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Annett Gröschner

Parzelle Paradies

Berliner Geschichten

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EDITION NAUTILUS GmbH

Schützenstraße 49 a

D - 22761 Hamburg

www.edition-nautilus.de

Alle Rechte vorbehalten

© Edition Nautilus 2008, 2016

Umschlaggestaltung: Maja Bechert

www.majabechert.de

Print-Erstausgabe Januar 2009

EPUB-Erstausgabe Juli 2016

ISBN 978-3-96054-027-4

Inhaltsverzeichnis

Stadtlandschaft. Bruchstücke. Straßenbahnfahrten | Fischerinsel | Leere Stadt | Provinz und Metropole | Berlin Alexanderplatz | Stadtradierungen | Ein vergessenes Kapitel | Alte Neue Mitte | Eberswalder Straße | Spazierfahrt eines Augenmenschen | Die Untote. Spuren der DDR in Berlin | Pat Feix’ Reise in den Prenzlauer Berg | Boxhagener Platz | Bei Muttern | Pasteurstraße, 10.05 Uhr | Osthafen, Westhafen … | Lückenschluss | Ponton zwischen City und Airport | Amüsieren wie Bolle | Einfahren | Berliner Blut | Raus hier! | Die Rollende Road-Schau bei Rotaprint | Parzelle Paradies. Ein Kleingartentheater | Klara Li zieht um | Haltestelle Marienburger Straße | Am Eckfenster | Petriplatz | Auf dem Balkon von Berlin | Im Umland. Ein Bahnhofscafé | Über die Ostbahn | Hauptbahnhof, abends halb elf | Neue Neustadt | Im Discounter. Zwei Hundefreunde | Vom Unbehagen in der Empfangskultur | Innsbrucker Straße | Bye, bye, Danziger | Jochens Geburtstag | Kneipen gehen verloren wie Handschuhe | Rauchverbot | Ich sehe was, was du nicht siehst | Ostbahnhof, Schalterhalle | Im Bötzowviertel | In der Schorfheide | Frauenruheraum | Quellen und Anmerkungen

Stadtlandschaft. Bruchstücke. Straßenbahnfahrtenimage

»Es ist noch früh am Morgen. Paul krabbelt aus seinem Bettchen, weil er nicht mehr schlafen kann. Es muss wirklich sehr früh sein, denn überall ist es so still.«

Es wird das ganze Buch über still bleiben. Denn Paul bemerkt schnell, dass er ganz allein ist auf der Welt. Keine Mama, kein Papa, keine Milchfrau. Er braucht sich nicht zu waschen und findet es herrlich, allein in der Stadt herumlaufen zu können, er probiert alles aus, fährt Straßenbahn, plündert die Geschäfte. Aber irgendwann wird es langweilig, schließlich unheimlich. Am Ende war alles nur ein Traum.

Das kleine Bändchen Paul allein auf der Welt fand ich als Kind im Glasschrank meiner Großeltern. In der hintersten Ecke neben Karl May und Stalin, die meine Großmutter dorthin verbannt hatte, weil sie in den Sechzigerjahren in der DDR nicht mehr opportun waren und sie aus unerfindlichen Gründen immer Angst vor Hausdurchsuchungen hatte. Paul allein auf der Welt konnte nur aus Versehen nach hinten gerutscht sein. Ich habe das Exlibris meines Onkels durchgestrichen und meinen Namen darübergeschrieben. Den Namen des Autors kann ich mir bis heute nicht merken. Ich muss auf den Einband schauen, um ihn abzuschreiben: Jens Sigsgaard. Viele Bücher habe ich im Laufe meines Lebens verborgt und nicht wiederbekommen oder bei den diversen Umzügen verloren. Meine Kinderbücher stehen im Zimmer meines Sohnes. Paul allein auf der Welt habe ich für mich behalten.

»In diesem Moment hörte ich ihn aus der Richtung des großen Sessels fragen, ob ich auch mein Lieblingskinderbuch in einer solchen Art in Hirn und Herz habe wie er und auch den Wunsch, einmal so einfach und wunderschön schreiben zu können; mein ›Ja‹ kreuzte sein ›Bei mir ist es …‹, so dass wir plötzlich wie aus einem Mund den Titel sagten: Paul allein auf der Welt«, erinnert sich Thomas Brasch an einen in der Dunkelheit sitzenden Heiner Müller. Auch Inge Müller, hatte ich in ihrem Nachlass entdeckt, wollte das Buch fürs Theater bearbeiten. Sie muss, so zeigen die Versuche, daran gescheitert sein. Ich hatte vorher immer geglaubt, ich wäre allein mit Paul allein auf der Welt, das unter Gleichaltrigen niemand kannte. Dass ausgerechnet dieses kleine unscheinbare Bändchen, 1949 im Altberliner Verlag Lucie Groszer erschienen, die mir wichtigen Autoren und mich verband, hätte ich nie zu ahnen vermocht. Vielleicht war es die Verbindung von Einsamkeit und Stadt, die dieses Buch zu meiner ältesten Lieblingslektüre machte.

Erwachsen bin ich geworden, als ich entdecken musste, dass man nicht immer in einem warmen Bett aufwacht, wenn man gegen den Mond stößt.

Ich kann nicht von Vorbildern reden. Vorbilder sind mir schon als Thälmannpionier lästig gewesen, weil sie immer so einen Heiligenschein mit sich herumtrugen und offensichtlich immer nur die anderen die Fehler machten. Es gibt Autoren, die ich schätze. Es gibt Autoren, an denen ich mich abarbeite. Viele von ihnen sind Autorinnen. Was mir auffällt, ist ihr alles in allem tragisches Ende. Sie drehten den Gashahn auf, soffen sich zu Tode oder starben im Exil. Schon deswegen taugen sie nicht als Vorbilder.

Ich habe auf traditionelle Art Germanistik studiert. Am Anfang des Studiums bekamen wir eine Liste der Bücher, die wir im Laufe unseres auf fünf Jahre begrenzten Studiums lesen sollten. Es war die gesamte deutsche Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Alles zu lesen, hätte bedeutet, nur aus zweiter Hand zu leben. Ich lebte zwei Leben. In meinem zweiten strich ich durch die Stadt. Durch die halbe.

»Manchmal in der Dämmerung, im abnehmenden Licht, das jetzt jeden Tag früher von Hausschatten, Nebelnetzen verstellt wurde, wäre sie bedenkenlos mitgegangen, hätte einer sie über die Grenze bringen wollen, einfach aus Überdruss, ohne viel Hoffnung, sich zu verbessern.«

Ich wollte nie eine Autorin sein, die am Schreibtisch sitzt und über eine Frau schreibt, die am Schreibtisch sitzt und darüber schreibt, wie eine Frau am Schreibtisch sitzt. (Es gibt unterhaltsamere Berufe. Berufe, die mehr Anerkennung versprechen. Wo man an der Luft ist. In Mengen von Leuten badet. Den Zuspruch nicht erst bekommt, wenn man längst an anderem sich abarbeitet. Wenn es überhaupt Reaktionen gibt. Und wieder mal weiß ich nicht, wovon wir morgen leben sollen.) Ich könnte nie einsam in einem Haus auf dem Land sitzen und vor mich hinschreiben. Ich brauche die Stadt. Ich muss von einer Sekunde auf die andere den Schreibtisch verlassen und durch die Menge streichen können.

Als ich Anfang der Achtzigerjahre nach Berlin kam, faszinierten mich die Narben der Häuser. Einschüsse, Luftschutzzeichen, Notdächer. Ich sah eine einzige Katastrophe, die Trümmer auf Trümmer gehäuft hatte und die zum Stillstand gekommen war. Wie eingefroren. Die Gedichte Inge Müllers waren die Brücke zwischen meiner Mutter und mir. »Als ich Wasser holte fiel ein Haus auf mich / Wir haben das Haus getragen / Der vergessene Hund und ich. / Fragt mich nicht wie / Ich erinnere mich nicht. / Fragt den Hund wie.« Ich konnte plötzlich nachvollziehen, wie ein Mensch reagiert, der als Kind unter der Last einer Kirche verschüttet war, und für den der Krieg nie wirklich zu Ende ging. Als Kind bin ich an der Hand meiner Mutter über die enttrümmerten Flächen meiner Heimatstadt gelaufen und wusste nicht, dass sie durch unsichtbare Häuser ging. Ihre Angst vor Flugzeugen, Sirenen, Feuer, Enge und ihr Bedürfnis, immer und überall ein Nest mit Vorräten anzulegen, kannte ich. Erst in Berlin und erst in den Texten Inge Müllers ist mir das alles bewusst geworden und Teil meines Schreibens, das auch darin besteht, andere sprechen zu lassen, die meinen, nichts zu sagen zu haben.

»Das Labyrinth ist der richtige Weg für den, der noch immer früh genug am Ziel ankommt. Dieses Ziel ist für den Flaneur der Markt.«

»Flanieren ist eine Art Lektüre der Straße, wobei Menschengesichter, Auslagen, Schaufenster, Caféterrassen, Bahnen, Autos, Bäume zu lauter gleichberechtigten Buchstaben werden, die zusammen Worte, Sätze und Seiten eines immer neuen Buches ergeben.«

Als ich die Flaneure entdeckte, eignete sich Berlin ganz und gar nicht zum Spazierengehen. Die Stadtlandschaft war unterbrochen von Mondlandschaften, durch die man wie durch eine Wüste ging, im Hintergrund eine Fata Morgana oder das nächste Haus, das Menschen versprach und das Versprechen oft nicht hielt. Erst als ich in Paris lebte, habe ich die Flaneure in ihrem ruhelosen Spaziergang verstanden. Eines Tages stand ich in einer Straße in der Nähe des Jardin du Luxembourg. An einem kleinen unscheinbaren Gebäude hing eine Tafel. Es war das Haus, in dem Joseph Roth gelebt hatte, nachdem er Berlin verlassen musste. Unten immer noch die Kneipe, in der er sich ins Grab gesoffen hatte. Die leer getrunkenen Gläser stapelte er zu Türmen, bis sie umfielen.

In Berlin lässt es sich nur in öffentlichen Verkehrsmitteln flanieren.

»… im Trab gehalten auf den Kursen von Bussen, Bahnen auf der Straße, unter den Straßen und Häusern, verhielt er sich anfangs wie ein Nichtschwimmer, stieg überhastet aus zu hoffnungslosen Irrwegen, ließ lahm sich abdrängen an den dick umstandenen Bushaltestellen.«

Als ich nach Berlin kam, stieg ich oft in die falsche Straßenbahn. Ich habe es mir schließlich zur Gewohnheit gemacht, auf diese Art die Stadt kennenzulernen. Auch andere Städte. In Westberlin musste ich den Bus nehmen, weil sie die Straßenbahn abgeschafft hatten.

»Ich habe ein Abonnement auf einen Traum, und der geht so: Ich renne mit aller Kraft aus dem Haus. Der Omnibus hält vor meiner Tür. Ich stürze in den Omnibus. Es ist der letzte Omnibus, wie man so sagt, er fährt an – in Richtung Bahnhof Friedrichstraße. Und ich sitz drin und fahre. Allerdings war es kein Omnibus. Es war die Straßenbahn 46, die vor meinem Haus hielt, und ich musste zehn Minuten warten, bis sie kam, denn ich hatte mich, schwitzend und ein wenig zähneklappernd vor Angst und Eile, verfrüht. Aber das ist dem Traum egal und mir auch.«

Die Straßenbahn Nr. 46 quietschte immer in den Kurven, vor allem an der Zionskirche. Mit der 46 fuhr ich zur Uni. Ich ging lange einer Biografie nach und musste schließlich, nach Jahren, erkennen, dass nie das wirkliche Leben dabei herauskommen wird. Es bleiben immer Leerstellen, und je dichter das Netz der Stichpunkte wird, der Chronik, desto unsichtbarer wird die Person, die dahintersteht.

Ich war Literaturhistorikerin und glaubte, wissenschaftlich an die von mir bevorzugten Autorinnen und Autoren herangehen zu müssen. Bei dieser Arbeit kam ich auf die Archäologie und ließ schließlich die Autoren und meinen Beruf an der Oberfläche zurück. Bei der Archäologie bin ich geblieben.

»… die Brandmauer neben den Geleisen und die jedes Mal wiederholte Vorstellung, wie neben den fahrenden Zügen zu wohnen wäre. … Hinter der Wand aber leben Menschen, machen kleine Mädchen ihre Schulaufgaben, strickt eine Großmutter, und ein Hund nagt an einem Knochen. Der Puls des Lebens schlägt durch die Ritzen und Poren der stummen Wand, durchbricht die Blechtafel der Sarotti-Schokolade, schlägt an die Fenster des Zuges …«

Ostkreuz. Ich stehe in der Neuen Bahnhofstraße und schließe die Augen. Ich dämme die Autogeräusche, nehme Pferdegetrappel auf dem Pflaster hinzu. Lokomotiven, deren Dampfgeräusch in den Ohren zischt. Von links der Lärm der Fabrik »Knorr-Bremse«. Von rechts das Rangieren der Güterzüge: »Wagen an Wagen gekettet«. Das Klingeln des Eismanns, des Milchmanns. Kohlen fallen von den zweirädrigen Wagen aufs Pflaster, der von zwei Männern gezogen wird. Es riecht strenger als in den Neunzigerjahren. Die Straßen säumen fünfgeschossige Häuser mit Seitenflügel und euphemistisch Gartenhaus genanntem Hintergebäude. Die meisten Bewohner des Hauses Nr. 32 arbeiten in den Zwanzigerjahren bei der Eisenbahn, die Berufsbezeichnungen im Adressbuch reichen vom Eisenbahnarbeiter über Lokomotivheizer, Schaffner bis zum Reichsbahninspektor. Auf viel Geld lässt keiner der Berufe schließen. Selbst der Hausbesitzer ist nur Kürschnermeister. Im Erdgeschoss gibt es einen Zigarren- und einen Lebensmittelladen. Viele werden dort regelmäßig angeschrieben haben. »Ein Hering – Treibstoff für acht Personen / Ein Weihnachtsopfer (drei Mark) auf den Kopf / Zwei Groschen auf die Augen / Frauenhände zerweicht in Wäschelaugen / Möglichkeiten im Leib, und / Still und wild, im Sinn / Immer wieder Kinder / Wo solln sie hin.« Eigentlich wollte ich mich hineinversetzen in das Jahr 1925, als das Kind Inge Meyer, später unter dem Namen Müller bekannt, zur Taufe gebracht wurde nach Rummelsburg, aber schnell fasziniert mich das Paar, das in der Gegenwart am Haus Bahnhofstraße 25 vorbeiläuft. Die Frau, von unbestimmbarem Alter, ist sturzbetrunken. Eine Gestalt, die in jedem Milieufilm mitspielen könnte. Sie trägt eine dieser kunstledernen Flickenjacken, die, weil aus der Mode gekommen, in den Kleiderausgabestellen für Obdachlose verteilt werden. Ein Mann mit einem riesigen Schnauzbart geht drei Schritte vor ihr, ebenso betrunken, aber noch aufrecht und mit etwas klarerem Blick. Über dem Bund der ausgebeulten Jogginghosen wölbt sich ein dicker Bauch, mühsam bedeckt von einem Grobrippunterhemd. »Haste nich jehört«, schreit die Frau, »ick will die Tüte trajen, ick, du versoffener Kerl. Hörste mir janisch zu, bleib stehn, du Sack!« Aber der Mann dreht sich nicht um, phlegmatisch schlenkern die Tüten rechts und links von seinem Körper.

(Es knallt vor der Tür, und plötzlich steht aller Verkehr still. Es ist unheimlich, wenn es in der Stadt ganz plötzlich ruhig wird. Als wäre eine Neutronenbombe gefallen und hätte alles Leben ausgelöscht. Erst die Sirene der Polizei stellt den alten Zustand wieder her. Und ich kann beruhigt an den Schreibtisch zurückgehen.)

Nach der Wende strich ich durch die Hinterlassenschaften eines verschwundenen Staates. Es war fast eine Sucht, noch einmal alles festzuhalten, was morgen unweigerlich verschwinden würde. Einmal gelangte ich in die Stadt Wünsdorf. Einen Tag vorher war sie von den russischen Soldaten, die dort fast fünfzig Jahre gelebt hatten, Hals über Kopf verlassen worden. Das Essen stand noch auf dem Tisch, in den Kasernen lief das Radio. Die Fische schwammen im Aquarium und in den Wohnungen waren die Betten ungemacht. Es war, als wären alle nur kurz Zigaretten holen gegangen und nicht wiedergekommen. Ich konnte im Vorübergehen alles mitnehmen, was mir gefiel, Medikamente, Stempel, Uniformjacken. Aber irgendwie war mir das alles unheimlich. Ich weiß noch, wie erleichtert ich war, als ich auf der Rückfahrt an der Stadtgrenze von Berlin wieder Menschen sah. Es war, als hätte jemand Paul allein auf der Welt gedreht, mit mir als Paul in der Hauptrolle und ohne, dass eine Klappe fiel.

Die Umbrüche haben bewirkt, dass ich die Trauer hinter mir ließ und ironisch wurde. Meine Lieblingsautoren sind alles andere als das. Sie sind Tragiker, bisweilen sarkastisch. Bis auf Christa Reinig. Sie ist die einzige, die überlebt hat, mit dem Gesicht zum Fußboden, aber ohne den Humor zu verlieren. Das wäre vielleicht etwas, an das ich mich halten könnte.

Zitate aus: Walter Benjamin, Das Passagenwerk; Thomas Brasch, Wiederbelebungsversuch; Franz Hessel, Ein Flaneur in Berlin; Uwe Johnson, Zwei Ansichten; Inge Müller, Gedichte; Christa Reinig, Einige Fahrstühle; Joseph Roth, Fahrt an den Häusern

imageFischerinsel

Ein alter Mann steht an den Fahrstühlen der 11. Etage und drückt auf den Aufwärtsknopf. Dann läuft er wie aufgezogen auf dem kurzen Stück Flur vor den Fahrstuhltüren hin und her und murmelt zusammenhanglose Sätze in seinen schütteren Bart. Von der Seite kommt das Geräusch eines Schlüsselbundes. Eine Tür wird verschlossen. Schritte nähern sich. Eine Frau mittleren Alters geht auf den Fahrstuhl zu, sieht den erleuchteten Aufwärtsknopf, dreht sich um, entdeckt den Mann, der gerade dabei ist, seine Runde zu beenden, um nach einer abrupten Drehung seinen Gang über den Flur wieder aufzunehmen. »Ach, Herr M., Sie wollen nach oben?« – »Jawoll«, sagt der alte Mann, »auf’n Dachboden.« – »Was wollen Sie denn auf dem Dachboden, Herr M.?« Ihre Stimme ist plötzlich ganz fürsorglich. »Mich uffhängen.« Die Frau ist einen kleinen Moment sprachlos, dann sagt sie: »Aber dafür brauchen Sie doch einen Strick.« – »Hab ich, hab ich«, sagt der Mann und lüftet seinen Pullover. Der Strick ist um den faltigen Bauch geschlungen. »Nee, nee«, sagt die Frau, »der ist viel zu dünn, damit können Sie sich nicht aufhängen. Und denken Sie mal daran, selbst wenn es Ihnen gelänge, was für ein schrecklicher Anblick wäre das für den, der Sie finden würde. Nee, das lassen wir mal lieber sein. Ich bringe Sie erst mal wieder zu Ihrer Frau.« Sie greift den Mann burschikos am linken Arm und dreht ihn in die Richtung, aus der sie gekommen ist. »Ich will aber nicht zu meiner Frau, ich will mich uffhängen.« Er versucht, sich aus ihrem Griff zu winden, dabei löst sich der Strick vom Bauch. Die Frau greift ihn mit ihrer linken Hand und wirft ihn vor den Fahrstuhl. »Keine Widerrede. Hier wird sich nicht aufgehängt.« Dann schiebt sie ihn aus dem Bild. Ein paar Sekunden später ist ein Klingelgeräusch zu hören, eine Tür öffnet sich, die hohe Stimme einer anderen Frau sagt: »Rudi, ich hab dich schon in der ganzen Wohnung gesucht, wo warst du denn, das Essen ist fertig.« – »Passen Sie mal auf Ihren Mann auf, der wollte sich auf dem Dachboden aufhängen.« – »Rudi, Mensch, was machst du denn immer. Nur Ärger hab ich mit dir.« – »Ich will nich essen«, sagt der Mann, »immer essen, essen, essen.« – »Langsam werd ich nicht mehr fertig mit ihm«, sagt die hohe Frauenstimme. Die rechte Fahrstuhltür öffnet und schließt sich, ohne dass jemand aus- oder einsteigt. »Na, dann mal guten Appetit«, ist die Stimme der Frau mittleren Alters zu hören. Eine Tür schließt sich, Schritte kommen näher. Die Frau mittleren Alters drückt den Abwärtsknopf. Dann hebt sie den Strick auf und steckt ihn in ihre Umhängetasche. Die linke Fahrstuhltür öffnet sich, die Frau steigt ein. Die Fahrstuhltür schließt sich.

imageLeere Stadt

Jedes Jahr, bevor ich in die Ferien reise, befällt mich eine eigenartige Sehnsucht, in Berlin zu bleiben. Vorausgesetzt, das Wetter ist dem Kalender gemäß, haben Sommerabende in Berlin etwas seltsam Friedliches, vor allem, wenn das späte Abendlicht in die Nebenstraßen fällt und die Häuser lange Schatten auf die Straßen werfen, die in manchen Gegenden fast menschenleer sind. Das Telefon klingelt selten, der Terminkalender ist leer, und ich könnte mir vorstellen, den Sonnenblumen auf dem Balkon vierzehn Tage beim Blühen zuzusehen und nur abends, wenn es dunkel wird, in den Friedrichshain zu gehen, wo die Daheimgebliebenen ihre Grillfeste veranstalten oder bis in die späte Nacht Fußball spielen, bis der kaum noch sichtbare Ball irgendwo in den Büschen verschwindet.

Aber dann fahre ich doch wieder weg, verbringe zwei Tage auf überfüllten Autobahnen, um es am Ende am Meer nicht auszuhalten, weil die Sonne zu heiß ist und man den Sand vor lauter Leuten nicht sieht. Auch in diesem Jahr war es nicht anders. Als ich nach Hause zurückkehrte, hatten die Sonnenblumen, die ich das ganze Frühjahr über aufgepäppelt hatte, ohne mich geblüht und meine Nachbarin übergab mir die Post, die wie immer nur aus Rechnungen bestand. In Berlin war es so heiß wie in Italien, die Stadt kam mir seltsam matt vor, es schien mir, als fuhren selbst die Autos wegen der Hitze langsamer die Greifswalder Straße hinunter. Die Verkäuferinnen hatten große Ventilatoren neben ihre Kassen gestellt, die nur den Zweck erfüllten, das Geld in der Kasse durcheinanderzuwirbeln. Ab und an schauten sie in den Himmel hinter den Schaufenstern und baten um ein abkühlendes Gewitter, das aber nicht kam. Nur gegen Abend täuschten ein paar zusammengeballte Wolken die Ankunft von Regen vor.

In der späten Abendsonne saßen rotgesichtige Männer vor der Kneipe Danziger Ecke Greifswalder, wo der Wirt mit Hilfe eines schmalen Streifens Kunstrasen und Pflanzgittern, an denen nichts hochranken will, jedes Jahr zwischen Frühjahr und Herbst eine Gartenidylle vortäuscht, dabei sitzt man dort fast auf der Kreuzung. Der Schweiß tropfte ihnen auf T-Shirts, auf denen NOTARZT oder POLIZIST stand, ein paar Ältere trugen auch das, was man früher Campinghemden nannte, die über den Bäuchen spannten und nur mühsam von Knöpfen zusammengehalten wurden. Vor dem Hitzschlag rettete sie nur die Markise über ihren Köpfen.

Ich setzte mich auf den Balkon und fing an, die Zeitungen von vierzehn Tagen durchzublättern. Wie jedes Jahr kam ich nicht weit. Es ist sinnlos, alte Zeitungen zu lesen. Man ärgert sich Tage später über Sachen, die längst Geschichte sind. Aber leider werden in Berlin politische Entscheidungen, ob nun Tragödien wie die Mauer oder Farcen wie die Vorwahlkämpfe, immer gerne Mitte August getroffen, wo die meisten Berliner nicht in der Stadt sind.

Abends ging ich ins Freiluftkino auf der Museumsinsel. Es schien, als seien alle Leute, die in Berlin geblieben sind, an diesem Abend in der Nähe des Hackeschen Marktes versammelt. Auf den Wiesen lagen sie dicht gedrängt wie an den Stränden des Mittelmeers, und auf der Brücke an der Burgstraße starrten Leute auf einen Punkt im Wasser, dabei lag die Spree so still, als sei sie ein Binnensee, und nicht ein Schiff kam vorbei. Nur Herbert, der alte Stadtflaneur, ging gemessenen Schritts durch die Massen und war in Gedanken versunken. An heißen Tagen hat er immer ein Handtuch um den Hals, mit dem er sich ab und an das Gesicht und den Nacken abtupft, bevor er weiter seiner Wege geht.

Auf dem Gelände des Freiluftkinos lagen Hunderte Cineasten in Liegestühlen und beklatschten jedes Lied des jugendlichen Helden auf der Leinwand, der Elvis hieß, währenddessen die Kinder gelangweilt das UNESCO-Weltkulturerbe bekletterten, bis sie vom Wachschutz zurechtgewiesen wurden. Über dem Fries der Nationalgalerie, wo eine Göttin ihre Arme wie Fittiche schützend über die Putten zu ihren Füßen hält, stand der Große Wagen, und die allegorischen Figuren hinter der Leinwand warfen gespenstische Schatten auf die Fassade. Die Idylle wurde alle fünf Minuten von Zügen gestört, die über die Spreebrücke donnerten und dem vor sich hinnuschelnden Elvis den Ton wegnahmen. Ich ging, bevor der Film zu Ende war. Hinter der Absperrung tanzten junge Leute, die sich eine Kinokarte nicht leisten konnten, Rock ’n’ Roll auf der Straße, misstrauisch beäugt von zwei Touristenpaaren, die so alt waren wie Elvis heute wäre, wenn er nicht so einen ungesunden Lebenswandel gehabt hätte.

imageProvinz und Metropole

Eine Abhandlung in sieben Provinzen

[Provinz 1]

Nimmt man die Festlegung des Internationalen Instituts der Statistik von 1887, dass eine Stadt mit mehr als 100000 Einwohnern als Großstadt zu bezeichnen ist, dann bin ich in einer solchen aufgewachsen. Es gab neben der Einwohnerzahl (damals 275 000) diverse andere Insignien: Bus- und Straßenbahnlinien, sechsspurige Straßen, einen großstädtisch-euphorisch S-Bahn genannten Schichtzubringer, Hauptbahnhof und Oberbürgermeister, ein Vierspartentheater, eine international bekannte Fußballmannschaft, eine sehr breite Flanke von Industrie, die in der Gründerzeit den Festungsgürtel aufgehoben hatte, einen 1. Sekretär der Bezirksleitung der SED, auch Bezirksfürst genannt, eine umbenannte Stalinallee sowie eine sehr rege Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit. Es existierte sogar ein großer Binnenhafen, allerdings ohne zugehöriges Hafenviertel, sieht man mal von der Gaststätte Anker ab, wo das Verruchteste die Legenden aus der Vergangenheit waren. Die Gegenwart bestand aus Molle, Korn und HWG, wie die Vorliebe für One-Night-Stands damals staatlicherseits genannt wurde. Was das Nachtleben anging, so sah es überhaupt etwas mau aus. Es gab nur eine Nachtbar, die auf den exotischen Namen Juanita hörte, in allen anderen Etablissements wurde man um 22 Uhr genötigt, nach Hause zu gehen. In manchen Schuppen übernahm das am Wochenende die Polizei.

Wäre ich 43,38 Kilometer und 34 Autominuten weiter westlich aufgewachsen, hätte meine Familie dem Stand nach in einem Reihenendhaus im Speckgürtel einer Großstadt gelebt, meine Mutter hätte den ganzen Tag zu Hause gesessen und ihre Langeweile mit einem Übermaß an mütterlicher Zuwendung oder Schlimmerem kompensiert, und mein Vater hätte es vielleicht mit Ach und Krach bis in den örtlichen Lions-Club gebracht, wo er wahrscheinlich genauso ungern hingegangen wäre wie zum Pressefest der Volksstimme. Ich hätte vielleicht in Bielefeld oder Göttingen studiert, wäre kurz vor dem Millennium für irgendeine Firma nach Berlin gegangen und hätte eine Wohnung in Friedrichshain oder Prenzlauer Berg gemietet oder gleich gekauft. Dort wäre ich wieder unter meinesgleichen gelandet. Vielleicht würde ich dann auch von Berlin als einer Metropole im Aufbruch reden. Und dass da, wo ich jetzt bin, früher nichts von Belang gewesen sei. Prärie eben.

[Provinz 2]

Es war in meiner Geburtsstadt wie in allen kleinen Großstädten: Man kennt nicht jeden, aber man kann sich auch nicht verstecken. Es gab damals sehr enge Normen, die zu missachten Anstrengung bedeutete. So habe ich viele Stunden meiner jugendlichen Existenz damit aufgewendet, anders zu sein. Noch einmal soviel Energie war nötig, die Anfeindungen, Maßregelungen und Drohungen mental auszuhalten und Schlimmeres abzuwenden, denn Anderssein war damals immer auch politisch. Es war eine Übung im Selbstbewusstsein, mehr nicht. Die Metropole dagegen (oder das, was ich dafür hielt) brachte ein Maß an Toleranz auf, das sich leicht mit Gleichgültigkeit verwechseln ließ, wenn die Anonymität nicht notwendig gewesen wäre, um das Maß an Reizüberflutung, die das Leben in einer Großstadt auch schon damals mit sich brachte, zu ertragen. »Die geistige Haltung der Großstädter zueinander wird man in formaler Hinsicht als Reserviertheit bezeichnen können«, schrieb Georg Simmel in seinem Aufsatz Die Großstädte und das Geistesleben, und das galt 1908, wie es hundert Jahre später gilt.

[Provinz 3]

Wenn man als junger Mensch Anfang der Achtzigerjahre nicht in der Provinz versauern wollte, gab es legal drei Optionen: Dresden, Leipzig und Ostberlin. Letzteres lag von mir aus gesehen am nächsten, auch von der Mentalität her. Zwar existierten auch in Dresden und Leipzig Abrissgegenden, in denen Gleichgesinnte lebten und in denen es sich gut aushalten ließ, aber das Sächsische lag mir nicht. Da war noch ein Rest Preußen in mir, der wollte die Hauptstadt von Preußen. Auch wenn die längst »von der Steppe aufgesogen« war, wie Benn nach dem Krieg gedichtet hatte. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts existierten die Begriffe Berlin und Metropole eher als Gegensatzpaar oder als Erinnerung an die goldenen Zwanziger, an eine Stadt, die nicht schlief, diese Symphonie der schnellen Filmschnitte, rhythmisiert durch die Normaluhr am Potsdamer Platz und unzählige Taschenuhren, die die Männer an langen Ketten in ihren Westen herumtrugen und einmal am Tag aufzogen. Die Nazis machten der Metropole, die sie für einen Moloch hielten, den Garaus. Der Krieg brachte Verlangsamung und Stillstand. Die Metropole ging in den Keller.

Mit den Beschlüssen der Alliierten über die Aufteilung Deutschlands in Besatzungszonen und die Auflösung Preußens im Jahr 1947 ging der Stadt mit dem Verlust von drei Vierteln der ehemaligen preußischen Provinzen das Hinterland verloren und nur noch die pompejischen Trümmermassen gigantischen Ausmaßes ließen ahnen, dass hier mal eine Metropole mit künstlichem Licht gewesen war, in der es sich feuilletonistisch flanieren ließ.

Die »Lektüre der Straße«, wie Walter Benjamin das Franz Hessel’sche Flanieren nannte, hatte in der Stadt der leeren Räume jeglichen Reiz verloren.

Mit der Teilung lebte die Stadt in doppelter Ausführung. Es gab die Stummelhauptstadt Berlin mit bescheidenem Hinterland, das man im Bummelzug an einem Tag durchqueren konnte und eines, das die ganze Welt hinter sich glaubte. Dazwischen war eine Barriere aus Beton, die mit den Jahren auch eine mentale wurde und der Stadt einen Sonderstatus verlieh, der mit Metropole nichts zu tun hatte.

In Berlin war der Krieg stets anwesend. Unter jeder Grasnarbe, unter jeder versiegelten Fläche konnte das Grauen verborgen sein. »Immer, wenn man in Prenzlauer Berg um die Ecke ging, fehlte sie«, schrieb der Filmemacher Jörg Foth in einem Rückblick auf die Siebziger.

Und in Kreuzberg war es nicht anders.

[Provinz 4]

Es gab Urberliner und Zugereiste. Bis heute ist es schwierig, dazuzukommen. Am Arrogantesten sind die, die erst seit ein paar Wochen hier wohnen. Urberliner haben manchmal eine große Klappe und einen Dialekt, für den ich sie beneide, auch wenn es mittlerweile so ist, dass berlinernde Intellektuelle von unintelligenteren Zugezogenen für Angehörige der Unterschicht gehalten werden. Oder für Ewiggestrige.

In meiner Erinnerung lag zwischen Oktober und April immer Nebel über der Stadt. Immer war es feucht und das ganze Jahr über grau. Es hing ein Geruch aus Rauch und Benzingemisch in den Straßen und in den Höfen der Gründerzeithäuser. Im Winter froren die Toiletten ein, und wenn man versuchte, die Wäsche draußen zu trocknen, lag hinterher ein schwarzer Film aus Kohlenstaub auf dem Gewebe. Gab es überhaupt Sommer in der Stadt? Ja, ich erinnere mich an das gleißende Licht über völlig leeren Straßen, acht Spuren für einen allein, als gäbe es keine anderen Menschen.

Aber wenn man heute sonntags gegen sieben mit dem Fahrrad durch die Innenstadt fährt, kann es auch passieren, dass niemand auf der Straße ist außer einem selbst. Die Nachtschwärmer sind gerade nach Hause gekommen und die Frühaufsteher schlafen aus. Das ist allerdings auch in London nicht anders. Oder in Manhattan.

[Provinz 5]

Die meisten fuhren nach Berlin, um einzukaufen. Metropole hieß: bessere Versorgung mit Genussmitteln wie halbtrockenem Rotkäppchensekt, Kirschen, Letscho im Glas oder Zigaretten Marke Club. Manche zog es in die Ausstellungen, ins Theater, ins Kabarett oder sie hofften, seltene Bücher zu bekommen, Menschen aus fremden Ländern zu treffen oder Gleichgesinnte in der Ablehnung des Systems. Und dann war da noch das, was man Sehenswürdigkeiten nannte, das auf Russisch aber viel schöner klang: Достопримелчательности: Fernsehturm, Tierpark, Palast der Republik, Brandenburger Tor. Die meisten taten so, als gäbe es die Mauer dahinter nicht. Die Stadtpläne zeigten einen grauen Fleck ohne Straßennetz, der die Bezeichnung Westberlin hatte.

Welch ein Glück war es für mich, nach dem Mauerfall zu sehen, dass auch auf der anderen Seite ein Berlin war, das mir sofort vertraut war, nur eben geschminkt.

[Provinz 6]

Von der DDR-Provinz aus gesehen hatte der Ausspruch »Stadtluft macht frei« eine ganz besondere Bedeutung. Der Fortsatz »… nach Jahr und Tag« war im Laufe der Jahrhunderte verloren gegangen. Im Mittelalter setzten sich Leibeigene, die es nicht mehr aushielten, in die Städte ab, wo sie für ihre Grundherren meist unauffindbar waren. So wurde es Rechtsbrauch, dass ein in einer Stadt wohnender Unfreier nach Jahr und Tag nicht mehr von seinem Dienstherrn zurückgefordert werden konnte und somit ein freier Bürger war. Später allerdings wurde dieser Rechtsgrundsatz zugunsten der Fürsten wieder aufgehoben.

Bis 1972 war es kaum möglich, ohne Zuzugsgenehmigung von der Provinz nach Ostberlin ziehen zu können. Man brauchte Wohnung und Arbeit, und das eine bekam man nicht ohne das andere.

In der Nähe der Mauer wurde man als junger, in den Augen der Polizei renitent aussehender Mensch ständig kontrolliert. Mit einem Hauptwohnsitz in Doberlug-Kirchhain oder Schönebeck hatte man schlechte Karten. Man wurde dann schnell für einen jugendlichen Grenzverletzer gehalten. Es galt also, mit allen möglichen Tricks und Finessen, zumindest im Personalausweis, einen Hauptwohnsitz in Berlin zu erkämpfen.

Die Faulheit der Meldebehörden war eine Chance, durch die engen Maschen zu schlüpfen. Die heutige digitale Überwachung durch Kameras allüberall, Biometrie und fälschungssichere Ausweise machen eine Existenz jenseits der Legalität fast unmöglich.

[Provinz 7]

In Zeiten der virtuellen Vernetzung bedarf es der Metropolen für hochaufgelöste Arbeitszusammenhänge nicht mehr. Aber diese Diskussion ist eigentlich auch nur virtuell. Zwar kann man sich dank DSL Wissen, Diskurs und Arbeit in jeden heimischen PC holen, und wenn der auf dem abgeschiedensten Dorf steht, aber man kann dort zwischendurch nicht aufstehen und für eine Stunde durch Straßenschluchten spazieren oder nachts Klubs besuchen oder ins Theater gehen.

Die schiere Größe der Stadt überfordert manchen Neubewohner. In der Vergangenheit gab es ein probates Mittel gegen die Reizüberflutung, die Datsche im Grünen. Man tankte Luft und warf sich nach zwei Tagen Ruhe wieder ins Großstadtgetümmel. Inzwischen scheint die Zahl der Menschen zuzunehmen, die die Betulichkeit des Kleinstadtlebens in der Metropole leben möchten. Ruhe und Ordnung gegen die Zumutungen der Globalisierung. Da werden Bolzplätze, Bier- und Kindergärten mitten in der Stadt geschlossen, weil Anwohner sich durch den Lärm belästigt fühlen oder die Anpflanzung hoch wachsender Bäume zu verhindern versucht, weil sie eines Tages die Eigentumswohnungen verschatten könnten.

Es gibt nur zwei Optionen für Metropolenmenschen, sich dem zu entziehen: in großstädtischere Viertel ziehen oder das Problem durch repressive Renitenz aussitzen, bis die anderen wieder weggehen.

Berlin Alexanderplatzimage

Das Schönste am Alex ist der viele Himmel. Allerdings nur, wenn er nicht schwer unter der Kuppel des Fernsehturms hängt.

Am Schönsten ist der Alex vom Fernsehturm aus gesehen. Das farblich voneinander abgehobene Betonpflaster bildet einen sehr dekorativen Strudel um den Brunnen der Völkerfreundschaft. Die Gestaltung des Platzes in den Jahren zwischen 1966 und 1970 war im doppelten Sinne eine Angelegenheit von oben. So stellte man sich die Welt im Jahr 2000 vor, und mit dem Umbau des Platzes kam man dieser schönen neuen Welt ein wenig näher. Fehlten nur noch die Flugobjekte. Menschen waren aus dieser Höhe eine zu vernachlässigende Größe. Ihre Bewegungen wurden von Kameras überwacht.

Seit es den Alexanderplatz gibt, ist er ein Seismograph der Entwicklung Berlins. Ein Ort, an dem sich nicht nur Straßen bündeln. Ursprünglich war er ein Viehmarkt vor dem Königstor, ab dem späten 18. Jahrhundert ein Exerzierplatz, bis er mit dem Bau der Stadtbahn 1882 zu einem Verkehrsknotenpunkt wurde. Wohl jede Epoche hat sich schon einmal an der Umgestaltung des Platzes versucht, keiner ist es vollständig gelungen. Bis in die Zwanzigerjahre traute sich das gehobenere Bürgertum maximal bis hier, in Richtung Norden war verbotenes Gebiet, Unorte, Proletarierviertel, Armenhäuser.

Ende der Zwanzigerjahre versuchte man sich zum ersten Mal an einer kompletten Umgestaltung. Fertig wurden nur das Alexander- und das Berolinahaus und ein Roman, der das ganze Chaos des Umbaus beschrieb: Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz.

Vor den Olympischen Spielen 1936 riss man einen Teil des Georgenviertels, das an den Platz grenzte, ab und baute ein Arbeitsamt und einen Wohnblock für verdiente Kämpfer des Nationalsozialismus. Beides überlebte die Bombennächte arg beschädigt. Den Rest besorgte die Hauptstadtplanung unter der Regie Walter Ulbrichts. Das Georgenviertel wurde samt der gleichnamigen Kirche vom Stadtplan getilgt. Zu dieser Zeit stand zwischen Gleisen der Straßenbahn, die kurze Zeit später vom Platz weggeleitet wurde, auf dem Alexanderplatz ein Transparent: »Deine Tat für Deine Hauptstadt«. Man sollte es wieder aufstellen.

In schöner Dialektik hat sich 1989 die Weite des Platzes gegen die Regierung gerichtet, die ihn zwanzig Jahre vorher in dieser Form anlegen ließ. Am 4. November war genug Raum für annähernd eine Million Leute.

Der neue Alexanderplatz wird kein Demonstrationsort für große Massen mehr sein können, es sei denn, ein unangemeldeter Aufstand wälzte sich durch die geplanten Shoppingmalls in neuen Hochhäusern, von denen einige glücklicherweise mangels Nachfrage schon wieder gestrichen wurden.

Der Platz ist nicht schön, hat aber einen Vorzug, den keiner der neuen Orte besitzt, die in den letzten Jahren um-, aus- oder zugebaut wurden – er ist kein bisschen