Cover

Über dieses Buch:

Sie hat kaum noch daran geglaubt, doch endlich ist Fenja angekommen: in Estilien, beim Widerstand gegen das Orakel. Aber noch ist sie nicht am Ziel, denn für sie es gibt nur einen Weg, um endgültig Frieden zu finden – das Orakel muss zerstört werden. Tag und Nacht arbeiten Fenja und Merten gemeinsam mit den Rebellen an einer Möglichkeit, das scheinbar perfekte System zu sabotieren, doch schon bald steht fest, dass es nur eine Möglichkeit gibt: Fenja und Merten müssen zurück nach Elysium. Ein riskanter Plan. Und sie müssen entscheiden, was sie bereit sind, für das große Ziel zu opfern – ihre Liebe, ihre Freiheit … ihr Leben?

Über die Autorin:

Charlotte Richter-Peill, geboren 1969 in Nürnberg, entdeckte während ihres Studiums der Medizin, Tiermedizin und Germanistik ihre Liebe zum Schreiben. Für ihre Texte wurde sie bereits mehrfach ausgezeichnet. Heute lebt sie in der Nähe von Hamburg und genießt dort alles, was man für ein gutes Leben braucht: eine Steckdose fürs Notebook, viele Ideen, liebe Menschen, Pferde, Katzen und ein Kartoffelbeet.

Die Website der Autorin: www.charlotte-richter-peill.de

Charlotte Richter-Peills bei jumpbooks erschienene Trilogie Das Orakel von Farland umfasst die folgenden Bände:

Elysium
Nordland
Eden

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Originalausgabe Oktober 2016

Copyright © der Originalausgabe 2016 dotbooks GmbH, München

Copyright © 2016 jumpbooks Verlag. jumpbooks ist ein Imprint der dotbooks GmbH, München.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Stefan Wendel

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock / Aleshyn_Andrei (Frau), macro-vectors (Orakel), Aygul Sarvarova (Landschaft)

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-96053-199-9

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Charlotte Richter-Peill

Das Orakel von Farland
Eden

Band 3

jumpbooks

Die Insel

Wir saßen auf einer Bank, am Kai eines Geisterhafens. Die Luft roch nach Fisch und Salz. Kein Schiff, keine Menschen. Nur Merten, Nick und ich. Zoe war noch einmal losgefahren, um für uns einen Imbiss zu organisieren. Nick ging auf und ab und schaute aufs Meer.

»Der Widerstand setzt sich aus knapp 50 Leuten zusammen. Sie leben überall in Estilien verstreut. Vor ein paar Jahren ist die Kerngruppe auf einer Insel untergetaucht«, hatte Zoe uns erzählt und Richtung Horizont gedeutet. »13 Kilometer westlich vom Festland.« Sie hatte dort angerufen. Jetzt warteten wir auf die Überfahrt mit einem Fährschiff, das unterwegs zu uns war.

Merten war noch immer sehr blass. Nachdem Zoe und Nick uns in einem Dorf nahe der Grenze abgeholt hatten, waren wir zu einem Arzt gefahren, auch er ein Mitglied des Widerstands. Dr. Lassahn hatte Mertens Fuß versorgt und ihn in eine Klinik einweisen wollen, was Zoe und Merten abgelehnt hatten. Die Gefahr, dass man in Merten den flüchtigen FIP erkannte und Estilien ihm kein Asyl gewährte oder ihn sogar auslieferte, war einfach zu groß. Dr. Lassahn hatte widerwillig zugestimmt und uns großzügig mit Schmerzmitteln eingedeckt. Genug, um das ganze Lager zu versorgen, hatte Zoe gescherzt.

»Welches Lager?«, hatte ich gefragt. Sie war nicht darauf eingegangen. Nick hatte sowieso die ganze Zeit kein Wort gesagt. Auch Merten war sehr still gewesen. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass mehr hinter dem Schweigen der drei steckte als die Anspannung der letzten Stunden. Irgendwas ging zwischen ihnen vor.

Möwen schossen über den Himmel. Merten hatte die Augen geschlossen und hielt sein Gesicht der Sonne entgegen. Ich lehnte mich an ihn.

Er öffnete die Augen. »Kalt?«

»Bisschen«, murmelte ich. Er küsste mich aufs Haar und zog mich an sich. Wenn wir doch einfach hierbleiben könnten. In der Sonne. In der Ruhe. Ich wollte nicht schon wieder aufbrechen; in den letzten Wochen war ich so viel unterwegs gewesen, dass es für ein ganzes Leben reichte. Marlenes Hof, die Heide, Magicland, weiter nach Helvana, zum Medienpalast, in die Markthallen, dann das Parkhaus, der Friedhof, der alte Güterbahnhof, schließlich das Printemps, die Katakomben …

Der Übergang.

Ich wollte vergessen, was geschehen war, wen ich zurückgelassen, wen ich verloren hatte. Ich war müde, und der Gedanke an das Unbekannte, das auf mich zukam, die Frage, wie es weitergehen sollte, erschöpfte mich noch mehr.

Einfach hierbleiben. Das Meer sehen. Wie Marlene es sich gewünscht hatte.

Merten hatte die Augen wieder geschlossen. Nick setzte sich auf einen Poller, stützte die Ellenbogen auf die Knie, faltete die Hände zu einem Dach und musterte ihn über dessen First hinweg. Ich konnte den Ausdruck auf seinem Gesicht nicht deuten. Wachsamkeit? Jetzt schaute er mich an, sah, dass ich meinerseits ihn beobachtete, und lächelte. Vielleicht war das Lächeln die ganze Zeit da gewesen und die wachsame Miene von gerade eben nur meiner Phantasie entsprungen. Wochenlang war ich auf der Flucht gewesen. Ich hatte nicht gewusst, wem ich trauen konnte und wem nicht. Dieses Misstrauen konnte ich so schnell nicht ablegen.

Nick stand auf und schlenderte zu uns herüber. Der Wind wühlte in seinem haselnussbraunen Haar. Er war etwas älter als Merten, ein gutaussehender Mann mit blitzblauen Augen. Seine Thermojacke war uralt und ziemlich dreckig. Merten oder ich hätten darin nur abgerissen ausgesehen. Aber Nick trug die Jacke mit einer Art unbekümmerter Eleganz.

Der Offroader mit Zoe hinter dem Steuer bog um einen Schuppen und hielt neben unserer Bank. Zoe stieg aus und verteilte in Zellophan eingewickelte Sandwiches und Pappbecher mit Plastikdeckeln. Kaffee. Heiß und stark und zuckersüß. Genau richtig bei der Kälte.

Als Merten seinen Becher in Empfang nahm, streifte er Zoes Hand. Sofort legte Nick einen Arm um Zoe und zog sie ein Stück von ihm weg. Weil Merten eine FIP war? Nein, der Gedanke war ja albern, Nick arbeitete für den Widerstand, er hegte keine Vorurteile gegen FIP, er wusste, dass FIP …

Harmlos waren?

Klar. So was von harmlos. Vor nicht mal 48 Stunden hast du eine Frau ermordet. Du hast sie ermordet – weil du so harmlos bist.

Nick schaute kurz von Merten zu mir und runzelte die Stirn. Irgendwas stimmte da nicht. Oder wurde ich allmählich paranoid?

Mein Kopf dröhnte. Ich trank noch einen Schluck Kaffee und lehnte mich wieder an Merten, wollte nichts mehr denken und schon gar nicht darüber nachdenken, ob Nick uns mochte oder nicht.

Ein kleiner dunkler Fleck tauchte am Horizont auf und näherte sich rasch. Bald war der Umriss der Fähre klar zu erkennen. Zoe schob sich den letzten Bissen ihres Sandwiches in den Mund und knüllte das Zellophan zusammen. »Dann mal los.«

Der Bug schnitt schaumige Streifen ins Meer. Gischt spritzte um die Smilla, als trüge sie eine Stola aus grauweißen Perlen. Ihre Rostflecken wirkten allerdings wenig glamourös.

Die Smilla legte an, und eine Rampe wurde ausgefahren. Wir gingen an Bord. Eine Frau mit blonden Löckchen erwartete uns.

»Leonie, die Kapitänin«, stellte Zoe vor. »Auch eine von uns. Sie hat Farland vor fünf Jahren verlassen. Seither schippert sie zwischen unserer Insel und dem Nelsgod-Hafen hin und her.«

Leonie schüttelte Merten und mir die Hand. »Willkommen in Estilien«, sagte sie herzlich. »Ich bin schon ganz scharf auf eure Story.«

Die Rampe schwankte und ächzte, als Zoe den Offroader an Deck fuhr. Leonie verschwand im Ruderhaus. Es stank nach Diesel, ein Geruch, den man in Farland, wo nahezu jedes Fahrzeug mit Solarenergie betrieben wurde, kaum noch kannte.

Als Erstes suchte ich die winzige Toilettenkabine auf. Der Spiegel über dem Waschbecken zeigte mir eine Fremde. Die Frau, die ihr Zuhause vor so vielen Monaten verlassen hatte, war in Nordland zurückgeblieben. Wäre ich nach den Fotos und Filmaufnahmen gegangen, die sie von mir im Fernsehen brachten, ich hätte mich selbst nicht wiedererkannt. Auch die Worte, mit denen meine Familie mich in den Interviews beschrieben und die Tausende gehört hatten – sie hatten mit der Fenja, die ich jetzt war, nichts mehr zu tun.

Die Fähre legte ab. Ich verließ die Kabine, lehnte mich an die Reling und schaute zu, wie das Festland hinter uns zurückblieb. Wir hatten es geschafft. Doch statt Erleichterung empfand ich eine Mutlosigkeit, die mich durchströmte wie ein schwarzer Fluss. Das Orakel zerstören. Das war das Ziel gewesen, der Sinn meiner Flucht, der Sinn hinter allem. Jetzt, am Ende der Flucht angekommen, erschien mir dieses Ziel ferner denn je.

Ich schaute mich nach Merten und Zoe um, konnte sie aber nirgends entdecken. Stattdessen tauchte Nick neben mir auf.

»Früher war die Smilla eine Ausflugsfähre.« Seine Worte ertranken fast im Brausen der Wellen und im Motorenlärm. »Unten riecht es noch immer nach Heringsbrötchen und Bier.«

Ich lächelte mühsam. Die Smilla bockte.

»Manchmal stinkt ihr die Tour zwischen dem Festland und Arkadia«, witzelte Nick.

»Arkadia?«, fragte ich. Irgendwo hatte ich den Namen schon einmal gehört.

»So heißt unsere kleine Insel«, sagte Nick. »Wie geht’s dir?«

Ich zuckte die Schultern. »Müde, aber okay«, log ich.

»Bald könnt ihr euch ausruhen«, sagte er freundlich. »Vorher sollten wir allerdings noch ein paar Dinge besprechen.«

Ich folgte Nick eine Metallstiege hinunter und in einen großen Raum, der so stark nach Fisch roch, dass mir fast die Luft wegblieb. Zu beiden Seiten des Mittelgangs waren Tische und Holzbänke am Boden festgeschraubt. An einem der Tische saßen Merten und Zoe. Merten hatte seinen gebrochenen Fuß auf eine Decke gelagert. Als wir uns zu ihnen gesellten, drehte sich Merten kaum merklich von Nick weg und schaute an ihm vorbei aus dem mit Salz verkrusteten Fenster.

»Warum eine Insel?«, fragte er.

Nicks Finger trommelten auf die Resopal-Tischplatte. »Weil wir dort unsere Ruhe haben. Auf Arkadia können wir für unsere Sache arbeiten, ohne dass uns Estiliens Regierung auf die Finger schaut.«

»Und das ist der einzige Grund?«, fragte Merten ruhig.

Zoe strich über den Tisch, als müsste sie Staub wegwischen. »Auf Arkadia befindet sich ein Flüchtlingslager.« Sie zögerte. »Flüchtlinge sind in Estilien nicht gerade beliebt. Also bringt man sie dort unter, wo sie nicht … stören.«

»Und warum überrascht mich das so wenig?«, murmelte Merten.

»Was sind das für Flüchtlinge, woher kommen sie?«, fragte ich.

»Nordland«, sagte Zoe.

»Auch FIP?«

»Kaum eine Handvoll.«

»Aus Elysium getürmt?«

Sie schüttelte den Kopf. »Es sind FIP, die sich für Nordland entschieden haben, als sie zwischen Nordland und Elysium wählen konnten. Und die irgendwann merken, dass Nordland keine Alternative ist. Dann versuchen viele, über die Grenze nach Estilien zu fliehen. Schaffen tut das kaum jemand.«

»Und wenn man es schafft?«, fragte Merten. »Kein Willkommen in Estilien?«

Zoe zuckte die Schultern. »Wenn du nur Nordländer bist, geht’s in ein Lager. Wenn du eine FIP bist, heißt es Abschiebung. Sofort. Zurück nach Nordland. Keine Chance auf Asyl.«

»Weil es FIP sind«, sagte Merten leise.

»Menschen mit negativem Potenzial«, fügte ich mit rauer Stimme hinzu. »Zeitbomben.«

»Exakt«, sagte Nick ruhig. »Kein Land will die FIP. Okay, Nordland nimmt sie auf. Hätte Nordland eine Regierung, sähe die Sache anders aus.«

»Dann hält man die FIP also überall für schlechte Menschen?«, fragte ich bitter.

»Ja«, sagte Zoe schlicht.

»Darum und weil Farland euch sucht, bleibt euer Aufenthalt auf Arkadia geheim«, sagte Nick. »Keine Sorge«, er legte einen Arm um Zoe, »der Widerstand ist ziemlich gut darin, die Klappe zu halten. Bis heute weiß zum Beispiel niemand, dass sich die berühmte Zoe Colien auf Arkadia herumtreibt.«

Zoe Colien. Die Superwoman aus Farland. Zoe, der das Orakel fast 100 Prozent zuerkannt hatte. Und die sich, zum Entsetzen aller, für eine Abschaffung des Orakels eingesetzt hatte, bevor sie von der Bildfläche verschwunden war.

»Was ist mit dieser Handvoll FIP auf der Insel? Dürfen die auch nichts wissen?«, fragte ich.

»Nur Teddy und Estrella«, sagte Nick. »Die lernt ihr noch kennen. Sie machen bei unserer Sache mit. Die anderen – auf keinen Fall. Die wissen nicht mal, dass es überhaupt einen Widerstand gibt.«

»Warum nicht?«

Zoe verzog traurig den Mund. »Sagen wir mal so: Wir halten sie für wenig vertrauenswürdig.«

Nick lächelte schwach. »Nicht jede FIP denkt so wie ihr, Fenja.«

Leonie kam mit einem Tablett herein, auf dem vier Teller dampften. Nick nahm ihr das Tablett ab.

»An Bord gibt’s leider nur Dosenfutter«, sagte Leonie. »Im Hauptquartier kriegt ihr was Besseres.« Sie grinste. »Dafür wird Estrella schon sorgen.« Damit verschwand sie wieder.

Nick verteilte das Essen. »Lasst es euch schmecken.«

Das Zeug auf den Tellern sah grau und klumpig aus, die deprimierende Version einer Erbsensuppe. Sorgsam fischte ich die Wurststücke heraus; auf Fleisch konnte ich jetzt hoffentlich wieder verzichten.

Arkadia, dachte ich. Arkadia. Wo habe ich diesen Namen schon einmal gehört?

Und dann hatte ich es.

»Die Insel war mal in den Nachrichten«, sagte ich laut. »Ist ewig her, ich komme gleich drauf …«

Zoe wischte sich den Mund mit einer Papierserviette ab. »Arkadia war früher ein Feriencamp. Bis dort ein Jugendlicher Amok lief.«

Das war es. Mein Löffel platschte zurück in die Suppe. Amoklauf. Plötzlich meldeten sich alle möglichen unguten Erinnerungen. Auf dem Phönix-Kolleg hatte ich mehr über Amokläufe erfahren, als mir lieb war. Wieder und wieder hatten die Mentoren uns die Reportagen und Dokumentationen voller Blut und Gewalt vorgeführt. Das Thema war immer dasselbe: Schaut euch an, was aus euch wird, wenn wir uns nicht beizeiten um euch kümmern.

»Der Junge reiste mit dem Sturmgewehr seines Vaters an.« Nick stippte ein Stück Toast in seine Suppe. »Sie konnten ihn erst nach zwei Stunden stoppen. 17 Tote. Das jüngste Opfer war neun Jahre alt. Wenn ich mich recht erinnere, ging es um verschmähte Liebe. Aber er hatte auch sonst Probleme.«

»Jahre später richtete ein privater Stifter mit dem Einverständnis der Regierung auf der Insel ein Auffanglager für Flüchtlinge ein«, sagte Zoe. »Ein Schauspieler, ziemlich prominent. Einmal im Jahr legt er mit großem Tamtam und einem Fernsehteam auf der Insel an, feiert eine Riesenparty, lässt sich mit den Flüchtlingskindern filmen und dampft wieder ab. Natürlich«, fügte sie rasch hinzu, »sind wir ihm dankbar für sein Engagement. Wäre gut, wenn es mehr Leute wie ihn gäbe. Ohne ihn wäre unsere Organisation längst pleite.«

»Er unterstützt den Widerstand?«, fragte ich verwirrt.

Nick schob sich ein weiteres Stück Toast in den Mund. »Nö. Offiziell arbeiten wir ja nur für eine Organisation, die sich um Flüchtlinge aus Nordland kümmert. Gute Flüchtlinge. Nicht offiziell verstecken wir ein paar FIP und gehen gegen das Orakel vor. Obwohl man von Vorgehen kaum sprechen kann.« Das klang bitter. »Praktisch haben wir in Sachen Orakel noch nichts bewirkt. Was sich hoffentlich bald ändert.« Seine Augen leuchteten auf. »Severin arbeitet an …«

Zoe legte ihm eine Hand auf den Arm. »Später, Nick.«

»Und wer ist Severin?«, fragte ich.

»Auch einer von uns«, sagte Zoe. Sie nickte Merten zu. »Er versteht was von Medizin, gut für deinen Fuß. Aber vor allem ist er unser Informatik-Genie. Er ist praktisch unbezahlbar. Dann sind da noch Teddy, Estrella und Leonie. Nick und ich natürlich. Das ist die Kerngruppe, der innere Zirkel. Mit euch sind wir acht.«

»Mehr nicht?«, entfuhr es mir. Die Enttäuschung in meiner Stimme hörte sogar ich selbst.

»Die anderen leben auf dem Festland. Wir, die Inselleute, sind sozusagen die Zentrale. Noch.«

»Was heißt noch?«, fragte Merten.

»Farland fordert von Estilien eine schärfere Kontrolle der Flüchtlingslager.« Zoe lachte leise. »Sie vermuten dort Aktivitäten des Widerstands. Bisher hält Estilien seine schützende Hand über die Lager und lässt sich von Farland nichts vorschreiben. Umso wichtiger, dass wir nicht auffallen. Nach außen machen wir denselben Job wie die anderen Lagerhelfer. Wir versuchen, die Flüchtlinge in Estilien zu integrieren, Jobs und Wohnungen zu vermitteln.« Sie seufzte. »Unsere Erfolgsquote ist mies, ehrlich gesagt. Nicht alle Flüchtlinge kriegen ein eigenständiges Leben hin. Nicht alle packen das. Manche haben einfach zu viel Mist erlebt.«

Wenig später legten wir am Hafen der Insel an. Im Offroader ging es weiter, Zoe am Steuer, das Meer fast immer in Sichtweite. »Arkadia«, sagte Leonie, die unablässig ihre Löckchen zwirbelte, »ist winzig. Keine fünf Quadratkilometer.«

Ziemlich wilde fünf Quadratkilometer. Überall wucherten in wirrem Durcheinander Silberpappeln, Eichengehölze und Heckenrosen, verkrüppelt und krumm, weil ihnen der Wind keine Ruhe gönnte. Eine Weile folgten wir einem Schotterweg, der uns quer durch die Dünen führte, vorbei an Strandhafer, buckeligen Sträuchern und lichtdurchfluteten Kiefernwäldchen, dann bogen wir auf eine Asphaltstraße ab. »Die einzige vernünftige Straße auf der Insel«, erklärte Leonie.

Als wir uns dem Flüchtlingslager näherten – eine Ansammlung langgestreckter Backsteinbauten –, setzte Zoe ihre riesige Tarn-Sonnenbrille auf und befahl mir, mich in den Fußraum zu ducken. Seiner Verletzung wegen durfte Merten auf solche Verrenkungen verzichten, stattdessen warf Nick eine staubige Decke über ihn. Durch den Motorlärm hörte ich Stimmen von draußen, Zoe hupte ein paarmal, dann merkte ich, wie es eine Anhöhe hinaufging. Wir hielten, Nick stieg aus, ein Geräusch, als würde ein Tor geöffnet und hinter uns wieder geschlossen.

»Raus mit euch«, sagte Zoe.

Vor uns, halb verborgen hinter Kiefern und Heckenrosen, lag ein kleines, einstöckiges Haus: kleine, ins rote Mauerwerk gepresste Fenster, wie wachsame Augen. Das Ganze machte einen heruntergekommenen und abweisenden Eindruck. Dann sah ich den Eisenzaun, der das zum Meer hin abfallende Grundstück zu allen Seiten umgab. Zoe, die ihre Sonnenbrille ins Haar geschoben hatte und jetzt wie ein Fotomodell für eine Luxus-Urlaubsreise aussah, bemerkte mein Unbehagen.

»Der Zaun ist neu. Im letzten Jahr wurde in unserem Hauptquartier neunmal eingebrochen.«

Mein Blick wanderte zu den fernen Gestalten, die sich zwischen den langen Backsteinhäusern bewegten.

»Genau«, sagte Zoe. »Arschlöcher gibt’s auch bei den Flüchtlingen.«

Ja, dachte ich. Dass jemand aus Nordland geflohen ist, verwandelt ihn wohl nicht automatisch in einen netten Menschen.

»Kommt rein«, sagte Nick.

Im Innern des Hauptquartiers, wie sie das Häuschen nannten, roch es sauer und muffig. Severin, der Computerspezialist mit Medizinkenntnissen, kam uns entgegen. Er wirkte müde. Grau gesträhntes Haar, ein erschöpfter Gesichtsausdruck; die Arbeit für den Widerstand war offenbar keine, die einen jung und frisch hielt. Doch als er Merten und mich begrüßte, lächelte er so herzlich, dass ich mich sofort willkommen fühlte.

Nick ließ uns keine Zeit für ausgiebige Begrüßungen, er nahm Severin am Arm und verschwand mit ihm durch eine Tür. Merten und ich folgten Zoe über eine schmale Treppe in den ersten Stock, wo am Ende eines Flurs unser Zimmer lag: ein schachtelkleiner Raum mit hoher Decke, dazu ein winziges Bad, alles ausgelegt mit demselben graugelben Linoleum, das auch den Flur verunstaltete. Die beiden Betten machten einen uralten Eindruck, die Tapete hing in vergilbten Streifen herunter. Aber wir hatten ein Fenster zum Meer und eine Thermoskanne mit Tee, die ein freundlicher Mensch auf einem Tisch neben einem betagten Fernseher abgestellt hatte.

»Für heute Abend sind ein Essen und eine Versammlung angesetzt«, sagte Zoe. Das klang ziemlich offiziell. »Um sieben hole ich euch ab. Braucht ihr Pullover? Jacken? Wir müssen Heizkosten sparen, darum ist es ein bisschen kühl.« Sie lächelte mir zu. Als sie sich Merten zuwandte, verschwand das Lächeln.

Irgendwo in Nordland hatte Merten mir erzählt, dass er und Zoe dasselbe Kolleg besucht hatten. Näher gekannt hatten sie sich nicht. »Zwischen uns gab es keinen Kontakt.« So oder so ähnlich hatte Merten es ausgedrückt.

Der Blick, den die beiden sich jetzt zuwarfen, erzählte etwas anderes. Ein trauriger Blick. Wehmütig.

Eine Liebesgeschichte. Das war mein erster Gedanke. Er gefiel mir überhaupt nicht.

Leise zog Zoe die Tür hinter sich zu. Ihre Schritte entfernten sich. Ich setzte mich auf eines der Betten, zu Tode erschöpft und gleichzeitig hellwach. Merten ließ sich neben mir nieder. Die Sprungfedern quietschten. Ich lehnte mich an ihn, schob den Gedanken an Zoe beiseite, wünschte mir, dass er mich wieder so in die Arme nahm wie beim allerersten Mal, am Anfang unserer Flucht, in dem Felsspalt, in dem wir uns versteckt hatten. Wie damals wollte ich von ihm gehalten und getröstet werden. Aber wir waren nicht mehr in dem Felsspalt. Merten war nicht mehr der Merten von damals, der mich beschützt und dem ich alle Entscheidungen überlassen hatte.

»Was macht dein Fuß?«, fragte ich.

»Geht schon.« Er streckte sich auf dem Bett aus, nahm meine Hand und legte sie an seine Wange. Dort ruhte sie noch, als er eingeschlafen war. Das Bett war schmal, aber breit genug, dass ich mich an ihn schmiegen konnte.

Während der letzten Stunden hatte ich die Müdigkeit mit aller Kraft von mir ferngehalten. Jetzt konnte ich endlich nachgeben. Aber der Schlaf kam nicht. Ich drehte den Kopf zur Seite, starrte auf das graugelbe Linoleum, die stockfleckige Tapete.

Estilien. Da waren wir also. Am Ziel. Für den Widerstand kämpfen. Dazu brauchte ich kein Himmelbett und keine Unterwäsche aus Seide, keine Rosenseife und kein Drei-Gänge-Menü. Aber ich hatte gehofft, dass Nordland mir schon genug Verzicht abverlangt hatte. Ich hatte gehofft, das sei nun vorbei. War es ja auch. Irgendwie. Doch wenn ich ehrlich war, hatte ich mir etwas wie Farland ausgemalt. Nur ohne Orakel.

Hoch über mir, auf einer Brücke, unter der ein schwarzer Fluss gurgelte, stand die Letzte Wächterin. Sie lachte und lachte, lachte über mich, Fenja, das Farland-Mädchen, das naive Ding. Ich hob meine Waffe und schoss. Der Kopf der Wächterin platzte. Sie fiel von der Brücke, langsam, ein Zeitlupensturz, und während sie dem Wasser entgegenschwebte, wuchsen dort, wo ihr Kopf gewesen war, neue Köpfe hervor, mit neuen Gesichtern, die sich immer wieder veränderten, meine Mutter, mein Vater, mein Bruder Bertil, meine Schwester Leane. Und Rasmus, den ich geliebt hatte. Romilda, meine Freundin in Elysium. Orlando, auch er ein Freund, auch er wie Romilda in Eden verschwunden. Blut lief aus ihren Augen und Mündern. Ich hatte sie alle getötet. Niemand anderes hatte das getan. Ich, Fenja …

Ich fuhr aus dem Schlaf. Mein T-Shirt war klitschnass geschwitzt. Das Fenster stand einen Spalt offen, aus der Ferne hörte ich Gelächter und Musik, als wäre bei den Flüchtlingen eine Party im Gange.

Benommen tappte ich ins Bad und klatschte mir kaltes Wasser ins Gesicht. Dann duschte ich so heiß, wie ich es gerade noch aushalten konnte, trocknete mich ab, hüllte mich in den Bademantel, der neben der Dusche hing, und ging wieder hinüber ins Zimmer.

Merten wachte gerade auf. Er sah elend aus. Ich setzte mich zu ihm. »Wie geht’s deinem Fuß?«

»Wird schon.«

»Brauchst du Tabletten?«

Er schüttelte den Kopf.

Ich half ihm aus dem Bett und sah ihm nach, wie er ins Bad humpelte.

Nach einer Weile begann ich mir Sorgen zu machen und klopfte an die Tür. »Merten? Alles in Ordnung?«

»Bin gleich fertig.«

Weitere Minuten verstrichen. Wieder klopfte ich. »Merten?«

Die Tür öffnete sich. Er lächelte. Sein Lächeln kam mir sonderbar vor, als hätte er es aus einem anderen Gesicht gestohlen und über sein eigenes gestülpt. Er ging zum Fenster. Ich folgte ihm.

»Dieser Zaun«, sagte er, ohne mich anzusehen. »Damit hatte ich nicht gerechnet.«

»Es ist ja nicht für immer.«

»Das hoffe ich.«

Nach einer Pause fragte ich: »Würde uns Estilien wirklich an Farland ausliefern?«

Er zuckte die Schultern. »Ich denke ja.«

Wieder Pause.

»Merten? Was ist mit Zoe? Mit Nick? Was ist mit euch?«

»Du hast es also gemerkt.« Er atmete tief aus und wandte sich mir zu. »Zoe und ich waren auf demselben Kolleg. Das weißt du ja. Sie war ein Jahr über mir, in derselben Stufe wie Nick. Er und ich, wir … also, wir konnten einander nicht ausstehen.«

Ich wartete.

»Nick war Stufensprecher. Eine Sportskanone. Er sah toll aus. War schlau. Ein Genie am Klavier. Alle mochten ihn. Lehrer wie Schüler. Er war schon damals mit Zoe zusammen. Das perfekte Paar. Was mich betraf …« Merten starrte in die Luft, über meinen Kopf hinweg. In die Vergangenheit.

»Ich war anders als er«, sagte er leise.

Ich zog eine Augenbraue hoch. »Ihr mochtet euch nicht, weil du anders warst?« Das klang ziemlich dürftig.

Er legte einen Arm um mich. »Ich erzähle es dir ein andermal.«

Ich nahm meinen Mut zusammen. »War etwas zwischen dir und Zoe?«

Er ließ den Arm sinken. »Was?«

»Seid ihr«, ich holte tief Luft, »mal zusammen gewesen?«

Er schaute so fassungslos, dass ich fast lachen musste. Und am liebsten losgeheult hätte. Vor Erleichterung.

»Nein, Fenja. Keine Sorge. Na ja, alle Jungs am Kolleg träumten von Zoe«, räumte er ein. »Ich war keine Ausnahme. Aber das hatte nichts mit Liebe zu tun.«

»Entschuldige. Ich hatte einfach das Gefühl, dass …«

»… etwas ist.« Er zog mich neben sich auf das Bett und umarmte mich so, wie ich es mir vorhin gewünscht hatte. »Irgendwann erzähle ich es dir. Gib mir noch etwas Zeit.«

Ich nickte. Er strich mir mit der Hand über die Stirn. Halb fürchtete, halb hoffte ich, er würde seinen Finger auf die Stelle zwischen meinen Augenbrauen legen, wie Rasmus es immer getan hatte. Doch er umschloss mit beiden Händen meinen Hinterkopf und drückte mit den Daumen sanft in die Vertiefung zwischen Kopf und Nacken. Ein Schauer durchlief mich. Rasmus’ Berührung hatte mich beruhigt; die Berührung von Merten zündete mich an.

»Ich liebe dich«, sagte er leise.

Bis zu der Versammlung um sieben Uhr blieb noch etwas Zeit. Wir schalteten den Fernseher ein. Als ich mich neben Merten vor den Bildschirm setzte, wurde mir mulmig. Ob auch in Estilien über unsere Flucht berichtet wurde?

Einen Sonderkanal wie in Nordland gab es immerhin nicht; keine Sendeschleife, die 24 Stunden am Tag die neuesten Interviews mit meiner Familie und meinen Freunden ausstrahlte. Doch nach kurzem Suchen gerieten wir in eine Nachrichtensendung.

»Inzwischen haben die Hüter von Farland in den sogenannten Katakomben von Helvana eine Suchaktion nach Merten Jakobeit und Fenja Mobi eingeleitet«, sagte der Sprecher. »Es handelt sich um ein stillgelegtes Kanalisationsnetz, das weitgehend in Vergessenheit geraten ist. Es steht zu befürchten, dass sich Fenja und Merten in dem unterirdischen Labyrinth verirrt haben. In diesem Fall, so ein Sprecher der Hüter, geht ihre Überlebenschance gegen null.«

Es folgte ein Interview mit Anselm Dredd, dem obersten Befehlshaber der Hüter. Das Gespräch fand in dem Partysaal des Printemps statt, in dem ich der Organjägerin Aika begegnet war. Im Hintergrund drückten sich ein paar Mitglieder des Faywray-Clans herum – des Clans, mit dem die Hüter ein Zweckbündnis eingegangen waren, um Merten und mir auf die Spur zu kommen. Jetzt wirkte es so, als überwachten die Faywrays das Interview, wohl damit Dredd nichts über den geheimen Übergang verriet. Stillschweigen über dessen Existenz war vermutlich eine Bedingung der Faywrays gewesen, bevor sie sich auf den Deal mit den Hütern eingelassen hatten.

Vom Printemps ging es direkt in unser Wohnzimmer auf Xanadu. Meine Mutter, Bertil und Leane hatten sich offenbar zu einem weiteren Interview bereit erklärt. Mein Vater, so ließ uns eine honigsüße Stimme aus dem Off wissen, lag wegen eines Herzanfalls noch in der Klinik. Die Kamera schwenkte zu Juditta Birk. Da saß sie. In meinem Lieblingssessel. Farlands preisgekrönte Auslandskorrespondentin. Meine Schultern verkrampften sich. Wie ich diese Frau inzwischen hasste!

»Fenjas Familie«, flötete Juditta, »kann sich in dieser schweren Zeit auf die Unterstützung kompetenter Ansprechpartner verlassen. Das Angehörigen-Zentrum von Ganborn bietet den Eltern und Geschwistern der FIP eine umfassende Hilfe und …«

»Wie ich Fenja helfen kann, sagen sie mir da nicht«, unterbrach Bertil ihr Geseire. Seine Augen funkelten, seine Hände lagen zu Fäusten geballt auf seinen Knien. Er sah ungeheuer wütend aus; ich war ungeheuer stolz auf ihn. Mein kleiner Bruder, aus dessen blonden Locken zwei feuerrote Ohren ragten, bot der berühmten Juditta die Stirn!

Juditta lächelte. »Aber sie helfen dir, Bertil. Du und Leane, ihr könnt in dem Zentrum mit anderen Jungen und Mädchen sprechen, denen es ähnlich geht wie euch.«

»Und wie soll das Fenja helfen?«

»Es hilft dir und Leane. Ihr seid auch wichtig.«

»Sie will dir sagen, dass du dich um neue Freunde bemühen musst«, sagte Leane. »Weil unsere alten Freunde nichts mehr mit uns zu tun haben wollen. Weil das mit dem Mitgefühl, der Toleranz und der Empathie nämlich seine Grenzen hat.« Sie wandte den Blick jetzt direkt in die Kamera. »Auch hier, in Farland.«

Ich war fassungslos. Leane, die laut heulend überfahrene Igel und aus dem Nest gefallene Vögel angeschleppt hatte, damit ich sie gesund pflegte – Leane, die in der Nacht vor ihrem ersten Kollegball vor Aufregung praktisch nonstop gekotzt hatte – Leane, die mich stundenlang mit ihrem Liebeskummer vollgejammert hatte: Diese Leane blickte das Fernsehpublikum jetzt mit einer Härte an, dass mir der Atem stockte.

»Nicht schlecht«, murmelte Merten.

»Ich denke doch, dass Toleranz und Empathie überall in Farland großgeschrieben werden«, sagte Juditta ruhig, hielt es aber für klüger, sich nun lieber meiner Mutter zuzuwenden. »Keine Nachrichten von Ihrer Tochter, Frau Mobi. Sie tragen da eine schwere Last«, säuselte sie.

»Ja.« Meine Mutter wirkte völlig gelassen, wie sie da auf unserem Sofa thronte. Eine Königin, der nichts mehr etwas anhaben konnte. Das Schlimmste war passiert. Alles, was jetzt noch kam, konnte nur ein Schatten davon sein.

»Was glauben Sie, Frau Mobi? Ob Fenja bewusst ist, was sie mit ihrer Flucht ausgelöst hat? Ob Fenja …«

»Gewissensbisse hat?«, fragte meine Mutter trocken. »Ich habe keine Ahnung. Warum stellen Sie nicht endlich die Frage, die Sie mir eigentlich stellen wollen?«

Juditta blinzelte. »Bitte?«

Auch auf meine Mutter war ich stolz.

»Die Frage nach der Schuld. Warum hat Fenja getan, was sie getan hat? Wen trifft die Schuld? Die Antwort ist kurz und einfach, und jeder kann sie verstehen: Schuld sind mein Mann und ich. Klingt das einleuchtend, Juditta? Ist es nicht das, was Sie denken und was die meisten Menschen dort draußen glauben? Mein Mann war ein schlechter Vater, ich war eine schlechte Mutter. Die Eltern machen sich immer schuldig, egal, was sie tun oder lassen«, sagte sie sanft. »Fenja hat Mist gebaut, weil wir zu hart oder zu weich waren, ihr alles oder nichts erlaubt, ihr keine oder zu enge Grenzen gesetzt, zu wenig oder zu viel von ihr verlangt, sie vernachlässigt oder verwöhnt haben. Wissen Sie, was ich Ihnen rate, Juditta?« Ihr Blick streifte Judittas Bauch, der sich unter dem modischen Blazer sanft rundete. »Werden Sie erst mal 100-prozentig, bevor Sie ein Kind in die Welt setzen. Das ist es schließlich, worauf es ankommt, nicht wahr? Darum haben wir das Orakel. Weil wir perfekte Eltern für perfekte Kinder für eine perfekte Welt brauchen.«

Meine Augen brannten. Nie, nie hätte ich mir vorstellen können, dass meine liebe, gutmütige Mutter so etwas sagte. Aber sie sagte es. Nicht zu mir, nicht zu meinen Geschwistern, nicht zu meinem Vater. Sie sagte es zu Juditta. Sagte es vor laufender Kamera.

Und damit zu ganz Farland.

Medusa

»Dieses hier wird dir gut stehen.«

Zoe war mit uns in die Wäschekammer gegangen. Als sie mir das grüne Kleid hinhielt, wich ich zurück.

»Es passt phantastisch zu deinen Augen, Fenja, genau deine Farbe.«

Ich schüttelte den Kopf. »Tut mir leid. Bei Grün hört der Spaß auf. Erinnert mich zu sehr an Elysium.«

»Nur heute Abend. Sie sollen wissen, woher du kommst und was du erlebt hast.«

»Das erzähl ich ihnen gern. Dafür muss ich aber kein grünes Kleid tragen.«

Sie seufzte, dann kramte sie in weiteren Kisten und Kartons und zog einen lila Minirock und ein cremefarbenes Top heraus.

»Geht klar«, sagte ich.

Merten, der aus dem gleichen Grund wie ich nicht scharf auf Grün war, wählte ein schwarzes Hemd und schwarze Hosen.

Zoe reichte mir einen Kamm. Wegen der stoppeligen Kürze meiner Haare war da nicht viel zu machen. »Hübsch siehst du aus«, sagte sie nicht sehr überzeugend. Ich zuckte die Schultern. Mein Aussehen war mir egal. Auch das war vor Nordland anders gewesen.

Der Widerstand traf sich in der Zentrale, wie der mit Möbeln vollgestopfte Raum im Untergeschoss hieß. Wackelige Regale, zerschrammte Schränke, Sofas, die nach Staub und alten Pipiflecken aussahen. »Spenden für die Flüchtlinge«, sagte Zoe.

Fenster gab es keine, das Licht kam von drei Kugellampen an der Decke. Unter den Lampen stand ein Tisch voller Geschirr und dampfender Schüsseln. Es roch nach warmem Brot. Nach Fleisch.

Nick und die Kapitänin verteilten letzte Gläser. Merten unterhielt sich leise mit dem grauen Severin. Ein junger Mann mit sehr unterschiedlich hohen Wangenknochen kam lässig auf mich zugeschlurft. Sein blaues Schmuddelhemd hatte er schief zugeknöpft, wodurch es gut zu seinen Wangenknochen passte. Er schüttelte mir so kräftig die Hand, dass ich in die Knie ging.

»Ich bin Teddy. Da bist du also. Fenja. Ist ja schräg.«

Was Teddy schräg fand, war mir nicht ganz klar, aber ich mochte sein Grinsen, seine lockere Art. Er kam mir vor wie einer, der krumm denken konnte, wie mein Vater das manchmal genannt hatte. Wenn man ein Orakel vernichten wollte und einen Plan brauchte, war krumm denken bestimmt eine nützliche Sache.

Die Letzte, die zu uns stieß, war Estrella. Sie trug ein schwarzes Männerhemd und Jeans, und obwohl sie so groß war wie ich, erinnerte sie mich an ein kleines, flinkes Tier. Ein Eichhörnchen vielleicht oder eine Maus. Trotz der kühlen Temperaturen hatte sie Sandalen an den Füßen. Ihre Haare waren noch kürzer als meine. Wie mit einer Nagelfeile abgeraspelt. Anders als mir stand es ihr aber. Sie und Teddy waren ungefähr in Severins Alter: Anfang oder Mitte dreißig.

Das waren wir also: der innere Zirkel des Widerstands. Acht Hansel gegen das mächtige Orakel. Das konnte ja nur gutgehen.

Nick setzte sich neben Zoe und winkte mich heran. »Mach’s dir gemütlich.«

Ich nahm auf der äußersten Stuhlkante Platz und schaute angespannt von einem zum anderen. Gleich würden sie mich auffordern zu erzählen. Dann musste ich nach Nordland zurückkehren. Es wäre zwar nur eine Rückkehr in Gedanken, aber das war schlimm genug. Doch stattdessen begann Estrella Paprikahühnchen und Pfeffersteaks auszuteilen. Ich lehnte beides ab und belud meinen Teller mit Bratkartoffeln und Dosenerbsen.

»Rind und Geflügel sind sehr nahrhaft, Fenja«, sagte Zoe freundlich. »Du musst schnell wieder zu Kräften kommen.«

»Das schaffe ich auch ohne Fleisch.«

Ihr Lächeln blieb freundlich, doch ich spürte ihre Missbilligung. Meine Unsicherheit verschwand, und etwas anderes gewann die Oberhand. Ich legte mein Besteck nieder, setzte mich gerade hin und sagte: »In Nordland musste ich Fleisch essen, sonst wäre ich verhungert. Ich glaube nicht, dass mir das in Estilien passieren kann, oder?«

»Sicher nicht. Estrella wird deine Essgewohnheiten berücksichtigen.« Es war deutlich zu hören, dass Zoe mich für kapriziös und anspruchsvoll hielt.

»Kein Problem.« Estrella, die neben mir saß, tätschelte meine Hand. »Ich krieg dich auch mit Bohnen und Karotten wieder auf die Beine.«

Ich wollte ihnen erklären, dass ich bereits auf den Beinen war und mich ausgezeichnet fühlte, aber das wäre eine Lüge gewesen. Nordland hatte mich mindestens zehn Kilo gekostet, und ich hatte schon vorher kein Übergewicht gehabt. Meine körperliche Verfassung war zweifelhaft, von meinem seelischen Zustand ganz zu schweigen. Dabei hätte ich selig sein müssen, dass ich in Estilien angekommen war. Doch ich war müde und kaputt, erschöpft und ausgelaugt.

Während des Essens wurde wenig gesprochen. Erst als der Tisch abgeräumt war und Estrella mehrere Thermoskannen Kaffee und einen Riesenteller mit Schokoladenkeksen vor uns hingestellt hatte, begrüßte Zoe mich und Merten offiziell als neue Mitglieder des Widerstands.

»Ihr habt einen weiten Weg hinter euch. Dass ihr überhaupt auf Arkadia angekommen seid, ist eine beachtliche Leistung. Alle FIP, die aus Elysium fliehen wollten, wurden in Nordland aufgegriffen. Und hätten sie Merten erst in Eden eingewiesen … Von dort ist noch niemandem die Flucht gelungen.«

Nein, wollte ich sagen, das stimmt nicht. In Helvana habe ich jemanden getroffen. Er hieß Parkin. Er hat es geschafft. Aber Zoe fuhr bereits fort: »Gleichzeitig ist eure Ankunft nur der Anfang. Der schwierigste Teil liegt noch vor euch. Aber diesmal seid ihr nicht allein. Der Widerstand steht hinter euch. Wir alle arbeiten für dasselbe Ziel. Gemeinsam werden wir es schaffen. Wir werden Farland vom Orakel befreien.«

Etwas an ihrer Haltung, ihrem Tonfall weckte in mir eine unbehagliche Erinnerung. Erst wusste ich nicht, was es war. Dann fiel es mir ein: das Phönix-Kolleg. Die Begrüßungsrede der Direktorin. Ihre Ansprache hatte ganz ähnlich geklungen.

»Ihr werdet hier im Hauptgebäude wohnen«, fuhr Zoe fort. »Getrennt von den anderen Flüchtlingen. Das Lager beherbergt zurzeit 78 Menschen, die sich mehr oder weniger frei auf der Insel bewegen dürfen. Auch darum muss ich euch bitten, das Gelände innerhalb des Zauns nicht zu verlassen«, sagte sie ruhig. »Die Flüchtlinge könnten euch erkennen. Oder die Helfer, die regelmäßig auf Arkadia vorbeischauen.«

Ich blinzelte. Wir durften tatsächlich nicht hinaus. Ich schaute Merten an, der unbewegt auf seine gefalteten Hände blickte.

»Und jetzt«, sagte Zoe betont munter, »wollen wir alles über eure Flucht hören.«

Ich überließ es Merten, unsere Geschichte zu erzählen. Ich kaute noch immer an der Nachricht, dass wir im Hauptquartier festsaßen. Mertens Bericht fiel knapp aus, auch er hatte offenbar keine Lust, sich länger als nötig an Nordland zu erinnern. Besonders aufmerksam hörten sie zu, als er bei den Katakomben angelangt war. Natürlich wussten sie, dass es einen geheimen Übergang gab, die Flüchtlinge mussten davon berichtet haben, doch niemand hatte je eine Wegbeschreibung durch das unterirdische Labyrinth liefern können. Nur die Schleuser kannten die Route. Parkin hatte mir das Geheimnis verraten: An jeder Abzweigung musste man sich an einer winzigen Höhlenmalerei – dem geflügelten Pferd – orientieren. Nur so kam man durch.

»Aber wie konntet ihr euch genug Geld für zwei Passagen beschaffen?« Nick schaute skeptisch.

Wir konnten es, weil Marlene gestorben ist. Weil ich die Schleuserin erschossen habe. So haben wir das gemacht, Nick.

Ich blickte zu Boden und schwieg.

»Wir sind FIP, schon vergessen?«, antwortete Merten knapp. »FIP kriegen so was hin. Wir haben euch sogar ein Geschenk mitgebracht.« Er holte etwas aus seiner Hosentasche und streckte es Zoe und Nick auf der flachen Hand entgegen. Ich reckte den Hals.

Eine Metallkapsel.

»Was soll das sein?«, fragte Zoe.

»In der Kapsel steckt ein Datenträger. Darauf findet ihr einige aufschlussreiche Informationen über das Phönix-Programm«, sagte Merten.

Severin nahm ihm die Kapsel aus der Hand. »Du hast dieses Ding aus dem Kolleg und aus Elysium rausgeschmuggelt?«

»Und durch ganz Nordland gebracht, ja.«

Ungläubig starrte ich die Kapsel an. »Wie hast du sie an der Organjägerin vorbeigekriegt?«

Mertens Mundwinkel zuckten. »Die gute Frau hat nicht an der richtigen Stelle nachgesehen.« Er grinste.

»Oh, verstehe.« Severin legte die Kapsel auf den Tisch und wischte sich die Hand an einer Serviette ab.

Merten lachte. »Keine Sorge. Sie war hygienisch und keimfrei verpackt.«

Darum war er so lange im Bad verschwunden gewesen. Von so etwas hatte ich bisher nur in Büchern im Zusammenhang mit Drogen gelesen.

»Sehr tapfer«, bemerkte Teddy.

Merten winkte ab. »Eines meiner kleineren Opfer für die große Sache.«

Nick war noch immer misstrauisch. »Und warum glaubst du, dass uns das Phönix-Programm interessiert?«

»Weil es auf einem Prinzip aufbaut, das der Öffentlichkeit nicht bekannt ist. Die Erfinder des Programms waren davon überzeugt, dass es für die FIP in einem angenehmen und einigermaßen komfortablen Umfeld zu leicht wäre, im Sinne der Moral von Farland zu handeln. Für ein solches Handeln mussten die FIP weder moralisch denken noch fühlen. Die Preisfrage lautete also: Wie könnte man an den wahren Wesenskern der FIP herankommen?«

Alle schauten Merten an.

»Man verpflanzt sie in eine Umgebung, die ihren Schatten füttert. Man testet, wer für Punkte und Privilegien seinen dunklen Impulsen nachgibt – und wer diesen Impulsen widersteht. Das ist die Prüfung. Die FIP kommen in Elysium an und glauben, sie wüssten, was richtig ist und was falsch. Sie nehmen sich vor, richtig zu handeln, weil sie aus Elysium raus wollen. Und dann erzählt man ihnen, dass richtig möglicherweise gar nicht richtig ist. Wer verhält sich noch moralisch und mitfühlend, empathisch und human, wenn man ihm ohne Pause einhämmert, genau dieses Verhalten sei unerwünscht, egoistisch und bequem?« Mertens Augen funkelten. »Nur wer sich menschlich verhält, obwohl ihn das Programm zu einem unmenschlichen Verhalten auffordert, hat überhaupt eine Chance, die Nachprüfung zu bestehen.«

»Dann ist das Programm eine Art Trick?«, fragte Zoe.

Die Thermoskannen auf dem Tisch, die Möbel um uns herum, die Gesichter von Merten, Zoe und Nick – für einen Augenblick verschwamm das alles. Ich war wieder in der Mensa des Phönix-Kollegs angekommen. Mir gegenüber saß eine FIP. Sie hieß Sibylla. »Manchmal denke ich, es könnte ein Trick sein«, flüsterte sie. »Dass sie die Augen belohnen.«

Die Augen. Das waren die FIP, die Extrapunkte dafür kassierten, dass sie ihre Kommilitonen ausspionierten. Weil man ihnen einredete, es sei eine gute Sache, Fehlverhalten zu melden; letztlich würde man ja niemanden anschwärzen, sondern den anderen dabei helfen, sich zu besseren, verantwortungsvolleren Menschen zu entwickeln.

»Vielleicht stellt sich am Ende heraus, dass es darum ging, der Versuchung zu widerstehen und niemanden zu verraten«, wisperte Sibylla in meiner Erinnerung.

Nie hätte ich mir damals vorstellen können, dass ihre Vermutung genau ins Schwarze traf. Noch jemand kam mir in den Sinn: Lisa, die übergewichtige FIP, die sich für Geld ausgezogen hatte. Auf den Plantagen von Elysium hatten zwei ältere FIP sie dazu aufgefordert, es noch einmal zu tun: Klamotten runter oder Punktabzug. Waren die beiden einfach nur miese Typen gewesen? Oder hatte die Direktorin oder ein Mentor sie angewiesen, Lisa in Versuchung zu führen? Und wenn es so war: Wie hatte es sich auf die Chancen der beiden ausgewirkt, dass sie dieser Aufforderung gefolgt waren?

»Dann weiß niemand, wie das Programm wirklich funktioniert?« Teddy rührte so heftig in seinem Milchkaffee, dass sich in der Untertasse ein See bildete.

»Oh, selbstverständlich gibt es eine Gruppe von Eingeweihten.« Merten lächelte schmal. »Auch Farland hat seinen inneren Zirkel – das sogenannte Phönix-Kompetenzteam. Die Direktorin des Kollegs gehört dazu.«

»Was ist mit den Mentoren?«, fragte Teddy. »Meiner war ein solches Arschloch, ich kann mir nicht vorstellen, dass der nur so getan hat als ob.«

»Die Mentoren hält man strikt aus dem Kompetenzteam raus. Sie kennen die Wahrheit über das Programm nicht.« Merten lachte bitter. »Darum sind wir ja so überzeugend.«

»Und kein Mentor hat je gerafft, wie das Programm wirklich funktioniert? Das muss doch auffallen, dass alle FIP mit hohem Kontostand durch die Nachprüfung rasseln und alle mit niedrigem die Prüfung packen.«

»Ebbe auf dem Konto heißt erst mal gar nichts; und schon gar nicht verwandelt es dich automatisch in eine FIP, die bei der Nachprüfung eine Chance hat. Umgekehrt bedeutet ein hoher Kontostand nicht zwangsläufig, dass du durchrasselst. Im Übrigen fummelt unsere geschätzte Direktorin immer wieder gern, und natürlich in Absprache mit dem Kompetenzteam, an den Punktekonten herum.«

»Was soll das heißen?«

»Schau dir die Geheimdateien an, dann kapierst du es. Wenn die Direktorin meint, dass eine FIP die Nachprüfung bestehen könnte, manipuliert sie in den letzten Wochen vor der Prüfung deren Kontostand, so dass er weder auffällig hoch noch auffällig niedrig erscheint. Dasselbe Verfahren gilt für die FIP, die ihrer Vermutung nach durchfallen werden.« Merten machte die Augen schmal. »Nein, Teddy, soweit ich weiß, ist keinem Mentor je etwas aufgefallen. Wenn du mitten im System drinsteckst, passen sich dein Denken, Fühlen und Handeln dem System an. Das ist eine reine Überlebensfrage. Und sogar wenn dir manches schräg oder unlogisch erscheint, behältst du deine Zweifel lieber für dich. Die Zweifler haben in Elysium ganz schnell verschissen.«

»Aber wenn das alles so ist und außer der Direktorin und diesem Team keiner die Wahrheit kennt, müssen wir diese Wahrheit doch nur noch in Farland verbreiten!« Estrella strahlte Merten an. »So schnell bringen die kein neues Programm auf die Beine. Vielleicht müssen sie das Kolleg sogar schließen. – Los, zugreifen!« Sie reichte die Schokoladenkekse herum, als gäbe es etwas zu feiern.

»Diese geheimen Details über das Phönix-Programm sind natürlich äußerst aufschlussreich«, sagte Nick kühl. »Aber ich sehe nicht, wie uns das in unserem Kampf gegen das Orakel hilft.«

Estrella schob sich einen Keks in den Mund. »Hast du ’nen Knall, Nick?«, nuschelte sie. »Alles hilft, was uns hilft, Farlands Lügenmärchen aufzudecken.«

Merten sah Nick fest an. »Du hast recht. Mir war doch, als hätte ich was vergessen. Das Orakel in die Luft jagen. Herrgott noch mal. Das hätte ich wirklich noch schnell erledigen können, bevor ich hier aufgekreuzt bin.«

»Schon gut, Merten«, sagte Zoe sanft. »So war das nicht gemeint.«

Nick rührte Zucker in seinen Kaffee. »Ich will euch nur an das Ziel des Widerstands erinnern. Es besteht nicht darin, das Phönix-Programm zu sprengen. Unser Feind ist das Orakel. Eine Maschine entscheidet darüber, wer bleiben darf und wer geht; eine Maschine ist in Farland der oberste Befehlshaber, verdammt noch mal!«

»Nein, Nick, das stimmt nicht.« Severin hatte die Metallkapsel wieder in die Hand genommen und drehte sie zwischen seinen Fingern. »Das Orakel tut nur, was Menschen ihm zu tun befehlen. Es sind Menschen, die das alles so entschieden haben.«

»Und Menschen können dafür sorgen, dass es aufhört«, sagte Zoe. »Wenn sie es wollen.«

»Tja.« Nick verschränkte die Arme vor der Brust. »Das Problem ist, sie wollen nicht.«

»Weil es den Bürgern von Farland an Information und Aufklärung fehlt.«

»Und was bringt es, die Wahrheit über das Phönix-Programm öffentlich zu machen?«, fragte Kapitänin Leonie. Genau wie ich hatte sie bisher nur zugehört. »Das ist Zeitverschwendung. Wir müssen uns auf das Wesentliche konzentrieren: das Orakel.«

»Ich halte es nicht für Zeitverschwendung, wenn unsere Bemühungen dazu führen, dass Farland das Phönix-Kolleg schließt«, sagte Zoe. »Es wäre ein erster Schritt, um das System aufzuweichen, das sie rund um die FIP aufgebaut haben. Ich habe es schon oft gesagt, ich sage es gern noch einmal: Farland muss von innen heraus aktiv werden!« Nick öffnete den Mund, schloss ihn jedoch gleich wieder, als Zoe die Hand hob. »Es wäre ein Fehler, das Orakel gegen den Willen der Bürger von Farland zu zerstören. Wir müssen darauf hinarbeiten, dass sie es selbst zerstören wollen.«

Nicks Wangen glühten. Auch mir war nicht wohl bei Zoes Worten. »Die schaffen das Orakel nie ab«, sagte er mit mühsam beherrschtem Zorn. »Die halten das Orakel für eine großartige Sache. Zoe, um Himmels willen! Erinnere dich doch nur an deine eigene Zeit in Farland – als du versucht hast, die Leute von den Schattenseiten des Orakels zu überzeugen. Was hat das gebracht?«

»Es hat ein paar Menschen aufgerüttelt. Menschen, die heute für den Widerstand arbeiten. Und ProFIP kam bei der nächsten Wahl auf fast fünf Prozent …«

»ProFIP!« Nick lachte schnaubend. »Dieser klägliche Haufen von FIP-Freunden? Das ist lächerlich. Farland wird niemals freiwillig auf das Orakel verzichten. Wenn du was anderes glaubst, machst du dir was vor. In Farland will man die dunkle Seite, die es in uns allen gibt, um jeden Preis unter Kontrolle bringen oder besser noch: ausmerzen.«

Und vielleicht ist das ganz gut so.

Der Gedanke kam aus dem Nichts. Ich wollte ihn nicht denken, aber er war da. Orlandos Gesicht stand mir deutlich vor Augen. Seine Traurigkeit. Auch das war eine dunkle Seite. Nicht nur Gewalt und Grausamkeit. Ich dachte daran, wie sehr sein dunkles Inneres eine Gefahr für ihn war, mit diesem Wunsch zu sterben, der immer wieder in ihm aufloderte. Wäre es nicht gut, das loszuwerden?