mann und ich?«

Kaya musste lachen. Simone konnte überhaupt nicht reiten, und ihr Mann ebenso wenig. Sie hatten ganz einfach ihren Kindern den Wunsch nach eigenen Pferden erfüllt und förderten Chris und Charlotte, indem sie ihnen das beste Training ermöglichten.

»Da geht es mehr ums Reiten …«, versuchte Kaya, ihr die Idee charmant auszureden.

»Und mit einer Kutsche? Dazu braucht man doch auch Pferde!«

Kaya schüttelte den Kopf, während sie an einem Schild mit Tempolimit 120 vorüberrauschten.

»Mit einer Kutsche durch den Busch? Die Elefanten, Löwen und Nashörner würden sich auf den Rücken werfen und vor Lachen mit allen vieren strampeln!«

Jetzt lachte auch Simone – doch dann rief sie plötzlich: »Oh, Mist!«

Kaya folgte ihrem Blick nach hinten. Der silberfarbene Wagen hatte wieder zu ihnen aufgeschlossen, und inzwischen zuckte eine rote Leuchtschrift über die Windschutzscheibe: »Polizei. Bitte folgen.«

»Polizei?« Simone runzelte die Stirn. »Wieso denn plötzlich Polizei?« Sie nahm den Fuß vom Gas und warf einen Blick auf den Tacho. »Hmm … Da war ich wohl ein bisschen schneller als erlaubt.«

Kaya drehte sich um. Der Fahrer hinter ihnen blinkte bereits nach rechts.

»Die wollen dich da vorne auf den Parkplatz dirigieren  …«

Simone seufzte. »Wenn es denn sein muss.« Sie setzte ebenfalls den Blinker.

Auf dem Parkplatz stellte sie den Motor ab. Der silberfarbene Wagen hielt neben ihnen. Simone ließ das Fenster hinunter, und der Beifahrer im Fahrzeug neben ihr setzte die Dienstmütze auf, dann machte er ebenfalls das Fenster auf und grüßte herüber.

Simone musste lachen. »Das darf doch nicht wahr sein!«, prustete sie. »Ein Opel Vectra! Wie sind Sie mir überhaupt hinterhergekommen?«

Der Polizist sah für einen Augenblick verdutzt drein, dann lachte auch er. »Ich hab gerade noch zu meinem Kollegen gesagt: Gib doch mal Gas, das ist doch nur ein Volvo!«

»Stimmt«, gab Simone lachend zurück. »Aber er hat es in sich! Er hat echt was unter der Motorhaube!«

»Das haben wir gemerkt.« Der Polizist nickte anerkennend.

Kaya fand den Mann ungewöhnlich für einen Polizisten: braun gebrannt, Goldkette im offenen Hemdkragen.

Er öffnete die Wagentür und stieg aus. »Leider waren Sie auch um einiges zu schnell.«

»Wie viel denn?« Simone lehnte sich aus dem Fenster.

»Na ja, wir haben Sie mehrmals beinahe aus den Augen verloren«, ergänzte der zweite Polizist, der inzwischen ebenfalls ausgestiegen war. »Vierzig dürften es aber gewesen sein – bei einer Hundertzwanziger-Beschränkung.«

»Mist«, sagte Simone leise. »Da ist der Führerschein weg.« Dann wandte sie sich wieder an die Polizisten: »Vierzig? Sehe ich etwa aus wie vierzig? Doch höchstens wie neununddreißig!«

Der Polizist mit dem Goldkettchen grinste. »Wir haben es auf Video, und so was lässt sich nicht manipulieren  …«

»Aber wenn Sie mich doch aus dem Blick verloren haben? Dann können Sie mich doch gar nicht beweiskräftig gefilmt haben.«

Oje, dachte Kaya. Simone ohne Führerschein, das wäre ja eine Katastrophe.

»Zeigen Sie uns mal Ihre Papiere.«

Während Simone in ihrer Handtasche nach ihren Papieren kramte, sprach der Beamte Kaya an: »Wo wollen Sie denn so eilig hin?«

»Wir müssen Frau Waldmanns Tochter abholen. Sie war auf einem Pony-Lehrgang und wartet schon auf uns.«

»Also mit dem Pony wieder zurück?«, wollte er wissen.

Kaya nickte.

»Und wie schnell fahren Sie da?« Diesmal war die Frage wieder an Simone gerichtet.

»Hundertzwanzig«, antwortete sie wie aus der Pistole geschossen.

»Um Gottes willen!« Kopfschüttelnd nahm der Polizist ihre Papiere entgegen. »Fahren Sie achtzig! Nachher haben unsere Kollegen Dienst, hundertzwanzig kämen da nicht gut!«

Simone musste wieder lachen. »Sie haben natürlich recht! Mit meinem Geländewagen darf ich hundert fahren, das hat der TÜV zugelassen. Aber das hier ist nur ein Leihwagen.«

Der Beamte nickte und warf einen flüchtigen Blick auf ihren Führerschein. »Also gut, Frau Waldmann. Schön langsam, sonst müssen Sie zurückreiten  …«

Zehn Minuten später waren sie wieder auf der Autobahn, und Simone gab Kaya einen Klaps auf den Oberschenkel. »Na«, sagte sie, »das war doch jetzt ein lustiger Auftakt!«

Kaya grinste. »Und wie! Kleines Verwechslungsspiel …«

»Ja, wer hätte auch gedacht, dass ein alter Mann in einem grauen Auto urplötzlich zu einem Polizisten mit Goldkettchen mutiert!«

Sie mussten beide lachen. Simone hatte schon erstaunlich reagiert, schoss es Kaya durch den Kopf. Ihr Vater hätte sich über so einen Zwischenfall geärgert, vor allem über die zu erwartende Geldbuße. Und natürlich vor allem über ein potenzielles Fahrverbot. Doch Simone sah bloß auf die Uhr.

»Egal«, sagte sie. »Passiert ist passiert. Wir kommen trotzdem noch pünktlich.«

Charlotte hatte ihren Koffer schon gepackt, und auch Dreamy trug bereits seine hellblaue Reisedecke und die passenden Transportgamaschen. Seite an Seite warteten sie neben dem abgestellten Hänger.

»Hoppla!« Simone war erstaunt. »Was ist denn mit meiner Tochter los? So pünktlich? Und so ordentlich?«

Sie warf Kaya einen verwunderten Blick zu und manövrierte dann den Wagen rückwärts vor die Deichsel des Pferdehängers.

Das bedeutet nichts Gutes, argwöhnte Kaya. Charlotte war eher eine kleine Chaotin, die ständig alles verschusselte. Wenn sie schon jetzt abreisefertig hier stand, dann wollte sie hier weg, und zwar so schnell wie möglich.

»Wo sind denn die anderen?«

Simones Blick streifte die anderen Hänger. Kein Mensch zu sehen. Offensichtlich hatte es keine der übrigen Kursteilnehmerinnen so eilig wie Charlotte.

»Wenn du mich fragst, dann ist sie weiß wie eine Wand …«

Kaya stieg aus und lief auf Charlotte zu, die wirklich auffallend blass aussah.

»Vielleicht geht es ihr nicht gut?« Simones Stimme klang besorgt. »Bauchweh?«, fragte sie in Charlottes Richtung, während sie ebenfalls ausstieg.

»Mit denen gehe ich nie wieder auf einen Kurs«, erklärte Charlotte dumpf. »Lauter blöde, eingebildete Zicken!«

»Was ist denn passiert?«, wollte Simone wissen und schloss ihre Tochter in die Arme.

Charlotte kämpfte mit den Tränen. »Gar nichts«, flüsterte sie. »Fahren wir?«

»Ich muss erst noch bezahlen und mich zumindest vom Trainer verabschieden«, erklärte Simone. »Aber ich hänge schon mal an. Dann könnt ihr Dreamy gleich verladen.«

Sie ließ ihre Tochter los und streichelte dem Pony zärtlich über den braunen Nasenrücken. Dreamy nahm dies als Aufforderung, Simone mit seinen weichen Lippen sofort nach einem Leckerli abzusuchen. Simone musste lachen.

»Aber mit ihm hier war nichts?«, hakte sie nach. »Alles in Ordnung?«

»Er ist tausendmal besser als diese ach so teuren und ach so tollen Dressurponys! Du solltest die mal hören – die überbieten sich ja geradezu untereinander. Die eine, die jetzt im Regionalkader ist und an der jedes Kleidungsstück glitzert und flimmert – die hat jetzt einen ehemaligen Deutschen Meister. Sitzt drauf wie ein Kartoffelsack, aber das Pony hat mehr gekostet als ein neuer Porsche. ›Was ist das denn bitte?‹, hat sie mich gefragt. Das hat Dreamy wirklich nicht verdient!« Charlotte schlang den Arm um Dreamys Hals.

»Nein, weiß Gott nicht«, stimmte Kaya ihr zu. »Du hast ein tolles Pony!«

»Ich geh das mal schnell klären«, sagte Simone. »Oder wollt ihr mit?«

Charlotte schüttelte den Kopf. »Ich will die nie mehr sehen!«

»Mich würde es schon interessieren …« Kaya schob die Hand unter Dreamys Decke. Darunter war es kuschelig warm. »Kannst du noch zehn Minuten warten?«, wollte sie von Charlotte wissen.

»Klar«, murmelte sie. »Kalt ist es ja nicht, ich lass ihn einfach noch ein bisschen grasen.«

Grasen? Anfang Februar?, dachte Kaya. Das war wirklich schräg. Eigentlich hätte sogar Schnee liegen müssen, aber es sah wirklich aus wie im Oktober.

Sie fanden den Trainer und die Betreuerin neben der Reithalle im Büro. Die beiden saßen nebeneinander vor ein paar Dokumenten, die sie offensichtlich gerade miteinander durchgingen.

»Ah!« Die Betreuerin stand auf, als Simone und Kaya das Büro betraten. »Frau Waldmann, gut, dass Sie noch vorbeikommen.«

»Ja, ich möchte natürlich zum einen bezahlen und zum anderen hören, wie die drei Tage gelaufen sind.«

Die Betreuerin und der Trainer wechselten einen Blick.

»Rein reiterlich sehr ansprechend«, hob der Reitlehrer an, den Kaya von einigen Turnieren kannte. »Das Pony strengt sich wirklich an, möchte alles richtig machen, und Charlotte setzt jeglichen Hinweis wirklich bestens um. Sie ist zwölf, also in einem guten Alter, um noch gewaltige Fortschritte zu machen, und das Pony wird noch einige Zeit mithalten können. Andererseits sind seine Möglichkeiten natürlich begrenzt. Es ist eigentlich ein Springpony, wie mir gesagt wurde.«

»Beides«, warf Kaya eilig ein. »Ich war mit ihm auf Springturnieren, hab es früher aber auch bei Dressurwettbewerben vorgestellt.«

»Aach.« Der Reitlehrer nickte ihr zu und lächelte. »Ja, ich erinnere mich noch an das Springturnier in Aach, da ist Dreamy wirklich über sich hinausgewachsen.«

Kaya nickte. Ja, damals hatten sie unerwartet den 3. Platz gemacht, und das war auch der Grund gewesen, weshalb das Pony verkauft werden sollte. Nach so einem Erfolg war das Vereinspony mit einem Mal wieder richtig was wert gewesen.

»Und wo ist der Haken?«, wollte Simone wissen. »Meine Tochter steht draußen am Hänger wie ein begossener Pudel.«

Die Betreuerin nickte. »Tja, das Problem ist weder Ihre Tochter noch das Pony … Es sind ganz einfach die anderen Mädchen, die schon lange zusammen reiten und sich als Clique einander zugehörig fühlen.«

Kaya musste an ihre eigene Clique denken – Frei und stark. Ja, auch sie waren eine verschworene Mädchenbande.

»Und was soll das heißen?«, hakte Simone nach.

»Es fing schon mit den Zimmern an. Viererzimmer. Ihre Tochter hatte ihr Reisegepäck auf eins der Betten gelegt, doch als sie zurückkam, stand ihr Koffer draußen vor der Tür, und die Tür war zu. Sie hat sich dann ein anderes Zimmer gesucht, aber so was tut natürlich weh. Und dann hat sie sich abgesondert. Beim Essen wollte sie nicht bei den anderen sitzen. Abends hat sie Unwohlsein vorgeschützt, um früher ins Bett zu können.«

»Hmm … Ich weiß, sie ist manchmal ein bisschen schüchtern und traut sich dann nicht …«

Kaya runzelte die Stirn. »Es dürfte schwierig werden, sie noch mal zu so einem Trainingswochenende zu überreden.«

»Dabei hat sie sich so sehr gefreut«, schob Simone nach.

Der Reitlehrer neigte den Kopf zur Seite. »Vielleicht wäre Springen besser? In ihrer Altersklasse haben wir gemischte Gruppen, da fällt die Integration leichter. Die sind anders drauf  …«

»Sie springt nicht so gerne«, sagte Kaya.

»Sie hat Angst«, stellte Simone klar.

»Vielleicht sollte ich einfach beim nächsten Mal mitkommen?«, fragte Kaya. »Ich war in einem Buschcamp in Afrika. Dort hab ich gelernt, wie man Kinder zusammenbringt.«

Der Reitlehrer musste lachen. »Ja, das hört sich gut an. Vielleicht könnten wir deine Kenntnisse auch für andere Kurse brauchen … Afrika ist überall, das wissen wir ja in der Zwischenzeit, und Ausgrenzung ist ein internationales Problem.«

Simone nickte. »Wie wahr, wie wahr. Aber gut, das besprechen wir beim nächsten Mal. Jetzt würde ich gern unsere Rechnung begleichen, damit wir wieder heimkommen.«

Es war schon dunkel, bis sie den Stall erreichten. Simone hatte die ganze Autobahnfahrt über den Tempomaten auf achtzig Stundenkilometer eingestellt und den Erzählungen ihrer Tochter gelauscht. Kaya hatte ebenfalls zugehört und war sich mit ihren sechzehn Jahren unglaublich erwachsen und erfahren vorgekommen. Trotzdem konnte sie sich gut in Charlotte hineinversetzen. Ihr einfach das Gepäck vor die Tür zu stellen, als sichtbares Zeichen, dass man sie nicht dabeihaben wollte, das schmerzte natürlich. Und nicht nur Charlotte – ihr selbst hätte das auch wehgetan.

»Ich lade euch zum Essen ein«, schlug Simone vor, nachdem sie angekommen waren. »Ist das eine gute Idee?«

»Wohin denn?«, wollte Charlotte wissen.

»Zu Kayas Eltern. In den ›Landsknecht‹. Tortellini mit Rahmsoße, die magst du doch so gern, Charly.«

Charlotte verzog das Gesicht. »Nenn mich nicht Charly. Das ist ein Jungenname. Voll peinlich!«

»Aber du bist doch nun mal meine kleine Charly!« Simone sagte es betont zärtlich. Dann fuhren sie langsam auf den Hof. »Gar keiner mehr da?« Sie warf Kaya einen verwunderten Blick zu.

»Es ist Sonntag«, antwortete Kaya. »Da sind alle schon geritten.«

»Na gut.« Simone holte tief Luft. »Dann geht jetzt die Suche nach den versteckten Lichtschaltern los.«

Kaya musste lachen. »Keine Sorge. Ich kenne sie alle, und Dreamy würde auch im Dunkeln in seine Box finden, solange dort nur Futter im Trog ist.«

Charlotte lachte. Offensichtlich fühlte sie sich schon wieder besser. »Ich hab ein paar Karotten für seine Heimkehr versteckt«, sagte sie. »Er war ja auch wirklich ganz arg lieb. Das hat er sich verdient.«

Simone parkte, und sie wollten gerade aussteigen, als im Reiterstübchen das Licht anging. Gleich darauf ging es wieder aus.

»Hoppla«, sagte Kaya. »Geheimkonferenz?«

»Wackelkontakt?«, witzelte Simone.

Sie hielten kurz inne, aber nachdem nichts weiter geschah, öffneten sie die Autotüren, um auszusteigen. Im selben Moment ging die Tür zum Reiterstüble auf, und Reiner kam heraus. Bei ihrem Anblick blieb er kurz stehen, fuhr sich verlegen durchs Haar und wies dann hinauf zur Hoflampe. »Braucht ihr kein Licht?«, fragte er. »Ich hab euch gar nicht kommen hören.«

»Flüsterdiesel«, erklärte Simone, gerade als Dreamy hinten im Hänger wieherte, und sie musste lachen. »Und schon ist es vorbei mit dem Anschleichen! Wenn Dreamy deine Stimme hört, denkt er sofort ans Fressen.«

Reiner lachte ebenfalls und zog die Tür zum Reiterstüble hinter sich zu.

»Autsch!«

Simone und Kaya warfen einander einen überraschten Blick zu. Wo war das denn gerade hergekommen? Doch Reiner zuckte nicht mal mit der Wimper, sondern marschierte bloß an ihnen vorbei. »Ich mach euch Licht, dann könnt ihr zu seiner Box vorfahren.«

Das war ungewöhnlich. Normalerweise war hier der Verladeplatz. Kaya zuckte mit den Schultern, sie stiegen wieder ein, und Simone ließ den Motor an. Nur Charlotte blieb draußen stehen.

»Ich hol schnell die Karotten«, sagte sie und verschwand in der Dunkelheit.

Reiner hatte sich vor Dreamys Stall gestellt und half, den Hänger zu öffnen. Mehr war nicht nötig, denn kaum war Dreamy losgebunden, kam er auch schon rückwärts heraus. Offensichtlich hatte er es eilig, in seine Box zu kommen.

»Der hat auch die Schnauze voll«, flüsterte Kaya.

»Meinst du, er ist ebenfalls gemobbt worden?«, gab Simone zurück.

»Von den anderen Ponys?«, kicherte Kaya. »Man weiß ja nie  …«

»Bleibt der Hänger auf dem Hof?«, wollte Reiner wissen. »Dann würd ich ihn euch mal eben auf den Hängerparkplatz fahren und abhängen. Geht schneller.«

Simone nickte. »Gute Idee! Wir laden nur rasch aus.«

Während sie die Sattelkammer ausräumte, befreite Kaya das Pony von den Transportgamaschen und wechselte die Transportdecke gegen eine Paddockdecke. Danach fuhr Reiner los.

Gemeinsam führten sie Dreamy in seine Box.

»Was ist denn mit dem los?« Irritiert schüttelte Simone den Kopf. »Sonst ist er doch nie so auffallend hilfsbereit.«

»Schon gar nicht um diese Uhrzeit«, ergänzte Kaya. »Feierabend – da macht er normalerweise keinen Finger mehr krumm.«

Sie sahen Dreamy zu, der sich sofort über sein Abendessen hermachte. Kaya kontrollierte seine Beine und Fesseln mit der Hand und richtete sich dann wieder gerade auf. »Alles wunderbar, alles kühl, nichts geschwollen oder warm. Zumindest kommt er also fit zurück.«

»Hey, Dreamy, mein Süßer, mein Bester! Tollstes Pony der Welt!« Charlotte kam mit einem Arm voll Karotten in die Box. »Bin gerade im Dunkeln mit einer Frau zusammengestoßen. Mann, hab ich mich vielleicht erschreckt. Hatte sie gar nicht kommen hören.«

»Mit einer Frau?« Simone sah über die Schulter. »Wer sollte das gewesen sein?«

»Keine Ahnung, hab sie so schnell nicht erkannt.«

»Also ein weibliches Autsch«, meinte Simone zu Kaya.

»Hmm …« Kaya dachte für einen Moment nach. »Wer geistert denn hier nachts herum?«

»Interessant«, sagte Simone.

»Wieso, was ist?«, wollte Charlotte wissen und legte Dreamy ein paar Karotten in den Futtertrog.

»Vor allem im Reiterstüble?«, gab Simone zu bedenken.

»Und ohne Licht«, fügte Kaya hinzu.

»He, was ist denn?« Charlotte biss von einer Karotte ab, bevor sie den Rest Dreamy hinhielt.

»Und Reiner so hilfsbereit … bloß schnell den Hänger wegfahren …« Simone zog eine Augenbraue hoch.

»Hallo? Was ist denn los?«, wiederholte Charlotte.

»Ich will nicht hoffen  …«, murmelte Kaya.

»Jetzt sagt doch schon, was ist!« Charlotte klang mittlerweile unüberhörbar gereizt. »Ihr seid ja schon so blöd wie diese Mädchen aus dem Kurs! Immer diese Geheimniskrämerei. Hihi hier und haha dort und immer alles wichtig – so wahnsinnig wichtig!«

»Wir haben uns nur gefragt, warum heute alles anders ist als sonst.«

»Wieso? Was ist denn anders?«

»Na, dass Reiner uns den Hänger wegparkt, zum Beispiel …«

»Na und?« Charlotte sah ihre Mutter verständnislos an. »Er ist halt ein Gentleman. Das sagt Claudia doch auch immer!«

»Die meint es aber ironisch«, entgegnete Simone.

»Ihr seid echt blöd!« Charlotte tätschelte Dreamys Hals. »Stimmt’s Dreamy? Die zwei sind blöd.«

»Der Wagen steht draußen, Schlüssel steckt!«

Reiners tiefe Stimme ließ sie auseinanderfahren. »Fein, danke! Und gute Nacht!«, rief Simone zu ihm hinüber. »Und Gruß an Claudia, es ist alles gut gegangen.«

»Nichts ist gut gegangen«, brummte Charlotte mürrisch.

»Ich werde es ausrichten!«

Im ›Landsknecht‹ hatte Kayas Mutter am Stammtisch für sie eingedeckt. Dort saß Simone Waldmann am liebsten. Es war ein runder Tisch mit einer umlaufenden Bank. Charlotte schlüpfte nach hinten durch, während Kaya erst mal in die Küche lief, um ihre Eltern zu begrüßen. Ihr Vater stand wie immer am Herd, und ihre Mutter stellte gerade einige kleine Salatteller auf ein Tablett.

»Hallo, meine Hübsche!« Ihr Vater lachte ihr zu. »Schön, dass du wieder da bist!«

»Simone Waldmann und ihre Tochter sind auch da«, sagte Kaya und trat auf ihn zu, um einen Blick in die Töpfe und Pfannen zu werfen. »Lecker!«

Harald Birk spießte ein Stück Fleisch auf die Messerspitze und hielt es ihr hin. »Vorsicht, heiß!«

Kaya zog es mit zwei Fingern runter, pustete darauf und steckte es sich in den Mund. »Sehr fein«, urteilte sie. »Würzig und unglaublich zart. Was ist das für Fleisch?«

»German Wagyu Steak. Da brauchst du kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn du es isst. Das sind keine Masttiere aus winzigen Ställen – die hatten ein richtig gutes Leben draußen in der Natur.«

Kaya grinste.

»Magst du auch einen Salat?«, fragte ihre Mutter und nahm das Tablett auf.

Harald zwinkerte ihr zu. Es war das alte Spiel.

»Lieber Kartoffelgratin«, antwortete Kaya und zeigte auf den Backofen. »Das ist doch auch gesund.«

»Es ist eben doch ganz deine Tochter«, erklärte Karin Birk und verließ die Küche durch die Schwingtür.

Als Kaya zu ihrem Tisch zurückkehrte, stand vor Simone bereits ein Pils und vor Charlotte ein Apfelsaft.

»Was hörst du eigentlich von meinem Sohn?«, wollte Simone wissen, nachdem sich Kaya eine Johannisbeerschorle bestellt hatte.

»Er freut sich auf daheim«, erzählte Kaya.

»Nicht zu glauben!« Simone sah Kaya misstrauisch an. »Das sagst du jetzt doch nur, um mir eine Freude zu machen. Ich hätte eher gedacht, dass er verlängert  …«

»Er freut sich auf Kaya!«, platzte es aus Charlotte heraus. »Doch nicht auf dich!«

Simone warf ihrer Tochter einen tadelnden Blick zu. »Und du bist auch schon ein richtiger Gentleman.« Dann verzog sie das Gesicht.

»Das geht doch gar nicht«, prustete Charlotte heraus. »Einen weiblichen Gentleman gibt es nicht. Da müsste es doch Gentlewife heißen, oder?«

Kayas Mutter trat an den Tisch, um weitere Bestellungen aufzunehmen. Sie wies sie auf das besondere Steak hin, das Kaya schon gekostet hatte, und Simone nickte. Als Beilage wollte sie Kartoffelgratin und Salat. Charlotte entschied sich für die Tortellini, während Kaya sich Simone anschloss. »Ohne Salat«, fügte sie hinzu.

»Mit Salat«, korrigierte ihre Mutter sie. »Der gehört nun mal dazu.«

»Wer behauptet denn so was?«

»Ich.« Dann schenkte Karin Simone Waldmann ein herzliches Lächeln. »Hat alles gut geklappt? Kaya ist immer gern mit Ihnen unterwegs.«

»Sie ist aber auch eine wunderbare Begleiterin! Freundlich, umsichtig, pferdeerfahren, besser kann es gar nicht sein.«

»Das freut mich.« Karin nickte Kaya zu.

»Also mit Salat und Eisbecher. Habe ich das jetzt richtig verstanden?«

»Den Eisbecher für mich auch«, rief Charlotte sofort.

»Also dreimal«, entschied Simone lachend. »Gleiches Recht für alle.«

Anschließend unterhielten sie sich ein bisschen über Chris. Sobald Kaya auch nur seinen Namen hörte, flammte eine solche Sehnsucht in ihr auf, dass es beinahe schon wehtat. Wie würde es werden, wenn er wieder hier wäre? Würden sie ihre wunderschöne Beziehung, die sie im Buschcamp in Südafrika so erfüllt hatten, fortsetzen können?

»Das wird alles noch sehr spannend«, sagte Simone gerade und riss Kaya aus ihren Gedanken.

»Was denn?«, hakte sie nach. Nach Spannung stand ihr gerade weniger der Sinn. Sie hätte lieber jetzt schon mit einer gewissen Sicherheit gewusst, dass alles schön werden würde, dass sie nicht länger um ihn kämpfen müsste, sondern dass sie beide ihre Liebe weiter genießen würden.

»Na ja, das Studium … Schule fertig, Auszeit in Südafrika – dann beginnt jetzt also ein neuer Lebensabschnitt.«

keiner

Wie ist das Leben zu Hause? Was passiert? Ist es kalt? Was macht dein Sir Whitefoot, und was machen meine Pferde? Weißt du was darüber? Oder unser Kleiner, Flying Dream, das Wahnsinnspony?

Ich würd dich jetzt gern zu mir herbeamen, bin noch ganz gefangen von den Ereignissen, hätte dich gern im Arm, würde an deinem Haar schnuppern und dich dann auffressen. Wahrscheinlich bin ich doch schon zu lange in Afrika. :-)

Ich denk an dich und küss dich!

Dein Chris!«

Kaya legte ihr Handy weg. Das würde sie gleich noch mal am Bildschirm lesen, das war einfach zu schön! Er vermisste sie, er wollte sie bei sich in Afrika haben. Eine gemeinsame Farm. Er hatte Zukunftsträume. Das war fantastisch.

Sie stand auf, schaltete ihren Computer ein, setzte sich gemütlich auf den Schreibtischstuhl und klickte seine Mail an. Genusslesen, dachte sie. Jetzt kommt die Entspannung. Vor allem, weil er ihr derart liebevoll geschrieben hatte. Selbst vor einem wütenden Elefantenbullen hätte er sie retten wollen. Wenn das keine Liebe war! Schlotternde Knie hin oder her, der Wille zählte. Es war einfach großartig.

»Lieber Chris«, begann sie ihre Antwort. Dann löschte sie die Worte gleich wieder und schrieb: »Mein Liebster!« Anschließend schilderte sie ihm den vergangenen Tag. Hier hatten zwar keine Gefahren gedroht, aber ein klein bisschen aufregend war es trotzdem gewesen.

Als sie die E-Mail nach ein paar Korrekturen abschickte, war es bereits nach Mitternacht. Wahrscheinlich waren sie drüben im Restaurant gerade dabei, die Küche zu putzen und die letzten Gäste abzukassieren. Gerade rechtzeitig, um schnell ins Bad zu schlüpfen und das Licht zu löschen, bevor es mit ihrer Mutter wieder Diskussionen wegen der Schulzeiten gäbe.