Petra Busch

Zeig mir den Tod

Kriminalroman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Petra Busch

Petra Busch, geboren 1967 in Meersburg, arbeitet als freie Texterin und Journalistin für internationale Kunden aus Wissenschaft, Technik und Kultur. Sie studierte Mathematik, Informatik, Literaturgeschichte und Musikwissenschaften und promovierte in Mediävistik. Ihre Arbeiten wurden mehrfach ausgezeichnet. Sie lebt in Ettlingen. Schweig still, mein Kind, ihr Krimidebüt, wurde auf Anhieb für den renommierten Friedrich-Glauser-Preis nominiert.

Mehr Infos zur Autorin unter www.petra-busch.de

Impressum

eBook-Ausgabe 2013

Knaur eBook

© 2013 Knaur Taschenbuch. Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise –

nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Ilse Wagner

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: plainpicture/Johner; FinePic®, München

ISBN 978-3-426-41374-6

Hinweise des Verlags

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.


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Später

Jetzt, da alles vorbei ist und ein weiterer Mensch unter der schweren Erde liegt, weiß ich, dass ich von Beginn an hätte anders handeln sollen. Vielleicht hätten die Dämonen mich aus ihren Fängen entlassen, meine Seele freigegeben und die Seelen der anderen.

Ich lehne an dem Stamm, wende das Gesicht dem Himmel zu. Blicke in die nackte Baumkrone, aus der erste zarte Blätter sprießen. Die nachtfeuchte Rinde drückt gegen meinen Rücken, und der Stoff des Hemdes klebt klamm auf meiner Haut. Ich kann nur stoßweise atmen, aber ich rieche die frisch gepflügte Erde, die Algen und das Motoröl. Ich sollte frieren. Doch ich empfinde nichts. Nicht körperlich. Nur mein Inneres ist kalt und finster.

Gestern Abend bin ich hierhergekommen. Habe alles vorbereitet und mich dann auf den Boden gesetzt, hier, neben die hohe Birke, um auf den Morgen zu warten.

Ich bin zurück an dem Ort, an dem ich angefangen habe.

Die Polizei hat ihn zerstört. Nichts ist mehr, wie es einmal war.

Ein Schwarm Vögel taucht an dem fast noch schwarzen Horizont auf, zieht grell zwitschernd über mich hinweg Richtung Osten, dem anbrechenden Licht des späten Aprils entgegen. Kleine schwarze Körper sind es, die meisten ruhig im Flug, andere tanzen auf und ab wie an Gummibändern. Ich würde so gern mitfliegen. Hinaus in die Unendlichkeit. Ein Wesen von Hunderten, den anderen gleich, ein winziges Nichts.

Unsichtbar.

Unsichtbar für die Welt und Äonen entfernt von den teuflischen Geistern mit ihren kalten Fängen.

Ich schließe die Augen, Tränen quellen warm zwischen meinen Lidern hervor. Ich lache auf: »Unsichtbar.«

Unsichtbar für Mephistopheles.

Meistens haben die Dämonen mich nachts geholt. Kurz vor zwölf Uhr. Exakt zu der Zeit, als die erste Katastrophe ihren Lauf genommen hat und ich dem Tod in die Hände gespielt habe.

Damals ist mein Leben zum Überleben geworden.

Jetzt ist es zu Ende.

Die Tränen bleiben in meinen Wimpern hängen. Sie werden kühl, ich blinzle, sehe ihr Glitzern wie vergrößerte Tautropfen direkt vor meinem Blick. Die Bäume und der Fluss wirken wie groteske Figuren. Sie tanzen mir etwas vor. Den Todestanz.

Ich schließe erneut die Augen.

Im Wald singt der Morgenwind, und ein Kuckuck übernimmt den Solopart. Nur drei Wochen ist es her, eine Ewigkeit, da sind die Stadt, die Felder und Wiesen noch schneebedeckt gewesen und die Herzen voll eisiger Lügen.

In einer halben Stunde wird die Sonne aufgehen. Ich strecke die Arme zum Himmel, muss mit den Fingerspitzen die ersten Strahlen berühren, noch einmal die Wärme greifen.

Wenn ich jetzt gleich die Augen öffne, verschwinden die Bilder und Geräusche für kurze Zeit wieder: die schwarzen Baumsilhouetten am Rand des Weges, die Äste, die in dem warmen Frühlingswind wie warnende Arme zu winken scheinen, das Knirschen der Schritte und die drei Gestalten, die sich vor dem Licht abzeichnen, auf das ich zugehe, voller Hoffnung, voller Liebe.

Manchmal höre ich noch die Stimme, die mich fragt, was los sei, wenn ich wieder weinend aufgewacht bin, und ich spüre noch die Hand, die mir über die Wange streicht. Ich habe gelächelt und etwas von Verantwortung und besonderen Schützlingen erzählt. Schicksale, die mich nicht losließen. »Ich liebe dich jeden Tag mehr dafür«, war die Antwort gewesen.

Weshalb ich dennoch getan habe, was so großes Unglück gebracht und unschuldige Opfer gefordert hat, wird sich für immer dem Verständnis des Menschen entziehen, der mir der wertvollste der Welt geblieben ist. Und was ich tun werde, wenn sich jetzt gleich die Sonnenstrahlen auf die Erde ergießen und die Tautropfen zu einem glitzernden Meer verschmelzen – auch das würde dieser Mensch nie nachvollziehen können. Nicht bis ans Ende seines Lebens.

1

Donnerstag, 21. März

Er würde keinen Fehler machen. Alles würde perfekt laufen.

Noch vier Tage. Dann war er ein berühmter Mann. Es war seine letzte Chance, und die gedachte er nicht zu verschenken. Um nichts auf der Welt.

Günther Assmann knöpfte den langen Wollmantel zu, winkte im Vorbeieilen dem Pförtner in der Glaskabine, während er sich gleichzeitig den Kaschmirschal um den Hals schlang, und trat ins Freie. Unwillkürlich schüttelte er sich, als die kalte Luft auf seine erhitzten Wangen traf. Es roch nach Schnee und Abgasen, und mit metallischem Rattern brauste eine Straßenbahn an ihm vorbei.

Der Kälteeinbruch zu Anfang der Woche hielt die Stadt fest in seinem Griff, und selbst jetzt, um zehn vor zwei Uhr mittags, lag der Himmel wie in schwarzes Blei gegossen. Ein paar Schneeflocken tanzten auf die vereisten Straßen herab. Günther Assmann war das gleichgültig. Seine Vorfreude galt nicht der Sonne und den Frühlingstemperaturen, die für das Wochenende angekündigt waren und von denen seine Kollegen in jeder Probenpause redeten. Assmanns Lichtblick war der kommende Sonntagabend. »O selig der, dem er im Siegesglanze die blut’gen Lorbeern um die Schläfe windet«, rezitierte er, während er mit festem Schritt die Bertoldstraße Richtung Bahnhof hinunterging. Lorbeeren – genau die wollte er. Sie standen ihm zu. Er hatte sie verdient und viel dafür getan. Nicht nur in den letzten Wochen.

»Die blut’gen Lorbeern«, wiederholte er voller Euphorie in einem flüssigen Sprachbogen und führte dabei eine Hand in großzügiger Geste zu seiner Stirn.

Ein Passant, der ihm zwischen Bühneneingang und Tiefgarage entgegenkam, blickte ihn unter einer tief in die Stirn gezogenen Mütze hervor an und schüttelte den Kopf. Fast musste Günther lachen. Er wusste, dass er verrückt wirkte, wenn er mitten auf der Straße seinen Text sprach. Doch er liebte seine Rolle. Seine Hauptrolle. Nein, es war mehr: Er lebte sie. War sie. Und ein wenig Imagepflege, dachte er und verkniff sich noch immer ein Grinsen, konnte nicht schaden: Schauspieler galten ohnehin als durchgedreht, egoistisch und besessen. Ganz unrecht hatten die Leute mit diesem Denken nicht. Zumindest, was ein paar spezielle Kollegen betraf.

Erleichtert, dass er diese bis achtzehn Uhr nicht mehr sehen musste, beschleunigte er seine Schritte. Gute vier Stunden Pause zwischen Vormittags- und Abendprobe. Der ersten Hauptprobe! Zeit zum Duschen und Entspannen nach den schweißtreibenden Strapazen des Vormittags.

Heute Abend würde Edith im Großen Haus sitzen, in der ersten Reihe, neben dem Regisseur und seinen Assistenten. Der kleine Mann mit russischer Abstammung würde wie immer einen Apfel nach dem anderen aus der Plastiktüte neben sich ziehen, dabei laut rascheln, schmatzen, und jede Szene mindestens zweimal unterbrechen, indem er mit der verklebten Hand fuchtelte und kauend »Njet, njet« rief, ohne aber genau zu artikulieren, was ihm nicht gefiel. Das alles ging so lange, bis Edith in ihrer gesamten Eleganz aufstand und ihm aus ihren türkisfarbenen Augen einen kurzen Blick zuwarf. »Genug, Pjotr, jetzt wird geprobt«, pflegte sie zu sagen, und der Regisseur biss nickend in einen neuen Apfel und schwieg.

Ediths kritischem Blick mussten sich alle beugen, und Wortgefechte und Chaos waren vorprogrammiert. Denn die Chefdramaturgin neigte dazu, kurz vor der Premiere ganze Szenenbilder umzustellen oder sogar mit dem Tausch von Rollen zu drohen. Der Gedanke gefiel Assmann. Er liebte es, wenn die Requisiten rumpelnd über den schwarz glänzenden Holzboden geschoben wurden. Wenn Rita aus der Statistentruppe eine Zigarette nach der anderen rauchte und schimpfte; wenn der schöne Raphaèl sich den steifen Rüschenkragen vom Hals riss und zum wiederholten Mal deklamierte, derart stranguliert könne er nicht spielen. Wenn der durchgeknallte, doch geniale Regisseur Pjotr an seinen Äpfeln beinahe erstickte vor Aufregung. Vor allem aber gefiel ihm, wie Edith gelassen durch den Trubel schritt und mit nur spärlichen Handbewegungen alle zu dirigieren verstand.

Edith wusste genau, wie man Ziele erreichte.

Er, Günther, wusste es auch.

Er drückte die Tür zur Tiefgarage auf.

Die Schlussszene war die heikelste für ihn. Der Moment, in dem er mit einem Schlüsselbund und der Laterne in der Hand vor Gretchens Gefängnis stand. »Mich fasst ein längst entwohnter Schauer«, murmelte er und glaubte für eine Sekunde, eine kühle Hand in seinem Nacken zu spüren, während seine Schuhe die Betontreppe zum zweiten Parkdeck hinunterklapperten. Doch Edith hatte die Szene abgesegnet. »Keiner spielt sie so wie du, Günther«, hatte sie gesagt und anerkennend genickt. Er hatte auf ihre perlmuttfarben geschminkten Lippen gestarrt und »danke« gemurmelt.

Nach Edith Bergers Okay konnte nichts mehr passieren.

Berger kannte alle einflussreichen Kritiker – und den Intendanten des Wiener Burgtheaters. Der hatte seinen Besuch der Premiere bereits im Herbst angekündigt. Besser konnte es nicht laufen!

Das Piepsen seines Handys riss ihn aus den Gedanken. Eine SMS. Vergiss nicht, Becci abzuholen, großer Faust. ILD, L. Er schmunzelte und eilte zu seinem Wagen. Im Schummerlicht sah er das hell verspritzte Heck. Salz. Er musste dringend in die Waschanlage, so fuhr kein Star herum! Am linken vorderen Kotflügel zog sich ein langer Kratzer durch den Lack. Er stutzte. Schüttelte den Kopf. Er sollte wirklich konzentrierter fahren, wenn er in den Proben steckte. Nicht zum ersten Mal passierte ihm ein solches Malheur.

Assmann stieg ein und rief seine Frau an. Dass es hier unten Empfang gab, war ihm schon immer ein Rätsel gewesen. »Ich war großartig, Lene!« Er startete den Motor.

Sie seufzte. »Ohne Zweifel!«

»Wien, ich komme!«

»Und wenn wir dort sind, wirst du wieder normal, versprochen?«

Er stellte sich Lenes Mund vor, neben dem sich immer verräterische Grübchen bildeten, wenn sie Kritik in nette Sätze packte. Aber sie hatte ja recht. Letzten Donnerstag hatte er schlichtweg vergessen, seine Tochter abzuholen. »Versprochen.«

»Jetzt mach dich auf. Becci wartet sicher schon!«

»Wir sind gleich zu Hause, Schatz.«

Er rangierte aus der Parklücke, schob die Codekarte in den Automaten und brauste summend zur Schule seiner Kinder.

Faust.

Er parkte vor dem langgestreckten Gebäude am Straßenrand.

Sein Durchbruch!

Assmann ging auf die Glastür des Gymnasiums zu, als eine zierliche Frau heraustrat. Ihr Haar lag schwarz und glänzend über einer roten Jacke, doch die Fältchen um Augen und Mund zeugten davon, dass die Farbe künstlich war und das Grau überdeckten. Über ihrer Schulter hing eine Aktentasche, deren Riemen sie mit einer schmalen Hand umfasste.

»Herr Assmann!« Sie strahlte.

Er lächelte betont charmant und gab ihr die Hand. Sie war trocken, fast wie die Kreide, mit der sie wahrscheinlich die letzten Stunden Zahlen und Zeichen an die Tafel geschrieben hatte. »Frau Heinemann! Ich freue mich. Wie macht sich Rebecca im Rechnen?«

»Nun ja, bei der Multiplikation von natürlichen Zahlen hat sie …«

Er winkte ab. »Ich war eine Null in Mathematik. Aber wer braucht schon Naturwissenschaften. Allein mit der Kunst schaffen wir uns ein lebenswertes Leben. Jetzt geht’s erst einmal nach Hause. Wo steckt mein Wirbelwind?«

Das Lächeln, mit dem sie ihn fixiert hatte, erstarb, und er dachte, sie nehme ihm den Spruch krumm. Er sollte rücksichtsvoller sein in seiner Euphorie.

»Aber … Rebecca ist nicht da.«

»Nicht da? Was soll das heißen?« Also doch nicht seine Bemerkung mit der Kunst. »Ist sie schon aufgebrochen? Allein?«

»Sie war nicht in der Schule.«

»Wie bitte?« Assmann trat von einem Fuß auf den anderen. »Das kann nicht sein. Ich habe meine Kinder doch selbst zur Straßenbahn-Haltestelle gefahren.«

»Tut mir leid. Sie war wirklich nicht –«

»Und warum haben Sie meine Frau nicht verständigt? Sie wissen doch, dass –«

»Ich weiß, Herr Assmann. Aber« – mit einer Armbewegung umfasste sie die Umgebung – »sehen Sie sich diesen Tag an. Fast ein Drittel der Kinder fehlt. Haben Sie heute Morgen im Radio gehört, wie viele Autos nicht anspringen? Wie überfüllt die Wartezimmer bei den Ärzten sind?« Ihre Wangen röteten sich. »Viele Busse fallen aus. Außerdem war Rebecca gestern etwas erkältet. Sie klang heiser und hatte glasige Augen, ich dachte, dass –«

»Ich bin schließlich auch hier!«

Die Lehrerin sah zu seinem Auto. Ein Jeep Grand Cherokee Overland, schwarz glänzend, mit Chrom-Seitenleisten und -Kühlergrill, beheizbarem Lenkrad und beleuchteten Türgriffen. Drei Monate alt. Er stand im absoluten Halteverbot. Frau Heinemann, deren Vorname ihm partout nicht einfallen wollte, hob eine Augenbraue, sagte aber nichts.

Günther überlegte kurz. Vielleicht war Rebecca mit ihrem Bruder losgezogen. Die Kinder besuchten dieselbe Schule, doch die Unterrichtszeiten seines Sohnes kannte er nicht genau. »Wo ist Marius?«

Aus grauen Augen blickte sie ihn direkt an, und er meinte, Sorge darin zu erkennen. »Ich glaube … einen Moment.« Sie verschwand durch die Glastür, und hinter der grünlichen Scheibe sah er sie durch eine Halle und an deren Ende eine Treppe hinaufeilen.

Schnee setzte sich auf seinen Mantel. Assmann klopfte ihn herunter und zog eine zerknitterte Packung Gauloises aus der Manteltasche. Seine Finger wurden rot und kalt, und sein Atem kroch in winzigen Wolken aus seinem Mund, während er den Rauch tief in seine Lungen sog.

Möglicherweise hatte Rebecca ja nur den Matheunterricht versäumt, und diese Heinemann dachte, sie sei den ganzen Tag nicht in der Schule gewesen. Wobei heute früh irgendeine Konferenz wegen der bevorstehenden Abiturprüfungen stattgefunden hatte, so dass die Kinder erst zur dritten Stunde kommen mussten. Nur deswegen hatte auch er sie chauffiert und nicht, wie üblich, Lene. Er war direkt danach ins Theater gefahren. Becci hatte sicher nur Mathe geschwänzt. Ja, so musste es sein! Hatte Lene nicht letzte Woche erst erwähnt, dass seine Tochter Mathematik nicht mochte? Dunkel hatte er etwas in Erinnerung. Dafür liebte sie Pflanzen- und Tierkunde, hatte Lene gesagt. Und Deutsch. Schon jetzt verstand sie sich fehlerfrei und wortreich auszudrücken. Er blies ein paar Rauchkringel in die Luft.

Rebecca kam eben ganz nach ihm.

Faust. Was bin ich denn, wenn es nicht möglich ist, der Menschheit Krone zu erringen, nach der sich alle Sinne dringen?, rezitierte er in Gedanken, inhalierte genussvoll, stieß den Rauch aus und beobachtete, wie die dünnen, bläulichen Fäden zwischen den Schneeflocken aufstiegen.

»Marius war auch nicht da!« Frau Heinemann eilte aus der Tür. Sie atmete schnell, und ihre Finger waren so fest um den Riemen ihrer Tasche geschlossen, dass die Knöchel weiß hervortraten. »Keiner der Kollegen hat Ihre Kinder heute gesehen.«

Heiß und hart zog sich die Wut in Günthers Bauch zusammen. »Sie wissen, dass Rebecca … etwas nachlässig mit … mit ihrem Zustand umgeht. Und Sie« – er deutete mit der Zigarette auf die Lehrerin – »haben, verdammt noch mal, die Pflicht, sich darum zu kümmern. Wenn meine Tochter nicht da ist und mein Sohn auch nicht, dann …«

»Dann ist es Ihre Aufgabe, Ihre Kinder bei uns zu entschuldigen. Zumindest Rebecca.« Sie verschränkte die Arme. »Marius ist ja volljährig.«

Günther warf die Gauloises zu Boden und trat länger als nötig mit dem Absatz darauf herum. Nicht aufregen. »Okay. Meine Kinder waren nicht da. Und jetzt?« Sein Tonfall war hart und nicht angemessen, doch die Frau provozierte ihn mit ihren ständigen Seitenblicken auf den Jeep und jetzt auf die Zigarettenkippe am Boden.

»Ich bin keine Krankenschwester und auch keine Privataufsicht. Wenn Rebecca hier ist, achte ich auf alles. Ganz diskret. So, wie Sie es mir aufgetragen haben. Damit keines der anderen Kinder …« Sie verstummte und wartete, bis eine Gruppe lachender Jugendlicher den Hof überquert hatte. Sie mochten in Marius’ Alter sein, und der Blick eines strohblonden Mädchens blieb kurz an Günther hängen. Dann hakte sie sich bei einem der Jungen unter und ging auf ihren hochhackigen Stiefeln und mit provozierendem Hüftschwung weiter.

»Obwohl«, fuhr die Lehrerin fort, und ihre Stimme ging etwas nach oben, »ich es für besser hielte, wenn wir einen offenen Umgang mit …«

»Nein!«

Frau Heinemann holte tief Luft, bevor sie den Blick zu ihm hob. »Hören Sie, wenn Ihre Kinder heute hierher aufgebrochen und nicht angekommen sind, sollten wir die Polizei rufen.«

Er starrte sie an. Verdrängte die Gedanken, die ihm kurz und grell wie Bühnenspots durch den Kopf schossen und die er nicht aufzuhalten vermochte. Mit steifen Fingern kramte er sein Mobiltelefon aus der Hosentasche hervor. Wählte Rebeccas Nummer. Jedes Tut schien sich Minuten hinzuziehen. Nach fünf Mal empfing ihn die muntere Stimme seiner Zehnjährigen: Hier ist Rebecca. Ich bin in der Schule und habe das Handy aus, aber wenn ich wieder zu Hause bin, kann ich euch anrufen. Auch bei Marius meldete sich nur die Mailbox.

»Sie können nicht weg sein.« Der Touchscreen seines Mobiltelefons schien plötzlich eiskalt zu sein. »Bestimmt machen sie sich ein paar schöne Stunden in einem dieser Schnellrestaurants. Rebecca ist doch ganz scharf auf Pommes und Cheeseburger.«

»Aber …« Frau Heinemann hob die Hände.

»Marius weiß, was Rebecca braucht. Sie selbst weiß es auch. Ihr wird nichts passieren«, sagte er und fügte in Gedanken hinzu: Erst, wenn sie wieder zu Hause ist. Dann nämlich werde ich den beiden die Leviten lesen. Als hätte ich zurzeit nicht genug Aufregung.

»Rufen Sie bitte an, wenn die beiden aufgetaucht sind.«

»Natürlich.«

»Danke.« Sie schob den Riemen ihrer Tasche, der herabrutschte, auf die Schulter zurück und ging neben ihm her zu seinem Wagen. »Faust ist übrigens ein großartiges Stück. Eine echte Herausforderung. Ich freue mich so für Sie!«

Er warf ihr einen skeptischen Blick zu. Überlegte, ob sie das ironisch meinte, doch ihr offenes Lächeln sprach für die Ehrlichkeit ihrer Worte, genauso, wie ihre Sorge um seine Kinder wohl kaum gespielt war. »Ich gebe mein Bestes.« Er entriegelte die Fahrertür. »Tut mir leid, ich wollte nicht … unfreundlich sein.«

»Ich werde da sein am Sonntag. Und bitte, rufen Sie an!«

»Jaja.« Seine Finger trommelten auf das Lenkrad, bis die Straße frei war und er sich auf die rechte Spur einfädeln konnte.

Zwanzig Minuten später trat er in die Küche. Lene stand an der Kochinsel und gab Spaghetti in einen großen Topf sprudelnden Wassers. Es duftete nach Hackfleischsoße und frischen Kräutern. Auf der Lebensmittelwaage stand eine Schüssel mit braunem, cremigem Inhalt. »Schokoladenpudding«, sagte seine Ehefrau und küsste ihn flüchtig. »Hat Becci sich gewünscht.«

»Auf den wird sie wohl verzichten müssen.« Er warf seinen Mantel über die Lehne eines Küchenstuhls und setzte sich. »Die Herrschaften treiben sich offenbar noch herum.«

»Hm?« Sie rührte die Soße um, der Schneebesen klapperte gegen den Topf.

»Unsere feine Brut. Sie hat heute blaugemacht. Geschwänzt.«

Lene hielt in der Bewegung inne. »Willst du damit sagen, dass du allein gekommen bist?«

»Ja. Sie waren nicht in der Schule. Den ganzen Tag nicht.«

Sie fuhr herum. Soße spritzte auf ihre Jeans und den Marmorboden. »Sag, dass das nicht wahr ist.«

»Jetzt reg dich nicht auf.« Ihre hochgesteckten, weizenblonden Haare waren mit irgendeinem Flechtwerk befestigt. Fast wie bei Gretchen im Faust. Er schluckte.

»Hast du sie angerufen? Gesucht? Hast du …« Ihre Unterlippe zitterte.

Er sah weg, fühlte sich plötzlich schuldig. »Ihre Handys sind ausgeschaltet. Und wo hätte ich sie suchen sollen?« Er stand auf und strich ihr über den Rücken. »Es sind abenteuerlustige Kinder, Schatz. Sie kommen schon zurück.«

»Wie kannst du nur so sorglos sein!« Sie riss das Telefon aus der Ladeschale und tippte. Fixierte Günther. Wartete. Tippte erneut. Wartete wieder. »Es sind nur die Mailboxen dran«, flüsterte sie und ließ den Hörer sinken.

»Sag ich doch. Sie treiben sich herum.«

»Nein. Sie treiben sich nicht herum!« Ihre Augen blitzten, und er wusste genau, dass sich hinter den Lidern bereits die Tränen sammelten, als sie einen Schritt auf ihn zutrat. »Ich rufe die Polizei. Becci ist noch nie … sie würde niemals … nie!«

2

Siehst du den Lichtschweif hinter uns?« Kriminalhauptkommissar Moritz Ehrlinspiel schaltete in den dritten Gang und wandte seinen Blick vom Rückspiegel zu seinem Partner.

Paul Freitag hob fragend eine Augenbraue.

»Die Bewegungsmelder.« Ehrlinspiel deutete aus dem Wagenfenster. »Kein Grundstück ohne Alarmanlage.«

»Lorettoberg. Gute Gegend.«

»Finanzkräftige Gegend.« Er lenkte den Dienstwagen, einen silbernen Opel Astra, die Kurven hinauf, vorbei an hohen, verschneiten Hecken und schmiedeeisernen Gittern, hinter denen sich Türmchen und Erker im einsetzenden Dämmerlicht abzeichneten. Ab und zu reihten sich imposante Bungalows aus Beton und Glas zwischen die Jugendstilvillen.

»Und die Leute vermissen beide Kinder?«

»Sind zehn und achtzehn Jahre alt.«

»Du glaubst, dass sie sich nur herumtreiben?«

»Ich hoffe es.« Der Hauptkommissar griff nach seinem Handy, das auf dem Armaturenbrett lag, sah darauf, legte es wieder hin.

»Hast du noch etwas vor?« Freitag zeigte sein typisches Lausbubenschmunzeln.

»Die Kinder finden.«

»Zum Tischtennistraining reicht es uns heute nicht mehr.«

»Kaum.« Ehrlinspiel vermisste in den Wintermonaten die Bewegung. Das machte ihn unruhig, rastlos. Wenn er keine Mountainbike-Touren unternehmen konnte, war das donnerstägliche Spiel mit Paul Freitag sein einziger Ausdauersport. Wenigstens radelte er die zwölfhundert Meter von seinem Zuhause ins Büro und abends zurück – und das selbst bei sibirischen Wetterverhältnissen.

»Da muss es sein«, sagte Freitag, als links eine hell erleuchtete Einfahrt auftauchte, die von zwei weißen Säulen begrenzt wurde. Assmann stand in silbernen Lettern auf der rechten Säule, und noch bevor sie sich bemerkbar machen konnten, schob sich fast lautlos ein stahlgraues Tor auf.

»Ein Fußballfeld ist ein Fliegendreck dagegen.« Im Schritttempo fuhr Ehrlinspiel die gewundene Zufahrt entlang, vorbei an kugel- und zylinderförmig geschnittenen Bäumchen. Dahinter standen hohe Bäume.

Sie parkten auf einer geteerten Wendefläche neben einem schwarzen Jeep, einem Golf und einem Porsche und stiegen aus. Es duftete nach Tannen und Harz. Ehrlinspiel blickte an der Fassade hinauf, die von Scheinwerfern angeleuchtet war. »Wow«, murmelte er.

Die Villa glich einem riesigen, weißen Betonkubus, an den drei kleinere Kuben angedockt waren. Hinter der Fensterfront, die die Vorderseite des Hauptkubus dominierte, brannte Licht, doch dunkle Vorhänge verdeckten den Blick auf das Innere. Rechts, auf der Südwestseite, ragte ein quadratischer Balkon auf Stahlträgern über eine Terrasse. Links der Villa erstreckte sich ein Park, den Ehrlinspiel nur auf die ersten Meter einsehen konnte. Auch dort war das Gebüsch sauber getrimmt: Kegel, Kugeln, flaschenförmige Gebilde.

»Das reinste Raumschiff«, murmelte Ehrlinspiel, als ein grelles Licht über dem Eingang aufflammte und ein Mann heraustrat. »Extravaganz besitzen die Assmanns auf jeden Fall.«

»Und das nötige Kleingeld.« Freitag zupfte an seinem Hemdkragen, der unter einem gefütterten Sakko hervorragte.

»Du bist fein genug.« Der Hauptkommissar sah an sich hinab. Jeans im Used-Look. Dockers, auf denen Streusalz weiße Flecken hinterlassen hatte. Gleichgültig hob er die Schultern.

Sie stiegen die hellen Marmorstufen zum Eingang hinauf. Ehrlinspiel stutzte. Die markanten Falten um die Augen des Mannes, die hohe Stirn und der große Mund, der in seiner Symmetrie an eine griechische Statue erinnerte, begegneten ihm heute nicht zum ersten Mal. Bloß die Frisur wollte nicht zu dem Bild passen, das der Hauptkommissar in seinem Hinterkopf suchte.

»Ehrlinspiel, Kripo Freiburg.« Er zog seinen Dienstausweis aus der Umhängetasche und nickte zu seinem Kollegen. »Mein Partner, Herr Freitag. Sind Sie Günther Assmann?«

Der Mann nickte. »Endlich.«

Assmann war wie Ehrlinspiel etwa eins achtzig groß und hatte auch sandfarbene Haare, jedoch mit Grau darin. Er schätzte ihn auf Ende vierzig, rund zehn Jahre älter, als er selbst war. »Ihre Frau hat uns angerufen.«

»Kommen Sie bitte herein.«

Assmann führte die Polizisten durch eine großzügige Diele, ausgelegt mit grau glänzenden Fliesen. Ein weißer Garderobenschrank und zwei Spiegel mit silbernem Rahmen verliehen dem Raum eine kühle Atmosphäre. Willkommen fühlte der Kommissar sich nicht.

Aus einer angelehnten Tür drang abgestandener Essensgeruch. Tomatensoße vermutlich, was so gar nicht in dieses Ambiente passen wollte, ihn aber daran erinnerte, dass er nachher noch eine fleischliche Leckerei für seine Kater Bentley und Bugatti besorgen musste.

Das Wohnzimmer war nicht weniger modern und mindestens so groß wie Ehrlinspiels gesamte Wohnung. Ein ausladender Glastisch und Lederstühle auf grazilen Chrombeinen standen auf mokkafarbenem Parkett. Weiter hinten im Zimmer nahmen ein cremeweißes Ledersofa und zwei Sessel die gesamte Raumbreite ein. Eine silberne Bogen-Stehlampe warf ein kühles Licht auf die purpurfarben gestrichenen Wände, die farblich exakt auf die raumhohen Vorhänge abgestimmt schienen. Fünf Plakate schmückten die Wand gegenüber des Sofas.

Ehrlinspiel trat näher, bemüht, nichts anzufassen, so sehr fühlte er sich wie in einem Museum für moderne Kunst. Menschen in bunten Kostümen waren auf den Plakaten abgebildet, einige mittelalterlich gekleidet, andere in Schleiern und Nadelstreifenanzügen, wieder andere in zerrissenen Mänteln oder fast nackt. Unter allen prangte der Schriftzug des Freiburger Stadttheaters. Jetzt erkannte Ehrlinspiel den Mann: Assmann war Schauspieler! Sein Konterfei zierte derzeit jede Litfaßsäule und zahlreiche Schaufenster.

»Nehmen Sie Platz.« Assmann nahm den beiden die Mäntel ab und wies auf die Sitzgruppe, als eine hochgewachsene, schlanke Frau durch eine zweite Tür trat. Ihr helles Haar war zerzaust, die Augen verquollen und leicht gerötet. Sie trug Jeans und einen eierschalenfarbenen Rollkragenpullover. Ihr Gesicht war oval, und auf den kräftigen Wangenknochen hatte sie Sommersprossen in demselben goldbraunen Ton wie ihre Augen. Auf ihrem Oberschenkel prangte auf der Jeans ein rotbrauner Fleck. Die Tomatensoße, dachte Ehrlinspiel und fragte sich, ob sie die Köchin war.

»Frau …?« Er ging zu ihr.

Sie bewegte die Lippen, doch es drang nur ein erstickter Laut aus ihrem Mund.

»Lene!« Günther Assmann warf die Mäntel auf das Sofa und führte sie zu einem der Sessel, in dem sie klein und verloren wirkte. Er kniete sich vor sie und strich ihr über das Haar. »Meine Frau«, sagte er zu den Ermittlern.

Sie bebte am ganzen Körper, und Assmanns Blick schien traurig und hilflos. »Lene, bitte! Sie kommen bestimmt bald zurück! Wir wissen doch gar nicht, ob etwas passiert ist, sie sind doch erst seit ein paar Stunden …« Er schob den Ärmel zurück und sah auf eine klobige Armbanduhr. Dann reichte er seiner Frau ein Taschentuch.

»Seit zwanzig nach neun!« Sie schneuzte sich.

»Lassen Sie uns von vorn anfangen«, sagte Ehrlinspiel betont ruhig und setzte sich mit Freitag auf das Sofa. Er versank sofort darin. Automatisch rutschte er nach vorn, so dass die Kante ihm Halt gab. Aus seiner Umhängetasche kramte er den kleinen Spiralblock hervor und legte ihn vor sich auf den niedrigen Tisch neben eine silberne Schale mit Obst. »Sie haben uns gegen halb fünf angerufen, weil Sie Ihre Kinder Rebecca und Marius vermissen. Wann haben Sie bemerkt, dass etwas … ungewöhnlich ist?«

Lene berichtete von Günthers vergeblicher Fahrt in die Schule.

»Donnerstags hole ich unsere Kleine immer ab«, ergänzte Assmann und stand mit fließenden Bewegungen auf. Gelenkig wie ein Zwanzigjähriger, dachte Ehrlinspiel. »Sie hat bis dreizehn Uhr fünfundfünfzig Unterricht, das passt zu dem Ende meiner Vormittagsproben.«

»Sie sind Schauspieler?« Ehrlinspiel betrachtete während seiner rhetorischen Frage die Plakate genauer. Das weite Land. Die Ratten. Sturmhöhe. Die Titel sagten ihm nichts. Literatur war noch nie seine Welt gewesen, auch wenn er ab und zu ein Buch las. Erst recht seit … Er tastete nach seinem Handy. Lass dich nicht ablenken, schalt er sich im selben Moment selbst.

»Ja.« Assmann ging im Zimmer hin und her. Seine Haltung war aufrecht, sein Gang fest, die Schultern waren breit. Das Timbre seiner Stimme klang wie aus einem perfekten Hightech-Verstärker. Vermutlich würde man sogar sein Flüstern noch bis in die Baumwipfel an der Grundstücksgrenze verstehen. Der Schauspieler blickte erneut auf die Armbanduhr.

»Ich habe Sie auf den Plakaten in der Stadt gesehen.«

»Als Faust.« Er blieb stehen und atmete einige Male hörbar durch.

Ehrlinspiel fragte sich, ob Günther Assmann ein so berühmter Star war, dass die Familie sich dieses Haus leisten konnte. »Was machen Sie beruflich?«, wandte er sich an Lene Assmann.

»Ich erziehe unsere Kinder.« Sie knetete das Papiertaschentuch zwischen den Fingern. »Ich kümmere mich darum, dass das Haus in Ordnung ist. Wir haben es erst vor zwei Jahren saniert. Und ich kümmere mich um den Haushalt. Bitte, Sie müssen sie finden. Bitte!«

»Berichten Sie uns von heute Vormittag.«

»Ich habe Frühstück für meine Familie gemacht. Wir haben in der Küche gesessen, alle vier. Das … das ist selten. Es war schön! Danach hat Günther die Kinder zur Straßenbahn-Haltestelle gefahren. Zu der an der Ecke Loretto-/Günterstalstraße. Von dort kommen sie schnell in die Schule und müssen nicht umsteigen.«

»Verstehe.« Er notierte ihre Angaben und wandte sich an den Mann. »Haben Sie die beiden einsteigen sehen?«

Er hob ein wenig den Kopf. »Ja. Nein. Das heißt, ich habe an dem Kiosk an der Ecke angehalten und gewartet, bis sie über den Zebrastreifen gelaufen sind. Die Haltestelle war voller Menschen.«

Lene schluchzte auf, ihr Zittern wurde stärker.

»Rebecca hat mir noch gewunken«, sagte Günther Assmann. »Dann ist die Bahn gekommen und hat die Leute verdeckt. Da bin ich losgefahren.«

Lene hob den Kopf und blickte Ehrlinspiel an. »Sie müssen eingestiegen sein! Nicht wahr, Günther?«

Er sagte nichts.

»Wir werden das prüfen, jemand wird sie gesehen haben«, sagte Paul Freitag. Seine pechschwarzen Augen blickten Lene Assmann offen an.

Assmann rieb sich über die Stirn. »Ich verstehe das nicht. Jetzt fahre ich meine Kinder ein Mal selbst, weil die beiden ersten Stunden ausfallen, und dann … Ich habe wirklich genug anderes um die Ohren gerade. Wissen Sie, ich habe einen ungewöhnlichen Tagesablauf. Normalerweise stehe ich um acht Uhr fünfzehn auf. Von zehn bis etwa vierzehn Uhr ist Probe. Und dann von achtzehn bis etwa zweiundzwanzig Uhr wieder.« Erneut ging er hin und her. »Heute Abend ist die erste Hauptprobe.«

Die offenbar ungemein wichtig ist, schoss es Ehrlinspiel durch den Kopf, als Assmann zum dritten Mal auf die Uhr sah. »Sie waren um kurz vor halb drei zu Hause, Herr Assmann. Ihre Frau hat uns erst eineinhalb Stunden später angerufen. Sie haben sicher in der Zwischenzeit mit Freunden und Verwandten telefoniert?«

»Ja, natürlich!« Assmann setzte sich auf die Sessellehne neben seine Frau und legte den Arm um ihre Schultern. »Niemand hat etwas von Marius und Rebecca gehört. Meine Mutter nicht, meine Schwester nicht, und die Schüler, die wir namentlich kennen, auch nicht.«

»Stellen Sie uns bitte eine Liste aller Freunde, Schulkameraden, Bekannten und Verwandten zusammen. Name, Telefon, Adresse.«

Lene Assmann stand auf, offenbar froh, etwas tun zu können. »Ich hole sie. Ich habe sie schon geschrieben.« Sie verließ das Zimmer.

»Gibt es irgendwelche Plätze, die Ihre Kinder besonders gern aufsuchen? Vielleicht ein Schuppen, eine geheime Höhle?« Doch bei den minus acht Grad, auf die es in den letzten Stunden abgekühlt hatte, würden sie sich kaum draußen aufhalten. Jedenfalls nicht freiwillig. »Oder ein Schlupfwinkel im Haus? Keller, Dachboden, eine Garage …?« Es wäre nicht das erste Mal, dass Kinder sich im Haus oder dessen Umfeld versteckten, während die Eltern eine große Suchaktion initiierten.

Die Weber-Zwillinge fielen dem Kommissar ein, achtjährige Streuner, die sie schon zweimal in der Michaelskapelle auf dem Alten Friedhof aufgegriffen hatten, ausgestattet mit Decken, selbstgebastelten Holzschwertern und der halben Vorratskammer ihrer Eltern. Oder die fünfjährige Melissa, die nach einem Streit ihrer Mutter mit deren Liebhaber über dreißig Stunden in einem Verschlag hinter dem Haus gekauert hatte, ihr Kaninchen im Arm, vor lauter Angst, dass das Tier durch das ständige Geschrei krank würde. Aber auch der Fall des kleinen Jakob stand ihm noch vor Augen. Jakob, der nach vier Tagen in einem Graben nahe der Schweizer Grenze gefunden worden war, nur mit einem T-Shirt bekleidet, der wuschelige Haarschopf verklebt von schwarzem Blut, missbraucht, erschlagen, das Opfer eines arbeitslosen Rechtsanwaltes, der in dem Kindergarten als Hausmeister angeheuert hatte. Und dann gab es die Fälle, in denen verschwundene Kinder zwar wieder gefunden wurden, aber körperlich und seelisch traumatisiert, so dass sie andere Kinder waren, wenn ihre Eltern sie wiederhatten. Oft begann das eigentliche Drama erst dann.

»Wir haben alles durchsucht. Glauben Sie uns. Und geheime Plätze, also ehrlich gesagt …« Er fuhr sich durch das kurze Haar und schüttelte den Kopf.

»Besitzen Sie ein Ferienhaus?«

»Wir bevorzugen Hotels.«

Lene kam zurück und reichte Ehrlinspiel ein Blatt Papier. Sie musste die letzten Worte gehört haben, denn sie deutete Richtung eines Fensters und sagte: »Sie haben ein Baumhaus. Aber dort sind sie nicht.«

Ehrlinspiel und Freitag traten an das Fenster und schoben den Vorhang beiseite. Die Silhouetten der Bäume und ein paar Wege lagen im silberblauen Abendlicht. Von hier erkannten sie die Gestaltung des Parks: Um eine Achse aus kugeligen Stauden reihten sich – symmetrisch angelegt – Beete, Bäume und ein paar Statuen. Am Ende der Achse stand ein Pavillon. Die gesamte Anlage war von einer hohen Mauer eingeschlossen. In einem der Bäume thronte ein Würfel aus Brettern, angestrahlt von einem Scheinwerfer.

Baumhaus de luxe, dachte Ehrlinspiel, der damit stets Wildheit und Abenteuer verband. Dieses hier und das ganze Anwesen wirkten kaum so, als hätten je Kinder dort gespielt. Erst recht nicht, als lebten hier welche.

Er drehte sich zu den Eltern um, lehnte sich an das Fensterbrett und versuchte ein aufmunterndes Lächeln. »Halten Sie es für möglich, dass Ihre Kinder ausgerissen sind?«

»Warum denn?« Lene setzte sich wieder in den Sessel. Das Taschentuch hielt sie noch immer in der Faust. »Sie haben keinen Grund.«

Freitag streifte seinen Freund mit einem Blick. Ehrlinspiel wusste, dass sie dasselbe dachten. Die Eltern verschwundener Kinder tischten einem immer Lügen auf – ganz gleich, ob bewusst oder nicht, und ganz gleich, wie sehr sie dabei weinten und flehten. Immer gab es hinter dem Zimmer, in dem sie saßen und miteinander sprachen, einen weiteren, unsichtbaren Raum. Einen, dessen Tür fest verschlossen war und hinter der sich ein Geheimnis, Lügen, Schuld, eigenes Versagen oder eine Familientragödie verbargen. Der Schlüssel zu diesem Raum waren nicht selten die Fragen der Polizei. Fragen, die die Angehörigen fürchteten. So sehr, dass sie ihre Gedanken selbst manipulierten und an ihre heile Welt glaubten.

»Sind die Kinder schon einmal weggelaufen?«, fragte Ehrlinspiel.

»Nein, nie. Ich sagte doch, es gibt keinen Grund.« Lene Assmann zerzupfte das Taschentuch.

»Wie ist Ihr Verhältnis zu Ihren Kindern?«

»Gut«, sagte Günther Assmann. »Also ich meine, wir haben keine größeren Probleme miteinander.«

»Und kleinere?« Freitag schob die Hände in die Taschen seiner Bundfaltenhose.

Der Schauspieler erhob sich erneut und ging auf und ab.

Wie ein gefangener Tiger.

»Kleinere, das haben wir doch alle.« Er klang plötzlich aggressiv.

»Welcher Art waren diese Probleme?«

»Das bringt doch jetzt alles nichts.« Lene begann wieder zu weinen. Weiße Taschentuchschnipsel fielen zu Boden. »Sie müssen Becci finden.«

»Das versuchen wir, Frau Assmann. Und je mehr wir jetzt über Rebecca und Marius und die Ereignisse heute Morgen erfahren, desto schneller können wir gezielte Maßnahmen einleiten.« Was für Floskeln, dachte der Kriminalhauptkommissar, noch während er sprach. Doch was sollte er den Eltern sagen? Dass sie in der jetzigen Situation maximal ein kleines Team zusammenrufen und die sogenannten Hinwendungsorte prüfen würden? Freunde, Verwandte, Lehrer, Kneipen vielleicht? Dass Marius mit achtzehn Jahren ein freies Aufenthaltsbestimmungsrecht hatte? Und dass Rebecca, die aller Wahrscheinlichkeit nach mit ihm zusammen war, sich damit in der Aufsicht eines volljährigen Familienmitglieds befand? Es würde maximal eine kleine Suchaktion um die Haltestelle herum geben, falls Kollegen von der Streife verfügbar waren. Auch keine Sonderkommission. Nicht ohne Hinweis auf ein Verbrechen. Selbst wenn er, Ehrlinspiel, dies lieber anders handhaben und sofort eine große Suche einleiten würde. Manchmal hasste er die Bürokratie und das Fehlen der nötigen personellen Mittel, um früher eingreifen zu können. Selbst, wenn die Erfahrung war – und das erklärte er nun –, dass die meisten Sprösslinge nach spätestens zwölf Stunden wieder wohlbehalten vor der Tür ihrer Eltern standen.

Lene Assmann nickte. »Was … was wollen Sie denn noch wissen?«

Acht Stunden waren die Kinder jetzt weg. Eigentlich nicht besorgniserregend. Doch es war bitterkalt, die Nacht brach an, bei Bekannten hielten sie sich laut Angaben der Eltern nicht auf. Gänsehaut kroch Ehrlinspiels Arme hinauf, und er ahnte, dass er Bentley und Bugatti heute mit einem späten Dosenfutter anstatt eines selbstgekochten Gourmetmahls abspeisen musste. Seine beiden Siamkater würden beleidigt sein. Und jemand anders wäre enttäuscht, weil für das versprochene Telefonat wohl auch keine Zeit blieb. »Hatten Sie mit Ihren Kindern in letzter Zeit Unstimmigkeiten? Oder haben die Kinder sich untereinander gestritten?«

»Nein«, antworteten die Eltern gleichzeitig, und sie schienen ehrlich. Lene fuhr fort: »Es war alles wie immer. Becci hat wegen der Schule gequengelt. Sie hat neulich ihr Rechenheft zerrissen, weil sie die Aufgabe nicht lösen konnte. Und … sie hat schon zweimal den Unterricht geschwänzt.« Sie warf ihrem Mann einen Seitenblick zu. Kein Muskel bewegte sich in seinem Gesicht. »Aber«, fuhr Lene Assmann fort, »ich habe das völlig sachlich mit ihr besprochen. Ohne laute Worte. Doch heute, da wollte meine Kleine unbedingt in die Schule. Obwohl sie gehustet hat. Ich wollte sie zuerst nicht gehen lassen. Aber sie hatte Tierkunde und Deutsch, ihre Lieblingsfächer, und … und …« Sie schluchzte laut auf. »Es waren doch sowieso zwei Stunden weniger heute. Hätte ich sie bloß hierbehalten.«

»Und Marius?«, übernahm Freitag wieder das Gespräch. »Was ist er für ein Typ? Und war Ihr Sohn heute Morgen wie immer?«

Günther Assmann hob die buschigen Augenbrauen. Sie waren in der Mitte lang und grau, wie man es bei Männern ab Mitte vierzig oft fand. Seine Augen waren stahlgrau mit einem Stich ins Blaue. Er könnte auch den Mephisto geben, dachte Ehrlinspiel. »Mein Sohn«, sagte Assmann, »ist entweder unterwegs oder vergräbt sich oben mit seinen Sachen. Ob er heute wie immer war, weiß ich nicht. Wie gesagt: Wir frühstücken normalerweise nicht zusammen. Lene? Was meinst du?«

»Marius frühstückt immer mit Becci. Die beiden sind sich … sehr nahe. Er macht ihr manchmal auch das Frühstück. In letzter Zeit allerdings nicht mehr so oft. In vier Wochen geht das Abitur los. Er lernt oft bis in die Nacht.« Sie schüttelte den Kopf, als denke sie nach, komme aber zu keinem Ergebnis. »Doch, er war wie immer. Er schien müde, aber das ist normal bei ihm. Er hat mit Becci Witze über eine Lehrerin gemacht. Frau Heinemann. Das ist die Mathelehrerin der fünften Klasse. Becci sagt immer, sie stehe so gerade und steif an der Tafel wie ein Lineal. Marius hat gelacht, ihr das Nutella-Glas weggeschnappt und gesagt, sie hätte ganz bestimmt eines verschluckt. Aber ohne Nutella drauf.« Lene Assmann lächelte und weinte gleichzeitig. »Dann haben sie über den Tiergarten gesprochen. Sie wollen hingehen, sobald es wärmer ist. Am liebsten an seinem Geburtstag. Er wird doch Ende März neunzehn.«

Freitag lächelte. »Macht er keine Party?«

»Marius?« Sie lachte kurz auf. »Nein«, sagte sie dann leise.

»Warum nicht?« Ehrlinspiel griff nach seinem Notizbuch.

»Er mag nicht so viele Leute um sich. Und er steht nicht gern im Mittelpunkt. Lieber ist er unterwegs oder kümmert sich um Becci.«

»Hat Ihr Sohn eine Freundin?«

»Nun, er ist … etwas schüchtern.«

»Und wo ist er, wenn er unterwegs ist?«

»Wir fragen ihn nicht aus. Manchmal nimmt er aber seinen Wagen.«

»Ist sein Auto hier?«

»Steht vor dem Haus. Ein Golf.«

Freitag biss sich auf die Unterlippe. »Von sich aus erzählt Marius nichts?«

»Kaum.«

»Können wir die Zimmer der Kinder sehen?« Ehrlinspiel sah Freitag an und hielt die Hand ans Ohr, als telefoniere er.

Freitag nickte, und Assmann sagte: »Natürlich.« Er führte Ehrlinspiel durch ein Treppenhaus, das zweimal im rechten Winkel abbog, so dass der Kommissar vermutete, dass sie nun in einem der kleineren Kuben waren. Lene kam hinter ihnen her. »Rebeccas Reich.« Er beschrieb mit einer Handbewegung eine Diele mit zwei Türen, die etwas kleiner, aber nicht weniger kühl als die im Erdgeschoss war.

»Welches Zimmer?«

»Beide. Eines ist ihr Bad.«

»Aha.« Ehrlinspiel trat durch die erste Tür. Schluckte. Die brombeerfarbenen Wände waren mit Bordüren unterteilt, auf denen kleine Tiere abgebildet waren: Mäuse, Vögel, Frösche, Insekten.

»Becci liebt Tiere«, sagte Lene, die seine hochgezogene Augenbraue gesehen haben musste.

Er nickte und betrachtete die glattgestrichene Bettdecke, auf der eine große Plüschmaus saß. Ein Schreibtisch und eine Kommode waren weißlackiert, ein Spiegel lila umrahmt. In einem Regal lagen Bürsten, Haarklammern, Deos, Lidschatten, ein Lippenstift und Nagellack.

»Sie probiert gerade alles aus. Ist das Alter«, sagte Lene Assmann, als müsse sie sich für die Utensilien ihrer Tochter rechtfertigen. »Und sie will nur Sachen, die ohne Tierversuche hergestellt sind. Sie sagt, sie kann es nicht ertragen, dass ein Tier wegen ihr leiden muss. Marius sucht mit ihr immer die aktuellen Listen ›sauberer‹ Firmen aus dem Internet heraus. Sie will auch gern Vegetarierin sein. Aber sie wird bei jedem BigMac schwach. Ich finde das viel zu früh mit dieser Schminkerei, aber was soll ich tun? Wissen Sie einen Rat?«

»Lassen Sie sie einfach machen.« Ehrlinspiel hatte keine Ahnung von der beginnenden Pubertät Zehnjähriger. Auch hatte er sich über die Herstellung seines Aftershaves und Duschgels noch nie Gedanken gemacht, obwohl er seine Kater und Tiere generell liebte. Er bewunderte das Mädchen für seine Konsequenz.

»Ich weiß nicht. Sie benützt seit einiger Zeit auch Ausdrücke wie ›coolio‹ und ›Arsch‹ und ›geilo‹.«

Ehrlinspiel lachte und deutete auf eine iPod-Dockingstation. »Und sie kennt sich mit Technik aus.«

»Sie liest lieber.« Rasch hob Lene ein paar Bücher vom Boden auf, die aufgeschlagen auf einem wuscheligen Teppich lagen. Maus im Haus, las Ehrlinspiel auf einem Cover, ein zweites Buch trug den Titel Neue Singvogelschule, eine Broschüre hieß Wie der Mensch die Tiere verrät. Eine kleine Zoologin, dachte er, und eine respektvolle dazu. Er trat ins Bad.

Rechteckiges Designer-Waschbecken, Eckwanne, Handtuch-Heizkörper mit flauschigem Frotteetuch darüber. Sogar kleine Parfumflakons standen in einem beleuchteten Regal, und auch hier fanden sich Lidschatten und Make-up. Luxus, wohin er sah. Wie konnte ein Kind da ganz normal aufwachsen? »Halten Sie das Haus allein sauber?«

»Natürlich nicht. Ich mache viel und mache es gern, aber ich habe eine Haushaltshilfe. Außerdem kommt jeden Monat eine Firma zum Fensterputzen, und ein Mal im Jahr räumt eine Innenarchitektin etwas um. Ich brauche die Abwechslung.«

Ehrlinspiel erinnerte sich an den Staub, den er auf seinen Buchrücken neulich registriert hatte. Und an die Spinne, die gestern Nacht ein feines Netz an seiner Tür zur Dachterrasse gesponnen hatte. Seine Kater hatten dem Spuk sicher ein Ende gemacht, bis er nach Hause käme. »Name und Adresse der Haushaltshilfe schreiben Sie uns bitte auch auf. War sie heute hier? Oder einer der Fensterputzer?«

»Sie ist montags und mittwochs da. Die Fensterputzer kommen immer am ersten Montag des Monats.«

»Und der Garten?«

»Den mache ich. Ab Frühjahr natürlich erst. Ich wollte immer Gartenbau studieren, aber … Es kam etwas dazwischen.« Sie hob die Hände, und Ehrlinspiel fiel auf, dass sie kräftig und die Fingernägel kurzgeschnitten waren. Die Frau konnte sicher gut anpacken.

»Und Marius’ Zimmer?«, fragte er.

»Auf der anderen Seite.«

Wieder gingen sie durch das Treppenhaus in einen weiteren Gebäudeteil. Er war symmetrisch zu Rebeccas angelegt. Doch im Zimmer des Jungen war nichts außer einem zerwühlten Bett und einem schwarzen Kleiderschrank, einem großen Schreibtisch und dem alten Drehstuhl davor. Auf ihn hatte Marius offenbar achtlos eine Unterhose und Socken geworfen. An der Wand hingen zwei Poster mit Porträts eines blonden sowie eines gepiercten rothaarigen Mädchens. Außer der gleichen iPod-Dockingstation, wie auch seine Schwester sie hatte, gab es keine Spur von Luxus. Nirgends Farben, kein Schnickschnack. Im Badezimmer lag eine Zahnbürste am Waschbeckenrand, und in der Wanne stand ein Duschgel mit offenem Deckel. Ein Handtuch lag zerknüllt auf dem Boden.

Ehrlinspiel musste überrascht ausgesehen haben, denn Assmann erklärte sofort: »Marius ist … bescheiden. Er braucht nicht viel.«

»Fehlt irgendetwas in den Zimmern der Kinder?« War das hier Ablehnung des elterlichen Reichtums oder Auflehnung dagegen?

Lene hielt die Hände vor das Gesicht. »Was soll denn fehlen?«

»Kleidung, Bücher, Schminksachen?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Geld?«

»Nein!« Sie kippte eine Blechdose um, die auf dem Schreibtisch auf einer Zeitschrift über alte Mofas stand. Einige Hundert- und Fünfzig-Euro-Scheine fielen neben die Socken. »Sehen Sie, alles da. Ich … ich stecke ihm hier immer sein Taschengeld hinein. Aber er …«

»Er nimmt kaum etwas davon«, sagte Günther Assmann.

»Sie sagten, Ihre Kinder stehen sich sehr nahe?«, fragte Freitag, der ins Zimmer trat und diskret die Hände hob. Die polizeiinterne Anfrage war also negativ, die Familie sauber. Keine Vorstrafen. Keine Auffälligkeiten. »Fast neun Jahre Altersunterschied«, fuhr Freitag fort, »da hat man ja sehr unterschiedliche Interessen.«

Lenes Augen glänzten feucht. »Marius hat sich um Becci gekümmert. Er ist ein liebevoller Junge. Er beschenkt sie oft. Die Maus auf ihrem Bett ist auch von ihm. Sie liebt diese Maus. Er hat ihr früher vorgelesen, er hilft ihr bei den Hausaufgaben, er … er trägt alles mit.«

»Trägt alles mit?«

Lene sah zu ihrem Mann. Der nickte. »Becci ist krank! Sie braucht Medikamente. Bitte, finden Sie sie!«