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Über dieses Buch:

Mehr als ein ganzes Leben … Ein oberbayerisches Dorf in den 50er Jahren: Als Kriegswaise wächst Dagmar fernab ihrer Heimat auf. Das Landleben ist für sie beinahe unerträglich: Immer wieder hört sie in Momenten der Stille die schrecklichen Sirenen des Fliegeralarms, sieht, wie die Hamburger Villa ihrer Familie zu Schutt und Asche zerfällt. Wie weiterleben, wenn man alles verloren hat? Inmitten der Traditionen und der Enge des Dorfes versucht Dagmar, ihren eigenen Weg zu finden – und knüpft schließlich ein zartes Band zu dem französischen Zwangsarbeiter Laurent. Auch er ist entwurzelt, ein Außenseiter wie sie, und beide träumen von einem anderen Leben. Aber kann es auch ein gemeinsames sein? Schon bald stellen die Stürme der Zeit ihre Gefühle auf eine harte Probe …

»Über vier Jahrzehnte deutscher Kriegs- und Nachkriegszeit – Barbara Noacks Stärke ist es, ohne Pathos den Schrecken im Alltag zu schildern, Menschen zu zeichnen in ihren Schwächen und in ihrem Mut.« Welt am Sonntag

Über die Autorin:

Barbara Noack, geboren 1924, hat mit ihren fröhlichen und humorvollen Bestsellern deutsche Unterhaltungsgeschichte geschrieben. In einer Zeit, in der die Männer meist die Alleinverdiener waren, beschritt sie bereits ihren eigenen Weg als berufstätige und alleinerziehende Mutter. Diese Erfahrungen wie auch die Erlebnisse mit ihrem Sohn und dessen Freunden inspirierten sie zu vieler ihrer Geschichten.

Ihr erster Roman »Fräulein Julies Traum vom Glück«, auch bekannt unter dem Titel »Die Zürcher Verlobung«, wurde zweimal verfilmt und besitzt noch heute Kultstatus. Auch die TV-Serien »Der Bastian« und »Drei sind einer zu viel«, deren Drehbücher die Autorin verfasste, brachen in Deutschland alle Rekorde und verhalfen Horst Janson und Jutta Speidel zu großer Popularität.

Barbara Noack veröffentlichte bei dotbooks ihre Romane »Brombeerzeit«, »Danziger Liebesgeschichte«, »Das kommt davon, wenn man verreist«, »Das Leuchten heller Sommernächte«, »Der Bastian«, »Der Duft von Sommer und Oliven«, »Der Traum eines Sommers«, »Die Melodie des Glücks«, »Drei sind einer zuviel«, »So muss es wohl im Paradies gewesen sein«, »Valentine heißt man nicht«, »Was halten Sie vom Mondschein?«, »Die Lichter von Berlin« und »Fräulein Julies Traum vom Glück«.

Ebenfalls bei dotbooks veröffentlichte Barbara Noack ihre Romane »Eine Handvoll Glück« und »Ein Stück vom Leben«, die auch im Sammelband »Schwestern der Hoffnung« erhältlich sind.

Im Sammelband erschienen sind auch »Valentine heißt man nicht & Der Duft von Sommer und Oliven«.

Die heiteren Kindheitserinnerungen »Flöhe hüten ist leichter«, »Eines Knaben Phantasie hat meistens schwarze Knie«, »Ferien sind schöner« und »Auf einmal sind sie keine Kinder mehr« sind außerdem im Sammelband »Als wir kleine Helden waren« erhältlich.

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eBook-Neuausgabe April 2016, Januar 2022

Dieses Buch erschien bereits unter dem Titel »Der Zwillingsbruder« 1988 im Langen-Müller-Verlag und 2016 bei dotbooks.

Copyright © der Originalausgabe 1988 by Albert Langen – Georg Müller Verlag GmbH, München

Copyright © der Neuausgabe 2016, 2021 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-95824-512-9

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Barbara Noack

Solange wir Hoffnung haben

Roman

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Für Sabine

Erster Teil

Kapitel 1

In dem kleinen oberbayerischen Ort Kornfeld sprach man anfangs nur von Dagmar, dem armen Kind, so, als ob es ihr Familienname wäre: Dagmar Dasarmekind.

Eines Abends, Ende Juli 1943, war sie mit Fräulein Else Pillkahn aus dem von München kommenden Personenzug gestiegen – eine dünne, verstörte Zehnjährige im dunkelblauen Matrosenkleid mit großem Kragen, der ihr im Wind um die Ohren klappte. Ein Kleid voller Flecken, mit zerknittertem Faltenrock. Die Hacken ihrer Lackschuhe waren heruntergetreten wegen der Wunden an ihren Füßen, die Wadenstrümpfe zerrissen und blutbefleckt.

Frau Janson, Dagmars Mutter, hatte Wert darauf gelegt, daß ihre Zwillinge selbst im Kriegsjahr ’43 zu festlichen Gelegenheiten noch immer so gediegen teuer gekleidet waren wie die Schaufensterpuppen der »Hamburger Kinderstube«. Dank der Jansonschen Konditorei besaß sie Beziehungen zu Textilien ohne Kleiderkarte und zu so unnützen Lederwaren wie eben diesen drückenden Lackschuhen.

Ihretwegen und wegen dem verhaßten Matrosenkleid, in dem Dagmar so unbehaglich herumstand, als ob man sie in einen Pappkarton gezwängt hätte, und vor allem wegen dem Mädchengeburtstag, zu dem sie nicht hatte gehen wollen, war es zu einer dramatischen Szene gekommen.

Dagmar hatte protestkreischend und ohne Abschied ihre Mutter verlassen, auch noch türenknallend, daß es im ganzen Haus zu hören war – und die Reue darüber sollte noch lange ihr Gewissen belasten. Aber wie konnte sie denn ahnen, daß sie ihre Mutter nie wiedersehen würde?

Ihr Zwillingsbruder Dag, von Anfang an der Widerstandsfähigere von beiden gegen mütterliche Zumutungen modischer oder gesellschaftlicher Art, hatte sich weder durch Bitten noch angedrohte Prügel zur Teilnahme an diesem Kinderfest überreden lassen. Um ihn zu verprügeln, mußte Frau Janson ihn erst mal einfangen, und da lag ihr Problem: Dag war flink und wendig wie sein Terrier Jonny. Er dachte gar nicht daran, zu diesem Mädchenfest zu gehen.

Weil aber der Vater des Geburtstagskindes, das eingeladen hatte, ein gewisser Herr Krüger war, der die Jansonsche Konditorei unter der Hand mit Rosinen und Zitronat belieferte, mußte wenigstens ein Zwilling an der Festlichkeit teilnehmen, und da blieb nur Dagmar übrig.

***

Inge Janson hatte es nicht leicht mit ihrer Brut. Das war selbst den Zwillingen in einsichtigen Momenten bewußt. Im Grunde genommen hatte sie die falschen Kinder bekommen, und eins hätte ihr auch gereicht. Ihre Idealvorstellung wäre ein problemloses, fleißiges, folgsames Töchterchen gewesen, das sich niedlich anziehen ließ, sein Zimmer aufräumte, vor Erwachsenen freiwillig einen Knicks machte und äußerlich Inges entzückender Lieblingspuppe Lucie glich. Stattdessen hatte das Schicksal Inge Janson diese unbezähmbaren Teufel beschert.

Ihre Schwiegermutter hatte darauf bestanden, daß sie

Dag und Dagmar getauft wurden. Dag bedeutete »Tag« und war ein nordischer Königsname, und Dagmar hieß »berühmt wie der helle Tag«.

Helene, Paulinchen Struwwelpeter, Zappelphilipp, Max und Moritz hätten treffender zu dieser Brut gepaßt als »Tag« und »Berühmt-wie-der-helle-Tag«.

Nach jeder Auseinandersetzung mit den Zwillingen flüchtete sich Inge Janson zu dem nach einer Fotografie gemalten Ölbild ihres früh verstorbenen Mannes, das im Herrenzimmer hing, und klagte ihn an: »Oh, Kai- Uwe!«, wobei sie die Fingerspitzen leidend gegen ihre Schläfen drückte. »Wie konntest du mich mit diesen beiden alleine lassen! Schließlich sind es ja auch deine Kinder!«

Und also sah Dagmar an jenem Sonnabend ihre Mutter zum letzten Mal: hochgesteckte, aschblonde Haare über gepunktetem Seidenkleid mit gepolsterten Schultern und Lackgürtel, schlanke Beine in Hauchstrümpfen mit leicht verrutschten Nähten auf sehr hohen Absätzen, eingehüllt in eine Duftwolke von Chanel Nr. 5. So stand sie anklagend vor dem Bild des Vaters, an den sich die Zwillinge nicht mehr erinnern konnten.

***

Das Hausmädchen Heike – als Geschäftsfrau und zweifacher Mutter stand Inge Janson eins zu – brachte Dagmar und eine als Präsent gedachte Buttercremetorte mit dem Vorortzug nach Hochkamp, wo Krügers wohnten. Sie versprach, Dagmar um sieben Uhr abzuholen.

Es wurde genauso, wie die Zwillinge befürchtet hatten: lauter Mädchen auf diesem Geburtstag, zehn Stück im ganzen. Kein Völkerball, keine Ringkämpfe, nicht mal Topfschlagen, dafür »Hänschen, sag mal piep«, »Drei Fragen hinter der Tür« und das vogelige Spiel »Meine Puppe ist verschwunden«. Zum Abendbrot gab es Eibrötchen und Arme Ritter, das ging ja noch.

Kurz vor sieben kamen die ersten Mütter, um ihre Töchter abzuholen. Diejenigen Kinder, die in der Nachbarschaft wohnten, gingen allein nach Haus.

Schließlich war nur noch Dagmar übrig, auf dem Gartentor balancierend, voll Ungeduld und steigendem Zorn: Nun komm schon, komm, verdammtnochmal! Aber Heike ließ sich nicht herbeifluchen.

»Darf ich mal zu Hause anrufen, Frau Krüger?«

Dag war am Apparat: »Wo steckst du denn?«

»Noch immer in Hochkamp. Warum kommt Heike nicht? Ich will nach Hause!«

»Versteh ich nich«, sagte Dag. »Um sechs ist sie los!« »Dann müßte sie längst hier sein! Der erzähl ich aber was!«

Heike war an sich ein zuverlässiges Mädchen, doch, ja. Aber sobald ihr ein Landser auf den Hintern klatschte, fiel ihr Pflichtbewußtsein vorne herunter und aus war’s. Kein Verlaß mehr auf Heike. Wer weiß, wo sie diesmal der Klatscher ereilt hatte, oder was sonst sie daran hindern mochte, Dagmar abzuholen. Sie würde es nie erfahren, denn Dagmar sah auch Heike nicht wieder. »Wie war’s denn so?« erkundigte sich Dag am Telefon. »Naja – erzähl ich dir alles später. Ich kann hier nicht so reden. – Und was hast du gemacht?«

»Ich war bei Erwin in der Werkstatt. Wir haben uns Holzschwerter gesägt.«

»So’n Schiet«, ärgerte sich Dagmar. »Hätte ich auch gerne gemacht. Habt ihr eins für mich mitgesägt?«

»Ging nich. Sein Vater kam früher zurück, als wir gedacht haben. – Also denn tschüs, bis nachher –«

»Dag! Hallo! Bist du noch dran?« Sie mochte noch nicht den Kontakt mit seiner Stimme aufgeben, nachdem sie nun schon mehrere Stunden von ihm getrennt war, was selten vorkam. Dagmar hatte bereits Heimweh nach Dag zwischen diesen fremden Krügers.

»Was macht Jonny?«

»Er liegt aufem Sofa im Herrenzimmer.«

»Wenn das Mama wüßte.«

»Na und?« sagte Dag. »Du tust gerade so, als ob das was Neues wäre. Er liegt doch immer da, wenn Mama im Geschäft ist. – Ich geh jetzt noch mal mit ihm runter.« »Dag?«

»Jadoch –«

»Häng noch nicht ein.«

»Ich bin aber mit Hans verabredet.«

»Was soll ich machen, wenn Heike nicht mehr kommt? Soll ich allein fahren? Holst du mich am Bahnhof ab?« »Klar, mach ich. Aber ich warte lieber noch, bis Mama kommt. Sie muß ja gleich da sein. Oder ich lege ihr ’nen Zettel hin. Tschüs denn, bis nachher.«

»Tschüs. Bis nachher, Dag.«

Es war das letzte Mal, daß sie mit ihm geredet hatte. Sie wiederholte sich später immer wieder dieses Gespräch, um seine Stimme nicht aus ihrem Ohr zu verlieren. Man sagte, sie hätten dieselben, für zehnjährige Kinder ungewöhnlich tiefen, rauhen Stimmen, aber im eigenen Ohr klang die eigene Stimme eben anders als für Zuhörer. Klang nicht, wie Dag geklungen hatte.

Aus der Küche rief Frau Krüger munter: »Wenn du aufgehört hast zu telefonieren, darfst du uns beim Abtrocknen helfen, kleine Dagmar.«

***

Kleine Dagmar polierte gerade an einem Glas herum, als das Telefon läutete. Sie wußte sofort, das ist Mama, und folgte Frau Krüger zum Apparat, der auf einem Chippendale-Tischchen mit Häkeldecke im Flur stand. »Ach, Frau Janson«, sie setzte ein wohlwollendes Lächeln auf, »Ihr Töchterchen –«, wurde überschwemmt von einer hell und erregt sprudelnden Sopranfontäne, »aber – aber ich bitte Sie, Frau Janson aber nein, wieso ist Ihnen das – aber das macht doch nichts – nein, Sie brauchen wirklich nicht mehr zu kommen. Beruhigen Sie sich doch, Frau Janson. Ihr Töchterchen kann gerne bei uns bleiben. Die Mädels haben immer soviel Spaß, wenn sie zusammen schlafen dürfen – au, nun laß doch, Kind«, Frau Krüger wehrte Dagmars Angriffe auf den Telefonhörer mit dem Ellbogen ab, »und morgen ist Sonntag. Da können sie schön ausschlafen. Glauben Sie mir, Ihr Töchterchen ist bei uns bestens aufgehoben, Frau Janson.«

***

Dagmar fand es überhaupt nicht spaßig, in Elke Krügers Kinderzimmer auf dem Sofa übernachten zu müssen – in einem rosa Hemd mit Rüschen. Sie war an Pyjamas gewöhnt und fühlte sich bedrängt von der hochgerutschten Stoffwurst über ihren Knien. Und schlimmer noch die Kleine-Mädchen-Gespräche vorm Einschlafen von Bett zu Bett.

Dagmar wollte nicht zu den Mädchen gehören. Sie empfand sich nicht als Mädchen, höchstens als weiblichen Zwilling von Dag, was ihrer Meinung nach nicht dasselbe war.

Sie hatte auch kein Verlangen nach einer Freundin. Mädchen waren Notlösungen, auf die sie Gottseidank noch nie hatte zurückgreifen müssen.

So gegen halb ein Uhr nachts heulten Sirenen in ihren Schlaf. Dagmar fuhr hoch und wußte nicht, wo sie war. In der Tür stand eine Frau in einem gegen das Flurlicht durchsichtigen Hemd mit Puffärmeln, mit zwei Lockenwicklern wie Hörnern über ihrer Stirn – achja, das war Frau Krüger.

Sie klatschte in die Hände: »Aufstehn, ihr lütten Schlafmützen! Wir haben Fliegeralarm –« auf drei Tönen gesungen. »Zieht euch was über und denn marschmarsch in den Keller.«

Da Krügers ein Einfamilienhaus bewohnten, war ihr Keller bedeutend wohnlicher eingerichtet als der im Jansonschen Zwölf-Parteien-Mietshaus im Arbeiterviertel Altona. Für jeden gab es ein Ziehharmonikabett, für Dagmar wurde ein Liegestuhl aufgestellt. Herr Krüger schaltete den Volksempfänger an. Der Drahtfunk meldete schwere Bomberverbände im Anflug auf die Innenstadt. Durch den Luftschacht hörte man es in der Ferne dröhnen, es hörte gar nicht mehr auf.

Einmal, als die Nacht ohne Geräusche war, wagte sich Herr Krüger nach oben, sogar bis zur Dachluke, und kehrte mit der Mitteilung zurück: »Über der Stadt ist der Himmel rot. Ein einziger Feuerschein.« Er machte sich Sorgen um sein Büro und die Lagerhalle am Hafen. Seine Frau wollte seine Besorgnis teilen, indem sie nach seiner Hand griff. Das machte ihn nervös.

Dagmar dachte an Dag, Mama und an Jonny, den Terrier, der bei Fliegeralarm in der Wohnung bleiben mußte, weil Hunde im Luftschutzkeller verboten waren. Und was er wohl durchmachen mochte so ganz allein da oben im ersten Stock.

Der Luftangriff dauerte lange. Um drei Uhr früh war endlich Entwarnung.

Frau Krüger, die »ein Stündchen prächtig geschlafen« hatte, wie sie den Anwesenden versicherte, beschloß in ihrer unerschütterlichen Munterkeit: »So, jetzt haben wir Hunger. Jetzt essen wir alle von Dagmars Buttercremetorte.«

Herr Krüger stieg noch einmal aufs Dach. Bei seiner Rückkehr hatte er keinen Appetit mehr auf Torte, sondern ging ans Telefon, um den Wachmann in seiner Lagerhalle anzurufen. Es meldete sich niemand.

Er rief auch bei Jansons an, Dagmar neben sich, vor Angst und Ungeduld an seinem Jackenärmel zupfend. »Nu laß doch, Deern, so kann ich nicht wählen.« Und nach einer Minute atemlosen Lauschens: »Es geht keiner ran.«

»Dann haben Sie die falsche Nummer, ich versuch’s mal selber.« Sie drehte mit zitternden Fingern und erreichte auch nur ein Tuten mit seltsam leeren Zwischenräumen – tut und nichts und tut und nichts – »Es klingt anders als sonst.«

»Es klingt wie immer, Dagmar. Ich sage dir, die Leitungen sind gestört. Das kommt schon mal vor nach einem Angriff.«

»Ich muß zu Dag, Herr Krüger«, beschwor sie ihn.

»Nur ruhig Blut, Deern. Jetzt können wir gar nichts machen. Wir müssen den Morgen abwarten.«

»Es ist Morgen!«

»Es ist halb vier! Leg dich man noch ’n büschen aufs Ohr. Nach dem Frühstück nehm ich dich mit dem Auto mit längs.«

So lange konnte Dagmar nicht warten. Sie rannte aus dem Haus, ehe er sie zurückhalten konnte, und die Straße hinunter zum Bahnhof, aber es fuhren keine Züge.

Was blieb ihr anderes übrig, als umzukehren und zum Krügerschen Haus zurückzugehen – unter Linden, in denen es sang und zwitscherte, als wäre nichts geschehen. Auch die Sonne ging auf wie immer. Und vielleicht war auch gar nichts geschehen. Warum sollte ausgerechnet Dag und Mama etwas passiert sein? Aber es war kein Trost in dieser Hoffnung.

Die Krügersche Haustür war verschlossen. Sie hatten sich wohl noch einmal »aufs Ohr gelegt«.

Dagmar hockte sich auf die oberste Stufe der Eingangstreppe, biß auf ihrem Fingerknöchel herum, krank vor Ungeduld und Angst, starrte auf die leere Straße – warum kam denn niemand vorbei, den sie hätte fragen können, warum war alles so still, so entsetzlich still? Warum war ausgerechnet Sonntag, wo alle Menschen länger schliefen?

Warum wurde es so langsam später?

Plötzlich fiel etwas wie Schnee aus dem wolkenlosen Himmel, tanzende, klebrige Flocken, nicht weiß, sondern grau und schwarz im taufeuchten Rasen des Vorgartens landend, auf Treppenstufen, auf Dagmars Faltenrock; das war Aschenschnee. Auch angesengte Papierfetzen, auf denen sie noch Buchstaben und Zahlen erkennen konnte – das Wort »Voss« …

Sie sprang auf und schlug mit ihren Fäusten gegen die Haustür.

»Da bist du ja wieder«, sagte Frau Krüger aus dem Klofenster im ersten Stock, »wo warst du denn hin? Wir haben uns Sorgen gemacht –«

»Ich muß nach Haus, ich muß sofort nach Haus, sofort, sofort – wecken Sie Ihren Mann, er soll mich fahren – sofort!«

Krügers erlebten an diesem frühen Morgen, wozu ein Jansonscher Zwilling fähig war, wenn er seinen Willen durchzusetzen beabsichtigte. Dagmar ließ dem Hausherrn gerade noch Zeit sich anzuziehen, kein Duschen, kein Rasieren, schon gar kein Warten auf Bohnenkaffee, der erst gekocht werden mußte.

»Oh, Vating, wer hätte das gedacht, wo Frau Janson doch so eine feine Dame ist. Und denn solche Tochter! Von Anstand und Erziehung keine Spur!«

Herr Krüger holte den DKW aus der Garage. Dagmar stieg zu ihm ein, grüß- und danklos, ohne sich noch einmal umzusehen. Kauerte auf dem Sitz neben ihm, zapplig stumm, auf keine seiner Fragen eingehend.

Für Hamburger Verhältnisse ein geradezu göttlicher, wolkenloser Sommermorgen, der sich braun eintrübte, je näher sie der Stadt kamen.

Erste schwelende Ruinen am Straßenrand. Vor ihnen auf dem Bürgersteig türmte sich wahllos geretteter Hausrat – Stühle, Betten, Bronzetänzerin, Silberleuchter, Standuhr, Polster, Volksempfänger, Koffer, dunkelrote Portieren, Stehlampe, Rauchtisch. In einem Sessel hatte man eine sehr alte Frau mit karierten Puschen an den Füßen abgestellt.

Eine straßenbreite Wolke aus Kalkstaub und Ruß rollte ihnen entgegen, schluckte das Krügersche Auto, ließ die Frontscheibe erblinden. Gegen das eilig hochgekurbelte Seitenfenster pochte ein Fingerknöchel, der zu einem Polizisten gehörte. »Umkehren. Hier kommen Sie nicht weiter.« Eine Hausfassade war etwa hundert Meter vor ihnen auf die Straße gestürzt.

»Wo ist denn am meisten runtergegangen?« wollte Herr Krüger wissen.

»Innenstadt – Eimsbüttel – Altona – das kann man tscha noch gaa nech übersehen«, hustete der Wachtmeister.

»Am Hafen auch?«

»Oberhafen, heißt es …«

»Achgott«, sagte Herr Krüger und merkte erst jetzt durch einströmenden Kalkstaub, daß die rechte Wagentür offen klaffte. Dagmar war nicht mehr da. »Dagmar«, rief er, »komm zurück – Dagmar Janson – sofort hierher –«, und gab es nach wenigen Minuten auf. Kurz überlegend, ob ihre Mutter ihn später zur Verantwortung ziehen könnte wegen vernachlässigter Aufpasserpflicht. Nein, konnte sie nicht, nicht bei dem Ausnahmezustand und diesem heimtückischen Kind. Erleichtert, die Belastung Dagmar loszusein, setzte er zurück, um zu wenden, und fuhr in ein gerettetes, auf der Fahrbahn stehendes Buffet.

***

An die Stunden verzweifelten Herumirrens durch brennende Straßen verlor Dagmar jede bewußte Erinnerung. Und das war gut so.

Erst später, in Alpträumen, würden die Bilder sie verfolgen. Hilfloses Irren durch ein Inferno. Eine Glocke aus Hitze, Staub und beißendem Qualm. Der Geruch von verbranntem Fleisch. Stolpern über Mauerbrocken, über Wasserschläuche der Feuerwehr, Knistern, Kommandorufe, Husten, brennende Augen.

Dag-

Dag, wo bist du? Dag!! Bitte sag doch, wo du bist–

Sie war in diesem Stadtteil aufgewachsen, kannte jede Straße, jeden Spielplatz, viele Wohnungen und Innenhöfe – kannte jeden Jungen in weitem Umkreis, die meisten Hunde durch Jonny, den Terrier …

Dagmar hatte zehn Jahre in diesem Stadtteil gelebt, und nun fand sie sich nicht mehr zurecht.

Eine Rotkreuzschwester griff das seit Stunden herumirrende Kind auf und nahm es mit zum Hochbunker, als am frühen Nachmittag Sirenen den nächsten Anflug feindlicher Bomber einheulten. Ferne Sirenen – die Alarmanlagen im näheren Umkreis waren mit den Dächern, auf die man sie montiert hatte, in die Tiefe gestürzt.

Die Schwester schob Dagmar vor sich her in die nach Schweiß und Ruß stinkende engstehende Masse aus Leibern im überfüllten Bunker.

Verzweifelte Rufe nach abgedrängten Kindern, Kinder, die nach ihrer Mutter jammerten. Husten. Fluchen. Gereiztheit. Ungehemmtes Furzen nach zu frisch gefuttertem Brot. Kaum Sauerstoff zum Atmen. Verstopfte Toiletten. Kein Wasser. Dann verlor Dagmar auch noch ihren Schutz, die Rotkreuzschwester war zu einer Ohnmächtigen gerufen worden. Panik erfaßte sie in dieser sie eng umschließenden, sie bedrängenden Masse Mensch.

»Ich will hier raus – ich will sofort raus – hol mich hier raus, Dag!«

Umstehende beruhigten oder beschimpften sie: wenn jeder hier rumschreit, wo, kommen wir denn da hin, sie solle sich gefälligst zusammennehmen. Und dann eine Stimme aus der Menge: »Dagmar Janson! Das klingt wie Dagmar – bist du das, Dagmar Janson?«

»Fräulein Else – wo bist du?«

»Bleib stehen. Ich komm gleich bei dich bei!«

Bewegung kam in die Menge, jemand drängte sich rigoros näher – das war Else Pillkahn aus dem Milchladen in ihrem Altonaer Haus. Elses sommersprossiges Gesicht wie eine vertraute Insel in all dieser Feindseligkeit!

»Wo kommst du her, Deern?«

»Ich habe unser Haus gesucht – ich hab’s nicht gefunden, Fräulein Else.« Hoffnung keimte auf: »Sind Dag und Mama auch hier? Wo sind sie, Fräulein Else? Hast du sie gesehn?«

Dagmars Kopf landete plötzlich in einer krampfhaften Umarmung zwischen weichen Brüsten. Aus Elses Lungen orgelte Heulen auf, das nichts Menschliches mehr an sich hatte – so jaulte Jonny, wenn man ihm auf die Pfote trat – wo war wohl Jonny?

Mit Gewalt befreite sich Dagmar aus Elses Klammer der Verzweiflung, suchte ihren Blick – Elses rotgeränderte Augen mit versengten Wimpern – hoffnungslose Augen. Das machte ihr Angst. »Wo sind sie? Wo ist Dag? Und Mama? Weißt du, wo sie sind?«

»Ich war da«, sagte Else plötzlich ganz ruhig. »Es war doch ’n Eckhaus.«

»Jaja–«

Sie hob die Schultern. »Es is nich mehr da – wie weggeblasen – nich mal mehr ein Schornstein – von einer Luftmine, die is mittenrein und alles zerfetzt–und denn Brandbomben. Ich hab unsern Luftschutzwart Herr Meyer getroffen, der wo im dritten Stock gewohnt hat. Über die Trümmer soll auch noch ein Feuersturm gefegt sein und hat edles verbrannt, was brennbar war …«

»Waren Mama und Dag im Keller?«

»Herr Meyer hat noch mal reingeguckt, bevor er seine Runde gemacht hat. Er sagt, er hätte sie alle gesehn – sein Liesing und Lüttjohanns – Frau Meinecke, Kastenmachers – meine Mutter – uns arm klein Antje –« Sie wollte sich ihrem Schmerz hingeben, aber Dagmar rüttelte an ihr.

»Hat er Mama und Dag gesehen?«

»Ja. Hat er. Herr Meyer sagt, die wären zuallerletzt runtergekommen. Sie hätten sich gestritten …«

»Wenn sie im Keller waren, dann müssen sie ja noch im Keller sein oder schon raus«, hoffte Dagmar. »Fräulein Else, du warst doch da. Man muß nach ihnen buddeln, damit sie rauskönnen aus dem Keller. Hast du dich nicht darum gekümmert?«

»Deern, ich hab ’n ganzen Suchtrupp organisiert – mit Pickel und Spaten. Erinnerst du dich, daß wir vorigen Freitag den Koks für den ganzen Winter gekriegt haben? Tja, der brennt nu auch – brennt bestimmt noch tagelang. – Schau mich an–« Sie zeigte auf ihr versengtes, unter einer Staubschicht ergrautes kupferfarbenes Haar. »So eine Glut – wenn du bloß in die Nähe von die Stelle kommst, wo unser Haus gestanden hat, bist du selber versengt.«

»Aber man muß sie doch rausholen!«

»Dagmar, du begreifst nich, was ich sage. Der Kohlenkeller war neben unsern Luftschutzkeller. Kann man nur hoffen, daß sie schon vorher alle tot waren.« Dagmar wehrte sich gegen diese Ungeheuerlichkeit, schwemmte über vor Haß auf Else, ging mit Fäusten auf sie los: »Du gemeines Aas. Du lügst! Du Lügnerin!! Du willst mir bloß bange machen! Ich weiß genau, Dag lebt. Kein Zwilling kann ohne den andern sterben! Und wenn ich lebe–«, sie brach ab, erschöpft, verwirrt – das alles ist bestimmt ein Alptraum. Gleich wach ich auf …

***

Bis zu diesem zufälligen Zusammentreffen im Bunker hatten die neunzehnjährige Else Pillkahn und die zehnjährigen Jansonschen Zwillinge im permanenten Kriegszustand gelebt. Womit er begonnen hatte, wußte keiner mehr so recht. Wahrscheinlich war Jonny, der Terrier, der Anlaß gewesen. Sobald er mit den Zwillingen auf die Straße stürmte, erleichterte er seine Blase an der Tür des Milchgeschäfts. Darüber beschwerte sich Else Pillkahn bei Frau Janson. Darauf drohte Frau Janson den Zwillingen, ihren Jonny abzuschaffen, wenn das noch einmal passierte.

Sie suchte schon längst nach einem Grund, diesen Teppichbeißer, Sofalieger, Türkratzer, Briefträgerhosen-Zerreißer, Fleisch-vom-Tisch-Klauer und Dauerkläffer loszuwerden. (Was Inge Janson am meisten fuchste: der Terrier gehorchte ihren Kindern aufs Wort, dem Hausmädchen manchmal, ihr selbst nie, und wenn sie ihn strafen wollte, bleckte er knurrend die Zähne.) Else Pillkahns Beschwerde wegen des Türpinkelns hatte Jonnys Dasein als Familienhund ernsthaft gefährdet. Dafür mußte Else bestraft werden. Dag kam auf die unselige Idee, Kaulquappen in einem Milchbehälter schwimmen zu lassen, und wurde dabei erwischt. Wieder saß Else in Frau Jansons Wohnzimmer, um sich zu beschweren.

Wieder mußten sich die Zwillinge Perfidien einfallen lassen, um Else fürs Petzen zu bestrafen – ein unerschöpflicher Kreislauf, der in der vergangenen Nacht von einer Luftmine zersprengt worden war und ihre Familien und ihr Zuhause ausgelöscht hatte.

»Warum warst du nicht im Keller, Fräulein Else?«

»Ich war Kirschenpflücken im Alten Land. Bei befreundete Obstbauern. Aams habe ich einen übern Durst gebechert, ich vertrag ja man gaa nichts. Selbstgemachtes Kirschwasser. Ich hab denn bei Harmsens inne Küche übernachtet. Und wo warst du?«

»Auf ’n Kindergeburtstag in Hochkamp. Heike hat mich abends nich abgeholt. Mußte ich dableiben, so ’n Schiet.«

»Das war allens Bestimmung«, sagte Else. »Das hat so sein sollen. Das Schicksal hat uns beide zum Überleben ausgesucht. Und kann ich mich nich mal über freuen.« »Dag war sicher am Bahnhof. Ich hatte ihm gesagt, daß ich vielleicht mit ’m Zug komme. Jetzt sucht er mich bestimmt.«

Else wollte widersprechen – und machte den Mund wieder zu. Es hatte ja doch keinen Sinn, und vielleicht war das gut so. Jede Illusion war besser als die Realität.

***

Gegen halb sechs Uhr abends kam Entwarnung. Sie stolperten wie betäubt in die frische Abendluft. Endlich durchatmen. Ganz schwindlig wurde ihnen davon.

Es hieß, die Amerikaner, die die Tagesschicht flogen, hätten vor allem am Hafen ihre Bomben abgeworfen und Mineralölbetriebe zerstört.

Else Pillkahn beschloß, Dagmar zu ihrer Großmutter zu bringen in der Hoffnung, dort selbst eine Chaiselongue für die Nacht zu finden.

»Wo wohnt deine Oma?«

»Über der Konditorei«, sagte Dagmar.

Bei Erwähnung der Konditorei fiel Else ein, daß sie außer einer Handvoll Kirschen an diesem Tag noch nichts gegessen hatte. »Hast du auch so ’n Kohldampf, Deern?«

»Nur Durst. Kann ich noch paar Kirschen haben?«

Else ließ die rechte Schulter sinken und schüttelte den Rucksack ab, um ihn Dagmar zu geben. »Mußt aber tief grapschen. Is man bloß noch ’n büschen Mus in.«

Es gab Momente zwischendurch, wo sie vergaßen, was geschehen war. Es war ja auch nicht begreifbar. Sie waren erschöpft, auch ihre Vorstellungskraft war erschöpft. Und noch immer diese vage Hoffnung, die sich nicht so leicht zerstören ließ wie ein vierstöckiges Mietshaus: irgendwann wachen wir auf und alles ist gut.

Der Weg zur Konditorei Janson in der Innenstadt war lang und beschwerlich, manche Straßen wie ausgestorben.

Aus den Häusern klang vielfaches Hämmern, dort wurden Fenster mit Pappe zugenagelt. Manche Straßen waren gesperrt wegen Einsturzgefahr der noch immer schwelenden Ruinen. Das bedeutete zeitraubende Umwege.

»Meine Füße tun so weh–«

»Meine auch, Deern, meine auch.«

»Aber du hast keine Lackschuhe an.«

Wenigstens hatten sie ein Ziel, das sie vorwärts trieb. Für Else war es der Gedanke an ein Badezimmer, ein Bett und Kuchen.

Dagmar wurde mit jedem schmerzhaften Schritt vorwärts sicherer, daß Dag und Mama bei Großmutter Janson auf sie warteten. Wo sollten sie denn auch sonst sein?

Auf Oma freute sie sich weniger. Oma war keine richtige Oma, sie wurde nur so genannt. Oma war vor allem Geschäftsfrau, ihre Enkel machten sie nervös. Nicht mal Jonny durften sie mitbringen, wenn sie Oma besuchten.

***

Da, wo die Konditorei gewesen war – sechs rundbogige Fenster aus geschliffenem Glas, über der Eingangstür das ovale Firmenschild mit »Janson’s Conditorei seit 1879« in Goldbuchstaben–, war nur mehr ein hoher Trümmerhaufen.

Auf den Trümmern suchte eine Frau mit ihren Kindern nach brauchbaren Überbleibseln. Das war die Hauswartsfrau.

Sie erkannte Dagmar und stieg herunter. »Dascha woll ein großes Unglück.« Sie wischte ihre Hand an der Kittelschürze ab, bevor sie sie Dagmar entgegenstreckte: »Mein Beileid. Dein Oma is all tot. Wie isses denn euch ergangen?«

Else setzte sich auf einen Mauerbrocken und fing an hysterisch zu lachen. Es klang schauerlich in dieser hohlen Kulisse. Sie begegnete den erschrockenen Blicken der Hauswartsfrau und ihrer Kinder, schlug sich auf den Mund, um ihren Ausbruch zu ersticken. »Tut mir leid«, entschuldigte sie sich. »Aber das is zuviel.«

Die Frau erzählte, daß das Haus von einer Sprengbombe getroffen worden war und sie selbst verschüttet waren, aber gegen Mittag wurde der Eingang zu ihrem Luftschutzkeller freigeschaufelt und alle Hausbewohner gerettet. Auch die alte Frau Janson. Sie war schon auf der Straße mit den anderen. Als sie sah, daß es ihre Konditorei nicht mehr gab, griff sie sich ans Herz und fiel tot um. Aber sie hatte ja immer ein schwaches Herz gehabt, kein Wunder bei dem vielen Bohnenkaffee.

Else hielt ihren ratlosen Kopf mit beiden Händen. Es war der Moment gekommen, wo sie nicht mehr weiterwußte. Sie hörte, wie Dagmar die Hauswartsfrau fragte: »Waren meine Mutter und mein Bruder bei Oma?«

»Nö, die waren nich da. Sonst wären sie ja woll im Keller gewesen.«

Dann kam eines ihrer Kinder vom Schuttberg herunter und reichte Dagmar eine Untertassenscherbe. Ein Stück Porzellan – mit einem kornblumenblauen Band und der Aufschrift »Janson’s Conditorei seit 1879«.

»Ich mein ja nur – Scherben bringen Glück«, sagte das Kind.

Die Nacht verbrachten sie in einem Bunker – Else Pillkahn mit Sitzplatz, Dagmar zwischen ihren Knien auf dem Boden schlafend, die Scherbe aus Angst, daß sie einer stehlen könnte, im Ausschnitt ihres Matrosenkleides geborgen. Einmal weinte sie im Schlaf.

Else überlegte wieder: Sollte sie das Kind wecken? Was war schlimmer – Alptraum oder Wirklichkeit?

Sie weckte es lieber nicht.

***

Am nächsten Morgen fing das Anstehen nach Sonderzuteilungen, Lebensmittelkarten, Fliegergeschädigten Bezugsausweisen vor öffentlichen Kaffeeküchen und Gulaschkanonen an.

Else probierte gerade eine Bluse in einem Modegeschäft an, als die Sirenen heulten. Das war um halb elf Uhr vormittags. Die Bluse war zu eng, zu rot für ihr Kupferhaar, mit Tulpenmuster, sie stand ihr nicht, aber was sollte sie machen, sie brauchte eine Bluse, denn ihre eigene war von den durch den Rucksack suppenden Kirschen blutig verfärbt. Die Verkäuferinnen rannten bereits zum Notausgang, Else Pillkahn zur Kasse, an der eine Schlange nervöser Frauen anstand.

Else fiel ein, daß sie ihre alte Bluse in der Umkleidekabine vergessen hatte. In der Kabine fand sie auch das Kind schlafend auf dem Fußboden, mit dem Rücken am Spiegel, mit dem Gesicht im Faltenrock über den angewinkelten Knien.

Achgottja, die Deern, die hatte sie ja auch noch im Schlepptau.

Dagmar verlangte, nach Hause zu gehen.

Beim Anblick des großen flachen Rechtecks, auf dem früher ihr Eckhaus gestanden hatte – noch immer züngelte es bläulich aus der Tiefe –, beschloß sie: »Hier haben wir nicht gewohnt. Hier bin ich auch noch nie gewesen, Fräulein Else, und wenn du was anderes sagst, dann lügst du.«

Sie hatte inzwischen einen festen Schutzwall aufgerichtet, der Tatsächliches nicht mehr an ihr Bewußtsein heranließ, wenigstens jetzt noch nicht, denn Begreifen hätte bedeutet, sich mit dem Unfaßbaren abzufinden, und daran wäre ihr wohl das Herz gebrochen.

Übrigens hatte sie endlich Dag gefunden. Auf dem Weg zum Dammtorbahnhof war er plötzlich neben ihr, spürbar nah wie ein kühler Hauch, unsichtbar wegen der Tarnkappe, die er sich übergestülpt hatte. Die Zwillinge hatten sich immer Tarnkappen gewünscht – überall dabei sein, verrückte Sachen anstellen, durch festverschlossene Türen gehen, hundertmal Achterbahn fahren, ohne zu bezahlen, Lehrer und Else Pillkahn piesacken, ohne dabei erwischt zu werden …

Dag besaß nun endlich eine Kappe und war ihr nah. Sie sprach ihn manchmal an und lachte sogar ihr tiefes, rauhes Lachen.

Else begann sich vor Dagmar zu fürchten. Die Deern tickte nicht mehr richtig. Es wurde höchste Zeit, sie loszuwerden. »Du mußt doch noch mehr Omas und Opas haben!«

»Die sind tot.«

»Aber Tanten und Onkels!«

»Nicht in Hamburg.«

»Wo dann? Denk mal nach.«

»Ich denk ja«, sagte Dagmar und dachte an Tante Lilo in Flensburg, an Onkel Lothar Janson in Mölln, an die zahlreichen Verwandten mütterlicherseits in Wilhelmshaven. Bei allen waren die Zwillinge in den Ferien zu Besuch gewesen, aber immer hatte es Ärger gegeben und niemals die Aufforderung wiederzukommen. Die Vorstellung, ihrer humorlosen Strenge und Spießigkeit ausgeliefert zu sein, und das auch noch ohne Dags sichtbaren Beistand, nein, nein, zu diesen Verwandten wollte Dagmar auf keinen Fall. »Es gab mal welche, aber mit denen sind wir schon lange nicht mehr verwandt.«

»Achgott«, seufzte Else, ihren verrußten Kopf kratzend. Dann fiel ihr ein: »Deine Mutter hat doch einen Bekannten!«

»Ach, der, der ist auch schon lange her.«

»Vorige Woche hat er euch noch aams besucht.«

»Hat dir wohl Heike erzählt. Heike lügt.«

»Ich habe ihn selber gesehen. Den rufen wir vom Bahnhof aus an. Wie heißt er?«

Dr. Rolf Groothusen, Rechtsanwalt, wohnhaft in Harvestehude. Aber er hatte ihre Mutter heiraten wollen, und dann wäre er ihr Stiefvater geworden, und das hatten die Zwillinge mit rabiaten Mitteln zu verhindern gewußt. Sie brauchten keinen zusätzlichen Aufpasser und Erzieher. Wenn du den heiratest, Mama, siehst du uns nie wieder. Kannst du uns suchen, wo du willst. Kannst du dir die Augen aus ’m Kopp heulen, Mama … Nein, zu Dr. Groothusen wollte Dagmar schon gar nicht. »Er heißt Onkel Rolf, aber den Nachnamen weiß ich nich.« »Du büscha dümmer, wie die Polizei erlaubt«, schimpfte Else.

Dagmar blickte in ihre Ratlosigkeit, las Elses dringenden Wunsch sie loszuwerden und hatte Angst davor.

Auch wenn sie noch vorige Woche im Kriegszustand gelebt hatten – Else war der einzige Mensch aus ihrem Haus, der ihr geblieben war.

»Wo gehst du hin, Fräulein Else?«

»Das überlege ich gerade. Ich könnte nach Itzehoe machen nach meine Patentante, aber sie lebt ja ’n büschen beengt. Ich fahr lieber nach Bayern.«

Sie öffnete ihre Handtasche – ein beutelhaftes Modell aus brüchigem schwarzem Leder mit Metallbügel. Kramte einen dicken, ramponierten Umschlag hervor und zog aus ihm eine Ansichtskarte mit einem See und bewaldeten Ufern, mit einer geschlossenen hohen Bergkette dahinter und Eselsohren. »Guck dir das an, Deern, da ist mein Verlobter zu Hause, da mach ich nu hin.«

Dagmar betrachtete die Ansichtskarte aufmerksam. Berge!

Die Zwillinge hatten sich nichts sehnlicher gewünscht, als einmal die Berge kennenzulernen, aber nein, ihre Mutter hatte sie Jahr für Jahr in Kinderheimen an der Nordsee abgeliefert, jedes Jahr in einem andern, denn wer wollte die beiden ein zweites Mal wiederhaben-? Sie hatten gegen diese sandig umwehten Abstellgleise heftig rebelliert – und wären doch so gerne Engel gewesen, wenn Mama einmal mit ihnen in die Berge gefahren wäre-, und wenn schon nicht Berge, dann Lüneburger Heide! Einmal wie andere Familien in den Ferien gemeinsam verreisen … aber nein. Für Mama bedeuteten Ferien Erholung von ihren Kindern.

***

Else beschloß, sich eine Fahrkarte zu kaufen und so lange auf dem Bahnhof auszuharren, bis irgendein Zug Richtung Süden fuhr. Aber vorher mußte sie Dagmar loswerden. Das Vernünftigste war, sie irgendeiner Behörde zu übergeben, aber ihre Nerven scheuten die schrecklichen Szenen, die damit verbunden sein würden. Das beste war, Dagmar in einem günstigen Augenblick zu verlieren wie einen unerwünschten anhänglichen Hund.

Jedoch sie ließ sich nicht verlieren, sondern zog als stummer, humpelnder Schatten hinter ihr her, manchmal taumelnd vor Müdigkeit und süchtig danach, sich einfach auf dem Bürgersteig zusammenzurollen. Aber die Angst, von Else verloren zu werden, trieb sie weiter. Sie betraten den Kassenraum einer Bankfiliale. Else hatte noch von der letzten Einzahlung ihr Sparbuch in der Handtasche, das war ein Trost im Unglück, sie hob tausend Mark von ihrem Konto ab.

»Nun bist du reich, wenn du nach Bayern kommst, Fräulein Else«, sagte Dagmar mit ungewohnt sanfter Stimme.

Else antwortete nicht.

Auf dem Weg zum Bahnhof stolperte Dagmar in immer größerem Abstand hinter ihr her. Else schaute sich nicht mehr nach ihrem kläglichen Rufen um. Die Deern war selber schuld, wenn sie nicht wußte, wo Verwandte oder Bekannte ihrer Mutter wohnten. Mit zehn Jahren wußte man so etwas. Sie war doch sonst nicht auf den Kopf gefallen.

»Dag, hilf mir«, beschwor diese ihren unsichtbaren Bruder. »Du willst doch auch nach Bayern, wo die Berge sind. Bitte, schieb mich an, ich kann nicht mehr.«

***

Vor dem Hauptbahnhof begegnete Else verärgerten Fluchtwilligen mit Koffern und vollgepackten Kinderwagen: »Wenn Sie keine Sondergenehmigung haben, brauchen Sie sich gaa nicht erst nach ’n Billett anstellen. Ohne Genehmigung darf keiner Hamburg verlassen. Wir müssen bleiben, damit wir unsre Häuser löschen, wenn’s brennt!«

».. und sind woll noch nich genug von uns krepiert. Aber was is denn ein Menschenleben noch wert. Weniger wie ’n Haus!«

»So ’n Schiet«, schimpfte Else, die keine Genehmigung zum Ausreisen hatte. Und da war schon wieder das Kind an ihrer Seite. »Aber ich komm hier raus, verlaß dich drauf.«

»Kann ich mitkommen da, wo du hinfährst, Fräulein Else?«

»Du?« Sie lachte schrill. »Du und dein verflixter Bruder, ihr habt mir das Leben schwer genug gemacht. Ausgerechnet dich soll ich mitnehmen zu wildfremde Leute, wo ich selber noch nich weiß, ob die mich haben wollen? Nö, Deern, du gehst jetzt zur Polizei oder zu eine andere Behörde, damit die nach deine Verwandten suchen. Es sind ja bestimmt noch paar da. Ich hab dich nu lang genuch am Hals gehabt. Adschöö –«

Sie marschierte los, hörte hinter sich rufen: »Fräulein Else – bitte – ich kann nich mehr in den verdammten Lackschuhen –«

»Dann tret die Kappen runter!« schrie sie zornig zurück. »Hab ich ja schon.«

Dagmar hatte es bis zuletzt nicht geglaubt, daß Else sie wirklich im Stich lassen würde. Dieses Aas. Aber der wollte sie es zeigen.

Dag, was soll ich machen?

Er gab ihr den Rat, einem auf einem klapprigen Damenfahrrad sich nähernden Polizisten die Fahrtrichtung zu versperren. Wenn er sie nicht umradeln und selber stürzen wollte, mußte er notgedrungen bremsen und absteigen.

»Bitte, bitte, helfen Sie mir! Die Else, die ist mit meinen Bezugscheinen abgehauen – da runter – ich kann nicht mehr laufen.«

»Welche Else?« fragte der Mann. »Deine Schwester?« »Nein, die aus dem Milchladen. Else Pillkahn.« Beschwörende, erschöpfte Kinderaugen in tiefen Höhlen, mitleidheischend eingesetzt.

»Na komm, steig hinten auf.« Und beim Radeln: »Hat sie dir deine Scheine gestohlen?«

»Und die Lebensmittelkarten. Sie hat alles.«

»Wo sind deine Eltern?«

»Ich weiß nicht, ich hab sie nicht gefunden.«

Und dann erkannten sie die Else schon von weitem an ihren kupfernen Haaren. »Das ist sie.«

»He – stehenbleiben«, fuhr der Uniformierte sie an.

Else fuhr erschrocken herum. »Was wollen Sie von mir?«

»Sie haben dem Kind da seine Bezugscheine und Lebensmittelkarten gestohlen. Kann ich mal Ihren Ausweis sehen?«

Dagmar begriff, was sie angerichtet hatte. Wer gestohlen hat, muß ins Gefängnis. Wenn Else ins Gefängnis mußte, kamen sie niemals nach Bayern zu den Bergen. »Neinnein, sie hat meine Scheine bloß aus Versehen mitgenommen, Else stiehlt doch nicht. Nich wahr, Fräulein Else?«

Else, verstört in ihrer Tasche wühlend: »Da hab ich man gaa nich mehr an gedacht. Aber wie soll man denn auch, wenn man alles verloren hat – Mutter, Schwester, Hab und Gut!« Sie wischte Tränen in den Ärmel der neuen roten Bluse.

»Na, nu beruhigen Sie sich man, nu haben Sie ja auch die Lütte wieder«, die der Polizist froh war, loszusein. Er drehte sein Fahrrad um und radelte Richtung Bahnhof zurück, nachdem er ihnen alles Gute gewünscht hatte.

Elses Tränen versiegten umgehend. Sie schlug mit ihrer prallen Handtasche nach Dagmar und wütete: »Du Satan, du büscha schlimmer wie dein Bruder. Zeigt mich bei ’n Schutzmann an wie eine Diebin! Du bist ’ne Strafe Gottes bist du.«

Dagmar fing an zu weinen. Die Tränen brannten in ihren rauchentzündeten Augen wie Salz in einer Wunde.

»Hör auf zu flennen!« Mit zornzitternden Fingern suchte Else in ihrer Tasche. »Da, dein behelfsmäßiger Ausweis, deine Sonderlebensmittelkarte für drei Tage – dafür habe ich Stunden angestanden! Das is nu der Dank. Und hier dein Fliegergeschädigten-Bezugsausweis für Schuhe und Textilien.« Sie drückte alles in Dagmars Hand. »So, und nu zieh Leine! Ich will dich nie mehr sehn, verstanden? Was stehst du noch da? Hau ab!!«

»Du hast noch meine Zuteilungen!« schluchzte Dagmar.

»Ach so.« Else schnallte ihren Rucksack ab und packte aus: ein halbes Brot, Butter, fünfzig Gramm Bohnenkaffee, ein Stück grobe Mettwurst, eine Tüte mit 125 Gramm Fondants, zwei Apfelsinen. Bei dem Versuch, die Sachen zwischen ihren Armen unterzubringen, verlor Dagmar ihre Papiere.

»O Gott, ogottogott!« schrie Else auf und rannte den fortwehenden Scheinen nach. »Oh, wär ich dir doch nie begegnet. Is mein Schicksal ohne dich nich schlimm genuch?« Sie stopfte die Unterlagen wieder in ihre Tasche, die Lebensmittel in den Rucksack zurück und griff nicht eben sanft nach Dagmars Hand. »Nu komm schon! Aber quengel mir nich die Ohren voll, daß du nich mehr laufen kannst!«

»Danke, Fräulein Else. – Kaufst du mir Schuhe?«

»Bei deine geschwollenen Füße, mit all die Blutblasen? Wie willst du denn damit in neue Schuhe passen!?«

***

Elses Plan war es, eine Ausfallstraße zu erreichen und dort einen Lastwagen anzuhalten, der Löschtrupps aus der Umgebung in ihre Heimatorte zurückbrachte.

Sie waren nicht die einzigen, die am Straßenrand standen und den vorüberfahrenden Autos beschwörend zuwinkten, aber keiner hielt an. So kam der Abend, Else wollte schon verzagen, als ein Wunder geschah.

Plötzlich gab es einen Knall, der bewirkte, daß sich sämtliche Männer im Umkreis, die gedient hatten, automatisch zu Boden warfen.

Aber es war kein Schuß und auch kein explodierter Blindgänger, sondern der geplatzte Reifen am rechten Vorderrad eines Lasters, der ihn schlingern und dann mit kreischenden Bremsen am Straßenrand halten ließ. Direkt neben ihnen.

»Danke, lieber Dag«, sagte Dagmar inbrünstig. Und als Else sie fragend ansah: »Das war Dag. Er hat den Reifen angestochen, damit er halten muß. Damit wir mitfahren können. Dag ist nämlich bei uns. Er hat nur eine Tarnkappe auf, darum sehen wir ihn nicht.«

»Du bischa nich mehr dicht, Deern.« Else zeigte ihr einen Vogel, jedoch ohne Überzeugung. Vielleicht war Dag wirklich noch um sie herum – zuzutrauen wäre es ihm ja.

Zwei der vom Bergungseinsatz total erschöpften Männer aus Bremen mußten absteigen, um den Reifen zu wechseln. Else kam dabei mit ihnen ins Gespräch. Bot ihnen die zehn Zigaretten und ihre halbe Flasche Schnaps von der Sonderzuteilung als Fahrgeld an, aber die Männer durften keine Bombengeschädigten aus der Stadt mitnehmen. Auch Elses tränenreich geschildertes schweres Schicksal vermochte sie nicht zu rühren. Schwere Schicksale hatten sie in den letzten vierundzwanzig Stunden genug erlebt. Zudem war sie eine resolute, kräftige Person, die auch ohne ihre Mithilfe einen Fluchtweg aus der Stadt finden würde.

Aber das Kind, das im Rinnstein hockte – dieses Häufchen Unglück ohne Familie und Zuhause! Sie waren ja alle Väter und besprachen sich mit dem Fahrer, der das Kommando über ihren Trupp hatte.

Der Reifen war gewechselt. Die Männer stiegen auf – der Fahrer schaute sich prüfend um, ob sie auch niemand beobachtete, dann hob er Dagmar kurz entschlossen auf den Wagen. Männerarme griffen nach Else und zogen sie hoch.

So kamen sie nach Bremen Hauptbahnhof. Else löste zwei Fahrkarten nach Seeliger-Kornfeld.

Sie fanden Platz in einem überfüllten Zug Richtung Hannover. Ein Soldat erlaubte ihnen, auf seinem Tornister im Gang auszuruhen.

Dagmar schlief sofort an Elses Schulter ein.

***

Else Pillkahn hatte die Volksschule besucht, anschließend ihr Arbeitsdienstjahr auf einem holsteinischen Hof absolviert und arbeitete seither im Milchgeschäft ihrer Mutter Line Pillkahn. Empfing um fünf Uhr morgens den Molkereiwagen, füllte Milch in Kundenkannen, wog Butter, Margarine und Käserationen ab, klebte Marken, machte die Abrechnungen, schrubbte den Laden und versorgte abwechselnd mit der Mutter ihre kindergelähmte Schwester Antje. Bei nächtlichen, im Keller verbrachten Fliegeralarmen hatte sie dann das Gefühl, rund um die Uhr aufgewesen zu sein.

Jeden Sonntag ging sie schon nachmittags ins Kino um die Ecke, und wenn es ein gefühlvoller Film war, saß sie zwei Vorstellungen hintereinander ab. Alle sagten, Else wäre eine gute Seele und tüchtig und wie sie sich auf opferte für das Geschäft und die behinderte Schwester ... Aber mit neunzehn will man auch noch etwas anderes sein als nur eine gute Seele.

Sehnsüchtig nach Liebe war sie im November ’42 bei einem Bunten Abend für Wehrmachtsangehörige dem Obergefreiten Sepp Steiner in die Arme gelaufen. Er war gerade nach einer Beinverwundung aus dem Lazarett entlassen worden, ein strammer Bursche mit haselnußbraunen Verführeraugen und der Hand auf ihrem Knie, das ging ihr durch und durch. Für Else war es Liebe auf den ersten Blick, so was hatte sie noch nie erlebt, und der Steiner Sepp, aus dem Dorf Kornfeld in Oberbayern stammend, versicherte, ihm wäre das auch noch nie so wild passiert.