cover
Sophie André

Pagans





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Danksagung

 

Es ist immer wieder ein großartiges Gefühl, ein eigenes Buch abzuschließen. Auch dieses Mal war eine ganze Reihe freundlicher Helfer am Werk, die mich bei meinem Hobby unterstützt haben. Mein ganz besonderes Dankeschön geht natürlich an meine Familie, die meine Schreiberei gutmütig duldet.

Meine Lieblingskorrekturleserin Divina Michaelis hat erneut mit viel Fleiß und Humor wilde Kommasetzungen und Wortwiederholungen gesucht und meine sprachlichen Stolperer ausgebessert. Das tolle Cover ist die Arbeit der begabten Ronja Studer aka Glaux.

Eine große Hilfe bei der Entstehung der Geschichte waren meine treuen Leserinnen bei Bookrix und FF, die die Entwicklung der Story mit nützlichen Kommentaren und Vorschlägen begleitet haben.

Und natürlich, da es ein Roman über Musik ist, gab es Inspirationen aus der Folk-Szene. Dem Charisma meiner Lieblingsgruppen konnte ich mich nicht entziehen.
Danke an Rastaban, Omnia und Corvus Corax für deren tolle Musik und die großartigen Live-Vorstellungen, die sie ihren Fans bieten!

Allen Lesern wünsche ich viel Spaß bei den ›Pagans‹!

 

Sophie André

Prolog

 

»When all the world has gone to sleep
The fairies from the forest creep
From out 'the wild wood comes the call:
»The dance is life ... the dance is all ...«

An ancient forest beckons me
To run skyclad amongst the trees
This band of pagans cannot wait
with you, tonight, to celebrate.

Cernunnos, Lord of Beasts, has spoke:
»Come join us for some pagan folk!«(1)

 

 

 

Anna hatte gerade die Dusche abgestellt und sich in ein Badetuch gewickelt, als das Telefon klingelte. Drei Töne lang überlegte sie, den Hörer gar nicht abzunehmen, aber dann tat sie es doch. Das Display zeigte die Nummer von Franz an, ihrem guten Bekannten, und den konnte sie nicht abweisen. Immerhin war der Journalist seit ihrer Scheidung vom entfernten Bekannten zum engen Vertrauten geworden.

»Hey, Franz«, rief sie hektisch ins Telefon. Und dann fröhlicher: »Warte kurz! Ich muss nur schnell meine Füße abtrocknen.«

Ein Lachen am anderen Ende ließ sich aus dem abgelegten schnurlosen Telefon vernehmen. Anna schmunzelte und schob das Handtuch gleich noch über die nassen Fußabdrücke auf ihren Badfliesen. Dann griff sie erneut zum Hörer.

»Also, Franz! Warum jagst du mich aus meiner Dusche?« Ein Kichern bestätigte, dass sie es nicht so ernst meinte und der Anrufer lachte gutmütig.

»Ich freue mich auch, dich zu hören, Anna!«, erklärte er leicht spöttisch. »Du hast dich echt rar gemacht in den letzten Tagen. Ist alles bei euch in Ordnung?«

Anna nickte, obwohl das der Mann am anderen Ende der Leitung wohl kaum sehen konnte. »Jaaa, eigentlich schon.«

Beim Überlegen runzelte sie die Stirn und betrachtete ihr Gesicht im Spiegel, während sie die letzte Woche gedanklich Revue passieren ließ. ‚In Ordnung’ war so ein dehnbarer Begriff und sie wollte Franz nicht schon wieder mit ihren Problemchen und Sorgen in den Ohren liegen.

»Jenny ist gerade im Ferienlager, weiß du …«, erklärte sie.

»Und da machst du dir ein paar gemütliche Stunden?«, mutmaßte Franz. »Oder drückst du dich schon wieder viel zu oft auf eurer Wachstation rum?«

Anna seufzte. Dass er sie aber auch schon so gut kannte. Natürlich schob sie jetzt, wo Jenny über die Osterferien an der Nordsee war, ein paar zusätzliche Dienste. Einerseits konnten sie das Geld gut gebrauchen, andererseits musste sie diese Leistung einfach erbringen. Ihr Chefarzt war sehr rücksichtsvoll gewesen, als sie nach dem Tumult der Scheidung eine Auszeit gebraucht hatte, doch nun forderte er auch entsprechende Gegenleistungen. Und eigentlich war das für Anna auch ganz okay. So hatte sie weniger Zeit zum Nachdenken.

»Ich bin gerade nach Hause gekommen«, gab sie zu. »Aber es war ganz ruhig – hatte kaum was mit Arbeit zu tun.«

Franz brummte etwas Unverständliches. »… und du musst selber am besten wissen, wie viel du dir zumuten kannst«, verstand Anna am Ende seines Satzes. Erneut nickte sie unwillkürlich.

»Das weiß ich, Franz. Es wird nicht zu viel werden. Kommendes Wochenende habe ich frei. Und da Jenny erst am Sonntag wiederkommt, werde ich mich ganz auf meine Erholung konzentrieren.«

Wieder brummte der Mann am anderen Ende. Dann kam er zu dem eigentlichen Grund seines Anrufs: »Ich weiß nicht, ob das mit der Erholung so klappen wird, Anna«, gab er zu.

»Wieso denn nicht? Willst du mit Sylvie vorbeikommen und wir machen uns einen lustigen Abend?«, witzelte sie.

»Äh, nein!« Franz räusperte sich. »Ich wollte dich eigentlich bitten, mir bei meinem neuen Buchprojekt noch einmal zu helfen.«

Als er hörte, dass Anna tief Luft holte, fuhr er schnell fort: »Das Tourbuch von den Corvidae(2) ist eingeschlagen wie eine Bombe.«

Anna unterbrach ihn mit einem Lachen. »Das glaube ich sofort! Die Jungs waren aber auch so was von toll …«

Unwillkürlich sah Anna die Musiker der Mittelalterband, deren Name so viel wie ›Rabenvögel‹ hieß, vor sich. Fünf Wochen lang hatten Franz und sie die Gruppe auf ihrer Deutschlandtour durch alle Burgen und Kneipen begleitet und ein dreißigseitiges Tourtagebuch erstellt. Franz war der Autor und sie hatte die Jungs abgelichtet. Richtig Spaß hatte das gemacht!

»Ja, und weil sie so toll waren, ist das Buch wirklich gut auf dem Markt angenommen worden«, bestätigte Franz. »Darum hat mich heute auch dieser Manager von den Pagans(3) angerufen und mich gebeten, so ein Projekt für seine Truppe zu machen. Er hat ausdrücklich den gleichen Fotografen gefordert, Anna!«

 

Anna

 

Die Wünsche eines ihr unbekannten Managers einer ihr ebenso unbekannten Band hätten Anna nicht davon abgehalten, ihre freien Tage entspannt mit Jenny zu Hause zu verbringen. Doch sie schuldete ihrem Freund Franz viel mehr als einen Gefallen. Sylvie und er waren es gewesen, die sie damals aufgefangen hatten, als sich herausstellte, dass Stefan sie seit Jahren betrog und nun klar Schiff machen wollte, um mit seiner Affäre endgültig zusammenzuziehen.

Deshalb rollte sie jetzt entspannt über die A9 Richtung Hof, um sich mit Franz zu treffen und dann die Band vor deren Gig in der kleinen fränkischen Stadt Selb kennenzulernen. Während der Fahrt blieb ihr viel Zeit, um nachzudenken.

Damals, vor knapp zwei Jahren, hatte sie nicht gewusst, wie es nun für sie und Jenny weitergehen sollte. Theo, ihr älterer Sohn, hatte gerade sein Abitur gemacht und brach kurz darauf zu einem Sprachpraktikum an der University of Michigan auf. Wenn alles so ablief, wie er es sich vorstellte, würde er sich ein Jahr später am ›College of Literature, Science, and the Arts‹ einschreiben und einen Teil seines Studiums in Ann Arbor absolvieren.

Der Abschied von ihrem Sohn zu einer Zeit, in der ihr Leben sowieso schon auf dem Kopf stand, war Anna noch schwerer gefallen als die Trennung von ihrem Mann. In den ersten beiden Wochen nach Theos Abflug war Franz deshalb einfach zu ihr gezogen und hatte dafür gesorgt, dass ihr der sprichwörtliche Boden unter den Füßen nicht ganz verloren ging. Hauptsächlich seiner Hilfe war es zu verdanken gewesen, dass ihr Leben einigermaßen schnell wieder in den Griff bekommen hatte.

Außerdem gab es noch ihre Verantwortung für Jenny, die sie vor einem schlimmeren Absturz bewahrt hatte. Dennoch wurde sie beim Gedanken an die vielen durchwachten Nächte mit Franz und ihren Seelenstriptease, den sie damals einfach nicht zurückhalten konnte, immer noch rot. Wie tief konnte man eigentlich sinken, wenn man verletzt wurde? Warum musste man immer gerade dann schwach sein, wenn man sich Stärke wünschte?

Nach diesen Tagen voller Trauer und auch Selbstmitleid hatte sie es schließlich geschafft so weiterzumachen, als wäre nichts geschehen. Inzwischen war sie froh über das Leben, das sie nun führte. Jenny und sie kamen wunderbar miteinander klar und die neu gewonnene Freiheit hatte sie auch einige ihrer verlorengegangenen Interessen und Gewohnheiten wiederfinden lassen.

Erst jetzt, wo sie beendet war, fiel ihr auf, dass die Ehe mit Stefan ihre Persönlichkeit eingeengt hatte. Irgendwo zwischen den Kindern, dem Job und dem Haushalt hatte sie ihre kleinen Freizeitinteressen vergessen und Stefan war nicht der Mann gewesen, der sie motiviert hätte, mehr aus ihren Hobbies und Träumen zu machen.

Franz hingegen war die besondere Qualität ihrer Fotos sofort aufgefallen. Seine Anerkennung hatte sie gelockt, ihre alte Kamera wieder herauszuholen und die ausgelaugten Akkus zu ersetzen.

Dann, als sie erstaunt feststellte, wie vertraut ihr das Gefühl der schweren Spiegelreflexkamera in der Hand noch war, war der Bann gebrochen. Sie machte neue Bilder, kramte alte Musik heraus, nahm lange vergessene Bücher zur Hand. Jenny hatte ihre Mutter kaum wiedererkannt. Unter der ruhigen, zurückhaltenden Frau war ein quirliges, fröhliches Mädchen versteckt gewesen, das nun an die Oberfläche drängte.

So zumindest hatte ihre Tochter es Franz beschrieben, auch, wenn Anna sich selbst längst nicht mehr als Mädchen sehen konnte. Manchmal fühlte sie sich mit ihren 39 Jahren eher uralt. Eines aber stimmte! Im vergangenen Jahr hatte sie gelernt, dass man das Leben immer genießen konnte, egal, wie viele Probleme es gerade gab. Wenn man nur hinsah, bot sich immer etwas Schönes, etwas Frohes, das es wert war, gesehen oder, in ihrem Fall, auch als Foto festgehalten zu werden.

Anna lächelte. Die fünf Wochen mit den Corvidae waren ein richtig großer Spaß gewesen. Am Anfang hatte sie die selbstbewusste Präsenz der sieben Musiker total eingeschüchtert – was merkwürdig war, denn in ihrem Beruf war sie alles andere als schüchtern. Doch sobald sie sich nicht hinter ihrer Aufgabe verstecken konnte, sah das ganz anders aus.

Franz hatte den Künstlern erklärt, dass sie noch wenig Bühnenerfahrung besaß und die sieben ›Raben‹ waren ihr daraufhin sehr rücksichtsvoll begegnet, hatten ihr die ungewöhnlichen mittelalterlichen Instrumente erklärt, sie mit dem Team bekannt gemacht und viel erzählt, bis ihr der Umgang mit den Musikern ganz selbstverständlich erschienen war. Am Ende war sie in jeder Ecke der Bühne heimisch gewesen, hatte auch die unzähligen Helfer abgelichtet und jedes spannende Detail festgehalten. Die Arbeit hatte sie so mitgerissen, dass sich zum Schluss knapp zweitausend Bilder in ihrem Eingangsordner befanden, aus denen sie später die besten und kuriosesten ausgewählt und nachbearbeitet hatte.

Anna war sich nicht sicher, ob sie diese besondere fotografische Leistung noch einmal abliefern konnte. Immerhin brauchte sie dazu auch einen persönlichen Kontakt zu den Künstlern. Doch für Franz wollte sie es zumindest versuchen.

Die Autobahnabfahrt kam in Sicht und Anna setzte seufzend einen Blinker. Eine halbe Stunde später rollte sie durch das beschauliche Städtchen auf der Suche nach dem Marktplatz mit der Freilichtbühne, auf dem heute Abend die Pagans spielen sollten. Bis dahin war noch reichlich Zeit, um sich mit Franz im Hotel einzurichten und den Bandmanager zu treffen.

 

Journalistenfuzzies

 

Das Hotel war einfach aber gemütlich und Anna freute sich, als Franz sie dort schon erwartete. Er betrachtete die etwas jüngere Frau aufmerksam und umarmte sie dann zur Begrüßung.

»Du siehst gut aus, Anna. Offenbar ist es nicht ganz so schlimm, dass ich dir ein turbulentes Wochenende aufgehalst habe.«

Sie grinste zur Bestätigung zurück. »Kein Problem, Franz!« Demonstrativ warf sie einen Blick über den verlassenen Vorplatz des Hotels. »So aufregend und quirlig scheint Selb ja nicht zu sein. Nicht gerade die Stadt, die ich für ein Folkkonzert erwartet hätte …«

Nachdenklich folgte Franz ihrem taxierenden Blick. »Warte mal noch ein paar Stunden. Du wirst sehen, gegen Abend bricht hier ein richtiges Getümmel los. Du mit deinem Fotografenblick wirst du von den Gewändern und Gesichtern gar nicht genug bekommen.« Franz nahm Anna den großen Rucksack mit ihren Kamerautensilien ab. »Wir sollten uns dann mal auf den Weg machen. Mike, der Manager, will uns gegen 16 Uhr hinter der Bühne treffen. Scheint ein echter Knauser zu sein, dass er es nicht mal schafft, uns zu einem Kaffee einzuladen.«

Anna lachte. »Komm, du Kaffeejunkie! Ich lade dich nach dem Treffen ein. Irgendeine Koffeintankstelle wird es hier schon geben. Vielleicht hat dieser Mike einfach nicht darüber nachgedacht, dass du kein Teenie mehr bist, der auf der grünen Wiese hockt und Bionade aus Flaschen trinkt.«

Anna kannte die Szene genauso gut wie Franz und beide wussten, dass die Sommerfestivals der Folker eher ungezwungen vonstatten gingen. Oft reisten ganze Familien in bunten Gewändern an, um zu tanzen, Freunde zu treffen und sich bei Musik und Show einfach zu vergnügen. Klar traf man auch immer wieder an den Abenden auf trinkende Fans, aber große Saufgelage oder Schlägereien waren bei solchen Veranstaltungen kaum an der Tagesordnung.

Das war ein Grund, warum es Anna nichts ausmachte, auch Jenny mitzubringen, wenn sie für Franz fotografierte. Bei den Corvidae war das junge Mädchen ein gern gesehener Gast gewesen und Leander, der fast gleichaltrige Sohn des Drummers hatte sie gern herumgeführt und sich mit ihr die Märkte und Schaustellereien angesehen. Inzwischen fühlte sich auch Jenny in der Szene heimisch, warf sich für die Events in fantasievolle Gewänder, die sie zusammen mit Anna selber geschneidert hatte, und genoss den Rummel um die längst vergangenen Zeiten.

Franz schritt nun zügig aus und Anna folgte ihm seufzend. Das Städtchen war schon irgendwie heimelig. Nachher würde sie das eine oder andere historische Stadthaus gern ablichten. Im Moment stand die Sonne noch zu hoch – kein gutes Licht für Architektur …

Hinter der nächsten Straßenecke erwartete sie der lebendig pulsierende Marktplatz. Mit einem Schmunzeln auf den Lippen verfolgte Anna, wie bereits Arbeiten auf der Bühne verrichtet wurden. Das kam ihr noch von den Corvidae ziemlich bekannt vor. Erste Schaulustige drängten sich um das noch unfertige Podium, um einen Blick auf die Künstler zu erhaschen, die offenbar bereits mit dem Soundcheck begonnen hatten.

Zumindest war bereits ein Tontechniker dabei, die Lautstärke der Bassdrum zu bestimmen. Anna warf einen Blick auf das ihr bekannte Geschehen und folgte Franz hinter die Kulissen. Jetzt würde es ernst werden.

Hatten sie erwartet, freundlich empfangen zu werden, so war das ein grundlegender Irrtum. Im Gegenteil wurden sie nun Zeugen eines heftigen Streitgesprächs.

»Ich habe dir gesagt, dass wir mehr für eure Promotion tun müssen«, fauchte ein untersetzter, graumelierter Mann in Richtung eines deutlich jüngeren, großgewachsenen Gegenübers, dessen auffällige Haartracht aus einer Mischung aus Dreadlocks und Undercut ihn zu einem eindeutigen Szenemitglied machte. Sarah wusste aus dem Exposé, welches sie sich dank Google zusammengestellt hatte, dass sie hier den Bandleader Jonas Kasten alias Satyr vor sich hatte.

Schon in den Youtube-Videos war ihr der Mann sehr selbstbewusst vorgekommen. Er stand eindeutig im Mittelpunkt der Band und ebenso frontal im Interesse der Fans. Die zweite in der Rangordnung schien die Sängerin und Drehleierspielerin Sarah zu sein. Alle anderen Bandmitglieder traten gegenüber diesen beiden deutlich zurück.

Der Rastamann trat nun noch einen Schritt näher zu seinem Diskussionspartner. »Und ich habe dir gesagt, dass ich es wissen will, welche Vereinbarungen du für uns triffst. Du kannst nicht entscheiden, dass wir zwei wildfremde Journalistenfuzzies eine ganz Tour lang mit uns herumschleppen und uns von denen ausquetschen lassen. Diesen Scheiß kannst du gleich wieder abblasen!«

Doch Jonas hatte die Rechnung wohl ohne den Dickkopf seines Managers gemacht. »Hör zu, Drummer Boy«, entgegnete dieser ihm entschieden. »Du willst mit deinem Heidengedudel Geld verdienen und ich sorge dafür, dass du das kannst. Wenn es dir nicht passt, kann ich sofort verschwinden und mir eine andere Truppe suchen, die weniger Allüren hat. Dass du dann keinen Fuß mehr in die Festivalszene bekommst, ist dir doch klar, oder?«

Franz hatte Anna derweil am Arm genommen und sie ein paar Meter zurückgezogen. Aus dieser Position heraus konnten sie dennoch bei dem Gespräch zuhören, fielen aber weniger auf als vorher.

»Das hört sich nicht gut an«, raunte Anna dem Schriftsteller zu. »Sollen wir gleich wieder verschwinden?« Franz war in ihren Augen ein wunderbarer Buchautor und den Titel Journalistenfuzzie hatte er ganz und gar nicht verdient.

Doch der so Bezeichnete grinste nur belustigt.

»Warum denn das? Jetzt wird es doch erst richtig spannend! Ein bisschen Konflikt und Gegenwehr ist doch gerade richtig, wenn wir eine tolle Recherche abliefern wollen … Lass Jonas erst mal Dampf ablassen. Wir kommen erst dann ins Spiel, wenn er sich wieder beruhigt hat. Mike macht das schon.«

Doch es war nicht Mike, der den Disput letztendlich entschied. Ein weiterer Künstler trat zu den beiden Streithähnen und klopfte Jonas beruhigend auf die Schulter.

»Mike hat recht. Wir müssen wirklich mehr Werbung machen. Und ein Tourbuch ist doch viel seriöser als irgendwelche raubkopierten Videos von sogenannten Fans auf Youtube.«

Der Mann, der versuchte, wieder Ruhe in die Diskussion zu bringen, mochte ungefähr ebenso alt sein wie Anna. Er überragte Jonas fast um einen ganzen Kopf und trug im Gegensatz zu diesem eine eher gediegene Langhaarfrisur, die er recht kunstlos zu einem Zopf gebändigt hatte. Das weite Hemd und eine ausgeleierte Jogginghose ließen seinen Körper hager, fast schlaksig wirken. Lukas Mauren, in der Band Luca genannt, war Anna ebenfalls aus dem Internet bekannt.

Man hatte ihn in den Videos eher seltener im Zoom gesehen und sie hatte überlegt, ob das Zufall war oder von dem Mann so gewollt wurde. Im Gegensatz zu den anderen Bandmitgliedern war auch seine Vita auf der Homepage der Pagans eher knapp bemessen. Einzig, dass Luca sich selbst gern als ›Native‹ bezeichnete, hatte Anna stutzen lassen. Irgendwo fand sie dann eine Bemerkung, dass der Vater des Künstlers Amerikaner war und hatte daraus geschlossen, dass an der Bezeichnung etwas Wahres sein konnte.

Jetzt, als sie den Mann vor sich sah, konnte sie sich eine indianische Abstammung durchaus vorstellen – dunkle Augen und Haare, ein markantes Gesicht – aber sicher war sie sich nicht. Der Dreitagebart passte nicht so ganz ins Bild und Anna belächelte sich selber. Träumerin! Wenn der Deal klappte, brauchte sie ihn bloß zu fragen … Wie wahrscheinlich war es denn, einen Musiker indianischer Abstammung in einer fränkischen Kleinstadt zu treffen?

Doch zunächst nahm sie der Fortgang der Diskussion in Beschlag. Die Intervention von Lukas  schien die Gemüter tatsächlich zu beruhigen und die drei kamen überein, den ungebetenen Journalisten und dessen Fotografen erst einmal kennenzulernen, bevor sie sich entschieden.

»Und hier kommen dann wohl wir ins Spiel«, verkündete Franz plötzlich laut neben ihr. Alle drei Köpfe wandten sich ihnen zu und Anna spürte, wie sie rot wurde. Verdammt! Konnte Franz nicht ein bisschen diplomatischer sein?

Sie beobachtete die drei verunsicherten Männer und stellte innerlich lächelnd fest, dass es zumindest Mike und Luca ziemlich peinlich war, dass sie ihre Diskussion mitgehört hatten. Jonas stellte eine verschlossene, ablehnende Miene zur Schau, hielt aber den Mund, als sich Mike nun aufrappelte, sie begrüßte und sich entschuldigte.

Dann stellte er sie den beiden Künstlern vor und nun zeigte Franz, dass er tatsächlich nicht undiplomatisch war. Ohne viel Gerede drückte er Jonas sein Buch über die Corvidae in die Hand.

»Guck dir das an, damit du weißt, was wir für euch leisten könnten. Besprecht euch und klärt eure Prioritäten. Anna und ich gehen jetzt erst einmal in Ruhe einen Kaffee trinken. Wir sind in einer Stunde zurück. Dann will ich eine klare Ansage!«

 

Kaffeeklatsch

 

Sie saßen noch keine halbe Stunde beim Kaffee, als das Türglöckchen des ›Wien in Franken‹ schellte und einen neuen Besucher ankündigte. Franz, der automatisch zur Tür gesehen hatte, zog erstaunt eine Augenbraue hoch. »Luca«, murmelte er in Annas Richtung, die mit dem Rücken zum Eingang saß und von dem Neuankömmling nichts mitbekommen hatte. Die Band hatte also einen Abgesandten geschickt. Anna runzelte die Stirn.

»Na, die müssen es aber eilig haben …«, flüsterte sie Franz zu. Das 'uns los zu werden' verschluckte sie gerade noch so, als der große Schwarzhaarige an ihren Tisch trat. Das wäre beinahe peinlich geworden!

Der Musiker hatte lediglich seine Jogginghose gegen eine Jeans eingetauscht. Nichts ließ erkennen, dass er in kaum vier Stunden in einer bekannten Pagan-Folk-Gruppe spielen würde. Nervös fuhr er sich mit der Hand übers Gesicht. Doch Franz war nicht der Typ Mensch, der es einem anderen zum Vergnügen schwer machte. Er stand auf und reichte dem Neuankömmling die Hand.

»Franz Meister.«

Für dieses Entgegenkommen erhielt er ein zurückhaltendes Lächeln und einen festen Händedruck.

»Lukas Mauren«, bestätigte der Künstler das, was sie sowieso schon wussten. Doch es war einfach höflich, fand Anna, die sich nun auch erhob und vorstellte.

»Hallo, Lukas! Ich bin Anna.« Der Händedruck wiederholte sich. Doch Franz schien damit nicht zufrieden zu sein.

»Anna Krieger«, ergänzte er, »meine Fotografin und eine gute Freundin.«

Warum er ihre Freundschaft hier sofort mit einbrachte, verstand Anna nicht. Doch es war auch nicht der Zeitpunkt für Fragen oder Erklärungen. Franz bot Lukas einen Platz an und dieser verstaute mit einem entschuldigenden Lächeln seine langen Beine vorsichtig unter dem filigranen Caféhaustisch.

»Jonas hat sich wieder beruhigt und Mike war der Meinung, dass ich am besten zunächst allein mit Ihnen reden sollte«, begann er, brach aber wieder ab, um

unsicher mit der Tischdekoration zu spielen.

»Hat sich Jonas entschieden, ob wir für die Pagans arbeiten sollen?« Franz blieb diplomatisch. Es brachte gar nichts, wenn er dem Mann an ihrem Tisch aggressiv begegnete. Lukas Mauren hatte an dem vergangenen Streitgespräch um seine Person keinerlei Anteil. Also hielt er sich zurück, wie er es auch erwartet hätte, wäre er an Lukas'  Stelle gewesen. In dieser Hinsicht war es schlau von Mike, den Künstler vorzuschicken. Denn dem Manager gedachte Franz noch allerlei Klärendes zu sagen. Wer war er denn, dass der Mann ihn herbestellte, obwohl er mit der Band noch nichts geklärt hatte? Und dann dieser Jonas, von wegen Journalistenfuzzie. Der hatte ja wohl überhaupt keine Ahnung! Er war ein Profi, ein erfahrener Autor, kein Schmuddelschreiberling irgendeines Sensationstagesblattes!

Der Zorn brodelte eigentlich immer noch in Franz. Doch für Anna hielt er sich weiterhin zurück. Sie war einen höflichen, rücksichtsvollen Umgang von ihm gewohnt und dabei sollte es auch bleiben. Diese Einstellung wurde allerdings schwer in Frage gestellt, als der Musiker nun antwortete.

»Das ist nicht so einfach mit Jonas«, gab Lukas zu. »Er hat eben seinen eigenen Kopf und weiß, was er wert ist.« Unruhig trommelte der Mann mit zwei Fingern auf die Tischplatte. »An eurem Buch für die Corvidae gab es nichts auszusetzen, da müsst ihr euch keine Sorgen machen. Doch in Annas Vita im Anhang steht, dass sie die Fotografiererei nur hobbymäßig betreibt ...«

Lukas wandte sich Anna direkt zu und beide Männer bemerkten, dass sie unter dem intensiven Blick des Musikers errötete. Dennoch blieb sie gefasst.

»Wieso sollte das ein Problem sein? Meine Bilder werden nicht schlechter, nur weil ich noch einen anderen Beruf habe.«

Franz grinste »Und was für einen …«, brummelte er leise, doch Lukas ließ sich nicht ablenken.

»Jonas fragt sich, wie du das unter einen Hut bringen willst«, forschte er nach. »Und er traut dem Frieden nicht wirklich. Was, wenn ihr euren Erfolg von den Corvidae nicht wiederholen könnt? Immerhin war das euer erstes gemeinsames Buch dieser Art. Dann, so sagt er, hatten wir euch eine Tour lang auf dem Hals und außer Spesen keinen Gewinn.«

Stirnrunzelnd versuchte Anna einen passenden Gedanken für eine Rechtfertigung zu fassen. Dem Typen war sein Erfolg ja ganz schön zu Kopf gestiegen. Sollte sie ihm nun einen Timer zukommen lassen, der seine Tourdaten bestätigte?

Doch Franz kam ihr zuvor. Der Schriftsteller warf den Kopf in den Nacken und lachte herzhaft. Diese Unverfrorenheit war selbst ihm zu viel. Ja, er hätte gerne noch einmal eine Band auf ihrer Tour begleitet und neue spannende Charaktere kennengelernt. Doch nicht um jeden Preis.

»Wenn Jonas meint, er kann uns hier wie Amateure behandeln, dann ist er bei mir an der falschen Adresse. Mike hat mich angerufen und eingeladen, nicht umgekehrt!«

Franz klopfte dem ernsten Lukas nun freundlich auf die Schulter. »Nichts für ungut, Lukas Mauren. Du hast dir wirklich nichts vorzuwerfen. Doch dein Musikerkumpel sollte echt mal seine Prioritäten klären. Anna und ich werden uns hier nicht zu Affen machen. Wenn wir schon mal hier sind, hören wir uns euer Konzert noch an und dann verschwinden wir. Ende. Finite. Auf so einer Basis kann ich eh nicht arbeiten.«

Lukas Mauren nickte bedrückt und kratzte sich dann seinen Kinnbart.

»Genau das hatte ich befürchtet, Mann. Dabei hätten wir eure Unterstützung so gut gebrauchen können.« Er sah Franz drängend an. »Könntest du nicht versuchen, über Jonas'  Eigenarten ein wenig hinwegzusehen? Bleibt heute hier, hört euch das Konzert an. Vielleicht kannst du einen kleinen Artikel dazu entwerfen, mit dem wir Jonas deine Qualität als Schriftsteller vor Augen führen? Und du, Anna, machst ein paar Bilder heute Abend?«

Doch ganz so einfach war es nicht für Lukas, Franz und Anna zum Bleiben zu überreden. Und vermutlich hätte sich der Musiker auch nicht mit einer solchen Intensität für die Sache eingesetzt, wenn ihn die Fotos der Corvidae nicht komplett überzeugt hätten. Was hier von dieser Anna in Szene gesetzt worden war, zeigte viel mehr als nur eine Band on tour. Da waren Emotionen zu sehen, Leidenschaft für die Musik, der Genuss der Musiker am Jubel ihrer Fans und vieles mehr. Die Corvidaefotos spiegelten die Persönlichkeit der Bandmitglieder wider, hoben die Gruppe aus der Masse der Mittelaltermusiker heraus.

Lukas war bewusst, dass Anna für die Pagans möglicherweise nicht dasselbe abliefern konnte. Doch falls es so wäre, läge die Schuld auch bei den Musikern selbst. Er hatte ganz hinten in dem Heft zwei kleinere Bilder entdeckt, die offenbar von Franz stammten: Anna in der Werkstatt des Instrumentenbauers der Truppe, wie sie selbstvergessen und neugierig auf dessen Hände starrte, während er irgendeine Flöte drechselte und noch einmal Anna inmitten der fünf Musiker auf der Bühne, glücklich strahlend und mit einem der Dudelsackspieler ausgelassen tanzend. Es war die Hingabe, die die Frau auf diesen kleinen Aufnahmen ausstrahlte, die ihn faszinierte und in der er den Ursprung für ihre außergewöhnliche Bilddarstellung vermutete. Doch diese musste sie für die Pagans erst einmal entwickeln.

Ob das noch möglich war, nachdem sie Jonas' lautstarke Abneigung mitgehört hatte?

 

Licht und Kontrast

 

Eigentlich hatte Anna nicht vorgehabt, bis zum Sonntag in Selb zu bleiben.

»Meine Tochter Jenny kommt morgen aus dem Ferienlager zurück«, erklärte sie Lukas Mauren. »Einfach mal so einen Tag dranhängen kann ich also nicht.«

So war das also. Lukas fand es selber überraschend, dass ihn diese Aussage störte. Wohl weniger die Tatsache, dass die Fotografin ein Kind hatte, als der daraus zu ziehende Schluss, dass es dazu einen Vater geben musste. Herrgott! Die Frau war bestimmt ebenso alt wie er und er kannte sie kaum, hatte sie gerade vor einer Stunde zum ersten Mal getroffen. Nur, weil sie in seinen Augen gut aussah und mindestens ebenso gute Fotos machen konnte, hieß das noch lange nichts. Man konnte in Bilder so vieles hinein interpretieren. Was wusste er denn schon?

Dass sie hier saß, war ihr Job. Bestimmt hatte sie Familie, Haus und Hund wie die meisten Frauen ihres Alters. Dass er nie bis dahin gekommen war, hieß nicht, dass es den meisten Enddreißigern ebenso ging.

»Kann sich nicht dein Mann mal um euer Kind kümmern?«, brummte er nun, entsprechend ungehalten, obwohl ihm das gar nicht zustand. Was ihm auch sofort deutlich gemacht wurde. Anna sah ihn entsetzt an und Franz richtete sich ruckartig auf.

Doch die Fotografin konnte offenbar ganz gut für sich selbst sprechen. Anna hatte die unerwartet private Frage zwar deutlich auf dem falschen Fuß erwischt, doch sie fing sich schnell wieder.

»Tut mir leid!« Sie sah dem Mann ihr gegenüber dabei trotzig in die Augen. »Jennys Erzeuger hält nicht viel davon, sich um seine Tochter zu kümmern …«, der Trotz wich einer heimlichen Traurigkeit, »schon seit zwei Jahren nicht mehr. Meine Tochter und ich leben allein und ich bin für sie verantwortlich.«

Lukas sah, dass der Journalist tröstend nach ihrer Hand griff.

»Annas Privatleben geht hier keinen was an«, stellte er entschieden klar, »ebenso wenig wie meines. Wenn sie sagt, sie kann nicht, dann habt ihr das zu akzeptieren, ganz egal, ob ihre Gründe nun beruflich oder privat sind.« Er sah Anna nachdenklich an, deren Gesicht deutlich zeigte, wie unwohl sie sich gerade fühlte.

Franz hatte selbst kein gutes Gefühl mehr, wenn er an diesen Job dachte. Ja, er brauchte ein neues Projekt. Und die Arbeit mit den Corvidae hatte ihnen beiden Spaß gemacht. Aber er musste diesen Auftrag auch nicht um jeden Preis haben und auf Annas Kosten schon gar nicht.

Doch die dachte in ganz andere Richtungen.

Als Lukas ein »Tut mir leid!« vorbrachte, winkte sie einfach ab.

»Ich würde schon gern euer Konzert heute hören«, gab sie zu. »Eure Youtube-Videos sind toll.« Mit gerunzelter Stirn blickte sie dann zu Franz. »Was meinst du? Ob Sylvie morgen Jenny nicht vom Bahnhof abholen und mit zu euch nehmen könnte? Bis zum Nachmittag wären wir ja wieder zurück.«

Anna, Franz und Sylvie wohnten in demselben idyllischen Dorf vor den Toren Jenas. So hatten sich die Paare auch vor fünf Jahren kennengelernt, als Stefan und Anna begannen, ein Haus in Weidenau zu renovieren. Stefan war inzwischen nach Hamburg zurückgekehrt. Anna lebte mit Jenny allein in dem inzwischen gemütlichen, alten Bauernhaus. Franz und Sylvie mochten die beiden und gerade Franz' Frau verbrachte viel Zeit mit Jenny. Ein Problem sollte dieser eine Abend wirklich nicht sein.

Der Journalist nickte. »Ich kann sie nachher anrufen«, versicherte er. »Doch vorher habe ich noch ein Wörtchen mit diesem Mike zu reden. Er kann uns nicht einfach hierher bestellen, ohne die Formalitäten geklärt zu haben. Wenn das Projekt nicht zustande kommt, setze ich ihm den ganzen Tag auf die Spesenrechnung.« Der Schriftsteller lachte. »… einschließlich Kaffee und Kuchen!«

Trotz der ernsten Worte stellte diese Aussage die gute Laune der drei wieder her. Sie bezahlten und als sie aus dem Café traten, empfing sie das weiche Licht des späten Nachmittags und versetzte Anna in Fotolaune. Fröhlich begann sie in ihrem Fotorucksack zu kramen und förderte bald darauf ihre Minolta zutage. Ohne große Umstände entfernte sie den Deckel von ihrem Objektiv und schraubte einen Filter auf.

Neugierig sah ihr der Musiker dabei zu, während Franz das Schauspiel schon kannte.

»Na, hat dich die Sucht schon gepackt?«

Anna grinste. »Klar doch! Schau dir dieses Licht an – ein Traum.«

Lukas runzelte die Stirn. »Was ist an diesem Licht denn so besonders?«

Doch bevor Anna zu einer wahrscheinlich recht ausführlichen Antwort ansetzen konnte, verabschiedete sich Franz schnell von den beiden. Bestimmt war es gut, wenn Lukas Mauren selber sah, wie gewandt Anna mit der Kamera war.

Franz fand den Mann sympathisch. Sein Auftreten vorhin im Café war höflich und zurückhaltend gewesen. Kein Grund also, ihn nicht mit Anna alleine zu lassen. Bei Jonas hätte er das ganz anders gesehen. So aber machte er sich auf die Suche nach dem Manager der Pagans. Egal, wie es nun weiterging, so ließ sich ein Franz Meister nicht behandeln!

Anna hingegen schilderte für Lukas, wie das Licht für ein perfektes Foto aus ihrer Sicht beschaffen sein musste: kontrastreich, weich, intensive Farben und Konturen frei gebend. Mit der Kamera zeigte sie ihm dann gleich am Bild, was sie meinte und Lukas ließ sich gern von ihrer Faszination mitreißen. Gemeinsam streiften sie durch das kleine Frankenstädtchen auf der Suche nach spannenden Motiven, witzigen Details und neuen Perspektiven.

Anna genoss das Interesse des Musikers an ihrer Arbeit und auch für Lukas war der Bummel ein ungewohntes Erlebnis. Dass die Fotografin ihn so selbstverständlich an ihrer Arbeit und ihrer Begeisterung teilnehmen ließ, war für ihn etwas ganz Besonderes. Die meisten Frauen sahen sonst nur sein Bühnenimage, den ungebundenen, vermeintlichen Neuheiden, mit dem sie Freizügigkeit und Hemmungslosigkeit assoziierten. Manche boten sich ihm auch jetzt noch, wo er das typische Alter des wilden Lebens längst überschritten hatte, ganz offen an.

Manchmal ließ er sich von solchen Avancen locken, doch meistens verschwand er nach den Konzerten schnell in seinem Wohnmobil oder dem angemieteten Zimmer und verbrachte die Nacht damit zu lesen oder zu komponieren. Der ganze Rummel um seine Person interessierte ihn wenig. Er genoss den Moment, wo er auf der Bühne stand nur deshalb, weil er dort seine Musik spielen konnte, etwas, was ihm wirklich Spaß machte.

Solche Momente wie dieser, während dem er ungezwungen mit Anna durch die Stadt schlenderte, waren selten geworden. Nachdenklich beobachtete er die Fotografin, deren ganze Konzentration sich nun auf einen Brunnen richtete, den sie auf dem Marktplatz entdeckt hatten – unzählige sechseckige Porzellankacheln in verschiedenen Blautönen lockten das Auge zu näherer Betrachtung.

Lukas aber interessierte sich weniger für die offensichtliche Werbung der Porzellanstadt, viel mehr lockte es ihn, die Frau zu beobachten, die selbstvergessen versuchte, diesem hundertmal abgelichteten Motiv einen neuen Aspekt abzuringen. Dabei war sie sich nicht zu schade, für ein Foto auf die Knie zu gehen oder sich so zu verrenken, dass sie die Brunnensäulen vor den blauen Himmel bekam. Ihre halblangen braunen Haare hatte sie schon zu Beginn des Spaziergangs mit einem einfachen Haargummi zusammengefasst. Jetzt schob sie einzelne lose Strähnen hin und wieder ungeduldig aus der Stirn, wenn sie sie störten.

Dem Mann, dessen Beobachtung sie gar nicht wahrnahm, gefiel die selbstverständliche Eleganz ihrer Bewegungen. Und mit einem Mal erkannte Lukas, was er da vor sich sah. Anna war nicht irgendeine Frau, die aus Spaß Fotos machte. Auch, wenn sie sich selbst nicht so nannte, war sie eine Künstlerin.

Unwillkürlich schlug sein Herz schneller, als er diesen Gedanken weiterspann. Vielleicht hatten sie mehr Gemeinsamkeiten, als er zunächst gedacht hatte, konnte sie hinter das offensichtliche Bild des Lukas Mauren sehen, etwas, worauf er bei früheren Freundinnen meistens vergeblich gewartet hatte?

Lukas wusste es nicht. Und inzwischen war ihre gemeinsame Zeit beinahe um. Er musste langsam zurück, um sich auf das Konzert vorzubereiten. Doch bevor er seine vorschnellen Wünsche und Gedanken verdrängte, prägte er sich das Bild vor seinem Auge gründlich ein: Anna, wie sie mit der Kamera in der Hand den Moment festhielt.

Die Frau hinter dem Objektiv sah durch den Sucher ihrer Kamera den ernsten, forschenden Blick des Musikers. Und es waren nicht Licht und Kontrast der Gesichtszüge des Mannes, die sie gefesselt die Luft anhalten ließen, bevor sie den Auslöser drückte.

Als der Tontechniker auf der anderen Seite des Marktes einen erneuten Soundcheck begann, verflog der Zauber dieses kurzen Augenblicks, wie er gekommen war. Aus ihrer Betrachtung gerissen, richtete sich Anna auf und klopfte verschämt ihre Hosenbeine ab. Ein feines Rot überzog ihre Wangen, als sie sich ihrem Begleiter erneut zuwandte. Doch Lukas hatte sich wieder gefasst.

»Ich muss zurück«, entschuldigte er sich bedauernd. »Wir müssen noch die Instrumente einrichten und ein bisschen Schminke muss ich mir wohl auch bald leisten.« Er lachte leise. »Wenn du nach dem Konzert allerdings noch Zeit für einen alten Heiden wie mich hast, würde ich mir gern bei einem Glas Wein deine Bilder von heute anschauen.«

Überrascht starrte Anna den ›Heiden‹ einen Moment zu lange an und Lukas glaubte schon, mit seinem Wunsch über das Ziel hinausgeschossen zu sein. Dann aber trat auf Annas Gesicht ein Lächeln und sie nickte.

»Gern!« Und nach einem tiefen Einatmen: »Doch vorher könntest du mich noch mit eurem Lichtleister bekannt machen. Ich muss unbedingt ein paar Auskünfte zur Beleuchtung der Bühne einholen.« Sie zwinkerte Lukas zu. »Und wenn wir Jonas ein paar gute Bilder zeigen wollen, brauche ich die Erlaubnis, hinter der Absperrrung fotografieren zu dürfen.«

Da war sie also wieder, die Fotografin in Anna. Lukas lachte, ergriff wie selbstverständlich die Hand der überraschten Frau und zog sie über den Platz Richtung Konzertbühne.