Das Buch
Mias Auftrag ist erfüllt, ihr Vater gerettet, sie ist frei. Sie verbringt den Oktober in ihrer neuen Heimat Malibu – an der Seite des Mannes, den sie liebt. Doch den lassen die Schatten der Vergangenheit nicht los. Mia muss kämpfen, um Wes und um ihr gemeinsames Glück.
Die Autorin
Audrey Carlan schreibt mit Leidenschaft heiße Unterhaltung. Ihre Romane veröffentlichte sie zunächst als Selfpublisherin und begeisterte damit eine immer größere Fangemeinde, bis der Verlag Waterhouse Press sie unter Vertrag nahm.
Ihre Serie »Calendar Girl« stürmte die Bestsellerlisten von USA Today und der New York Times und wird als das neue »Shades of Grey« gehandelt. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Kalifornien.
Homepage der Autorin: www.audreycarlan.com
AUDREY CARLAN
OKTOBER
Aus dem Amerikanischen von
Friederike Ails
Ullstein
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ISBN 978-3-8437-1360-3
© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016
© 2015 Waterhouse Press, LLC
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
The Calendar Girl – October (Waterhouse Press)
Umschlaggestaltung: ZERO Media GmbH
Titelabbildung: © FinePic®, München
E-Book: LVD GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
Drue Hoffman
Es war ein langer Weg, an dessen Anfang du mir Hilfe und Orientierung angeboten hast, als ich sie am meisten brauchte. Danke für dein Wissen, deine Unterstützung und deine Freundschaft.
Ich hoffe, dir gefallen dieser Band und der verschrobene männliche Drew Hoffman.
KAPITEL 1
Stille begrüßte mich, als ich Wes’ Zuhause in Malibu betrat. Mein Zuhause. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte. Vielleicht hatte ich gehofft, dass das Universum sich plötzlich auftut und mir den Himmel auf Erden, will heißen meinen Mann, sicher und wohlbehalten auf amerikanischen Boden setzt, direkt in unser heimeliges Zuhause. Denn genau das war es. Unser Zuhause. Wes hatte darauf bestanden, dass ich meine Sicht auf das Haus, das Ginelle immer als Anwesen bezeichnete, änderte und es als meins ansah. Ansonsten müssten wir uns gemeinsam etwas Neues suchen, meinte er. Das wollte ich nicht. Um ehrlich zu sein, wollte ich lieber komplett in seine Welt abtauchen. Ganz und gar. Großartig.
Wes hatte sich all das, was er in jungen Jahren besaß, hart erarbeitet. Er war weder überheblich noch gierig. Die klaren Linien und die lässige Ausstattung des Hauses waren einladend und zeugten von dieser inneren Haltung. Als ich durch die dunklen, leeren Räume ging, machte ich mich wieder mit seinen Sachen vertraut, aber es war anders. Etwas hatte sich verändert. Mit scharfem Blick versuchte ich zu ergründen, was anders war als bei meinem letzten Aufenthalt vor zwei Monaten.
Auf dem Kaminsims stand eine kleine, dreißig Zentimeter hohe Figur einer Balletttänzerin, die ein Bein in die Luft streckte. Sie hielt das Bein über ihrem Kopf am Knöchel fest und stand auf der Zehenspitze. Die Figur hatte meiner Mutter gehört. Sie hatte sich immer auf die Zehen gestellt, sich zurückgebeugt und mir genau gezeigt, wie eine Ballerina diese Position einnahm. Meine Mutter war Showgirl in Vegas gewesen, war aber in klassischem und zeitgenössischem Tanz ausgebildet. Ich sah ihr wahnsinnig gern zu. Beim Putzen wirbelte sie zu Musik durchs Haus, die nur sie hören konnte. Ihr schwarzes Haar reichte ihr bis zur Taille und schwang wie ein dunkler Umhang um ihren Körper. Als Fünfjährige hatte ich meine Mutter für die schönste Frau der Welt gehalten und sie mehr geliebt als sonst irgendjemanden. Diese Liebe war fehl am Platz gewesen, aber die Figur war es nicht. Sie hatte einen Ehrenplatz auf dem Kaminsims, und auch wenn ich sie am liebsten heruntergestoßen und zerbrochen hätte, ich ließ sie stehen. Wenn ich sie nicht hätte behalten wollen, hätte ich sie längst gespendet. Manchmal taten Erinnerungen halt weh, selbst die schönsten.
Ich sah mich im Wohnzimmer um. Auf einem Beistelltisch stand ein gerahmtes Foto, das ich kannte. Maddy. Es war an dem Tag aufgenommen, bevor sie aufs College kam. Ich war ihr wie ein hilfloser Welpe durch die Uni hinterhergelaufen. Mads jedoch war freudig vor mir hergehopst, hatte meine Hand gehalten und die Arme geschwungen. Wir waren von Hörsaal zu Hörsaal gegangen. Sie hatte mir von all ihren Kursen erzählt und davon, was sie laut Vorlesungsverzeichnis dort lernen würde. Ihre Freude war ansteckend, und ich genoss sie, weil ich bereits damals wusste, dass meine kleine Schwester etwas Tolles aus sich machen würde. Und das hatte sie. Ich war unheimlich stolz auf sie. Sie griff nach den Sternen und ließ sich von nichts aufhalten.
In der Küche war eine Fotocollage mit Magneten am Kühlschrank befestigt. Einzelne Fotos, die ich vom Kühlschrank in meinem winzigen Apartment abgenommen hatte, waren hinzugekommen. Maddy, Ginelle, Pops. Und ein paar neue. Fotos, die nicht ich entwickelt hatte. Wes und ich. Eins von einem Abendessen und ein Selfie im Bett, auf dem nur unsere Gesichter zu sehen waren. Wes musste sie hinzugefügt haben. Das war ganz am Anfang gewesen. Ich strich mit dem Finger über sein Lächeln. So selbstsicher und sexy, wie er mich in seinem Bett im Arm hielt. Meine Brust zog sich zusammen, und ich rieb den Schmerz weg. Bald. Bald würde er nach Hause kommen. Der Weg war das Ziel. Mehr denn je musste ich auf die Worte vertrauen, die ich als Tattoo am Fuß trug.
Als ich ins Schlafzimmer ging, jetzt unser gemeinsames, blieb ich wie angewurzelt stehen. Mir fiel die Kinnlade herunter, und meine Augen wurden vermutlich so groß wie Untertassen.
»Himmel!« Ehrfürchtig starrte ich das Bild an. Mein Bild.
Es war das letzte Porträt, das Alec im Februar auf der Aussichtsplattform der Space Needle in Seattle von mir gemacht hatte. Meine Locken wehten im Wind wie ein ebenholzschwarzer Fächer. An dem Tag hatte ich mich befreit gefühlt. Frei von der Last, die mein Vater unabsichtlich auf meine Schultern gelegt hatte, und frei von der Verpflichtung, das zu spielen, was der Kunde von mir wollte – in dieser einen Sekunde des Friedens war alles von mir abgefallen. In diesem Augenblick war ich nur Mia gewesen, ein Mädchen, das in der vor ihm liegenden Landschaft zum ersten Mal wahre Schönheit erkannte.
Ich konnte es nicht fassen. Weston hatte die teuerste Arbeit gekauft, die Alec von mir geschaffen hatte. Im Laufe des Jahres hatte ich ihm schließlich von Alec erzählt. Zwar nicht bis ins letzte Detail, aber das Wesentliche. Ich hatte ihm von der Kunst erzählt und wie jedes Werk mich weiter verändert hatte. Seitdem sah ich das Leben, die Liebe und mich selbst viel klarer. Wir hatten im Bett gelegen, nackt aneinandergeschmiegt, als ich ihm erklärte, wie dankbar ich Alec für diese Lektion war. Wie falsch es sich angefühlt hatte, sein Geld zu nehmen, wo er mir doch bereits so viel gegeben hatte, aber ich hatte ja keine Wahl gehabt.
Ich zog mein Handy heraus, überflog meine Kontakte und tippte auf Anrufen.
»Ma jolie, was verschafft mir die Ehre, deine wundervolle Stimme zu hören?«, meldete sich Alec in diesem weichen, sinnlichen Tonfall, der mich an weit bessere, glücklichere Zeiten erinnerte, die ich unter dem sündhaft heißen Franzosen liegend verbracht hatte.
Ich krabbelte aufs Bett und setzte mich im Schneidersitz vor das Gemälde. »Ich, äh, ich kann’s einfach nicht glauben …« Doch statt den Satz zu beenden, drehte ich das Handy um, machte ein Foto von dem Bild, schickte es ihm und hielt mir das Telefon wieder ans Ohr. Ich hörte das Piepen meiner Nachricht durch die Leitung.
»Mia, parle-moi, geht es dir gut?« Er klang besorgt.
Meine Stimme zitterte, als ich jede Facette des wunderschönen Werks über Wes’ Bett in mich aufnahm. Über unserem Bett. »Du hast eine Nachricht bekommen.«
»Diese Kommunikationsform mag ich nicht, chérie.«
»Jetzt sieh einfach nach!«, stöhnte ich und konnte ihn hoffentlich überzeugen.
Ein paar Klicks waren zu hören. »Ah, mais oui, du siehst dich selbst, non?«
Es gibt Momente, in denen ich am liebsten die Hände durchs Handy strecken und die Person am anderen Ende der Leitung erwürgen würde. Das war so ein Moment. »Darum geht es nicht, Alec. Die Frage ist, wieso sehe ich mich im Schlafzimmer meines Freundes?«
Alec schnappte nach Luft. »Ma jolie, du hast einen copain? Einen Freund?« Mit seinem französischen Akzent klang das Wort so schön, dass ich fast vergessen hätte, wie genervt ich darüber war, dass er es nicht begriff. »Du hast eine Entscheidung fürs Leben getroffen. Félicitations!« Er gratulierte mir, gab mir aber keine Antwort darauf, wieso seine Arbeit hier hing.
Ich stöhnte. »Alec, hör mir zu!«
Er gab einen Seufzer von sich. »Oh, chérie, ich höre immer zu. Vor allem, wenn du nackt vor mir liegst. Ich weiß noch genau, wie du dich damals in meinen Armen angefühlt hast. Du doch auch, oui?«
»Alec, wir haben keine Zeit, in Erinnerungen zu schwelgen. Ich brauche Antworten. Von dir. Wie kommt dieses Bild in mein Schlafzimmer?«
Er lachte leise. »Du willst immer alles ganz genau wissen. Vielleicht war es als Überraschung gedacht, compte tenu de ton amant.«
Mein Französisch war ziemlich eingerostet, weil ich in den letzten Monaten nicht geübt und auch nicht mit Alec telefoniert hatte, aber er wollte wohl sagen, dass es eine Überraschung von meinem Geliebten war.
»Wes hat es gekauft?«
»Nicht ganz.«
Mein Rücken versteifte sich, und ich biss die Zähne so fest zusammen, dass ich Steine hätte zerbeißen können. »Hör auf, dich zu zieren, Frenchie. Spuck’s aus!«
Er tat so, als müsste er würgen. »Spucken ist eine schlechte Angewohnheit, eine, die mir nicht zu eigen ist.«
Ich verdrehte die Augen und ließ mich rückwärts aufs Bett fallen. »Alec …«, sagte ich drohend.
»Dein Geliebter hat nicht für das Bild bezahlt«, sagte er klipp und klar.
»Wie ist es dann hergekommen?«
Meinem Franzosen Informationen zu entlocken, die er nicht hergeben wollte, war schwerer, als einen Mann nach einer heißen Nummer dazu zu bringen, den nahenden Orgasmus zurückzuhalten. Unmöglich.
Schließlich stöhnte er auf. »Ma jolie, ich will ehrlich zu dir sein, oui?«
Als bräuchte er darauf eine Antwort – er wusste genau, was ich wollte. Trotzdem sagte ich: »Oui. Merci.«
»Dein Geliebter hat meinen Agenten angerufen. Er wollte Leb wohl, meine Liebe kaufen. Ich habe mich geweigert, es zu verkaufen.«
Das überraschte mich. Ein Künstler, der Kunst schuf, um Geld damit zu verdienen und sie mit der Welt zu teilen, weigerte sich, ein Bild zu verkaufen? »Wieso? Das ergibt keinen Sinn.«
Wieder zögerte er, ehe er etwas erwiderte. »Es ist einfach so. Ich liebe dich und möchte, dass deine Schönheit von den richtigen Menschen genossen wird. Ich habe zu jedem Bild Regeln aufgestellt. Zwei von ihnen wollte ich nicht abgeben.«
»Welche zwei denn?«
Seine Stimme wurde tiefer, wurde zu dem verführerischen Raunen, das ich nur zu gut kannte. »Ich sehe uns gern in unserem Augenblick der Liebe. Ich habe Unsere Liebe in meiner Villa in Frankreich in mein Zimmer gehängt. Je ne pouvais pas m’en séparer«, sagte er, und ich zerbrach mir den Kopf, um seine Worte zu etwas Sinnvollem zusammenzusetzen. Er meinte wohl, dass er sich nicht davon trennen konnte.
Ich lachte. »Alec, das ist doch dumm. Die Ausstellung war doch dafür gedacht, die Kunst mit anderen Leuten zu teilen.«
»Aah, aber ich will, dass es jeden Tag von den richtigen Augen gesehen wird. Die anderen habe ich verkauft, an Käufer, die ich überprüft und mit denen ich persönlich gesprochen habe.«
Ich schüttelte den Kopf und leckte über meine trockenen Lippen. Meine Gefühle fuhren Achterbahn, während ich das Bild vor mir betrachtete, mit Alec am Telefon und voller Sehnsucht nach Wes. Es fühlte sich an, als wäre ein Tornado über mich hinweggegangen. Ich versuchte, die zerfetzten Überreste meiner Gedanken und Gefühle zusammenzusetzen, aber sie wollten einfach nicht mehr passen.
»Und dieses Bild? Wie ist es dann hier gelandet?«
»Ich habe mit deinem Weston gesprochen. Er hat mir gesagt, wer er ist, und mir erklärt, was er von unserer Beziehung weiß. Ich hatte schon mit grabuge gerechnet.«
»Gebüsch?« Er hatte mit Gebüsch gerechnet? Was?
»Merde. Wie sagt man … Zöff?«
Ich prustete los. »Zoff?«, fragte ich lachend.
»Oui. Zoff. Aber er war ein echter Gentleman. Er meinte, er hätte die Fotos von der Ausstellung im Internet gesehen und wolle sie kaufen.«
»Sie? Doch nicht etwa alle?«
»Oui«, antwortete Alec, als wäre das nicht ungewöhnlich. Aber ich fand es sehr ungewöhnlich, dass mein cooler Surferboy Millionen für Bilder ausgeben wollte. Bilder von mir. Wenn er nach Hause kam, sollten wir uns ernsthaft über diese Fehlinvestition seines sauer verdienten Geldes unterhalten. Oh Gott, hoffentlich kommt er nach Hause.
Ich stand auf, ging schnell durchs Haus und schaute in jedes Zimmer. Zum Glück entdeckte ich keine weiteren Bilder von mir. »Also …«
»Ich habe nein gesagt. Dass es nur eins geben würde, das er haben dürfte, und wenn er das richtige aussuchen würde, könnte ich es ihm verkaufen.«
Meine Güte. Alec war ein schräger Typ. Komplex, merkwürdig, liebevoll, überzeugend, fordernd, unfassbar gut im Bett, aber echt exzentrisch. Aber so waren Künstler halt, oder? Ihre komische Art ließ sich weder greifen noch benennen, weil man einfach keine Vergleichsmöglichkeit hatte.
»Und?«
»Er hat die richtige Wahl getroffen. Er hat dich ausgewählt.«
Die Art, wie er es ausdrückte, jagte mir eine Gänsehaut über die Arme. Ich rieb darüber und schlang die Arme um mich, weil niemand sonst da war, der das übernehmen konnte.
»Die Bilder sind doch alle von mir, Alec.«
»Non. Die anderen waren bestimmte Zeiten in deinem Leben, Erlebnisse, Dinge, die du für die Kunst gespielt hast. Nur dieses eine Bild zeigt dich so, wie du heute bist. Und das wollte er. Also durfte er dich haben.«
Das Wort »haben« klang komisch. »Wie meinst du das?«
»Sieh es als Geschenk an euch beide. An eure Liebe.«
»Du hast meinem Freund ein Bild geschenkt, das eine Viertelmillion Dollar wert ist?«
»Eigentlich war es sogar eine halbe Million wert.«
»Oh mein Gott!«
»Mia. Je t’aime. Ich wollte dir ohnehin die Hälfte von dem Geld abgeben. Aber so hast du eine wunderschöne Erinnerung daran, wer du bist, jeden Tag. Ich finde es phantastisch, dass er es über euer Bett gehängt hat. Für dieses Bild gibt es keinen besseren Platz.«
Ich schniefte, und mir schossen die Tränen in die Augen. »Ich liebe dich auch, das weißt du, oder? Auf unsere Art.« Ich meinte es genau so, wie ich es gesagt hatte.
Er lachte. »Oui. Ich weiß, ma jolie.« Und dann beendete er das Gespräch mit den Worten, die dem Gemälde seinen Namen gegeben hatten: »Leb wohl, meine Liebe.«
Ich hoffte, es war nicht das letzte Mal, dass ich etwas von meinem Franzosen mit dem losen Mundwerk hörte. Auch wenn er Wes und mir gewissermaßen seinen Segen gegeben hatte, wollte ich ihn nicht verlieren. Er würde immer Teil meines Weges sein, und ich würde ihn bis an mein Lebensende lieben. Aber Wes liebte ich mehr. In ihn war ich verliebt, und ich brauchte ihn hier bei mir. Zu Hause.
****
Der Abend war kühler als bei meinem letzten Aufenthalt, aber mir war auch schon seit Wochen kalt. Ich blickte hinauf zu den Sternen und fragte mich, ob Wes sie dort, wo er war, auch sehen konnte. Ich hatte mir zwar geschworen, auf seinen Anruf zu warten, aber jetzt zog ich trotzdem mein Handy heraus und wählte seine Nummer. Sofort ging die Mailbox an. Adrenalin schoss durch meine Adern, und ich atmete tief durch und versuchte, nicht in Panik zu geraten, weil er sich nicht meldete. Wahrscheinlich schlief er gerade. Der Mann erholte sich von einer Schusswunde am Hals, Herrgott noch mal. Entspann dich, Mia. Du hast doch gestern erst mit ihm gesprochen.
»Hey, äh, ich bin’s. Wollte einfach nur deine Stimme hören. Ich bin zu Hause. In, ähm, Malibu.« Mein Blick wanderte zu den dunklen Wellen des Ozeans in der Ferne. Meine Stimme zitterte. »Das Haus ist so still. Ich weiß nicht, wo Judi ist.« Die Wellen brachen sich am Strand, und der Wind fuhr durch meine Haare. Mir wurde noch kälter. »Ich hab mich total gefreut, dass du meine Sachen ausgepackt hast. Oder es war Judi, aber ich hoffe, du warst es, weil du wolltest, dass unsere Leben eins werden.« Ich zupfte an den Fäden an meinem Jeanssaum. »Wes, ich vermisse dich. Ich will nicht allein in unserem Bett schlafen.« Sosehr ich es auch zu verhindern versuchte, mir kamen die Tränen, und ein paar von den Verrätern rollten mir die Wangen herunter. Ich wusste nicht, was ich ihm noch sagen sollte, außer wie sehr ich ihn brauchte. Mich nach ihm sehnte. Mir ein Leben ohne ihn nicht vorstellen konnte.
»Vergiss mich nicht«, flüsterte ich und legte auf. Diese drei Worte bedeuteten uns mehr als alles andere. Ich blickte ein letztes Mal in den Himmel, dann drehte ich mich um und ging in mein altes Zimmer. Wenn er nicht da war, konnte ich auch nicht in unserem gemeinsamen Bett schlafen.
****
Schwerelos. So fühlte ich mich. Ich war völlig erschöpft, und starke Arme umfingen mich. Ich schmiegte mich enger an die Wärme, rieb meine Nase daran, sog seinen vertrauten männlichen Duft ein. Die wenigen Nächte, in denen ich tief und fest schlief, waren immer von ihm erfüllt. Statt dagegen anzukämpfen, würde ich mich in dieser Nacht darauf einlassen. Würde die Freude darüber, ihn hier bei mir zu haben, in mich aufnehmen, würde zulassen, dass sie sich um mein Herz schloss, und sie mir bewahren. Ich stellte mir vor, wie Wes mich ins Bett legte. In unser Bett. Das Kissen roch nach ihm, nach Ozean, Sand und dem gewissen Etwas, das Wes ausmachte. Sein Duft hing noch immer darin. Ich rieb mein Gesicht an der weichen Baumwolle. »Ich vermisse dich …« Meine Stimme brach, und eine Träne stahl sich aus meinem Augenwinkel.
Etwas strich sanft wie eine Feder über meine Wangen. »Ich bin hier. Bei dir«, flüsterte er mir ins Ohr. Es war faszinierend, wie grausam und gleichzeitig schön Träume sein konnten. Sie gaben mir alles, was ich wollte, nur um bei Tagesanbruch zu verschwinden.
Flatternd öffnete ich die Augen, und in meiner Erschöpfung sah ich eine Silhouette vor mir. Seine Silhouette. »Verlass mich nicht. Bleib bei mir.« Ich blinzelte heftig und versuchte, die Augen offen zu halten. Das Fenster stand auf und ließ die kühle Meeresluft herein. Ich kuschelte mich in die schwere Decke und zog sie bis zur Nasenspitze hoch. Dann umgab mich plötzlich nur noch Wärme. Ein Arm legte sich um meine Taille, und ich genoss den Traum. Genoss es, Wes zu spüren, wie er mich im Arm hielt, seinen Atem an meinem Hals.
Sein großer Körper schmiegte sich von hinten an mich, und ich drückte mich gegen den imaginären Wes. Es war mir egal, ob er wirklich da war oder nicht. Ich tat so, als wäre er es, nur diese eine Nacht, damit ich schlafen konnte. Es fühlte sich unglaublich real an, wie er mich hielt und mit der Nase meinen Haaransatz, meinen Nacken und meine Schulter berührte. Ich zog seinen Arm an meiner Taille hoch zwischen meine Brüste, legte die Lippen an seine Fingerknöchel, atmete seinen Duft tief ein, bis in meine Seele. So tief, dass ich ihn am nächsten Morgen noch immer bei mir haben würde. Sein Seufzer strich durch mein Haar. Mir liefen die Tränen, als ich die Augen fest schloss, damit sein Trugbild auch ja nicht verschwand. Irgendwann vertrieben die Wärme an meinem Rücken und das Gefühl von Frieden, das mich umgab, meine Trauer und meine Angst. Wenigstens für diese eine Nacht.
In meinem Traum hörte ich, wie er zu mir sprach: »Schlaf, Süße. Ich bin hier. Ich lass dich nie mehr los.«
»Gut«, murmelte ich meinem Traum-Wes zu und drückte ihn noch enger an mich, als der Sandmann kam und sich sein nächstes Opfer holte. Wes’ Arme schlossen sich fester um mich, und ein Funken Vertrautheit drang an die Oberfläche, während er mich mit seinem ganzen Körper berührte. Genau wie er es tun würde, wenn er hier wäre. Ich seufzte und ließ mich fallen.
Der Klang seiner Stimme schien weit weg und verzerrt: »Ich habe dich nicht vergessen, Mia. Du warst jeden Tag hier bei mir. Ich habe von der Erinnerung an dich gezehrt.«