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Helmut Kromrey, Jochen Roose, Jörg Strübing

 

 

Empirische Sozialforschung

 

Modelle und Methoden der standardisierten Datenerhebung und Datenauswertung mit Annotationen aus qualitativ-interpretativer Perspektive

 

 

13., völlig überarbeitete Auflage

 

 

 

 

 

UVK Verlagsgesellschaft mbH · Konstanz
mit UVK/Lucius · München

 

 

 

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Prof. i. R. Dr. Helmut Kromrey, bis 2004 Inhaber des Lehrstuhls für Soziologie und Methodenlehre an der Freien Universität Berlin; Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Bildung und Beruf, Medien, Stadt, Wissenschaftstheorie und empirische Forschung, Evaluation.

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Prof. Dr. Jochen Roose ist Professor für Sozialwissenschaften am Willy Brandt Zentrum für Deutschland- und Europastudien der Universität Wrocław, Polen. Seine Forschungsthemen sind Partizipation, Europäisierung und Methoden der empirischen Sozialforschung.

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Prof. Dr. Jörg Strübing forscht und lehrt zu qualitativ-interpretativen Methoden der empirischen Sozialforschung an der Eberhard Karls Universität Tübingen.

 

 

 

 

 

 

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12. Auflage: © Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft mbH, Stuttgart 2009
(ISBN 978-3-8252-1040-3; ISBN 978-3-8282-0484-3)
13. Auflage: © UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz und München 2016

 

© UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2016

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart
Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart
Lektorat: Marit Borcherding, München eBook-Produktion: Pustet, Regensburg

 

UVK Verlagsgesellschaft mbH
Schützenstr. 24 · D-78462 Konstanz
Tel. 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98
www.uvk.de

 

UTB-Band Nr. 8681
ISBN 978-3-8463-8681-1 (EPUB)
ISBN 978-3-8252-8681-1 (Print)

Vorbemerkungen: Wozu „Methoden empirischer Sozialforschung“?

Ergebnisse empirischer Sozialforschung prägen unseren Alltag. Wir begegnen ihnen tagtäglich: in der Presse, in Rundfunk und Fernsehen – sowohl direkt (vor und nach Wahlen, als Werte aus demoskopischen Umfragen wie dem „Politbarometer“) als auch indirekt (etwa als Resultate von Marktforschungen). Auch die Politik ist nicht unerheblich von der Demoskopie abhängig: Keine Partei, kein Politiker, kein Parlament wird über politische Streitfragen entscheiden, ohne zuvor die Meinungen „seiner“ Wählerschaft erkunden zu lassen. Und wer selbst politisch oder sozial aktiv ist – in Vereinen, Verbänden oder Parteien, als Mitglied eines kommunalen Ausschusses oder Beirats, als Betroffene in einer Bürgerinitiative –, hat sich des Öfteren mit Gutachten und mit Informationen aus empirischen Erhebungen auseinanderzusetzen. Wer sich dabei nicht lediglich auf seinen Glauben verlassen will, tut gut daran, sich einen Überblick darüber zu verschaffen, was empirische Sozialforschung leisten kann – aber auch: wo ihre Grenzen liegen.

Das gilt erst recht für Studierende der Sozialwissenschaften. Alle Sozialwissenschaften verstehen sich als empirische Disziplinen; sie verfahren bei der Gewinnung ihrer Aussagen im Wesentlichen nach der gleichen Forschungslogik und bedienen sich der Instrumente aus dem gleichen Werkzeugkasten. Wie dies geschieht und wie die Geltung der gewonnenen wissenschaftlichen Aussagen begründet und geprüft wird, das gehört zu den selbstverständlichen Basiskenntnissen, die sich jede und jeder Studierende anzueignen hat, wenn sie oder er das gewählte Fach als Wissenschaft erleben und nicht lediglich als Glaubenslehre konsumieren will. Dabei gilt es allerdings, zunächst ein leider weit verbreitetes Vorurteil zu überwinden, das sich für den Neuling als größtes Lernhemmnis erweisen kann: dass nämlich der damit angesprochene Wissensbereich schwierig und unangenehm, trocken und langweilig sei. Dem sei hier entgegengestellt: Für ein eigenständiges Studieren ist es nicht nur unabdingbar, sich mit den Grundlagen des Gewinnens wissenschaftlicher Erkenntnis, mit den Ansätzen und Strategien zur Erforschung der sozialen Wirklichkeit, mit den Regeln empirisch fundierter Argumentation und rationaler Kritik, mit den jeweils unterschiedlichen Möglichkeiten und Reichweiten, aber auch Fallstricken der verfügbaren Methoden der Informationsgewinnung zu befassen. Mehr noch: Es kann auch außerordentlich faszinierend sein!

Das vorliegende Lehrbuch will Grundlagenkenntnisse über die verbreiteten Strategien und Methoden empirischer Datenbeschaffung und Datenauswertung vermitteln, die in den verschiedensten Feldern beruflicher Praxis ebenso wie in unterschiedlichsten Studiengängen an Fachhochschulen, Pädagogischen Hochschulen, Akademien und Universitäten gefragt sind. Rein fachwissenschaftlich aufgebaute Überblickswerke bieten insbesondere der und dem mit erfahrungswissenschaftlichem Denken wenig Vertrauten häufig nur schwer Zugang zum Stoff. Das Voraussetzen von Vorkenntnissen erweist sich dabei ebenso als hinderlich wie eine von der Forschungspraxis losgelöste Darstellung oder die vorherrschende konzeptionelle Trennung in Grundlagen der Erkenntnistheorie, Verfahren der Datenerhebung (Methodenlehre) und Verfahren der Auswertung (Statistik und Datenverarbeitung).

Der vorliegende Text setzt hingegen keine Vorkenntnisse voraus. Er ist vor allem für einen Personenkreis geschrieben, der sich in den Problemkreis neu einarbeiten will, also etwa für Studierende am Anfang eines Studiums der Sozialwissenschaften, für Teilnehmer projektorientierter Studiengänge sowie für Personen außerhalb der Hochschulen, die sich einen Überblick über Vorgehensweisen und Probleme empirischer Wissenschaft verschaffen möchten. Wegen seiner Orientierung an ebendiesem Personenkreis knüpft der Text so weit wie möglich zunächst am alltäglichen Sprachgebrauch an, bevor dann schrittweise die Fachterminologie eingeführt wird. Eine gewisse Redundanz ist dabei nicht zu vermeiden, ist sogar im Interesse des leichteren „Hineinfindens“ durchaus gewollt.

Aus didaktischen Erwägungen ist das Gliederungsprinzip nicht eine methodologisch-wissenschaftliche Systematik, sondern der Ablauf eines realen Forschungsprozesses. Aufbauend auf Erfahrungen mit unterschiedlichen Lehrveranstaltungsformen und aus Forschungsarbeiten wird angestrebt, im Text in zweifacher Hinsicht Inhalte miteinander zu verbinden, die man ansonsten meist getrennt dargeboten findet: Zum einen handelt das Buch grundlegende wissenschaftstheoretische und methodologische Aussagen gemeinsam mit Problemen der Forschungspraxis ab. Zum anderen werden Techniken der Datenerhebung in Verknüpfung mit Methoden der Datenauswertung dargestellt. Allerdings bleibt das Feld der Auswertung und Analyse, um den Umfang in Grenzen zu halten, auf Prinzipien der Datenaufbereitung und auf Modelle der deskriptiven Statistik beschränkt.

Die Darstellung legt Wert darauf, nicht auf abstraktem Niveau stehen zu bleiben, sondern jeweils praktische Beispiele einzubeziehen. Obwohl methodologische und mathematisch-statistische Vorkenntnisse nicht vorausgesetzt werden, und obwohl der zur Verfügung stehende Platz angesichts der Fülle des abzuhandelnden Stoffs sehr eng ist, versuchen die Autoren, Verständlichkeit nicht um den Preis der Oberflächlichkeit zu erzielen. So findet der interessierte Leser in den Fußnoten zahlreiche weiterführende Hinweise zum vertiefenden Studium. Obwohl durchgängig an der Zielgruppe „Anfängerin und Anfänger“ orientiert, ist das Lehrbuch dadurch auch für „Fortgeschrittene“ von Nutzen.

Trotz aller von Auflage zu Auflage eingefügten Ergänzungen verbleibt als nicht ausräumbarer „Mangel“ die Selektivität des dargestellten Stoffes, die notwendige Beschränkung auf ausgewählte Modelle und Verfahren. Um nicht eine – gerade für Anfänger verwirrende und undurchschaubare – Fülle sich teilweise widersprechender methodologischer Positionen darstellen und gegeneinander abgrenzen zu müssen, werden jeweils nur einige Ansätze exemplarisch abgehandelt. Dies gilt insbesondere für die Ausrichtung an der wissenschaftstheoretischen Position des Kritischen Rationalismus. Dies ist weniger eine programmatische als eine didaktische Entscheidung: Die gängigen Methoden empirischer, standardisiert verfahrender Sozialforschung sowie deren theoretische Begründungen und Anwendungsregeln sind von Vertretern dieser Richtung der Erfahrungswissenschaft entwickelt worden. Ein Verständnis der konkreteren Vorgehensweisen und eine Einschätzung ihrer Gültigkeit und Reichweite sind erst mit einigen grundlegenden Kenntnissen dieser Wissenschaftstheorie möglich. Eine Einschätzung der Qualität sozialwissenschaftlicher Forschung und die vielfältigen Ermessensentscheidungen bei ihrer Durchführung lassen sich ohne eine wissenschaftstheoretische Fundierung nicht kompetent leisten.

Obwohl bisher ohne weitere Differenzierung von „der empirischen Sozialforschung“ die Rede war, geht damit keinesfalls der Anspruch einher, in diesem Buch die empirische Sozialforschung in ihrer Gesamtheit darzustellen. Vielmehr konzentriert sich der Text auf das Vorgehen der standardisiert verfahrenden – häufig irreführend als „quantitativ“ bezeichneten1 – Sozialforschung. Dem möglichen Eindruck, es handle sich dabei um die einzige oder gar die einzig „richtige“ Vorgehensweise, wollen wir nicht nur in dieser Vorbemerkung entgegenwirken. Auch wenn ein methodenintegriertes Lehrbuch, das alle Richtungen umfasst, zu kompliziert (und zu dick) würde, will das Buch die alternativen Sichtweisen und Argumente der qualitativ-interpretativen Richtung mitführen. Deshalb ist jedes Kapitel um teils kurze, teils ausführlichere Kommentare („Annotationen“) ergänzt, die das jeweilige Thema aus qualitativ-interpretativer Perspektive skizzieren. In diesen Kommentaren werden einerseits die wichtigsten Unterschiede zu der im Haupttext dominierenden Perspektive einer kritisch-rationalistisch orientierten, standardisierten Sozialforschung markiert, zugleich aber auch Berührungspunkte zwischen den verschiedenen Perspektiven deutlich gemacht.

Da „qualitativ-interpretativ“ in der Geschichte methodenwissenschaftlicher Diskurse eher als eine Residualkategorie (vgl. Hollstein & Ullrich 2003) aller nicht standardisiert verfahrenden und im Wesentlichen auf Quantifizierungen verzichtenden Sozialforschung entstanden ist, verwundert es wenig, dass sich unter diesem Label eine Vielzahl von Verfahren wiederfindet. Diese unterscheiden sich zum Teil deutlich voneinander, nicht nur in den methodischen Vorgehensweisen, sondern – wichtiger noch – in den grundlegenden erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen, aber auch in den sozialtheoretischen Orientierungen. Diese Differenzierungen werden in den Annotationen aus qualitativ-interpretativer Sicht markiert, wenn sie auch im Rahmen dieser kurzen Textabschnitte nicht im Detail präsentiert werden können. Das abschließende Kapitel 9 gibt dann einen Überblick über die Vorgehensweise verschiedener qualitativ-interpretativer Forschungsperspektiven.

Mit diesen Anmerkungen möchten wir deutlich machen, dass „die eine“ richtige Methode der Erkenntnisgewinnung nicht existiert. So einfach ist es (leider) nicht, und ein kompetenter Umgang mit sozialwissenschaftlicher Forschung – in der Lektüre oder in eigener Forschung – erfordert ein stetes Abwägen von Voraussetzungen und möglichen Alternativen. Universell einsetzbare Patentrezepte kann und will dieses Lehrbuch nicht bieten. Stattdessen will es Sie in eine spannende Welt methodischer und methodologischer Gedanken und Überlegungen einladen, die unsere Sicht auf die Welt nachhaltig mit prägen.

In seiner 13. Auflage erscheint das Lehrbuch in neuem Gewand. Der Verlagswechsel zu UVK geht mit zwei größeren Änderungen einher. Zum einen haben wir das Erscheinungsbild des Buches geändert. Das etwas größere Format und die erweiterten Möglichkeiten der Drucktechnik erlauben ein ansprechenderes Schriftbild. Zum anderen bearbeiten nun drei Autoren dieses Buch. Geblieben ist der Versuch einer Darstellung sozialwissenschaftlicher empirischer Methoden, die den Zugang so einfach wie möglich macht, aber dennoch nicht in unangemessene Vereinfachungen verfällt.

 

Berlin / Wrocław / Tübingen, im September 2016

Helmut Kromrey / Jochen Roose / Jörg Strübing

1 Empirische Sozialforschung und empirische Theorie

1.1 Zur Situation empirischer Sozialwissenschaft

1.1.1 Funktion von Wissenschaft in der Gesellschaft

Während des überwiegenden Teils der Menschheitsgeschichte bis weit in die neuere Geschichte hinein existierte das, was wir heute im Alltag unter „Wissenschaft“ verstehen, noch überhaupt nicht. Allenfalls gab es im Bereich des Handwerklichen, des Ackerbaus, der Schifffahrt und vor allem der Waffentechnik Erfahrungen, die im praktischen Umgang mit der Welt gewonnen und die dann von Generation zu Generation als Handlungswissen (teilweise als Geheimwissen) weitergegeben wurden.

Eine ausdrückliche Definition von „Sozial“wissenschaft gar kennen wir erst seit kurzem. „Wissenschaft“ war quasi selbstverständlich Naturwissenschaft. Der Umgang mit dem Wort dagegen war eine „Lehre“; und denjenigen, der sich damit beschäftigte, nannte man einen „Gelehrten“. Der Begriff Soziologie geht auf den französischen Philosophen Auguste Comte (1798–1857) zurück. Ursprünglich hatte er von physique sociale gesprochen. Sie sollte nach dem Vorbild der positiven – d. h. empirische Fakten feststellenden und erklärenden – Naturwissenschaften die gesellschaftlichen Erscheinungen studieren und ihre Gesetze aufzeigen.

Mit dem Schwinden der Bedeutung verbindlicher Zielvorgaben, wie sie bis dahin Religion und Tradition bereitstellten, waren auch zentrale Orientierungs- und Legitimationsgrundlagen für menschliches Handeln verloren gegangen. Die entstehende Lücke sollte nun – nach der Vorstellung von Auguste Comte – die Wissenschaft ausfüllen. Als konzeptuelle Basis dafür bot er (ohne Selbstbescheidung) seine Hauptwerke Cours de philosophie positive und Système de politique positive an.2

Auguste Comte postulierte für die Entwicklung jeder historischen Gesellschaft wie auch für die gesamte Menschheitsgeschichte ein sogenanntes Dreistadiengesetz. Danach durchlaufen sowohl die individuellen Erkenntnisfähigkeiten als auch die Wissenschaften und die Zivilisation „notwendigerweise und unumkehrbar drei Entwicklungsstadien zunehmender Aussonderung und Konkretisierung“ (Lexikon zur Soziologie, 1978, 169; s. auch zusammenfassend Abels 2004, 365 ff.), und zwar ein theologisch-fiktives, ein metaphysisch-abstraktes und ein positiv-reales Stadium:

Diese Zukunftsperspektive aus dem vorigen Jahrhundert und die damit verbundene Aufgabenzuschreibung an die Wissenschaft (genauer: an eine empirisch fundierte, nicht-subjektivistische, „positive“, kurz: eine „Erfahrungswissenschaft“) haben bis in die jüngste Zeit nachgewirkt. Die Ausweitung des Zuständigkeitsbereichs der Wissenschaften – vor allem des Feldes der Sozialwissenschaften – in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ist zumindest teilweise so zu erklären.3 Man erhoffte sich von ihr sowohl Hilfen zur Orientierung bei politischen Entscheidungen (wissenschaftliche Beratung der Politik, sozialwissenschaftliche Begleitung und empirische Evaluation politischer Programme) als auch eine sichere Basis zur Rechtfertigung gesellschaftlichen Handelns. Die Wissenschaft sollte auf der Grundlage empirischer Daten unbestreitbare, handlungsleitende Erkenntnisse bereitstellen, sollte den Prozess politischer Entscheidungen aus dem Zwielicht undurchschaubarer Mehrheits- und Machtkonstellationen herausführen und zur Entscheidungsfindung auf der Basis „objektiver“ Daten beitragen.4 Die Wissenschaft sollte aber nicht nur „objektive Daten“ liefern, also nicht nur herausfinden, was ist, sondern auch, was sein soll.

Der Streit um Werte und ihre wissenschaftliche Begründbarkeit5 ist zwar mittlerweile abgeklungen, nicht aber mit einem eindeutigen Ergebnis zu den wissenschaftsgeschichtlichen Akten gelegt worden.

Die mit den oben skizzierten großen Hoffnungen einhergehende Wissenschaftsgläubigkeit ist zumindest im Bereich der Sozialwissenschaften – aber auch im naturwissenschaftlichen Bereich – zunehmend einer Ernüchterung gewichen. Wissenschaft wird weitgehend nicht mehr als die Institution gesehen, die letzte, endgültige Wahrheiten bereitstellt.

Eine solche skeptische Haltung wird von der diesem Buch zugrunde gelegten wissenschaftstheoretischen Position des Kritischen Rationalismus nicht nur hingenommen, sondern steht ausdrücklich im Einklang mit ihrer Grundauffassung. Danach ist es gerade ein wesentliches Merkmal wissenschaftlichen Wissens, dass es sich immer wieder aufs Neue zu bewähren hat, dass es immer wieder in Zweifel gezogen, immer wieder erneut getestet und in neuen Zusammenhängen überprüft werden muss. Empirische Wissenschaft soll nicht „Glaubenssicherheit“ vermitteln, sondern die Welt – so wie sie ist – beschreiben und erklären, soll die Augen für den kritischen Blick auf die Realität öffnen.

1.1.2 Zum Verhältnis von Wissenschaft und Praxis

Die Beschränkung der empirischen Wissenschaft auf beschreibende und erklärende Aussagen sowie der Verzicht auf den Versuch, wertende Handlungsanweisungen wissenschaftlich zu begründen, muss jedoch kein Nachteil sein. Wenn eine Erfahrungswissenschaft auch nicht begründen kann, was sein soll, so besteht doch in komplexen Industriegesellschaften ein zunehmender Bedarf an wissenschaftlich abgesicherten beschreibenden und erklärenden Aussagen darüber, was ist, wie die Dinge zusammenhängen, welche Folgen bestimmte Handlungen und politische Programme haben können. Bedarf an sozialwissenschaftlichen Daten besteht in vielfältigen gesellschaftlichen Bereichen, die hier nur mit einigen Stichworten angedeutet seien: Ursachen sozialer Ungleichheit, psychosoziale Folgen von Langzeitarbeitslosigkeit, Integration von Migranten, Prozesse gesellschaftlichen Wandels, Technikfolgenabschätzung etc. Zunehmend wird das technologisch Machbare nicht mehr als etwas angesehen, das notwendigerweise realisiert werden muss; zunehmend wird gefordert, das Machbare zunächst an psychischen, sozialen und gesellschaftlichen Erfordernissen und Konsequenzen zu messen. Hierbei aber ist wieder die Sozialwissenschaft gefragt, und zwar nicht als Begründer von Zielen, sondern als Produzent praxisrelevanter sozialwissenschaftlicher Forschungsresultate.

Doch auch in dieser eingeschränkten Funktion hat die Sozialwissenschaft Schwierigkeiten, mit der sozialen Praxis zusammenzukommen. So wird immer wieder neu diskutiert, wie denn praxisrelevante, d. h. anwendungsorientierte Sozialforschung auszusehen habe. Der Vorwurf von Praktikern an die Sozialwissenschaft lautet häufig, sie produziere entweder Banalitäten, die jeder Praktiker ohnehin schon lange wisse, oder die Ergebnisse seien völlig praxisfern.

In dieser Hinsicht haben es die Sozialwissenschaften im Vergleich zu den Naturwissenschaften heute besonders schwer. Eine Wissenschaft, die sich mit dem Erleben und dem Verhalten von Menschen beschäftigt, betritt ja kein Neuland; sie tritt in Konkurrenz zu vorhandenem Alltagswissen, zu bereits vorhandener Alltagserfahrung. Das in der Menschheitsgeschichte in Jahrtausenden angesammelte Wissen ebenso wie das in der Entwicklungsgeschichte jedes Individuums – in seinem ganzen bisherigen Leben – kumulierte Alltagswissen zeichnen sich gerade durch einen hohen Grad an praktischer Bewährung im Alltag aus: Was sich da an Wissen und Erfahrung angesammelt hat, muss zwar nicht unbedingt richtig sein (im Sinne von exakter Übereinstimmung mit der Realität), aber es „funktioniert“, d. h. es hat sich in der Bewältigung von Alltagsaufgaben als hilfreich erwiesen.

Sofern nun die Sozialwissenschaft Ergebnisse liefert, die mit diesem „funktionierenden“ Alltagswissen übereinstimmen, lautet die verständliche Reaktion: „Das ist doch trivial; das wissen wir schon längst. Wozu muss man mit großem Aufwand Daten erheben und auswerten, wenn schließlich nur Selbstverständliches herauskommt?“

Sobald dagegen die Sozialwissenschaft Ergebnisse produziert, die besagen, dass das bisher bewährte Alltagswissen eigentlich nicht stimmt, dass seine Anwendung nur unter ganz bestimmten Bedingungen „funktioniert“, herrscht große Skepsis, wenn nicht gar Ablehnung gegenüber solchen Forschungsergebnissen.

Im ersten Fall – Alltagswissen und wissenschaftliche Erkenntnisse stimmen überein – werden die Forschungsbefunde allenfalls dann begrüßt, wenn bereits getroffene Entscheidungen auf diese Weise zusätzlich legitimiert und „wissenschaftlich abgesichert“ werden können.

Im zweiten Fall – Alltagswissen und wissenschaftliche Erkenntnisse stimmen nicht überein – haben die Forschungsbefunde vor allem dann eine Chance, akzeptiert zu werden (ja, sie werden sogar dringend gefordert), wenn bisher bewährtes Alltagswissen unter geänderten Rahmenbedingungen nicht mehr „funktioniert“, wenn die bisherige gesellschaftliche Praxis in eine Krise geraten ist.

Schließlich kann noch ein dritter Fall eintreten: Wissenschaftliche Befunde werden zu einem Bereich vorgelegt, über den bisher noch kein oder nur wenig Alltagswissen existiert. Falls sich solche Forschungsergebnisse dennoch auf einen – im Sinne der Alltagserfahrung – wichtigen Gegenstandsbereich beziehen, trifft das gleiche zu wie im zweiten Fall: Die Befunde werden gern aufgegriffen, soweit sie nicht mit wesentlichen Wertvorstellungen des Adressaten in Widerspruch stehen. Betreffen sie dagegen einen – im Sinne der Alltagserfahrung – unwichtigen Gegenstandsbereich, werden sie als unnütze Forschung (als „Wissenschaft im Elfenbeinturm“) abgetan.

Wer also sozialwissenschaftliche Forschung in der Hoffnung betreibt, allein durch die Resultate einiges in Bewegung zu bringen, wird mit großer Wahrscheinlichkeit enttäuscht werden. Nach dem oben Geschilderten ist es denn auch kein Zufall, wenn es für die Themen sozialwissenschaftlicher Forschung ähnliche „Konjunkturen“ gibt wie in der politischen Auseinandersetzung. Vor allem Forschung über Sachverhalte, die im politischen Raum als „problematisch“, d. h. als lösungsbedürftig angesehen werden, hat eine unmittelbare Chance sowohl auf die Bewilligung von Forschungsgeldern als auch darauf, dass ihre Ergebnisse zur Kenntnis genommen werden. Verständlicherweise greifen daher Sozialwissenschaftler mit Vorliebe solche Sachverhalte auf, für die sie erstens eine Chance sehen, Forschungsmittel bewilligt zu bekommen, und bei denen sie zweitens nicht die enttäuschende Erfahrung machen, dass die Ergebnisse ihrer Arbeit auf wenig Akzeptanz treffen.

Die geschilderte Problemlage unterscheidet die Sozialwissenschaften von der gegenwärtigen Situation der Naturwissenschaften: Bezüglich der zu behandelnden sozialwissenschaftlichen Fragen und Probleme liegt Alltagswissen vor. Zu Fragen (beispielsweise) der Erziehung von Kindern, der Zugangsmöglichkeiten zu weiterführender Bildung, zum innerbetrieblichen Arbeitsklima, zu den sozialpolitischen Konsequenzen von Arbeitslosigkeit oder ungleicher Einkommensverteilung etc. hat jeder von uns seine eigene Anschauung. Das Vorliegen solchen Alltagswissens ist häufig sogar die Voraussetzung dafür, dass ein Problem als sozialwissenschaftlich relevant beurteilt wird.

Die Forschungsfelder der Naturwissenschaften dagegen entfernen sich zunehmend von den Möglichkeiten alltäglicher Anschauung: Neue Ergebnisse etwa über die Entdeckung eines bisher unbekannten Bestandteils des Atomkerns oder der Supraleitfähigkeit von Materialien entziehen sich der alltäglichen Lebenserfahrung. Sie können beim naturwissenschaftlichen Laien nicht in Konkurrenz zum bisher Erlebten treten. Zwar wird in jüngerer Zeit auch im technologischen Bereich Kritik laut, etwa an der Energiegewinnung mittels Kernspaltung (Atomkraftwerke), am Gefährdungspotenzial chemischer Produkte, an der Gentechnik. Hierbei handelt es sich jedoch um Kritik, die sich nicht gegen die Richtigkeit oder die vermutete Trivialität der wissenschaftlichen Aussagen wendet, sondern gegen die beobachteten oder befürchteten Konsequenzen der praktischen Anwendung besagter wissenschaftlicher Erkenntnisse.

In den Sozialwissenschaften setzt die Kritik aber nicht erst bei bestimmten Formen der Anwendung ihrer Befunde ein (etwa bei didaktischen Umsetzungen empirisch gestützter, lerntheoretischer Annahmen in Lernsoftware oder Online-Teaching). Die Kritik richtet sich vielmehr bereits gegen die Aussagen selbst. Dies ist allerdings kein spezifisch sozialwissenschaftliches Schicksal, sondern damit sahen sich in früheren Zeiten auch die Naturwissenschaften konfrontiert. Naturwissenschaftliche Erkenntnisse wie „Die Erde ist eine Kugel“ oder „Die Erde dreht sich um die Sonne“ widersprachen bei ihrer Entdeckung in eklatanter Weise aller bisherigen Alltagswahrnehmung und stießen demgemäß auf erbitterten Widerstand.6

1.1.3 Zum Verhältnis von Grundlagenforschung und anwendungsorientierter Forschung

Die bisherigen Überlegungen zur gesellschaftlichen Einbindung empirischer Sozialwissenschaft führen zur Frage nach dem Zusammenhang und nach dem Unterschied von (theoretischem) Grundlagenwissen versus Praxiswissen bzw. von Grundlagenforschung versus anwendungsorientierter Forschung. Für das hier behandelte Thema „Methoden empirischer Sozialforschung“ ist diese Unterscheidung u. a. deshalb von Bedeutung, weil Forschungslogik und -methodik weitgehend vor dem Hintergrund des Vorgehens in der Grundlagenforschung entwickelt und begründet worden sind, während andererseits der Großteil tatsächlicher empirischer Forschungen durch anwendungsorientierte Fragestellungen initiiert wird.

So kommt es, dass faktisches Forscherverhalten häufig darauf hinauslaufen muss, einen Kompromiss zu finden zwischen den Anforderungen, die sich einerseits aus der Methodologie und andererseits aus dem Gegenstand der Untersuchung ergeben. Zwar gehen anwendungsorientierte Projekte ebenso wie Projekte der Grundlagenforschung prinzipiell von der gleichen Methodologie aus; doch führen Unterschiede in der Aufgabenstellung und in den Bedingungen der Projektdurchführung dazu, dass sich die methodologischen Prinzipien nicht in gleichem Maße realisieren lassen. Wenn auch dieser Punkt im vorliegenden Text nicht ausdiskutiert werden kann, seien hier doch zumindest einige Differenzierungsmerkmale skizziert (ausführlicher Kromrey 2003).

Sozialwissenschaftliche Grundlagenforschung legt ihr Gewicht auf die Produktion und Vermehrung von möglichst allgemeingültigem Wissen, auf die verallgemeinerbare Beschreibung (Diagnose) und Erklärung sozialer Sachverhalte und Zusammenhänge. Nicht der einzelne Fall, sondern der genau identifizierte, generelle Zusammenhang steht im Vordergrund des Interesses. Im Unterschied dazu soll anwendungsorientierte Forschung Ergebnisse liefern, die beim aktuellen Entscheidungsprozess verwertet werden können. Nicht abstrakte Zusammenhänge („Gesetzmäßigkeiten“) stehen im Vordergrund, sondern die Anwendbarkeit der Befunde auf einen aktuellen Fall oder auf eine Klasse gleichartiger Fälle.

Grundlagenforschung begründet die Relevanz der von ihr aufgegriffenen Themen wissenschaftsimmanent aus bestehenden Lücken im bisherigen Wissensbestand bzw. aus Widersprüchen zwischen bisherigen Wissensbestandteilen. Bei anwendungsorientierter Forschung leiten sich die behandelten Fragestellungen aus den Bedürfnissen der Praxis her (z. B. Wirksamkeit eines Unterrichtsprogramms zur Kompensation der Benachteiligungen von Kindern aus Unterschichtfamilien im traditionellen Bildungssystem).

In der Grundlagenforschung sind die Fragestellungen der Untersuchung und die Sicherung der Gültigkeit der Resultate Maßstab aller Entscheidungen der Wissenschaftlerin bzw. des Wissenschaftlers. Die Untersuchung wird so konzipiert, dass präzise Aussagen zu dem erforschten Sachverhalt möglich werden. Sie versucht, alle Randbedingungen zu erfassen, die Einfluss auf die Ergebnisse haben können. Im Grenzfall werden unter kontrollierten Bedingungen Experimente im Forschungslabor durchgeführt, selbst wenn dadurch die Reichweite der Aussagen eingeschränkt werden sollte oder die Forschungen einen langen Zeitraum erfordern. Bei anwendungsorientierter Forschung steht nicht das Forschungsprojekt und seine absolut „wissenschaftliche“ Durchführung im Vordergrund, sondern die Anwendungspraxis (z. B. das zu untersuchende Handlungsprogramm). Präzision und Allgemeingültigkeit der Aussagen müssen notfalls zurückstehen, wenn dadurch die Resultate „zu spät“ (z. B. nicht rechtzeitig vor einer anstehenden politischen Entscheidung) zustande kämen oder wenn durch die Forschung die Durchführung des zu untersuchenden Programms behindert werden könnte.

Ergebnisse von Grundlagenforschungen hat die Wissenschaftlerin bzw. der Wissenschaftler vor den Fachkollegen zu vertreten. Ihnen gegenüber ist das Vorgehen zu rechtfertigen, und zwar durch den Nachweis der Einhaltung der geltenden wissenschaftlichen Standards. Ziel ist der kritische Diskurs mit den Fachkollegen, in welchem die möglicherweise vorhandenen Schwächen des gewählten Ansatzes oder eventuelle Fehlschlüsse bei der Einordnung der Befunde aufgedeckt werden sollen. Es gehört daher zu den selbstverständlichen Normen der empirischen (Grundlagen-)Wissenschaft, die Forschungsergebnisse möglichst aktuell zu veröffentlichen, das methodische Vorgehen zu erläutern und die Befunde auch in ihren Einzelheiten allen Interessierten zugänglich zu machen.

Bei anwendungsorientierten Projekten (insbesondere bei Auftragsforschungen) dagegen haben es die Forscher bei der Rechtfertigung ihres Vorgehens nicht in erster Linie mit anderen Wissenschaftlern, sondern mit Praktikern zu tun. Bei ihnen steht als Beurteilungsmaßstab die unmittelbare Brauchbarkeit (Praxisrelevanz) der Ergebnisse für die aktuell von ihnen zu lösenden Probleme im Vordergrund. Ein Forscher, für den die strikte Einhaltung aller wissenschaftlichen Standards oberste Priorität hat, eine Forscherin, die ihr Ansehen gegenüber den Fachkollegen nicht durch möglicherweise „unwissenschaftlich“ erscheinende Forschungen aufs Spiel setzen will, werden daher nicht selten Konflikten zwischen widerstreitenden Anforderungen ausgesetzt sein. Hinzu kommt, dass sie nicht immer selbst darüber entscheiden können, ob, wann und in welcher Weise die von ihnen erzielten Resultate veröffentlicht werden.

Grundlagenforschung

Anwendungsorientierte Forschung

Interesse am Generellen

Interesse am konkreten Fall

Bearbeitung von Wissenslücken in der Wissenschaft

Lösung praktischer Probleme

Entscheidungen im Forschungsprozess nach Gründlichkeit und Genauigkeit

Entscheidungen im Forschungsprozess nach zeitlich naher Realisierbarkeit

Darstellung für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler

Darstellung für Praktikerinnen und Praktiker

Tabelle 1.1:Vergleich Grundlagenforschung und anwendungsorientierte Forschung

1.1.4 Zum Verhältnis von „wissenschaftlicher Erfahrung“ und Alltagserfahrung

Empirische Wissenschaft wird üblicherweise Erfahrungswissenschaft genannt. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass die mit empirischen Daten begründeten Aussagen auf der „Erfahrung“ beruhen.7 Diese Begriffswahl ist durchaus gerechtfertigt, denn empirisch-wissenschaftliche Erfahrungen und Alltagserfahrungen sind nicht grundsätzlich verschieden. Beide basieren auf Beobachtungen.8 Die Beobachtungen sind in beiden Fällen theoriegeleitet. Hier wie dort zielt man auf Klassifizierungen der beobachteten Phänomene (Sachverhalte, Ereignisse etc.) und auf Schlussfolgerungen ab, d. h. die Beobachtungen sind nicht Selbstzweck.

Wissenschafts- und Alltagserfahrung unterscheiden sich jedoch darin, dass alltägliche Beobachtungen und Schlussfolgerungen stärker auf konkretes Handeln, auf die jeweilige besondere Situation, auf den Einzelfall gerichtet sind: Was habe ich in dieser speziellen Situation beobachtet? Was ist in dieser speziellen Situation zu tun? (Zum Beispiel: Wie entwickelt sich die Bürgerinitiative gegen den Ausbau der Autobahn in X? Wird sie Erfolg haben? Was muss sie tun, um ihre Ziele zu erreichen?) Die Alltagsbeobachtung versucht dabei, die komplexe Einzelsituation in ihrer individuellen Besonderheit unter bestimmten alltagsrelevanten Gesichtspunkten möglichst umfassend wahrzunehmen, um im Einzelfall möglichst präzise Voraussagen über die Angemessenheit bestimmter Handlungsstrategien machen zu können. Alltagserfahrung ist damit auf die individuelle Ansammlung von handlungsrelevantem Wissen ausgerichtet.

Wissenschaftliche Beobachtung ist im Vergleich dazu stärker selektiv – wobei zugleich die Selektivität in höherem Maße kontrolliert wird – und stärker verallgemeinernd. Sie versucht, aus einer Vielzahl ähnlicher Situationen das Gemeinsame herauszuarbeiten, um relevante Einflussgrößen isolieren und generalisierende Prognosen formulieren zu können: Was ist den Situationen vom Typ X gemeinsam? Was sind die wichtigen Einflussgrößen in Situationen vom Typ X? (Zum Beispiel: Aus welchen Gründen bilden sich Bürgerinitiativen? Unter welchen Bedingungen können sie erfolgreich auf politische Entscheidungen Einfluss nehmen?)

Empirisches wissenschaftliches Arbeiten verfolgt also (grob zusammengefasst) zwei wichtige Ziele:

Alltägliche und wissenschaftliche Erfahrung unterscheiden sich dagegen nicht darin, dass jede Beobachtung (notwendigerweise) theoriegeleitet ist. Diese Behauptung widerspricht gängigen Vorurteilen, in denen häufig übersehen oder sogar ausdrücklich bestritten wird, dass wir (auch) im Alltag ständig auf Theorien – auf „Alltagstheorien“ – zurückgreifen. Fast genauso häufig führt dieses Vorurteil zu der (ebenfalls irrigen) Meinung, es gebe den Typ einer „rein deskriptiven“ (also ausschließlich beschreibenden) empirischen Forschung mit der Möglichkeit absolut theoriefreien Vorgehens, im Unterschied etwa zur ausdrücklich hypothesen- oder theorietestenden Forschung.

Richtig an diesem Vorurteil ist lediglich, dass im ersten Fall (Alltagsbeobachtung, „rein deskriptive“ Forschung) die verwendeten Theorien nur implizit bleiben, also nicht ausdrücklich ausformuliert werden, ja, dass der Beobachter vielleicht sogar gänzlich unbewusst auf sie zurückgreift. Im anderen Fall dagegen (hypothesen- oder theorietestende Forschung) werden die verwendeten Theorien für jeden ersichtlich offen gelegt.

Auch der Unterschied zwischen „wissenschaftlichen“ und „alltäglichen“ Theorien ist nicht von prinzipieller, sondern von nur gradueller Art: Wissenschaftliche Theorien sind in ihren Aussagen klarer fassbar und damit (der Möglichkeit nach) besser durchschaubar; sie verwenden im Idealfall präzise definierte Begriffe, geben ihren Geltungsbereich genau an. Dieser Vorzug wird durch eine Reduktion der Gesichtspunkte erkauft, die in die Theorie einbezogen werden: Die Zahl der Aspekte, unter denen man die Realität betrachtet und erklärt, wird möglichst klein gehalten („Reduktion der Komplexität“).

Beim Vergleich von alltäglich benutzten gegenüber wissenschaftlichen Theorien stellen sich zwei wichtige Fragen:

Es sei an dieser Stelle schon vorwegnehmend darauf hingewiesen, dass in den empirischen Wissenschaften keine einheitliche Auffassung darüber existiert, welche Merkmale Alltagstheorien von wissenschaftlichen Theorien unterscheiden und wie stark der abstrahierende, verallgemeinernde Charakter wissenschaftlicher Theorien sein soll. Je nach dem wissenschaftstheoretischen Standort einer Forscherin/eines Forschers werden sich die theoretischen Entwürfe entweder stärker am Konzept eines idealtypisierenden (nur die wesentlichen Merkmale einer Klasse ähnlicher Sachverhalte herausarbeitenden) Vorgehens orientieren, oder sie werden eher am Konzept einer „ganzheitlichen“ (möglichst viele konkrete Situationselemente berücksichtigenden) Anschauung ausgerichtet sein.

Wissenschaftliche Erfahrung

Alltagserfahrung

Theoriegeleitet

Theoriegeleitet

Möglichst objektiv beschreiben und klassifizieren

Möglichst alles Relevante wahrnehmen

Möglichst allgemeingültige Regeln finden

Funktionierende Regelmäßigkeiten finden

Selektive, verallgemeinernde Beobachtung

Individuelle Sammlung handlungsrelevanten Wissens

Betrachtung weniger Gesichtspunkte

Betrachtung relevanter Situationen in ihrer Gesamtheit

Tabelle 1.2: Vergleich von wissenschaftlicher Erfahrung und Alltagserfahrung

1.2 Grundpositionen der Erfahrungswissenschaft

1.2.1 Annahme der Existenz einer „tatsächlichen Welt“

War bisher allgemein von „wissenschaftlicher Erfahrung“ und „alltäglicher Erfahrung“ die Rede, so soll jetzt speziell auf Konzepte empirischer Wissenschaft (bzw. Erfahrungswissenschaft) eingegangen werden.9 Empirische Wissenschaft verfolgt das Ziel, gesicherte Erkenntnisse über die „Wirklichkeit“10 zu gewinnen.

Empirische Wissenschaft setzt die Existenz einer realen, einer tatsächlichen, „objektiven“ Welt (Gegenstände, Ereignisse, Beziehungen zwischen Gegenständen oder Ereignissen) unabhängig von ihrer Wahrnehmung durch einen Beobachter voraus.

Dieses Axiom (also: diese grundlegende, nicht weiter beweisbare Annahme) wird von Vertretern unterschiedlicher wissenschaftstheoretischer Positionen innerhalb der Erfahrungswissenschaft nicht in Frage gestellt. Solche Einmütigkeit herrscht dagegen nicht mehr bei weiteren Annahmen über Eigenschaften der tatsächlichen Welt (vgl. das folgende Kapitel 1.2.2) sowie hinsichtlich der Möglichkeit der Erkenntnis der „objektiven Realität“.

Der erkenntnistheoretische Realismus – und auf dessen Basis wurde bisher implizit argumentiert (vgl. Kapitel 1.1.4) – bejaht diese Möglichkeit. Denn nur wenn im Prinzip die Chance besteht, mit den Wahrnehmungssinnen und/oder mit Hilfe unterstützender Beobachtungs- und Messinstrumente die außerhalb des beobachtenden Subjekts existierende Realität zu erfahren, sind sinnvolle Aussagen über die Realität formulierbar und „empirisch“ in der Realität überprüfbar.

Der erkenntnistheoretische Konstruktivismus bestreitet dagegen die Möglichkeit, mit den Wahrnehmungssinnen die Realität so zu erfassen, wie sie wirklich ist. Vertreter des „radikalen Konstruktivismus“ etwa kommen aufgrund von Forschungen in der Physik, Biologie und Kybernetik zu dem Schluss, „dass all unsere Erkenntnisse Erkenntnisse eines sich selbst organisierenden Systems, des Gehirns, sind, gebunden an dessen Erkenntnismöglichkeiten und -grenzen. Diese erlauben grundsätzlich keine Aussagen über die tatsächliche, die ‚wahre‘ Beschaffenheit der Welt; sie zeigen nur, ob eine Erkenntnis mit der Beschaffenheit der Welt vereinbar ist, ob sie ‚passt‘ – nicht aber, dass sie ‚wahr‘ (im Sinne eines ‚einzig richtig‘) ist.“ (Meinefeld 1995, 100).11

Vereinfacht ausgedrückt: Über die Sinne werden zwar Umweltreize wahrgenommen. Diese formen jedoch im Kopf der wahrnehmenden Person kein „Abbild“ der Umwelt. Vielmehr wird aus den Sinnesreizen durch eigene Interpretationsleistungen ein (subjektives) Bild „konstruiert“. Jeder lebt sozusagen in seiner eigenen „virtuellen Realität“. Solange dieses virtuelle Modell mit der „tatsächlichen“ Welt hinreichend zusammenpasst, ist es möglich, in dieser „tatsächlichen“ Welt zu leben und zu überleben, allerdings ohne erkennen zu können, wie sie unabhängig von der eigenen gedanklichen Realitätskonstruktion „wirklich“ ist.12 Manche Autoren ziehen die Konsequenz, auch sprachlich zwischen (objektiver) Realität und (subjektiver) Wirklichkeit zu unterscheiden.

1.2.2 Ordnung, Struktur, Gesetzmäßigkeiten

Anhänger einer analytisch-nomologischen bzw. deduktiv-nomologischen Wissenschaft (die Darstellung dieser wissenschaftstheoretischen Position folgt in Kapitel 1.3) gehen von einer geordneten, strukturvollen, regelhaften „wirklichen Welt“ (Welt der Tatsachen) aus. D. h. die einzelnen Gegenstände stehen in geordneter Weise miteinander in Beziehung, sie bilden eine Struktur; Ereignisfolgen laufen nach immer gleich bleibenden Regeln („Gesetzen“) ab; für jedes Ereignis muss es eine Ursache oder auch eine komplexe Menge von Ursachen geben (Kausalitätsprinzip).

Unter solchen Gegebenheiten besteht die Aufgabe der Wissenschaft darin, die in der Welt der Tatsachen herrschenden Strukturen und Gesetzmäßigkeiten zu „entdecken“. Je mehr Wissen über Strukturen und Gesetzmäßigkeiten verfügbar ist, desto mehr werden beobachtete Ereignisse erklärbar und künftige Ereignisse prognostizierbar, und desto mehr wird die Welt beherrschbar.

Da die prinzipielle Ordnung und Regelhaftigkeit für die gesamte reale Welt unterstellt wird, unterscheiden sich nach dieser Vorstellung die verschiedenen Erfahrungswissenschaften (z. B. Naturwissenschaften wie Physik, Chemie, Biologie oder Sozialwissenschaften wie Ökonomie, Psychologie, Soziologie) lediglich in dem Gegenstand, mit dem sie sich befassen, nicht dagegen in der Art ihres Vorgehens. Zum Auffinden empirischer Gesetzmäßigkeiten können also alle Erfahrungswissenschaften nach der gleichen Verfahrenslogik, nach den gleichen methodischen Prinzipien vorgehen (Postulat der Einheitswissenschaft).

Gegen diese Sicht auf die Welt hat sich in den Sozialwissenschaften mit der interaktionistischen, qualitativ-interpretativen Richtung eine prominente Alternative etabliert.13 Vertreter dieser qualitativ-interpretativen Sozialwissenschaft lassen für den Bereich des Sozialen (für die Gesellschaft sowie für Ereignisse und Beziehungen innerhalb der Gesellschaft) die These einer vorgegebenen Struktur mit grundlegenden und gleich bleibenden Regelhaftigkeiten („sozialen Gesetzen“) nicht gelten. Sie postulieren, dass die Menschen die gesellschaftlichen Strukturen, in denen sie miteinander leben, durch ihr Handeln selbst schaffen und damit auch ständig verändern. Die Art der Beziehungen zwischen Menschen und zwischen Gruppen von Menschen wird – so die grundlegende These – auf der Basis des bei jedem Mitglied einer Gesellschaft vorhandenen Alltagswissens in Interaktionen (d. h. durch aufeinander bezogenes Handeln von Personen oder Gruppen) immer wieder neu definiert, wird immer wieder in Auseinandersetzung mit der gegebenen Situation neu entwickelt oder weiterentwickelt (klassisch Blumer 2004, Orig. 1969).

Mit anderen Worten: Wenn – im einfachsten Fall – zwei Personen miteinander zu tun haben, dann versucht jede der beiden Personen die für ihre Absichten relevanten Merkmale der Situation, in der man zusammentrifft, wahrzunehmen und deren Bedeutung aufgrund des vorhandenen Wissens über frühere ähnliche Situationen zu erfassen. Jede der beiden Personen interpretiert aus ihrer Perspektive die Dinge, die sie sieht, einschließlich des Gegenübers, seines Auftretens, seiner Gesten usw. Erst durch diese Interpretation erhalten die wahrgenommenen Dinge für die Person eine Bedeutung. Des Weiteren stellt jede der beiden Personen Vermutungen darüber an, wie das Gegenüber die Situation interpretiert und welche Absichten und Erwartungen sie mitbringt. Beide Personen werden dann auf der Basis der eigenen Situationsdefinition, der eigenen Ziele und Erwartungen sowie der Vermutungen über die entsprechende Sichtweise des Gegenübers handeln und die Reaktionen des Gegenübers daraufhin prüfen, ob sie mit den eigenen Annahmen in Einklang stehen. So bildet sich in einer Folge von Interaktionen sowie wiederholten, gegebenenfalls revidierten Interpretationen beider Seiten eine spezifische, für diese Situation ausgehandelte Beziehung der Interaktionspartner heraus. Je alltäglicher, je gewohnter die Handlungssituation für die Beteiligten ist und je zutreffender die gegenseitigen Vermutungen über die Perspektive des Gegenübers sind, desto unmerklicher läuft der Interpretations- und Aushandlungsprozess ab. Je neuer, je ungewohnter dagegen die Situation, desto eher wird zunächst ein vorsichtiges gegenseitiges „Abtasten“ notwendig und desto ungewisser wird der Ausgang des Aushandlungsprozesses sein.14

Was hier für den vereinfachten Fall eines Zweierkontakts in einer abgegrenzten Handlungssituation skizziert wurde, gilt nach den Vorstellungen interpretativer Sozialwissenschaft auch für Gruppenbeziehungen bis hin zur gesellschaftlichen Ebene. Der jeweils gegebene gegenwärtige Zustand wird als Resultat komplexer Abfolgen von Interaktionen begriffen, der in weiteren Interaktionen ständig neu zur Disposition gestellt, ständig neu interpretiert und weiterentwickelt wird.

Wenn demnach für den Gegenstand des Sozialen nicht von stabilen Strukturen und von gleich bleibenden Regelmäßigkeiten ausgegangen wird, dann ist es aus dieser Sicht selbstverständlich sinnlos, nach „sozialen Gesetzen“ zu suchen und soziale Ereignisse in der empirischen Welt mit Hilfe von Gesetzmäßigkeiten erklären oder prognostizieren zu wollen; denn dann „passt“ das Axiomensystem des erkenntnistheoretischen Realismus nicht.

Die analytisch-nomologische Position123 t 123123