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Cover

Vorspann

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Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

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Band 62

 

Callibsos Puppen

 

von Michelle Stern

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt

Als der Astronaut Perry Rhodan im Juni 2036 zum Mond aufbricht, ahnt er nicht, dass sein Flug die Geschicke der Menschheit in neue Bahnen lenken wird.

Rhodan stößt auf ein Raumschiff der technisch weit überlegenen Arkoniden. Es gelingt ihm, die Freundschaft der Gestrandeten zu gewinnen – und schließlich die Menschheit in einem einzigen, freiheitlichen Staat zu einen: der Terranischen Union.

Perry Rhodan hat das Tor zu den Sternen geöffnet. Doch es kommen neue Gefahren: Als er erfährt, dass die Koordinaten der Erde im Epetran-Archiv auf Arkon gespeichert sind, bricht er auf. Er muss die Koordinaten löschen, bevor sie in die falschen Hände geraten und die Macht des Großen Imperiums die Erde zerschmettert.

Während Rhodan im Arkon-System um das eigene und das Überleben der Menschheit kämpft, macht sich der Arkonide Crest da Zoltral auf die Suche nach der Frau, die ihm selbst mehr als die Unsterblichkeit bedeutet: seine verschollene Ziehtochter Thora ...

»Ich beschäftige mich nicht mit dem, was getan worden ist.

Mich interessiert, was getan werden muss.«

Marie Curie

 

1.

Zukunftsschmied

 

Callibso kauerte mit geschlossenen Augen am Rand des Zeitbrunnens und fühlte den Kosmos in sich pulsieren. Seine Hand lag auf der kniehohen Einfassung aus silberschwarzen Quadern. Er spürte mit den Fingerkuppen das Material, das weder Stein noch kalt war. Auf unheimliche Weise passte es sich demjenigen an, der es berührte; wurde zu Haut, Schuppen oder Federn. Der Eindruck blieb bestehen, solange der Fühlende die Lider gesenkt hielt und nicht sah, was er anfasste.

Die Mauer strahlte Energie aus wie ein Lebewesen. An diesem Tag erschien sie Callibso wie der Maulwulst eines hungrigen Tieres, das auf Beute lauerte.

Callibso verschmolz mit der Stille, die wie die Ruhe vor einem Donnergrollen war.

Am Zeitbrunnen fehlte jedes Geräusch. Das umfriedete Loch mit dem lichtlosen Wabern tilgte das Summen von Insekten, das Zwitschern von Vögeln, das Flüstern des Winds in den Hügelsträuchern. Ohne den würzigen Duft der Bäume kam man sich wie unter einem Schutzschirm vor. Auf ganz Derogwanien gab es keinen Ort wie diesen.

Es war sein Ort. Trotz der Gefahr, die von ihm ausging, oder vielleicht sogar wegen ihr.

Wer gewinnen wollte, der musste wagen.

Callibso öffnete die Augen und starrte in die Schwärze, die sich vor ihm ausbreitete. Zwanzig Meter Dunkelheit. Ein Fluidum, das keines war und an das Abstrahlfeld eines Transmitters erinnerte. Doch diese Konstruktion war anders. Sie folgte ihren eigenen Gesetzen.

Langsam stand Callibso auf und kletterte auf die niedrige Mauer. Er brauchte die Zeitmaschine mehr denn je. Eine Frage beschäftigte ihn, und die Antwort konnte ihm nur der Brunnen geben.

»Was geschieht, wenn ich Rhodan von seinem Weg abbringe?«

In allen Einzelheiten malte sich Callibso aus, wie es gelang, wie sein jahrzehntelanges Unternehmen ein Erfolg geworden war und er das Ringen zu seinen Gunsten beeinflusst hatte. Freude beflügelte ihn. Unwillkürlich umschlossen die Finger der Linken das Amulett, das an einer Kette um seinen Hals hing. Das Kleinod verlieh ihm Kraft und half, jeden Zweifel auszulöschen.

Steif wie ein Brett fiel Callibso nach vorn, schlug lautlos auf. Sein Körper tauchte in gasförmige Schwärze, zäh wie Teer. Das Gefühl von Überlegenheit und Meisterschaft berauschte ihn.

Bei einem Wesen mit schwächeren Mentalstrukturen hätte dieses Eintauchen zu einer Desorientierung geführt, die den Tod gebracht hätte, zuverlässig wie die Abenddämmerung die Nacht.

Callibso stieß sich ab, durchbrach mit dem Kopf die Oberfläche und schwamm auf den gegenüberliegenden Rand zu. Während seine Arme in die unsichtbare Masse tauchten, verwandelte sich die Dunkelheit. Er sah silberne Funken, helle Flecken, graue Strömungen. Er spürte, wie die Essenz des Brunnens sich veränderte. Wärme und Kälte, wechselnde Widerstände und Flussrichtungen versuchten, ihn zu verwirren.

Zielstrebig fand Callibso die eine Strömung, die ihn an sein Ziel tragen würde. Er folgte einem helleren Fluidum in Richtung Zukunft. Dabei kam es ihm vor, als würde sich das Ende des Zeitfelds entfernen. Die Mauer wurde kleiner. Was eben zehn Meter Abstand gewesen waren, verlängerte sich auf dreißig.

Callibso kannte die Täuschungen und Fallen. Er durchquerte das Gezeitenfeld mit unnachgiebiger Entschlossenheit. Nein, er war diese Entschlossenheit, war Teil des mythischen Organismus' aus Zeit und Technik und Wunder.

Eine eiskalte Woge ließ ihn frieren. Er schüttelte sich und griff mit einer mechanischen Geste zur Kette an seinem Hals. Seine Finger trafen auf die glatte Weste aus Mondseide.

Das Amulett war fort!

Die Kette musste ihm beim Fall über seinen Kopf gerutscht sein.

Callibso fuhr herum, suchte in den changierenden Tönen aus Silber, Weiß und Schwarz nach dem Kleinod. Es trieb einen Meter entfernt auf eine lichtlose Stelle zu, der dunkelsten Vergangenheit entgegen. Der Deckel war aufgesprungen, und die zarte Gestalt einer Zwergin, die auf einem festlich geschmückten Dorfplatz stand, winkte in seine Richtung.

»Jymenah!«

Das Holobild drohte von der Finsternis verschlungen zu werden.

Callibso stieß sich kräftig ab, streckte sich und packte die Kette.

Ein Zeitstrudel erfasste ihn, wirbelte ihn im Kreis und trieb ihn auf einen Trichter zu. Fremde Bilder tauchten in seinem Geist auf. Aus dem Glimmen eines Sandkorns wurde das Licht einer Sonne. Callibso fühlte das Anwachsen von etwas, das explosionsartige Ausbreiten von Materie, in einer Geschwindigkeit, die den Verstand überstieg. Eine Galaxis in der Entstehung. Ein winziges Flammenrad unter unzähligen und doch mehr, als für Verstand und Körper erträglich war.

Schmerz pochte in Callibsos Stirn. Seine Nase brannte. Blut lief über die Lippen und benetzte die Zungenspitze, während die Bilder ihn unaufhaltsam anzogen. Gleichzeitig griff Entsetzen nach ihm, breitete sich die Angst vor dem Tod fast ebenso schnell aus wie die Vision der Geburt des Sternenozeans.

Callibso schloss die Augen. Er sperrte das Szenarium gewaltsam aus, trat mit den Füßen gegen die Schwärze wie gegen einen Feind.

»Jy...me...nah...« Ihr Name war sein Schutzschirm.

In Callibsos Erinnerung entstand das Bild Perry Rhodans. Ein schlaksiger Junge, der an einer Haltestelle wartete. Ein junger Mann, der über den Boden einer Halle kroch und im Rauch eines Brandherds neben einem Feuerlöscher liegen blieb. Ein lächelnder Medienheld, gereift und in Bestform, der trotz aller Sabotagen mit einer amerikanischen Flagge am Raumanzug zum Mond aufbrach.

Die Gedanken halfen Callibso, seinen Willen zu stärken, und das zu fokussieren, was er vor dem Sprung in den Zeitbrunnen beschlossen hatte. Er fand die Strömung wieder, die ihn an sein Ziel trug. Nur Sekunden nach seiner Beinahe-Auslöschung fasste Callibsos Hand nach der Umfriedung. Er zog sich hoch, wuchtete sich über den Rand und blieb in der Stille neben dem Zeitbrunnen liegen.

In seinem Kopf hämmerte es. Der keuchende Atem klang laut wie ein Schrei.

Minuten vergingen, ehe Callibso sich aufsetzte und das Blut mit dem beigefarbenen Stoffärmel abwischte. Zurück blieb ein hässlicher Fleck, der ihm samt der abklingenden Schmerzen vor Augen führte, wie knapp es dieses Mal gewesen war.

In Callibsos anderer Hand lag das Amulett, das er zuklappte und unter der Weste in die Innentasche schob.

Callibso stand auf und kehrte dem Brunnen den Rücken. Er verließ das felsige Plateau, genoss das Gefühl von weichem Boden unter den Stiefelsohlen. Jeder Stock, jeder Stein bohrte sich in die empfindlichen Füße und kitzelte die Haut. Wie nach anderen Reisen dieser Art fühlte Callibso sich euphorisiert. Die Schrecken verblassten.

Über einen Pass kam er zu den Hügeln, die zum Dorf führten. Dämmerfinken zwitscherten, und der kräftige Geruch von Nachtkraut empfing ihn. Über ihm wurde es dunkler. Zwei der fünf Monde gingen auf, leuchteten schwach im Zwielicht. Es war angenehm warm.

Callibso ging schneller. Er war sicher, dass der Versuch trotz des Zwischenfalls mit dem Amulett geglückt war. Er befand sich im Derogwanien der Zukunft. Und zwar in genau der Zukunft, in der es ihm gelungen war, Perry Rhodan zu sich zu locken und aufzuhalten.

Vor Callibso öffnete sich der zweihundert Meter lange, gewundene Pfad, den bogenförmige Rosenspaliere wie ein Tunnel überwucherten. Blauschwarze Blüten verströmten einen herben Duft.

Mit den Schritten beschleunigte sich Callibsos Herzschlag. Aufgeregt suchte er nach Anzeichen von Veränderung und fand sie, bevor er die ersten Türme erreichte. Die Stadt war größer geworden. Seine Heimat war gewachsen wie ein Baum, den Regen und Licht nährten. Hunderte neue Häuser stempelten sich gegen die Dämmerung; bunte Würfel mit spitzen Giebeln. Er hörte die Jubelrufe und Gesänge seiner Puppen aus weiter Ferne. Sie hatten eines der Loblieder angestimmt, um seine Ankunft zu feiern.

»Der Meister, der Meister, er reist durch die Zeit. Der Meister, der Meister, Stern und Geleit ...«

Die Stimmen waren lieblich wie die Landschaft, in die das Dorf gebettet lag. Blumen und Beeren, Sträucher und Blätter wiegten sich im Wind wie Untertanen, die sich vor Callibso verneigten. Zu seiner Rechten erkannte er ein fremdartiges Bewässerungssystem, das lange Reihen von zierlich aussehenden Stämmen versorgte. Diamantkrabbler woben dichte, mannshohe Netze zwischen ihnen, die zur Herstellung von Stoff taugten.

Neue Häuser, neue Obstplantagen. Alles wächst und gedeiht.

Callibso lachte. Es war ein herrliches Bild, schöner als jedes Kunstwerk, wie es Arkoniden oder Menschen erfreute.

Er trat aus dem Rosenweg. Vom Hügel aus erstreckte sich die Stadt in ihrer ganzen Schönheit wie ein Paradies vor ihm. Auf den Wiesen und Straßen tanzten seine Kinder. Sie zuckten in Euphorie, umarmten einander und wanden sich auf dem Boden, dass die Blumenkränze um ihre Hälse zerfetzten und es Blüten regnete. Einige rissen sich die zarten, bunten Gespinste vom Körper, die ihnen als Kleidung dienten.

Eine der Puppen löste sich aus der Menge und kam ihm entgegen. Ihr Gesicht hatte scharfe Züge. Die lange Nase und die aufgeworfenen Lippen unterschieden sie von den meisten anderen Puppen. Wie Callibso waren die Geschöpfe Zwerge, die ihn mit ihren überproportionalen Köpfen und Händen das Gefühl vermittelten, unter seinesgleichen zu sein.

»Issaro.« Callibso schloss ihn in die Arme. Es gab niemanden, dem er mehr vertraute.

»Meister. Dein Kommen überrascht mich.«

»Ich brauchte eine Entscheidungshilfe. Wie ich sehe, habe ich meine Antwort erhalten.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Durch mein Eingreifen hat das Ringen eine günstige Wendung genommen. Gehe ich noch fort und nehme einige von euch mit?«

»Nein, Meister.«

Callibso berührte zufrieden sein glattes Kinn. Das hatte er sich gedacht. Der Aderlass hatte aufgehört. In dieser potenziellen Zukunft musste er keine Puppen mehr mit sich nehmen, um sie im Ringen zu verschleißen. Endlich waren seine Kinder in Sicherheit, und er konnte sich geborgen fühlen, in ihrer Mitte. Zumindest für eine Weile.

Issaro wies zur Stadtmitte. »Möchtest du essen und trinken?«

»Ja. Und feiern. Lang kann ich nicht bleiben. Nur eine Nacht unter den Monden. Die Vergangenheit wartet auf mich.«

2.

Vergangenheit

Eisprinzessin

 

»Sie ist so blass.« Mildred Orsons beugte sich über die Sichtscheibe des Medotanks. Wie alles um sie war der Behälter strahlend weiß und von einer Helligkeit, die Kanten und Konturen verschwimmen ließ. Er erinnerte an einen halbierten Schneeball, wobei die Oberfläche aus winzigen, aneinandergesetzten Neunecken bestand.

Im Innern lag Thora da Zoltral auf dem Rücken, die Arme über der Brust gefaltet, die langen Haare ausgebreitet. Eine weiße Folie aus fremdartigem Material bedeckte sie, die sich wie Stoff an den Körper schmiegte und die Form ihrer Arme nachzeichnete. Aus der Brust schien ein Licht zu dringen, blinkend wie ein Pulsar. Es strahlte aus den Öffnungen einer Medokapsel, die an Thoras Brustbein geheftet war. Das winzige Gerät hielt das Herz am Schlagen und regulierte über unsichtbare Felder die gelähmte Atmung. Lediglich ein schwaches Wabern in der Luft über Thoras Nase zeigte den schlauchförmigen Verlauf von Sauerstoff- und Stickstoffströmung an.

»Sie sieht aus wie eine Tote, die ein Bestatter für die Leichenschau zurechtgemacht hat«, sagte Julian mit rauer Stimme.

Das Bild war auf beklemmende Weise vertraut. Erst vor einigen Monaten hatten sie an einem anderen Bett gestanden, in Terrania. Dort hatte Ernst Ellert in einem Krankenbett gelegen. Nun waren Mildred und Julian an Bord der STERNENWIND, gerettet von Ernst Ellert, dem Mann, der damals wie ein Schatten seiner selbst in Terrania im Koma gelegen hatte.

Mildred legte die Hand auf die Sichtscheibe. Noch vor wenigen Wochen wäre es ihr peinlich gewesen, Thora hilflos zu sehen. Doch seit sie von der Erde aufgebrochen war, war viel passiert. »Sie ist viel schöner als Ellert. Wie eine Prinzessin im Schnee.«

Julian schenkte Mildred ein schwaches Lächeln. Die Strapazen, die hinter ihnen lagen, waren ihm anzusehen. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen, die Haut war wächsern bis auf einen blutroten Kratzer nahe der Kehle. Eine Erinnerung an die Eiswelt Snowman. Es war eine Bisswunde von einem Bleichsauger, die bei Julian mehr Spuren hinterlassen hatte als bei ihr und den anderen, die sich hatten beißen lassen.

Während der Biss des Raubtiers Julians Haut entzündete, hatte es Thora weit schlimmer getroffen. Sie reagierte allergisch auf das Gift. Ihre Atmung hatte den Dienst versagt. Es war Gucky zu verdanken, dass die Arkonidin noch lebte. Er hatte Thora telekinetisch geholfen, wann immer ihr Körper aufgegeben hatte. Nun lag Gucky wenige Meter entfernt in einem tiefen Schlaf. Die Sichtscheibe seines Medotanks war strahlend weiß und verbarg den kleinen, pelzigen Körper mit dem rotbraunen Fell, den Tellerohren, der spitzen Schnauzpartie und dem abgeplatteten Biberschwanz.

Mildred konnte sich nicht an den Gedanken gewöhnen, in einer Medostation zu stehen. Es lag am Geruch. Der Raum duftete schwach nach Orange und Ingwer. Eine Spur Zimt lag darin. Die Melange erinnerte Mildred an Weihnachten, wenn auch alle Gerüche eine Nuance anders waren. Trotzdem war ihr, als stünde sie auf der Terrasse ihres Elternhauses im Schnee unter den Sternen und würde mit einer heißen Tasse Orangenpunsch in der Hand auf die Bescherung warten. Ihre Wunschliste war lang: Leben für Thora, Leben für Perry, Rettung für Reg und ihre Freunde, die sie hatten zurücklassen müssen. Sie selbst und Julian kamen erst ganz unten.

Mildred schwindelte. Sie hielt sich an Julians Arm fest.

»Alles okay?«

»Nein. Perry ist weg. Und die anderen ...« Sie verstummte, dachte an ihre toten Freunde Humpry und Klaus, die sie auf Snowman zurückgelassen hatten. An Felicita und die anderen, die sich in der Gefangenschaft der Naats befanden. Für sie kam jeder Wunsch zu spät.

»Perry hat seine Entscheidung getroffen. Wir müssen auf Thora aufpassen.« Julian zog sie an sich. »Perry weiß, was er tut. Er wird die anderen befreien.«

Mildred wollte es glauben. Sie löste sich von Julian, obwohl sie seine Nähe gesucht hatte. Manchmal fühlte sie sich in seiner Gegenwart wie ein Magnet, der bei zu geringem Abstand auf Polgleichheit umschaltete. »Was macht der imperiale Verband?«

Julian zog einen Würfel aus der Beintasche, der groß wie seine Faust war und aus unzähligen, schwach leuchtenden Neunecken bestand. Ellert hatte ihm dieses Spielzeug gegeben, ehe er zur Zentrale gegangen war. Auf eine Berührung hin baute sich ein kopfgroßes Holo auf, das die kegelförmige STERNENWIND und den Flottenverband der Naats in Miniatur zeigte. Elf Kugelraumer schwebten in der Schwärze des Alls, von zweihundert bis achthundert Metern Durchmesser. Inzwischen musste Perry auf einem dieser Schiffe sein. Er hatte sich Novaal freiwillig gestellt, damit Reg und die anderen verschont blieben.

»Nichts. Keine gegnerische Ortung. Wir werden schneller.«

»Dann haben wir es geschafft.«

Mildred starrte auf das Holo, das zur Oberfläche Snowmans wechselte. Die Eiswelt trieb durchzogen von Rissen und wirren Linien wie ein heller Ball unter der STERNENWIND und versperrte die Sicht auf die Mehandorstation KE'MATLON. Der Abschied tat gut.

In Mildreds Kopf wirbelten die Erinnerungen wie in einer Rüttelkugel. Ihr Aufbruch in dem uralten Schlachtschiff von der Erde nach Arkon. Ihre Hoffnungen, ihre Träume, die sie auf das Zentrum des Großen Imperiums gerichtet hatten. Ihre Beinahe-Havarie nur wenige Tage später, ihre Rettung auf der Mehandorstation. Das jähe Auftreten des imperialen Verbands, die Aufforderung zur bedingungslosen Kapitulation ... und kurz darauf der Abschuss der TOSOMA, die in Schnee und Eis rammte, ein Koloss aus arkonidischem Stahl, dessen Druck den Schnee zum Schmelzen brachte, und der eine Dampfschleppe samt Feuerlohe hinter sich herzog. Ihre Flucht vor den Naats, die Bleichsauger – Riesenwanzen mit scharfen Mundzangen –, die sie bissen und in eine Höhle verschleppten, um ihre Fressvorräte aufzufüllen. Dann Rhodans und Thoras Gesichter hinter den Helmscheiben. Die beiden befreiten sie, holten sie und Julian mit Thermostrahlern und Händen aus der Eisschicht, die ihre Schutzanzüge umhüllt hatte.

Sie lernten Orlgans kennen – den großmäuligen Mehandor, der ebenfalls von den Bleichsaugern eingelagert worden war –, folgten ihm und seinen Leuten zu einem aus Schrott zusammengebauten U-Boot. Obwohl es erst wenige Tage zurücklag, kam es Mildred vor wie eine Ewigkeit.

War Thora wirklich erst gestern zusammengebrochen?

Im Vergleich zu dem aus Metallmüll zusammengezimmerten U-Boot fühlte sich die STERNENWIND trotz der Fremdheit gut und sicher an. Um Thoras Leben zu retten, hatten sie das Boot über die Grenze hinaus belastet. Es war Perrys Idee gewesen. Nun war er fort, und sie befand sich in einem unbekannten Schiff mit dem tot geglaubten Ernst Ellert auf einem Flug ins Ungewisse.

Mildred zupfte an einer dunklen Haarsträhne. Sie hatte das Abenteuer gesucht, seit sie ihren Studienplatz an einer prestigeträchtigen Ivy-League-Uni samt Stipendium hinter sich gelassen hatte. Und sie hatte es gefunden. Hatte sie es sich so vorgestellt? Nein, ganz sicher nicht. Trotzdem gab es in ihr weder Reue noch Bedauern.

Julian desaktivierte die Holodarstellung. Er wankte und stützte sich an Thoras Medobehälter ab. »Mann, ich würde zu gern schlafen. Braucht der Kerl denn ewig?«

Sie hielten sich auf den Beinen, weil sie auf Ernst Ellert warteten, der ihnen Antworten versprochen hatte. Während sich Orlgans und die dreizehn Mehandor zurückgezogen hatten – die wie er auf die Eiswelt Gedt-Kemar verbannt worden waren –, harrten sie aus.

Mildred setzte sich in einer dunkler markierten Zone, die Ellert ihnen gezeigt hatte. Während ihr Körper nach unten sackte, kam aus dem Boden ein weißer Sitzhocker geschnellt, der sich lautlos in Position brachte und Mildred auffing. Das weiche Polster mit der algenartigen Konsistenz bot genug Platz für einen Naat. »Ziemlich bequem. Was die STERNENWIND wohl für ein Schiff ist? Arkonidisch sieht es nicht aus.«

Julian setzte sich neben sie, sprang jedoch sofort wieder auf, als das Schott sich wie ein Mundwulst blitzartig weitete, und Ernst Ellert die Krankenstation betrat.

Der Zitterer, wie Orlgans Ellert nannte, machte seinem Namen alle Ehre. Der drahtige, ausgezehrt wirkende Körper flackerte. Man hätte den Mann mit den kurzen braunen Haaren und den unscheinbaren Zügen für eine fehlerhafte Holoprojektion halten können.

»Endlich! Woher wussten Sie, dass wir auf Snowman sind?«

Ernst Ellert lächelte. »Hallo erst mal. Julian Tifflor, richtig?«

Julian winkte ungeduldig ab. Sie hatten sich beim Einstieg vorgestellt. »Wir kennen Sie, Ellert. Aus Terrania. Ihr Körper lag dort – oder liegt dort noch immer. Sagen Sie es mir.«

Mildred stand auf. »Wir haben Timothy Harnahan bei Ihnen getroffen. Unseren Freund. Er war oft bei Ihnen, ehe er in Harno aufging.«

»Harno, ja.« Ellert wandte seine Aufmerksamkeit auf das pulsierende Licht über Thoras Brust. Es hatte sich eine Nuance dunkler verfärbt. Ellert hatte ihnen gesagt, dass es Orange oder Gold werden würde, sollte es Komplikationen geben. Bislang war Thoras Zustand stabil. Die fremdartige Technologie hielt sie in einer Art Heilschlaf.

»Sie kennen ihn?«, fragte Julian.

»Ja. Es geht ihm gut.«

»Wo ist er?«

»Die Frage ist eher: Wann ist er?«

Mildred öffnete den Mund, um nachzuhaken, wann Timothy war, doch Ellert kam ihr zuvor. »Ich kann es Ihnen nicht sagen. Harno ist ... das Wesen, das Sie Harno nennen, ging von jeher seine eigenen Wege. Sie waren schon immer schwer zu verstehen. Seit Timothy mit ihm verschmolzen ist ... Ihr Freund besaß eine unersättliche Neugier und einen starken Willen. Harno ist unberechenbar geworden.«

»Sie wissen viel.« Mildred spürte Misstrauen. Ellert hatte die erste Frage Julians nicht beantwortet, woher er wusste, dass sie – und vor allem Perry – auf Snowman gewesen waren. Sie werden gebraucht, hatte Ellert gesagt. »Wohin wollen Sie mit uns? Oder besser – wo wollten Sie mit Perry Rhodan hin?«

Ellert strich sich über den grauen Anzug. Der Blick seiner Augen hatte einen verträumten Ausdruck. »An einen Ort, wo man Thora hoffentlich helfen kann.«

»Dann wollen Sie wegen Thora dorthin?«

»Sie sind müde, alle beide. Schlafen Sie! Der Rest wird sich finden. Ich denke, wir werden einen kurzen Zwischenstopp bei Pernatz riskieren. Die Mehandor werden dort von Bord gehen können.«

»Und wir?«, fragte Julian.

Ellert zog die Augenbrauen zusammen. »Sie werden bei Thora bleiben wollen, oder?«

»Natürlich.« Mildred sog die würzige Luft ein. »Was ist das für ein Schiff? Wie konnte es durch die Ortung des Flottenverbands schlüpfen?«

Langsam drehte sich Ellert um. Auf ein Zeichen seiner Hand öffnete sich der Ringwulst und schuf einen Durchbruch in einen langen weißen Gang, der aus glänzenden Neunecken bestand. Auch der Hohlraum wurde von neun Seiten begrenzt. Die Winkel waren exakt gleich. »Es ist ein Schiff der Loower. Eine erloschene Zivilisation. Trotz ihrer märchenhaft hoch entwickelten Technologie, insbesondere was Raumschiffsantriebe und Tarnungen angeht. Ich bin nicht der Einzige, der sich ihrer Hinterlassenschaften bedient.«

»Ach ja?« Julian grinste. Er hob den Würfel. »Wenn ich lerne, es zu steuern, bekomme ich dann auch eins?«

Verwirrung zeigte sich auf Ellerts Gesicht. »So habe ich das nicht gemeint.«

»Wozu brauchen Sie überhaupt ein Schiff? Sie sind Teletemporarier, oder?« Mildred zeigte auf Ellerts flackernde Erscheinung. »Sie können an jeden Ort reisen, an den Sie reisen wollen. Und in jede Zeit.« Sie hatte davon gehört, dass Ellert Rhodan auf dem Wega-Mond Lannol begegnet war.

»Ich muss mit meinen Kräften haushalten. Am liebsten würde ich an hundert Orten und Zeiten zugleich sein, doch das ist unmöglich. Außerdem ist ein Schiff praktisch für andere. Und zum Transport von Dingen.«

Julian rieb sich die Schläfen. »Okay, ich passe. Wie wäre es morgen mit weiteren Antworten bei einem guten Frühstück? Wobei das ›gut‹ relativ ist. Ich würde jemanden vermöbeln für eine Einmann-Ration Reis aus chinesischen Armeebeständen.«

Ellert schmunzelte. »Wie ich schon sagte: der Transport von Dingen. Ein Essen ist kein Problem.« Er ging den Gang hinunter.

Julian wollte Mildred mit sich ziehen, zu der Kabine und dem verlockend weichen Ruhewürfel, von dem Mildred seit zwei Stunden träumte. Trotzdem sperrte sie sich gegen seinen Griff.

»Lass mich bitte ein paar Minuten allein, ja?«

Auf Julians Gesicht zeigte sich Ärger, so kurz, dass Mildred es für einen Fehler ihrer Wahrnehmung gehalten hätte, würde sie ihn nicht kennen. Dann kam ein trauriger Zug, der nicht zu Julians Gesicht passte, und ebenso schnell wieder verschwand. »Du brauchst Abstand, was?«

»Nein. Ich will schauen, ob ich zu ihm durchdringen kann.«

»Okay. Wir sehen uns.« Die Erleichterung war Julian anzusehen. Er gab ihr einen Kuss auf den Mund und marschierte in Richtung Kabine.

Mildred drehte sich zu Ellert um, der sie interessiert betrachtete. Er stand viel näher, als sie angenommen hatte.

»Was meinen Sie damit, dass Sie zu mir durchdringen wollen?«

Verlegen spürte Mildred die Wärme in ihren Wangen. Eigentlich hatte er diesen Satz nicht hören sollen. Statt zurückzuweichen, nutzte sie die Situation und ging auf ihn zu. »Wer sind Sie wirklich, Ernst Ellert? Warum tun Sie das alles?«

Für einen kurzen Moment schloss Ellert die Augen. In seinem Gesicht zeichnete sich Schmerz ab. »Ich bin ein Mensch. Wenn auch nicht mehr aus Fleisch und Blut. Haben Sie schon einmal jemanden verloren, den Sie geliebt haben?«

Mildred dachte an ihre Freunde von der TOSOMA. Aber die hatte sie nur wenige Wochen gekannt. Sie vermutete, dass Ellert eine andere Art von Beziehung meinte.

»Meine beste Freundin. Sie starb mit siebzehn an einer schweren Krankheit.« Mildred dachte an Gina zurück. Vielleicht war es dieser Tod gewesen, der die Unruhe in ihr ausgelöst oder zumindest verstärkt hatte. Die Suche nach mehr und das Unvermögen, sich von Regeln wie Gitterstäben einsperren zu lassen. Das Leben war zu kostbar für einen Käfig aus Gewohnheit.

Ellerts Flackern wurde schwächer. Sein Körper verblasste. Eine Augenblick fürchtete Mildred, er würde sich wie ein Geist in Luft auflösen und sie allein im Gang stehen lassen. »Ich hatte eine Partnerin. Eine Seelenverwandte. Inken. Dank meiner Gabe sah ich ihren Tod voraus. So wie ich das Raumschiff der Arkoniden in einem Traum auf dem Mond gesehen habe, wusste ich, dass Inken bei einem Unfall ums Leben kommen würde. Ich konnte sie nicht davon abhalten, sich auf den Weg zu machen. Ich saß untätig auf einem Küchenstuhl, während zwei Lkws ihren alten Saab zerquetschten. Seitdem weiß ich, dass es sich lohnt, aufzustehen und etwas zu riskieren. Ich bin vom Unterlasser zum Unternehmer geworden. Mein Betätigungsfeld ist diese Galaxis. Manchmal auch mehr. Dabei werde ich niemals vergessen, dass es kein Spiel ist. Vertrauen Sie mir.«

Mildred nickte zögernd. »Werden Sie Thora retten?«

»Wenn ich es kann. Ruhen Sie sich aus. Thora ist an Bord in Sicherheit. Und Sie auch.«

3.

Universumretter

 

Gucky setzte sich und rieb sich die Augen. Er sog die warme Luft ein. Blauwasser. Oder doch Dotterflaum? Der Geruch irritierte ihn. Blinzelnd betrachtete er das weiße Licht, das aus jedem Quadratzentimeter der Wände drang und die Krankenstation in einen diffusen, wahrnehmungsentziehenden Ort verwandelte.

Der Medotank Thoras ragte verschwommen in der Raummitte auf. Mildred und Julian hockten auf einem breiten Sitzpolster. Beide hielten würfelartige Gebilde aus Neunecken in den Händen und vertieften sich in Holobilder. Sie hatten die Kleider gewechselt und trugen frische Sachen, die Ellert ihnen gegeben haben musste. Mildreds weiße Hose sah aus, als wäre sie aus Leder gefertigt, fiel jedoch weich wie Seide und weitete sich um die Knöchel. Passend dazu trug sie weiße Stiefel und ein knopfloses Hemd mit hohem Stehkragen, das ihren Hals noch schlanker machte.

Gucky aktivierte die Öffnung und Absenkung des Medotanks. Die Anstrengungen der letzten Tage steckten ihm in den Knochen, trotzdem fühlte er sich zum ersten Mal seit Thoras Rettung erholt. Unternehmungslustig schwang er die Beine über den Rand und rutschte an der absinkenden Verkleidung der Halbkugel zu Boden.

»Guten Morgen. Hab ich was verpasst?«

Julian hob den Kopf. »Außer einem exorbitant guten Frühstück ... nicht viel.«

Gucky watschelte zu Mildred und streckte neugierig die Hand in das Holobild über ihrem Würfel. Die Darstellung vergrößerte sich explosionsartig um ein Hundertfaches. Sie tauchte die Wände in bunte Farben und tanzte auf den Gesichtern der beiden Menschen.

»Igitt.« Der Ilt bedeckte die Augen mit der Hand. »Warum muss es so grell sein? Gibt es auf diesem Schiff überhaupt einen Schatten?« Er mochte das Schiff nicht. Es bereitete ihm Kopfweh. Die STERNENWIND wisperte und flüsterte, wann immer er abgelenkt war. Versuchte Gucky jedoch, das zu fassen, was sich wie die Gedanken des Schiffs anfühlte, entzog es sich seiner telepathischen Gabe.

Falls der Raumer wirklich ein eigenständiges Lebewesen war oder über eine Art organische Positronik verfügte, spielte es mit ihm Hatz und Duck – ein Spiel, bei dem Gucky den anderen Ilts wegen seiner überragenden Teleportationsfähigkeit weit überlegen gewesen wäre, wenn er sie eingesetzt hätte. Schließlich wusste jeder, dass Spielen erst Spaß machte, wenn beide Parteien die Regeln kannten und sich daran hielten. Das Schiff aber verriet seine Regeln nicht. Das war dumm.

Mildred desaktivierte das Holo und berührte eines von Guckys Tellerohren. Ihre Hand streifte über das Fell. Es fühlte sich gut an.

»Schön, dass du wieder auf den Beinen bist. Wir werden in Kürze Pernatz IV erreichen.«

»Ganz prima. Weg mit dem Rauschebart und seinem Anhang. Ohne ihn hätte ich mich schon viel früher erholt.«

»Du meinst Orlgans?« Julian hatte sich in die Darstellung über seinem Würfel vertieft. Auf seiner Stirn standen Schweißperlen.

Gucky lehnte sich interessiert vor, vermied jedoch den direkten Kontakt mit der Projektion. Eine Steuereinheit. Simulator. Offensichtlich beschäftigte sich Julian damit, fliegen zu lernen. Was er da bediente, blieb Gucky rätselhaft. »Klar meine ich Orlgans. Das lange Elend. Gestern hat er Thora Gedichte vorgetragen. Angeblich zu ihrer Erbauung. Gedichte! Sie haben sich nicht einmal gereimt. Ein Wunder, dass Thora dabei nicht eingegangen ist.« Er drehte sich zu Thoras Medotank um. »Apropos ... Wie ist ihr Zustand?«

»Stabil, aber das Licht flackert dunkler.« Mildred stand auf. »Es ist gut, dass du wach bist. Vielleicht kannst du herausfinden, was los ist.«