[2|3] Editorial

»Denn nichts als nur Verzweiflung …«

Autoren wie Lenz, Kleist, Hölderlin, Büchner und vielleicht auch Heine haben längst den Status kanonisierter Vorläufer der Moderne erworben. Ihre spätere, wenn auch sehr unterschiedliche (Wieder-)Entdeckung und Würdigung im 20. Jahrhundert wurden von einer vielstimmigen und mehrstufigen, sowohl künstlerischen als kritischen, philologischen oder philosophischen Rezeption ausgelöst, in der die mehrfache Gebrochenheit ihrer Werke sowie ihrer Biografien zur Präfiguration einer zeitgenössischen existenziellen und zeitgeschichtlichen Lebens- und Schreibweise avancierte. Im Gegensatz dazu muss die Rezeption von Christian Dietrich Grabbes Werk und im Besondern die Anerkennung von dessen Modernität ohne Weiteres als ein zögerlicher Prozess bezeichnet werden. Zugegeben: Die biografischen Fakten – Alkoholismus, Geldsorgen und Ehekonflikte – taugen weniger zu einer erhabenen Vita als Wahnsinn, Selbstmord, politische Verfolgung und früher Tod, aber als Grund dafür, dass auch heute noch die Wirkung des Dramatikers aus Detmold keine Erfolgsgeschichte genannt werden darf, reichen sie nicht aus. Ähnliches gilt für die mit Hölderlin und Kleist geteilte Vereinnahmung durch Nationalsozialismus und Marxismus. Auch wer das Werk Grabbes nur oberflächlich zur Kenntnis genommen hat, wird sofort die mit der ideologischen Instrumentalisierung einhergehende Reduzierung der formalen sowie inhaltlichen Komplexität und Ambivalenz bemerken. Dennoch genießt Grabbe weder bei den Literaturwissenschaftlern noch bei den Theatermachern große Beliebtheit, nur selten findet man seine Stücke auf dem Spielplan deutscher Bühnen – im Ausland schon gar nicht. Das erstaunt, denn immerhin gilt er als würdiger Zeitgenosse Georg Büchners und es wird ohne Einschränkung auf die innovative, die ästhetische Formensprache des damaligen Theaters sprengende Qualität seiner Dramatik hingewiesen. Der Vorwurf der Unspielbarkeit wirkt längst überholt, denn für moderne und zeitgenössische Dramaturgien, von Brechts epischem Theater zu Alfred ­Jarrys und Antonin Artauds Avantgarde-Theater und bis zur zeitgenössischen Postdramatik, ist Grabbes »Radikaldramatik« (Volker Klotz) mit ihren sowohl absurd-grotesken als auch exzessiv affektiven Zügen und ihrer fast metatheatralischen Reflektiertheit geradezu ein gefundenes Fressen.

Dieser letzte Zug, der sich vor allem auf das mediale Inszeniertsein und die daraus folgende Machtlosigkeit der einmal als ›groß‹ apostrophierten geschichtlichen Aktanten bezieht, trifft wohl den neuralgischen Punkt von [3|4]Grabbes Zeit. Grabbe hat ihn selbst in seinem Essay »Etwas über den Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe« in einem prägnanten Bild gefasst: »Mit Napoleons Ende war es mit der Welt als wäre sie ein ausgelesenes Buch, und wir ständen, aus ihr hinausgeworfen, davor, und repetirten und überlegten das Geschehene.« Geboren nach der Französischen Revolution, als Dramatiker tätig geworden in einer postnapoleonischen Welt und längst gestorben, als 1848 noch einmal (vergeblich zwar) revolutionäre Hoffnungen aufkeimen, lebt Grabbe in einer Zeit großer Enttäuschungen und tiefer Melancholie, ohne dass sein Werk ins Idyllische noch in nostalgische Heroik oder utopische Entwürfe abdriften würde. Vielleicht sind die Illusions- und Hoffnungslosigkeit, das lähmende Bewusstsein der Vergeblichkeit historischen Handelns und der Kontingenz der geschichtlichen Ereignisse, welche so manche historische Größe in Grabbes Stücken zum trivialen oder sogar skurrilen Figuranten seines eigenen Dramas machen, einige der Gründe des Skandalons Grabbe?

Die Beiträge in diesem ersten Grabbe gewidmeten Heft versuchen diesem Skandalon näherzukommen. Sie gehen Grabbes schwarzem Pessimismus, seiner radikalen Verwerfung jeden Glaubens an einen als Moralisierung verstandenen Fortschritt nicht aus dem Wege und zeigen wie seine rücksichtslosen Darstellungen von Feindschaft, Fremdheit und (Selbst-)Destruktionszwang ihn in »eine sehr deutsche Tradition« einschreiben, wie unterschiedliche zeitgenössische Künstler wie Heiner Müller und Anselm Kiefer beobachtet haben. Historische Größe, tragisches, schicksalhaftes Handeln und Erleiden, Transzendenz, Moral oder sonstige Sinnangebote: Sie werden in Grabbes Dramen schamlos als obsolet gewordene Motive zitiert und trivialisiert. Treue, Mut und Ehre, Trauer und Wut: Sie erscheinen allenfalls als theatralische Posen. So entgleist die historische Tragik und mündet allenthalben in einem Theater, das Tragik und schicksalhafte Bestimmung als Selbstsatire entlarvt. Diese wird zwar »lautes Lachen erregen, doch im Grunde nur ein Lachen der Verzweiflung«, wie Grabbe selbst wusste. In dem berühmten »SPIEGEL«-Interview vom Mai 1969, in dem Adorno sich andauernd gegen den Vorwurf einer praxisfaulen, gewissermaßen apolitischen Attitüde verteidigen musste, wird überraschenderweise Grabbe zum Zeugen à décharge aufgerufen: »Es gibt einen Satz von Grabbe, der lautet: ›Denn nichts als nur Verzweiflung kann uns retten.‹ Das ist provokativ, aber gar nicht dumm. – Ich kann darin keinen Vorwurf sehen, daß man in der Welt, in der wir leben, verzweifelt, pessimistisch, negativ sei. Eher sind doch die Menschen beschränkt, die krampfhaft die objektive Verzweiflung durch den Hurra-Optimismus der unmittelbaren Aktion überschreien, um es sich psychologisch leichter zu machen.«

[4|5] Norbert Otto Eke

»Um so etwas bekümmre ich mich nicht«

Grabbe und die Moral

Moral und Herzenskälte

»Arboga! Niegerührter! rühret dies / Dich nicht?«1 – Die Frage des schwedischen Königs Olaf an einen der ›Großen‹ seines Reichs bleibt unbeantwortet, dabei ist sie in eine Situation hinein gesprochen, die allen Anlass bietet für ein zumindest sympathetisches Mitleiden: In den Armen seines Vaters stirbt vor den Augen des Hofs der Reichskanzler Friedrich von Gothland, niedergestreckt vom eigenen Bruder Theodor im Wahn, Friedrich habe sich aus Habgier des Brudermords schuldig gemacht. Der Appell König Olafs an das Vermögen zur Rührung und damit an das Herz als den Sitz moralischer Empfindungen verfängt nicht bei einem Mann, dessen Seele »dumpf« und dessen Gewissen »an Blut / Gewöhnt«2 ist. Arboga bleibt stumm vor dem Anflug der Gefühle.

Mit dem Grafen Arboga hat Grabbe dem ›rasenden‹ Titelhelden seines pseudohistorischen Trauerspiels »Herzog Theodor von Gothland« den Repräsentanten eines bis zur Erfahrungslosigkeit ausgekälteten Bewusstseins an die Seite gestellt, das sich mit Gott (»GOTHLAND (…) Fürst! glaubt Ihr an Unsterblichkeit? / ARBOGA Um so etwas bekümmre ich mich nicht.«3) auch der Moral als eines Regulativs sozialer Praxis entledigt hat. Während Theodor von Gothland auf seinem Weg vom Objekt einer hasserfüllten Rachehandlung zum Subjekt seines eigenen Rachehandelns den ihn hemmenden Gewissensbezug nie ganz loszuwerden vermag und sich darum eine von der Last des Denkens freie Existenz als Ideal herbeiträumt (»O wäre ich ein Vieh!«4), zeigt Arboga sich gleichgültig, ›unbekümmert‹, gegenüber dem normativen Charakter einer Moral, die als »Summe der intersubjektiv geteilten handlungsbezogenen Werte und Normen des zwischenmenschlichen Zusammenlebens«5 das Handeln sowohl auf der sozialen Ebene (sozialer Mechanismus) wie auf der individuellen Ebene (in der Form von Charakterzügen oder Tugenden) anleiten zu wollen den Anspruch erhebt.6 Ohne zu zögern, liquidiert er so auf einen Befehl Gothlands hin 5000 schwedische Kriegsgefangene und steht auch nicht an, dessen Absicht, das komplette finnische Heer im Schlaf abzuschlachten, umgehend in die Tat umzusetzen. Seine Antwort auf Gothlands Frage »Wollt Ihrs tun?« ist ebenso lapidar wie konsequent: »Warum nicht?«7 Folgerichtig hat Grabbe [5|6]dem gewissenlosen Schlächter, den Gothland sich auf dem Weg in die Finsternisse der eigenen Seele hinein zum Vorbild nimmt (»Er scheint mir das zu sein, / Was ich noch werden muß!«8), auch die Rechtfertigung einer Herrschgewalt in den Mund gelegt, die sich durch kein moralisches Wertsystem Fesseln anlegen lässt:

GOTHLAND (…)

Arboga, könnt Ihr mir

Die Rechte nennen, die ein König hat?

ARBOGA Ein König hat gar große Rechte, als

Das Recht der Willkür, die Befugnis zur

Gewalt, das Recht des Völkermordes –

GOTHLAND Hat er

Das letztere?

ARBOGA ohne Ironie Zum wenigsten ists von

Den Kön’gen ausgeübt, so lange als

Es Kön’ge gibt.

GOTHLAND Nur eins sag an:

Ist Völkermord ein Königsrecht?

ARBOGA Ich glaube es.

GOTHLAND Gottlob, Wir sind ein König!9

Arboga, für den selbst der eigene Tod ohne Bedeutung ist (sein letztes im Drama gesprochenes Wort angesichts der ihm vom König gewährten Gnade einer Hinrichtung durch das Schwert und nicht durch das Rad lautet bloß: »Meintwegen!«10), ist als Advokat eines maßlosen Souveränitätsanspruchs eine Reminiszenz an die amoralischen Größenfiguren des frühaufklärerischen heroischen Trauerspiels, das sich mit der Entfaltung tragisch modellierter Konflikte zwischen Politik und Moral gegen die im politischen Denken seit dem 16. Jahrhundert (Niccolò Machiavelli: »Il Principe«, um 1513) staatstheoretisch begründete Herauslösung des politischen Handelns aus seiner ethischen Lagerung und seiner Ausrichtung an der Staatsräson positionierte.11 Die Exzesse der Herrschaft angesichts der von Arboga »ohne Ironie« geltend gemachten Superiorität der Legalität gegenüber der Moralität (als qualifizierter Praxis) vor Augen, verschaffte es am Beginn des Jahrhunderts der Aufklärung nicht nur der Vorstellung einer moralischen Regulierung gesellschaftlicher Praxis Ausdruck, sondern zugleich auch den Grundsätzen einer gewissensregulierten Ethik des politischen Handelns.12 Ablesbar wird an ihm damit, dass die von Kant in der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« (1785) und der »Kritik der praktischen Vernunft« (1788) mit dem ›Kategorischen Imperativ‹ dann auf den Begriff gebrachte Ordnungsfunktion der Moral als Grundlage gemeinsamer Wertvorstellungen durchaus [6|7]nicht Halt machte vor den Institutionen allgemein geltenden Rechts und auch den vom Souverän monopolistisch verwalteten Institutionen des absolutistischen Staates (Polizei, Gesetzgebung, Militär). Hier haben Figuren wie der »Menschenwürger«13 Timophanes aus Georg Behrmanns Trauerspiel »Timoleon der Bürgerfreund« (1741) oder der von »Ruhmbegier«14 als einem Ehrgeiz ohne Moral angetriebene »Barbar«15 Ulfo aus Johann Elias Schlegels »Canut« (1746) ihren Platz: als Vertreter einer vormodernen, von überholten Wertbegriffen (Ehre, Mut, Kampfbereitschaft, Egoismus) regierten Zeit. Als Anachronismus werden beide, nachdem alle Versuche, sie durch Zuspruch für das Verachtete (Humanität, Gemeinschaftlichkeit, Rücksicht) ›sozial‹ zu machen, gescheitert sind, aus der moralisch regulierten Gemeinschaft ausgeschieden – was jeweils nicht ohne Verluste bei denjenigen abgeht, die sich auf die Seite der Moral stellen: Der titelgebende ›Bürgerfreund‹ Timoleon steht am Ende so als ›verdienstvoller‹ Brudermörder mit blutigen Händen in der von ihm durch Ausschluss des ›Bösen‹, ›Unzuträglichen‹ und ›Widersinnigen‹ befriedeten Bürgerschaft, aus der er sich zuletzt konsequenterweise selbst ausschließt; der König Canut wiederum tritt als »Held voll Gütigkeit«16 an, muss sich zuletzt aber der politischen Einsicht beugen, »Wer nicht will menschlich seyn, sey auch nicht werth zu leben«17, was ihn allerdings dann auch zu einem »wahrhaft guten, nämlich verantwortungsbewußten König« werden lässt, der »Herz und Verstand gleichermaßen«18 einzusetzen gelernt hat. In beiden Fällen ist die Gewissensregulierung der Herrschgewalt der cordon sanitaire, den die aufgeklärte Gesellschaft gegenüber dem Rückfall ins Barbarische errichtet, der mit dem Anspruch auf absolutes Herrschertum droht, wie Ulfo und Timophanes es begehren und Arboga es legitimiert. Damit erteilen beide Stücke zugleich auch einer ›kalten‹ Staatskunst eine Absage, wie Schlegel selbst sie 1736 in seinem Trauerspiel »Die Trojanerinnen« in der Figur des Ulyß personifiziert hatte, einem seelenlosen Agenten amoralischer force majeure, der nicht etwa wie Canuts der »Menschheit ganz entrissen(er)«19 Gegenspieler Ulfo mit irrlichternder Leidenschaftlichkeit agiert, sondern vielmehr mit souveräner Herzenskälte – ohne Gewissen.

Reflektiert das heroische Trauerspiel der Frühaufklärung so die Einsenkung des »Princip(s) der Moral«20 in das politische Handeln, führt Grabbes Werk wieder die anhaltende Trennung beider Bereiche vor Augen und verabschiedet damit den Glauben an einen als Moralisierung verstandenen Fortschritt, der im 18. Jahrhundert noch den Aufstieg des Bürgertums befeuert hatte.

[7|8] Politik und Moral

Hegel fordert in seinen »Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte« dazu auf, ›Größe‹ und ›Moralität‹ zusammenzudenken, wenn er von den ›großen‹ Menschen sagt, sie seien ›groß‹, »eben weil sie ein Großes, und zwar nicht ein Eingebildetes, Vermeintes, sondern ein Richtiges und Notwendiges gewollt und vollbracht«21 hätten. Das nämlich schränkt die Zwecksetzung politischen Handelns gerade im Hinblick auf seine Ansicht, wonach ein »welthistorisches Individuum (…) ganz rücksichtslos dem einen Zwecke« angehöre,22 notwendigerweise vonseiten der Moral ein (»Richtiges und Notwendiges«). Grabbes Figuren sind weitgehend immun gegenüber einer derartigen Einschränkung ihrer Souveränität durch das »Princip der Moral«23, wobei ihnen im Unterschied zu den ›Heroen‹ des frühaufklärerischen Trauerspiels durchaus keine Gefahr von einer moralischen Gegenkraft droht – eine solche gewinnt erst in der Vision des sterbenden Augustus vom Aufstieg des Christentums am Ende von Grabbes letztem Stück »Die Hermannsschlacht« ansatzweise Gestalt –, sondern vonseiten der Mediokrität einer in Partialinteressen zerfallenen Welt. Nicht nur Heinrich dem Löwen hat Grabbe am Ende von »Kaiser Friedrich Barbarossa« so die düstere Zukunftsvision in den Mund gelegt, »Mein Reich wird Raub der kleinen Hunde!«24; Napoleon (»Napoleon oder die hundert Tage«) weiß um den nur relativen Wert seiner Größe (»Weil sie [»die Canaille«] so niedrig war, ward ich so riesenhaft.«25); Hannibal wiederum scheitert an den Interessen der Krämer und Kaufleute (»fechte der Satan, wo Kaufleute rechnen«26), und am Ende der »Hermannsschlacht« sieht sich der Befreier Germaniens mit seinen hochfliegenden machtpolitischen Träumen von nationaler Größe angesichts der Schwerkraft und Trägheit der Massen so weit ins Abseits gestellt, dass er mit einem halb erstaunten, halb resignierten »Ach«27 die Bühne einer Geschichte verlässt, auf der sich Welt/Politik und Ich nicht mehr in dem Maße zusammendenken lassen wollen, wie dies dem Kaiser Friedrich Barbarossa aus dem ersten Teil von Grabbes Hohenstaufen-Zyklus noch möglich gewesen war (»Was sie [Roms Kaiserkrone] bedeutet, will ich sein!«28).

Vor diesem Hintergrund erscheint die Amoralität der Grabbe’schen ›Größen‹-Figuren im Licht einer ›Grandiosität‹, die Grabbe selbst für sich in seinem Erstlingswerk des »Herzogs Theodor von Gothland« im Gestus radikaler Überschreitung (von Grenzen, Zwängen und Konventionen) in Anspruch genommen hatte: mit der Verabschiedung des aufklärerischen Entwurfs einer Kultur der menschlichen Versöhnung und zugleich der klassisch-idealistischen Kunstdoktrin von der Einheit von Moral, Wahrheit und Kunstschönem; mit der Brutalisierung eines Handlungsgeschehens, das allein die »Bösartigkeit (vitiositas, pravitas) (…) oder Verderbtheit (corruptio) des menschlichen Herzens« gelten lässt und damit etwas, von dem Kant [8|9]noch geglaubt hatte, es stelle lediglich eine »Verkehrtheit (perversitas)« dar, eben »weil sie die sittliche Ordnung in Ansehung der Triebfedern einer freien Willkür« umkehre29; nicht zuletzt mit der Unerbittlichkeit der Absage an die universelle Gültigkeit eines Sitten- beziehungsweise Moralgesetzes, das die berühmten Schlusssätze der »Kritik der praktischen Vernunft« als Ordnungskraft sowohl innerhalb wie außerhalb des Menschen behauptet hatten: »Zwei Dinge erfüllen das Gemüth mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.«30 Dem hier sich aussprechenden Glauben an die Erhabenheit der göttlichen Schöpfung hält der Herzog Theodor von Gothland in der ersten Szene des dritten Aktes in seinem großen Verzweiflungsmonolog nur mehr die Einsicht in das radikal Böse als Urgrund des Seins entgegen:

– Der Mensch erklärt das Gute sich hinein,

Wenn er die Weltgeschichte liest, weil er

Zu feig ist, ihre grause Wahrheit kühn

Sich selber zu gestehn!

(…)

Jetzt erst, jetzt erst begreif ich euch,

Ihr himmelstürmenden Giganten!

– Zerstörend, unerbittlich, Tod

Und Leben, Glück und Unglück an-

Einander kettend, herrscht

Mit alles niederdrückender Gewalt

Das ungeheure Schicksal über unsren Häuptern!

(…)

Allmächtge Bosheit also ist es, die

Den Weltkreis lenkt und ihn zerstört!31

Prototyp der amoralischen ›Größen‹-Figur in Grabbes Werk ist letztlich aber nicht der solcherart die Moral als Versuch der Kontingenzabwehr denunzierende Herzog Theodor von Gothland (auch nicht der die Maschinerie des Menschenschlachtens in Gang setzende Rächer Berdoa), sondern vielmehr der römische Feldherr Sulla als Repräsentant einer autoritären, auf das Führerprinzip und die Verachtung der Massen zugeschnittenen Ordnungsutopie als Kehrseite der moralischen Regulierungssysteme. Mit der Figur Sullas erscheint in dem Dramenfragment »Marius und Sulla« nämlich die delirierende, im Letzten noch ziellose Gewalt des Gothland-Dramas eingerückt nun in ein dezidiert politisches Koordinatensystem, das auch den Exzessen der Macht noch Sinn zuzuschreiben erlaubt.32

[9|10]Sulla ist wie sein Gegenspieler Marius ein Held jenseits der Moral. »Er fühlt nicht wie wir«, hat Grabbe dem Griechen Kaphis als Charakterisierung Sullas in den Mund gelegt, und niemand wisse, »ob es ihm nicht einmal einfallen kann, uns wie Spinnen und Fliegen zu betrachten, welche der Knabe gleichgültig und mitleidslos zerrupft, weil er ihr Jammern nicht versteht«.33 Wie Arboga ist auch Sulla ein »Niegerührter«, Inbegriff einer souveränen Herzenskälte, die sich keine Empathie erlaubt:

EINE MUTTER MIT IHREN KINDERN eilt herein und wirft sich vor Sulla nieder

Errettung! Gnade! Catilina haust

In unsren Hütten! Rett uns Gut und Leben!

SULLA Warum?

DAS WEIB bestürzt Warum?

SULLA Ja, sag mir das!

DAS WEIB Verspotte

Uns nicht! Auf die Kinder deutend

Rett die unschuldgen Würmer!

SULLA Sinds Würmer? Laß sie in die Erde kriechen!

METELLA Entsetzlich, er wird witzig! Graun durchzuckt mich!

DAS WEIB Wie? kann denn nichts Dich rühren?

SULLA Rühr soviel

Du willst.34

Von der Person dieses empathie- und mitleidlosen Machtmenschen her, der am (von Grabbe nur noch skizzierten) Ende als »Diktator Perpetuus« unumschränkte Herrschgewalt erreicht hat, »Herr der Welt«35 ist – und abtritt, schärfen sich die Konturen der Trennung von Politik und Moral in einem nun neuen, ›modernen‹ Zuschnitt, ist sein Handeln doch immerhin tendenziell im geschichtlich Notwendigen aufgehoben. Exemplifiziert Grabbe am Beispiel des von Leidenschaften regierten »alte(n) Weltbeherrscher(s)«36 Marius einerseits die Verselbständigung der Gewalt, ihre Loslösung von primären politischen und historischen Zielen – ein gleichsam ›altes‹ Muster –, bringt er mit dem »Schlaukopf«37 Sulla andererseits im historischen Gewand eine moderne Figur ins Spiel: Der von seinem Kontrahenten Marius entfesselten (anarchischen) Gewalt des Bürgerkriegs setzt er eine regulierte und regulierende Gewalt als Ordnungsinstrument entgegen.38 Die von Grabbe in Szene gesetzten Machtkämpfe zwischen den beiden titelgebenden Helden Marius und Sulla erhellen in dieser Hinsicht das politisch vorausschauende Handeln eines ›Politikers‹, der als »einer von den großen Ärzten / Der Menschheit«39 im Interesse eines Höheren dem Chaos Gewalt antut, sich dabei bedenkenlos über Partikularinteressen hinwegsetzt und den Aufstand [10|11]des aus dem Exil des Vergessens40 zurück an die Macht drängenden Marius im Blut der dem Gemeinwohl Geopferten regelrecht ertränkt. Souverän in seiner Befähigung zur rationalen Kalkulation seiner Mittel, ist er gegenüber einer durch das Gewissen regulierten Ethik eines politischen Handelns, die dem Menschen einen Wert an sich zuschreibt, dabei immun. »Ernstliche Gewissensbisse« brauche »er nicht zu fürchten«, hat Grabbe Sulla in den nicht mehr ausgeführten Teilen des dritten Akts nachgesagt, dazu sei »er in sich selbst zu abgerundet«.41 Er fühle sich berufen, »das Mögliche zu tun. Dabei seine geschichtliche Äußerung: die Republik befinde sich in solcher Gefahr, daß gewaltsame Heilungsmittel nötig seien; der Verlust von wenig Blut würde die Krankheit, statt sie zu heilen, nur vergrößern; er halte es für nötig einem so unruhigen und großen Körper viel Blut abzuzapfen, um ihm die volle Gesundheit wiederzugeben.«42

Als moderner Technokrat der Macht ist Sulla »Römer« katexochen – zumindest in der Dramenwelt Grabbes, wie der Blick auch auf seine anderen ›Antike‹-Dramen (»Hannibal«, »Die Hermannsschlacht«) zeigt. ›Groß‹ macht Rom die alle gesellschaftlichen Bereiche durchsetzende kalte Logik einer zur Staatsräson erhobenen instrumentellen Rationalität, die vom Menschen absieht und der Natur (Gefühlen, Affekten) gewaltsam Grenzen setzt. Der ›kalte‹ Pragmatismus der beiden in »Hannibal« zu Prokonsuln erhobenen Scipionen bei der Aushebung neuer Soldaten für den Kampf gegen Karthago vermittelt eine Ahnung von der gegenüber einer universalen Moralvorstellung gleichgültigen Politik, der Rom seine Stärke verdankt. Dem älteren Scipio scheinen diese Krieger wenig waffentauglich, was der jüngere mit den Worten quittiert: »Im Kriege ist alles zu verbrauchen!« (»Ver-brauchen«, wohlgemerkt, wie Grabbe den Dichter Terenz entsetzt feststellen lässt: »Verbrauchen! Das arme Gesindel füllt bald die Gräben mit seinen Leibern und die Römer gebrauchen es dann zur Brücke!«43) Hannibal wiederum steht dem Zynismus des jüngeren Scipio, der Menschen lediglich strategisch als Verbrauchsmaterial im Rahmen seiner Kriegsziele veranschlagt, in nichts nach. Auch er ist kein ›Held der Güte‹, geht vielmehr genauso bedenkenlos über Leichen:

HANNIBAL Die Wegweiser sogleich gekreuzigt!

BRASIDAS Sie haben sich nur geirrt, Casilinum mit Casinum verwechselt.

HANNIBAL Mir eins! Gekreuzigt!44

So stehen sich mit Rom und Karthago in »Hannibal« letztlich auch nicht etwa zwei fremde Gesellschaftssysteme – hier die militärisch geschützte Wirtschaftsmacht Karthago, dort der wirtschaftlich gestützte Militärstaat Rom – beziehungsweise einander diametral entgegengesetzte Staatskonzepte – hier eine auf der Grundlage von alle Angehörigen des Gemeinwesens vereinigenden [11|12]Wertvorstellungen agierende Nation, dort ein in kleinlichem Machtgerangel und Krämergeist versinkendes Machtzentrum – gegenüber. Zwar herrscht in Karthago die Ökonomie über die Politik. Keineswegs aber zwingt mit Rom ein Idealstaat, in dem öffentliches und privates Interesse zusammenfallen, eine von Egoismen zerfressene Handelsstadt in die Knie (auch wenn Karthago ohne Frage am mangelnden politischen Weitblick und dem kleinlichen Egoismus seiner Führungsschicht zugrunde geht). Als überlegen erweist sich vielmehr ein moralisch ausgekälteter, ›protofaschistischer‹45 moderner Ordnungsstaat gegenüber dem merkantilistischen Interesse, dessen ›Gemeinheit‹ (im Sinne Grabbes) sich an der Selbstlosigkeit bemisst, mit der gleich in der ersten Szene BarkasUrenkelin Alitta ihren Geliebten Brasidas in den Kampf für das als Wert schlechthin gesetzte ›Vaterland‹ schickt.

›Größe‹ ohne Moral – der Fall Napoleon / Napoleons Fall

Verspiegelt in der Entwicklung der römischen Republik zur Militärdiktatur hat Grabbe in »Marius und Sulla« dem Bonapartismus ein Denkmal gesetzt. Wenige Jahre später und in zeitlicher Nähe zur Julirevolution hat er den Faden dieser historischen Reminiszenz noch einmal in einem Drama aufgenommen, das mit der epischen Überformung des klassischen Dramenaufbaus, mit seinen ausgeklügelten Massenszenen und Schlachtchoreografien, zumal auch mit seinen Formanstrengungen zur Verwandlung des Theaters in den sinnlichen Erfahrungsraum einer wahrhaftigen Polyphonie des Krieges nicht nur Neuland betritt im Dienst des Realismus, sondern zugleich auch einen Abgesang anstimmt auf den Topos des ›großen‹, des autonomen Helden: »Napoleon oder die hundert Tage«. Zwar verkündet sein Napoleon noch trotzig den ersten Grundsatz von Fichtes Wissenschaftslehre (»Ich bin ich«, genauer: »Ich bin Ich, das heißt Napoleon Bonaparte, der sich in zwei Jahren Selbst schuf«46); zwar ist dieser Napoleon sich selbst damit noch höchster Wert. Die von ihm gewollte Absolutsetzung seiner selbst aber erfolgt in augenfälliger Weise nun nicht mehr in der Fluchtlinie einer politischen Vision, wie sie dem Ordnungspolitiker noch zu eigen war, zielt indes allein auf die Stillstellung der Geschichte im Willen des erhabenen Ichs zur Macht: »Der Kaiser kann, was er will.«47 Der Titanismus Napoleons, der sich als Retter aus den Wirrnissen der Revolution gleichsam selbst in der Rolle eines Sulla sieht,48 hat keinen politischen Halt im eigentlichen Sinn mehr, ist vielmehr egozentrisch. Bereits am 14. Juli 1830 hatte Grabbe an seinen Verleger Georg Ferdinand Kettembeil geschrieben, Napoleon sei »ein Kerl, den sein Egoismus dahin trieb, seine Zeit zu benutzen, – außer eigennützigen Zwecken, hat er schon als Corse, als Halbfranzose nie gewußt, wohin er eigentlich strebte, – er ist kleiner als die Revolution, und im Grunde ist er [12|13]nur das Fähnlein an deren Maste, (…). Nicht Er, seine Geschichte ist groß.«49 Damit aber verliert die amoralische ›Größe‹, für die auch Napoleon in Grabbes Theaterkosmos einsteht, letztlich die Legitimität, die Grabbe dem ›Römer‹ Sulla noch zugeschrieben hatte.

Der von Elba noch einmal zur Eroberung von Glanz und Macht aufbrechende Napoleon, zur Entstehungszeit des Stückes im zeitgenössischen Bewusstsein längst wieder verankert als »Repräsentant jener genialischen Autonomie-Vorstellung, jener rein subjektiven, charismatischen Legitimation (…), die zuerst in der Geniezeit ideologisch begründet wurde und dann in Fichtes subjektivem Idealismus ihre philosophisch gesteigerte Theorie fand«50, ist einerseits zwar noch ein ›großer‹ Einzelner, andererseits aber auch schon ›klein‹ – was sich mit seinem Abgang vom Schlachtfeld von Waterloo am Abend des 18. Juni 1815 dann in aller Deutlichkeit erweist. Zwar konfrontiert Napoleons Rückkehr aus dem Exil seiner erzwungenen Bedeutungslosigkeit das Mittelmaß einer neuen, nicht mehr heroischen Zeit noch einmal mit der Idee geschichtlicher Größe. Als Zitat einer historischen Signatur – des im Augenblick der Tat für sich Geschichte schreibenden historischen Subjekts – ist der Wiedergänger aber bereits selbst angefressen von der Tristesse des Neuen. So führt Grabbe seine Napoleon-Figur zwar als Projektionsfläche der kollektiven Träume von ›Größe‹ in die Handlung ein, seine Herrschaft aber kann Napoleon nur noch durch die erwachende Bourgeoisie entfalten, die ihn – das haben Klaus Lindemann und Raimar Zons zutreffend herausgearbeitet – in Gestalt seines alten und neuen Ministers Fouché »als strategisches Kalkül veranschlagt«51; zudem bleibt er abhängig von sozialen Faktoren, denen Grabbe in Form des gewalttätigen Volkes der Vorstädte einen kurzen, aber spektakulären Auftritt im Drama gewährt.52 Damit aber tritt das Konzept des ›großen‹ Subjekts zurück hinter die Vorstellung eines über die Individuen hinwegschreitenden Geschichtsprozesses. Der Souveränität der Selbstabdankung Sullas hat Napoleon so auch nichts Vergleichbares mehr an die Seite zu stellen.

Noch einmal feiert Grabbe im Untergang der »Granitkolonne von Marengo« den heroischen Tod in der Schlacht; Napoleon aber, der von seinen Soldaten herbeigeträumte Messias eines auf Krieg und Gewalt gegründeten neuen Zeitenalters, verlässt den kurz zuvor noch beschworenen ›Ehrenplatz‹ »an der Spitze meiner Garden«53 und flieht mit seiner Entourage vom Schlachtfeld, über das in Gestalt der alliierten Reiterei die Geschichte unaufhaltsam weiterrückt:

CAMBRONNE Er ist fort – Was will der andere Dreck, den man Erde, Stern oder Sonne nennt, noch bedeuten? – Er hat uns »lebe wohl« gesagt, und leicht das Auge gewischt – Das heißt: sterbt meiner würdig, es geht nicht anders. – Also, Kameraden, [13|14]die Schnurrbärte hübsch zurechtgedreht – bald sind wir im Himmel oder in der Hölle, und ein braver Franzose erscheint im Himmel wie in der Hölle geputzt! Englische und preußische Reiterei von allen Seiten. Seht ihr, wie unsere Spediteure uns umdrängen! – Also, Tambour, tüchtig auf dein Kalbsfell geschlagen – Bedenke, von all den hunderttausend Trommeln, die in den glorreichen Feldzügen des Kaisers erklangen, ist die deinige die letzte! – Und schlage lustig, – auch dazu hast du Grund, – du quälst dich mit Trommelschlag fortan nicht wieder! Der Tambour trommelt ununterbrochen laut und kräftig darauf los. Schießt!

EIN ENGLISCHER DRAGONEROFFIZIER Unsinnige, laßt das Schießen –

CAMBRONNE Schießt!

DER DRAGONEROFFIZIER – ihr entkommt doch nicht –

CAMBRONNE Schießt!

DER DRAGONEROFFIZIER Wahnsinniges Volk – Ergebt euch!

CAMBRONNE Laffe, die Garde stirbt, aber sie ergibt sich nicht! – Schießt solang ihr atmet!

ENGLISCHE UND PREUßISCHE REITEREI einhauend Nieder die grauen Trabanten des Tyrannen!

CAMBRONNE Nieder –? Granitkolonne, hoch und stolz wie die Sonne, und gefallen herrlich wie sie!

DIE GRANITKOLONNE Schon gut – sieh nur –

Die Granitkolonne samt Cambronne wird nach verzweifeltem Kampfe zusammengehauen. Die alliierte Reiterei rückt weiter, andere englische und preußische Truppen gleichfalls.54

Während Napoleon den Ort des Sterbens hinter sich lässt als alles verloren ist, behauptet das sich opfernde Kollektiv der Granitkolonne sterbend das zuvor auf den ›großen‹ Führer projizierte Heroentum. Seine Flucht zerstört nicht nur die Symmetrie des Führer-Gefolgschaftsprinzips, sondern auch den Nimbus einer sich jenseits der Moral erst entfaltenden ›Größe‹. Diese als eine in den Kategorien moralischen Denkens nicht fassbare Eigenschaft zu auratisieren, wie sie in Goethes abgeklärter Bemerkung »Außerordentliche Menschen, wie Napoleon, treten aus der Moralität heraus. Sie wirken zuletzt wie physische Ursachen, wie Feuer und Wasser«55 zum Ausdruck kommt, verliert damit ihre Grundlage. Napoleon tritt nicht aus der Moralität heraus, um ›groß‹ zu sein; er tritt mit seiner Flucht vielmehr aus der ›Größe‹ aus, weil er keine Moral hat. ›Moral‹ dagegen zeigt das sterbende Kollektiv der auf dem Schlachtfeld zurückbleibenden Soldaten – wenn deren Preis auch der Tod ist.

[14|15] Morallosigkeit als Gegenentwurf

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