Cover

TRANSIT 49 (HERBST 2016)

 

Editorial

 

Grenzen der Toleranz

 

Shalini Randeria

Europa dezentrieren

 

María do Mar Castro Varela

»Your body is a battleground«

Die Burkini-Affäre, das barbarische Europa und der weibliche Körper

 

Luiza Bialasiewicz

Die Geopolitik der Sichtbarkeit

Grenzen der Toleranz in der europäischen Stadt

 

Iva Lučić

Die politische Aufwertung der Muslime im sozialistischen Jugoslawien

 

Tobias Berger

Säkularismus, Islam und die Grenzen der Toleranz in Bangladesch

 

Charles Taylors Landkarte

 

Ulf Bohmann, Gesche Keding und Hartmut Rosa

Einleitung

 

Jocelyn Maclure

Ein stark wertendes Subjekt

 

Steven Lukes

Ein großer Geist

 

William E. Connolly

Heute, gestern und morgen

 

Eduardo Mendieta

Das Geschöpf der Sprache – Drei Postkarten an Chuck

 

Alessandro Ferrara

Die Kunst, Gegensätze zusammenzuhalten

 

Michael Kühnlein

Anders sehen – Oder mein Aufbruch zu den »Quellen des Selbst«

 

Nick Smith

Das gewöhnliche Leben

 

James Tully

Ein dialogisches Wesen

 

Hans Joas

Charles Taylor als Polemiker

 

Nancy Fraser

Eine Debatte mit Funkenflug

 

Alasdair MacIntyre

Charles Taylor und das dramatische Narrativ – Argument und Genre

 

Mark Redhead

Das Verstehen des Anderen

 

Arto Laitinen

Philosophie und Selbstausdruck

 

Maeve Cooke

Starke Wertungen im sozialen Leben – Mit Taylor über Taylor hinaus

 

Craig Calhoun

Mehr von uns selbst halten

 

Axel Honneth

Taylors Hegel

 

Ludwig Nagl

Begegnungen mit Charles Taylor, Anregungen durch Charles Taylor

 

Richard J. Bernstein

Die Ausweitung des Dialogs

 

Jürgen Goldstein

Resonanz – Ein Schlüsselbegriff in der Philosophie Charles Taylors

 

Darío Montero

Kulturen der Demokratie

 

Paolo Costa

Beiträge der Erneuerung – Taylor als Theoretiker des historischen Wandels

 

Ruth Abbey

Freiheit – Ein roter Faden im Werk von Charles Taylor

 

Amy Gutmann

Die Macht der Anerkennung – Als Charles Taylor die personale Identität analysierte

 

Guy Laforest

Charles Taylor an der Front der kanadischen Politik

 

Jürgen Habermas

Geburtstagsbrief an einen alten Freund und Kollegen

 

Lisl Ponger, Photoessay

 

Zu den Autorinnen und Autoren

Photographie auf der Rückseite: Lisl Ponger, U.A. Angelo Soliman I.R.

 

Transit wird herausgegeben am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien und erscheint im Verlag Neue Kritik, Frankfurt am Main.

Herausgeberin: Shalini Randeria

Gründungsherausgeber: Krzysztof Michalski †

Gastherausgeber der »Charles Taylors Landkarte«: Ulf Bohmann, Gesche Keding, Hartmut Rosa

Redaktion: Paweł Marczewski

Kurator des Bildteils: Walter Seidl

Redaktionskomitee: Cornelia Klinger (Hamburg), János M. Kovács (Budapest/Wien), Ivan Krastev (Sofia/Wien), Timothy Snyder (Yale/Wien)

Beirat: Peter Demetz (New Haven), Timothy Garton Ash (Oxford), Claus Leggewie (Essen), Petr Pithart (Prag), Jacques Rupnik (Paris), Aleksander Smolar (Warschau/Paris)

Redaktionsanschrift: Transit, Institut für die Wissenschaften vom Menschen, Spittelauer Lände 3, A-1090 Wien, Telefon (+431) 31358-0, Fax (+431) 31358-30, www.iwm.at

Unverlangte Einsendungen können nicht in jedem Fall beantwortet werden.

Website von Transit: Europäische Revue und Tr@nsit_online: www.iwm.at/transit

Anzeigenpreisliste wird auf Wunsch zugesandt.

Transit erscheint zweimal im Jahr. Jedes Heft kostet 14 Euro (D). Transit kann im Abonnement zu 12 Euro (D) pro Heft (in D und A portofrei) über den Verlag bezogen werden.

Verlagsanschrift: Verlag Neue Kritik, Kettenhofweg 53, D-60325 Frankfurt/Main, Telefon (069) 72 75 76, Fax (069) 72 65 85, E-mail: verlag@neuekritik.de

ISSN 0938-2062 / ISBN 978-3-8015-0612-4

 

Transit ist Partner von Eurozine – the netmagazine (www.eurozine.com), einem Zusammenschluss europäischer Kulturzeitschriften im Internet. Transit is regularly listed in the International Current Awareness Services. Selected material is indexed in the International Bibliography of the Social Sciences.

 

Nachweise: Der Beitrag von Iva Lučić beruht auf ihrem Buch Im Namen der Nation. Der politische Aufwertungsprozess der Muslime im sozialistischen Jugoslawien (1956–1971) (Studia Historica Upsaliensia 256), das im Frühling 2016 bei Uppsala Universität erschien.

 

© 2016 für sämtliche Texte und deren Übersetzungen Transit / IWM

Besuchen Sie uns im Netz

www.iwm.at/transit

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E-Book-Ausgaben 2016

ISBN 978-3-8015-0612-4 (epub)

ISBN 978-3-8015-0613-1 (mobi)

ISBN 978-3-8015-0614-8 (pdf)

Editorial

 

Am 5. November 2016 feiert der große Philosoph Charles Taylor seinen 85. Geburtstag. Mit Wien verbindet ihn seit vielen Jahren eine innige Freundschaft. Seit 2009 ist er ein Permanent Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen, wo er einen Forschungsschwerpunkt zum Thema »Religion und Säkularismus« leitet und zahlreiche internationale Tagungen veranstaltet hat. Seine Werke dienen ganzen Generationen von Fellows bis heute als unerschöpfliche Inspirationsquelle.

Die Idee zu dieser Jubiläumsausgabe geht auf eine Initiative von Ulf Bohmann, Gesche Keding und Hartmut Rosa von der Friedrich-Schiller-Universität Jena zurück. Zusammen mit der Transit-Redaktion entstand die Idee, das vielfältige Wirken Charles Taylors mit Gastbeiträgen seiner Wegbegleiter zu würdigen. Das Ergebnis ist Charles Taylors »Landkarte«, die wir stolz in dieser Ausgabe mit einer ausführlichen Einleitung der Gastherausgeber präsentieren

Der zweite große Themenblock dieses Hefts – Grenzen der Toleranz – wurde ebenfalls von Charles Taylor sowie seinem gemeinsam mit Alfred Stepan herausgegeben Werk Boundaries of Toleration (2014) inspiriert. Das Buch bietet wichtige und intellektuell überzeugende Ansätze, wie die Grenzen der Toleranz durch gegenseitigen Respekt zu überwinden wären. Es enthält Beispiele aus verschiedenen Ländern und Epochen, wie ein friedliches Zusammenleben in multireligiösen und multikulturellen Kontexten gelingen kann. Gleichzeitig lädt es dazu ein, über den Begriff der Toleranz, der als Grundpfeiler eines liberalen Demokratieverständnisses gilt, kritisch nachzudenken. In Zeiten zunehmender Terrorangst und wachsender Islamophobie in Europa gewinnt das Vorhaben von Taylor und Stepan noch an Aktualität, wie die Autoren in dieser Ausgabe eindrücklich vor Augen führen.

Shalini Randerias Beitrag in diesem Heft, der auf ihre Eröffnungsrede beim Forum Alpbach 2015 zurückgeht, enthält »eine kleine Lektion über multiple Identitäten«: »Der Imperialismus und der Kolonialismus sind konstitutiv für die europäische Moderne. Sie stellen ein Erbe dar, das Europa nur um den Preis ignorieren kann, dass es sich selbst in Gefahr begibt. Sich die geschichtlichen und gegenwärtigen Verflechtungen ins Bewusstsein zu rufen, die zwischen Europa und der Welt außerhalb bestehen, erlaubt es uns, darüber im Sinne von Verbindungen statt von Differenzen nachzudenken, und, wichtiger noch: Es gestattet uns auch die Anerkennung der Tatsache, dass Europa noch nie eine reine, von Jahrhunderten des Kontakts mit anderen Regionen und Religionen ungebrochene Identität besessen hat. Ebenso wenig kann allerdings der Islam behaupten, er sei von anderen Religionen und Zivilisationen unberührt geblieben.«

Die Frage ist, ob Europa heute mit der kulturellen wie religiösen Vielfalt, die ihren Ursprung in der wechselhaften Geschichte des Kontinents hat, umgehen kann. Im Lichte der sogenannten Burkini-Affäre fällt die Antwort auf diese Frage wohl eher negativ aus. Das im Sommer 2016 von 30 französischen Kommunen eingeführte Verbot enthüllte nicht nur zahlreiche Ängste innerhalb der Bevölkerung, sondern offenbarte auch die Bereitschaft der Behörden, individuelle Freiheiten im Zuge dieser Stimmungslage einzuschränken. Dass der weibliche Körper bereits in der Vergangenheit immer wieder Austragungsort ideologischer Grabenkämpfe war, auch in Europa, zeigen Beispiele aus Spanien unter Franco bzw. Portugal unter Salazar, wo konservative Regime versuchten, den Bikini zu verbieten. Der Burkini-Fall unterscheidet sich aber von früheren Versuchen, die Badekleidung auf europäischen Stränden zu reglementieren. Wie María do Mar Castro Varela in ihrem Beitrag argumentiert, wird die »Andere Frau« in dieser Debatte »nicht nur als schutzbedürftig beschrieben, sondern auch als Gefahr repräsentiert.« Sie avanciert zu einem »Sicherheitsrisiko« und repräsentiert das feindliche/bedrohliche Andere. Somit geht der Diskurs »weit über das Verbot und Gebot von Badebekleidung hinaus«, so Castro Varela.

Im zuletzt genannten Beispiel steht die »Andere Frau« für die Muslimin, welche die Unterdrückung der Frau durch den Islam symbolisiert und zugleich als Feindbild der abendländischen Zivilisation dargestellt wird. Luiza Bialasiewicz zeigt am Beispiel der verdrängten muslimischen Vergangenheit Venedigs wie ein solches Feindbild entsteht: »Diese Stadt war es, in der im 16. Jahrhundert die erste gedruckte Fassung des Koran entstand, und sie war es auch, die über Jahrhunderte hinweg eine zentrale Schnittstelle für den Austausch von Ideen und Gütern zwischen Europa und dem Nahen und Fernen Osten gewesen ist. Heute legt Venedig selbst kontinuierlich Zeugnis von dieser Vergangenheit ab, sei es in Gestalt der byzantinisch beeinflussten Architektur ihrer wichtigsten Wahrzeichen wie etwa des Markusdoms oder in Form der unzähligen anderen materiellen Spuren und Präsenzen, die Auskunft über die Beziehungen der Stadt zum Nahen Osten und besonders zu den früheren Ländern des Osmanischen Reiches geben.«

Man muss aber nicht so weit in die Vergangenheit Europas zurückgehen, um Spuren der muslimischen Präsenz und ihrer politischen Relevanz zu entdecken. Iva Lučić erzählt in ihrem Beitrag eine faszinierende Geschichte der politischen Aufwertung von Muslimen im sozialistischen Jugoslawien und demonstriert, wie der Islam in der Republik Bosnien und Herzegowina als Werkzeug der Selbstbestimmung und Gleichberechtigung im Rahmen der Föderation diente: »Je mehr die Neugewichtung der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen innerhalb der Föderation zugunsten der Einzelrepubliken ausfiel, desto mehr gerieten die bosnisch-herzegowinischen Genossen unter Zugzwang, die Souveränität der Republik politisch neu zu formulieren und diese – sowie nicht zuletzt sich selbst – als Träger nationalspezifischer Interessen glaubwürdig auf der bundesweiten politischen Bühne zu profilieren. Den Ausgangspunkt bildete dabei die auf der ersten Sitzung des Antifaschistischen Landesrats Bosnien-Herzegowinas proklamierte Identitätsformel für Bosnien-Herzegowina als der Republik der Serben, Kroaten und Muslime. Solange die Muslime jedoch allein den politischen Status einer religiösen Gruppe innehatten, lief man Gefahr, angesichts der zunehmenden Relevanz des nationalen Kriteriums einen entscheidenden Legitimationsgrund für die Dreigliedrigkeit der Republik zu verlieren bzw. in einen binationalen serbokroatischen Republikcharakter überzugehen, was seinerseits die Souveränität der SR BiH zugunsten von den Nachbarrepubliken Kroatien und Serbien in Frage zu stellen drohte. Die Muslime wurden somit zum souveränitätspolitischen »Alleinstellungsmerkmal« der SR BiH.«

Charles Taylor und Alfred Stepan hatten mit ihrem Buch vor, die Relevanz und Auswirkung des Toleranz-Begriffs nicht nur im westlichen und europäischen Kontext zu diskutieren, sondern auch seine globalen Äquivalente in die Debatte einzubringen. So bezieht sich der Begriff Säkularismus in Indien beispielsweise auf das gleichberechtigte Nebeneinander der Religionen, ohne diese von Politik und Öffentlichkeit zu verbannen, wie es in laizistischen Staaten der Fall ist. Die Grenzen der Toleranz zeigen sich nicht nur in den historischen wie aktuellen Beziehung zwischen Europa und der muslimischen Welt. Wie Prinzipien von Toleranz und Säkularismus in einem südasiatischen Land mit überwiegend muslimischer Bevölkerung funktionieren beziehungsweise scheitern können, erklärt Tobias Berger am Beispiel Bangladeschs. Hier zeigt sich paradoxerweise, »dass eine Rückkehr zu säkularen Prinzipien auf der Ebene der Verfassung zu einer stetig wachsenden Intoleranz innerhalb der Gesellschaft geführt hat, durch die sowohl Atheisten als auch Angehörige religiöser Minderheiten sowie als ›abtrünnig‹ geltende Muslime zunehmend Opfer gewalttätiger Angriffe werden.«

Die Politisierung der Religion legt – sowohl in Europa als auch anderswo – die Grenzen der Toleranz offen.

Wien, im Oktober 2016

 

Shalini Randeria

EUROPA DEZENTRIEREN

 

Sehr geehrter Herr Bundespräsident Fischer, sehr geehrter Herr Kommissionspräsident Juncker, sehr geehrter Herr Außenminister Kurz, meine Damen und Herren!

Es ist mir ein Vergnügen und eine Ehre, am heutigen Abend anlässlich des 70-jährigen Jubiläums des Europäischen Forums Alpbach zu Ihnen sprechen zu dürfen. Als Dr. Fischler mich bat, heute Abend zu referieren und damit Präsident Junckers Ansprache zum Thema »Die Idee Europas« zu ergänzen, war ich etwas zögerlich, denn obwohl ich mich selbst unter anderem als Europäerin betrachte, sehen die, die mich erblicken, mich nicht als eine an. Denn nicht nur sollen Europäerinnen und Europäer nicht so aussehen wie ich, es wird zudem in Europa auch noch unterstellt, dass man nur eine einzige Identität besitzen könne. Und als ich Dr. Fischler gestand, dass ich eine Berufsinderin bin, die skeptisch ist, ob sie über Europa in der Welt sprechen sollte, weil ich nicht über, sondern nur in Europa arbeite, lautete seine Antwort, dass er von mir keine akademische oder politische, sondern eine persönliche und provokante Rede erwarte.

Meine folgenden Bemerkungen kreisen um drei Anekdoten, die Überraschungsmomente für mich wie auch für mein jeweiliges Gegenüber bedeuteten.

 

1. Eine kleine Lektion über multiple Identitäten. Mit einem Schweizer Grenzpolizisten hatte ich nach meiner Rückkehr aus den USA folgende Konversation: Er studierte meinen indischen Pass eine Weile ganz akribisch und sagte dann: »Sie sind in den USA geboren, haben einen indischen Pass, er weist aber eine Berliner Adresse auf.« Ich holte meine Schweizer Aufenthaltsbewilligung zusammen mit meiner neuen österreichischen hervor, weil ich dachte, das würde die Sache vielleicht vereinfachen und ihn auf den neuesten Kenntnisstand in Bezug auf mein Leben bringen. Seine Antwort war: »Wo leben Sie?«, und als ich entgegnete: »In Berlin, Wien und Genf und auch in Ahmedabad«, da hakte er nach: »Und wo sind Sie zu Hause?« Ich teilte ihm daraufhin mit, dass dies eine komplizierte Frage von diversen Graden des Zuhauseseins in verschiedenen Städten Europas und Indiens sei, die zudem von einer ganzen Reihe von anderen Personen abhinge. Jedenfalls konnte ich ihn davon überzeugen, dass dies wohl kein Sicherheitsrisiko für Europa darstellt, denn er fragte: »Und Sie arbeiten auch überall? Und in wie vielen Sprachen?« Daraus entspann sich dann eine längere Unterhaltung über die Verwendung von fünf indischen und drei europäischen Sprachen. Zum Schluss frotzelte er: »In welcher Sprache träumen Sie, Madame?«, worauf ich antwortete: »Das hängt vom Thema ab.«

Kann Europa Platz für eine solche Vielfalt an Sprachen und Stimmen, ein solches Ringen von und um Identitäten und eine solche Vielzahl an Sichtweisen schaffen, die nicht nur in jeder einzelnen Person, in jedem von uns existieren und sich dabei in einem permanenten Dialog miteinander befinden, sondern die auch in jedem Land und quer über den Kontinent vorzufinden sind? Ich glaube nicht, dass wir eine singuläre oder einheitliche Idee von Europa brauchen, oder, was das betrifft, von Indien oder Afrika. Solche Singularitäten züchten nicht nur erzwungene Homogenität und Monokulturen des Denkens heran, sondern unterstellen auch ausschließende Identitätskonstruktionen des Selbst als Christ, Muslim oder Hindu, mit all der Gewalt, die solche Konstruktionen historisch begleitet hat und noch heute begleitet. Was wir stattdessen benötigen, ist eine Anerkennung des Anderen, vor allem aber eine der Pluralität des Selbst. Die Herausforderung besteht deshalb darin, sich in Europa eine politische Gemeinschaft ohne irgendeine singuläre Identität vorzustellen. Es ist nicht Europas Seele, die bei einem möglichen EU-Beitritt der Türkei auf dem Spiel steht; Europas Stärke ist, dass es keine singuläre Seele hat.

 

2. Meine Biographie spiegelt noch einen weiteren Aspekt der Widersprüche zwischen Staatsbürgerschaft, Integration und Identität wider: Ich zahle in drei europäischen Ländern Steuern, bin aber in keinem von ihnen wahlberechtigt. In der Schweiz, wo ich lehre, habe ich meine Chancen auf eine Bewerbung um die Staatsbürgerschaft durch meinen Umzug von einem Kanton in einen anderen verspielt, weil das Warten dadurch von Neuem beginnt, und in Deutschland, wo ich seit 30 Jahren Steuern zahle, müsste ich entweder eine Arbeitsstelle nachweisen oder mich mit einem Deutschen verheiraten, um für den Erwerb der Staatsbürgerschaft infrage zu kommen. Diejenigen, die sich Gedanken um eine Entpolitisierung und geringer werdende Wahlbeteiligungen machen, täten gut daran, sich mit dem Missverhältnis von Aufenthalts- und politischen Rechten zu beschäftigen.

Aus migrantischer Perspektive betrachtet, leben wir daher immer noch in einem Zeitalter von »taxation without representation«, von Besteuerung ohne politische Vertretung! Glücklicherweise haben sich nicht nur seit der Amerikanischen Revolution, sondern auch seit meiner Ankunft in Europa vor über 35 Jahren einige Dinge verändert. Damals lauteten die unvermeidlichen ersten Fragen, die mir in Deutschland gestellt wurden, stets: »Wie lange sind Sie hier? Wann gehen Sie zurück?« Dies war keine feindselige Befragung; manchmal war sie sogar freundlich gemeint. Aber sie machte doch deutlich, dass ich als fehl am Platz wahrgenommen wurde und man sich nicht vorstellen konnte, dass ich langfristig in Deutschland bleiben oder sogar in irgendeiner Weise dort hingehören könnte. Meine Ernennung zur Direktorin des IWM, des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen in Wien, zeigt, dass solche Wahrnehmungsweisen der Vergangenheit angehören. Man könnte sagen, dass es nicht nur so ist, dass ich endlich angekommen bin, sondern die Gastgesellschaften erkennen es mittlerweile an, dass jemand mit meiner Biographie zum deutschsprachigen Europa gehören kann. Österreich, die Schweiz und Deutschland haben mir einen Platz geschaffen, so wie ich mir in ihnen einen Platz schaffen konnte. Dies bleibt allerdings eine Ausnahme, wie uns der tragische Tod von 700 allein in dieser Woche ertrunkenen Afrikanern sowie der Tod der über 20 000, die dieses Schicksal beim Versuch, die Küsten Europas zu erreichen, bereits früher ereilt hatte, in Erinnerung ruft.

 

3. Spielarten des Säkularismus: Als ich in den späten 1970er Jahren nach Oxford kam, stellte ich zu meiner Verwunderung fest, dass die Universität nicht nur eine theologische Fakultät, sondern sogar den Colleges zugehörige Kapellen besaß – ein Umstand, der in der säkularen Bildungslandschaft Indiens undenkbar gewesen wäre. Ich erfuhr, dass viele Studierende sich gegen einen Besuch meines Colleges, St. Anne’s, entschieden hatten, weil es als eine nicht konfessionelle Institution keine Kapelle hat. Ich fragte, was daran so problematisch sei, und bekam zur Antwort, dass man gern in der eigenen Collegekapelle heiraten würde, was in diesem Fall nicht möglich sei. Da ich allerdings nicht als erste weibliche Rhodes-Stipendiatin nach Oxford gekommen war, um zu heiraten, war mir das gleichgültig.

Meine Vorstellungen, oder sollte ich sagen »Illusionen«, vom europäischen Säkularismus erhielten allerdings einen weiteren Dämpfer, als ich nach meiner Ankunft als Doktorandin in Deutschland nicht nur erfuhr, dass der Staat religiöse Zugehörigkeit feststellt und diesbezügliche Steuern kassiert, sondern auch, dass die Vergabe von Stipendien an den Universitäten von Stiftungen vorgenommen wird, die entweder politischen Parteien oder den Kirchen nahestehen; etwas, was in Indien als Bruch säkularer Grundregeln angesehen würde. Dies war meine erste Lektion im Nachdenken über den Säkularismus und daher auch über die Moderne im Plural, oder, anders gesagt, ein Nachdenken in Begriffen der Vielfalt von Säkularismen und Modernen anstatt in denen einer unilinearen Modernisierung, in der der scheinbar von Mängeln und Rückständigkeit geprägte Rest der Welt noch zu der einen europäischen Moderne aufschließen muss.

Frantz Fanon sagte einmal in Umkehrung der unilinearen Entwicklungskurve der Modernisierung, Europa sei ein Geschöpf der Dritten Welt. Diese Sichtweise betont die wirtschaftliche Ausbeutung während der Kolonialzeit, die das moderne industrialisierte Europa erst möglich gemacht hat, und zwar nicht allein durch die Ausbeutung von Rohstoffen und natürlichen Ressourcen, sondern auch durch die der Arbeitskraft von Sklaven auf den Plantagen und in den Minen und von Arbeitsverpflichteten in der Landwirtschaft und in Fabriken oder Arbeitskräften auf See. Postkoloniale Theoretiker haben unseren Blick auf den Kolonia-lismus mittlerweile geschärft, so dass er nun auch viele der gesellschaftlichen, kulturellen und identitätsbezogenen Dimensionen des Letzteren erheischt, aber diese Diskussion würde an dieser Stelle zu weit führen.

Eine außerwestliche Reaktion auf die erdrückende Umarmung durch den westlichen Universalismus war die Entwicklung eines rein partikularistischen Selbstverständnisses. Lassen Sie mich drei Beispiele für solche Reaktionen nennen, die wissenschaftlich unhaltbar und politisch gefährlich sind. Die erste bestand darin, dass man in den im 19. und frühen 20. Jahrhundert noch kolonisierten Weltteilen einen Anspruch auf geistig-spirituelle Überlegenheit dem Westen gegenüber erhob und damit allerdings immer noch in der binären Logik eines Entweder-Oder von rassischer Überlegenheit und kultureller Reinheit verblieb. Eine zweite Reaktion war – und ist es oft noch heute –, eine radikale kulturelle Andersartigkeit und folglich unüberbrückbare Differenz zu behaupten, der zufolge dann etwa westliche Menschenrechte dort keine Anwendung finden könnten, wo der Konfuzianismus zu Hause ist, wie die Kommunistische Partei Chinas argumentiert. Und eine dritte Reaktionsweise zum Umgang mit dem durch die imperialistische Herrschaft hervorgerufenen Gefühl der Unterlegenheit ist es, sich selbst als zeitlich vor dem Westen rangierend zu betrachten, indem man zum Beispiel die Erfindung und Anwendung der Chirurgie und des Klonens im alten Indien verortet, wie es der indische Premierminister kürzlich während eines Besuchs in einem Hightech-Krankenhaus in Bombay getan hat. Es gab allerdings auch, wenn auch nur selten, ironische Reaktionen, etwa die Gandhis, der, in den 1920er Jahren von einem britischen Journalisten danach gefragt, was er von der westlichen Zivilisation halte, die berühmte Antwort gegeben haben soll, diese wäre eine sehr gute Idee!

In meiner eigenen Arbeit habe ich die Beziehung zwischen Europa und der nichteuropäischen Welt als »verflochtene Modernen« (»entangled modernities«) oder, auf Deutsch, entweder als Verflechtungsgeschichte oder geteilte Geschichte konzeptualisiert, als Geschichte, die verbindet, aber auch trennt. Der Imperialismus und der Kolonialismus sind konstitutiv für die europäische Moderne. Sie stellen ein Erbe dar, das Europa nur um den Preis ignorieren kann, dass es sich selbst in Gefahr begibt. Sich die geschichtlichen und gegenwärtigen Verflechtungen ins Bewusstsein zu rufen, die zwischen Europa und der Welt außerhalb bestehen, erlaubt es uns, darüber im Sinne von Verbindungen statt von Differenzen nachzudenken, und, wichtiger noch: Es gestattet uns auch die Anerkennung der Tatsache, dass Europa noch nie eine reine, von Jahrhunderten des Kontakts mit anderen Regionen und Religionen ungebrochene Identität besessen hat. Ebenso wenig kann allerdings der Islam behaupten, er sei von anderen Religionen und Zivilisationen unberührt geblieben.

Jene, die die Historien und Erfahrungen aus Jahrhunderten des Kontakts und Austauschs zwischen Religionen und Regionen auslöschen wollen, suchen nach einer eingebildeten Reinheit, nach einer Authentizität, die es nie gegeben hat. Eine solche fundamentalistische Suche ist ebenso eine intellektuelle Bankrotterklärung, wie sie politisch gefährlich ist. Denn sie strebt nach einer Homogenisierung des Ichs und leugnet die ihm inhärente Pluralität, um das Selbst auf künstliche Weise zu vereinheitlichen. Salman Rushdie hat den provokativen Ausdruck »Bastardisierung« gebraucht, um auf die Vermischung hinzuweisen, die all unsere Gesellschaften und kulturellen Traditionen konstituiert. Wie uns Rushdies Protagonist Whisky Sisodia in »Die Satanischen Verse« in Erinnerung ruft, sind die Briten so vielem in ihrer eigenen Geschichte gegenüber ignorant, da sich das meiste davon in Übersee abspielte. Und es sind ebensolche Verengungen der Geschichte und Idee Europas gegenüber dem, was tatsächlich geschehen ist, und daher auch mit Blick auf das, was als und zu dem Kontinent zugehörig betrachtet wird, die uns – beispielsweise – dazu gebracht haben, die grundlegende Rolle zu übersehen, die der Islam in der europäischen Aufklärung gespielt hat. Gleichfalls übersehen haben wir dadurch allerdings auch die Tatsache, dass auch der Koran das Produkt einer antiken Vorzeit ist, die Teil der miteinander verflochtenen Geschichten vieler Religionen und kultureller Traditionen ist, die in fruchtbarem Dialog miteinander standen und Ideen voneinander übernahmen und sie austauschten, zwischen denen aber auch spannungsreiche Beziehungen bestanden. Heute wäre es viel wichtiger, sich auf das zu konzentrieren, was Europa und den Islam verbindet statt auf das, was beide trennt. Ein solcher Blick würde den islamischen Fundamentalisten ebenso wie den rechtsradikalen Parteien in Europa den Boden unter den Füßen wegziehen.

Lassen Sie mich meinen Vortrag mit einem provokanten praktischen Vorschlag beenden, der den Alpbacher Gründungsgedanken einer internationalen Universität ernst nimmt. Wie wäre es, wenn wir, anstatt zu fragen, was Europa die Welt lehren könnte, was es an »sanfter Macht« in den Rest der Welt exportieren könnte, die Frage umdrehen und stattdessen fragen: Was könnte Europa importieren? Und vor allem: Welche Infrastruktur wäre dafür erforderlich, solche Importe zu ermöglichen und zu domestizieren? Welches sprachliche, geschichtliche und kulturelle Wissen über andere Regionen würden wir benötigen, wenn wir nicht etwas über Afrika oder China lehren, sondern lernen wollen? Damit Sie mich nicht missverstehen: Ich plädiere hier nicht für die Schaffung von Räumen zur Selbstdarstellung fremder Regierungen durch die Schenkung von Professuren an europäische Universitäten (wir wissen um das Schicksal des von Gaddafi finanzierten Forschungszentrums an der LSE) oder die Einrichtung von Kulturinstitutionen, die von reichen Spenderländern, sei es China oder Saudi-Arabien, gesponsert werden. Vielmehr ist mein Argument eines, das sich für die Schaffung von Räumen eines kritischen intellektuellen Austauschs ausspricht, in denen wissenschaftliche und politische Themen mit und unter Wissenschaftlern und Intellektuellen aus der ganzen Welt kontrovers debattiert werden können.

Unsere Infrastruktur für die Produktion von Wissen über die Ökonomien, Historien, Kulturen und Politiken Chinas, Indiens, Brasiliens oder Südafrikas ist in einem beklagenswert unzulänglichen Zustand. In der Stadt London gibt es beispielsweise mehr Professorinnen und Professoren, die zu Indien forschen und lehren, als an allen Schweizer und österreichischen Universitäten zusammengenommen. Wir müssen von, durch und vor allem mit den Gelehrten in diesen Regionen lernen. Lassen Sie mich mit einem Zitat schließen, das Ihnen die Bedeutung dieses Arguments darlegen soll. Als Johann Georg Hamann bemerkte, dass er wieder einmal von Immanuel Kant missverstanden worden war, schrieb er an diesen: »Sie müssen schon mich fragen, nicht sich, wenn Sie mich verstehen wollen.« Und dies ist ein wertvoller Ratschlag für all jene im heutigen Europa, die die nichteuropäische Welt verstehen wollen.

Aus dem Englischen von Frank Lachmann

 

Alle kursiv gesetzten Passagen im Original deutsch (Anmerkung des Übersetzers).

María do Mar Castro Varela

»YOUR BODY IS A BATTLEGROUND«1

Die Burkini-Affäre, das barbarische Europa und der weibliche Körper

It is worth stressing, however, that the French Revolution did not simply introduce ideas of solidarity, democracy, and freedom into the modern world. Revolutionary armies sought to promote liberty, equality, and fraternity by conquest. The revolution inaugurated the age of modern empires, unleashing modern warfare, nationalism, racism, and genocide around the world. All of this is certainly part of »Christian« Europe’s history. (Talal Asad 2009: 26f.)

 

Der sozialpolitische Sicherheitswahnsinn erreicht seinen Höhepunkt: Im Sommer 2016 untersagen in Frankreich landesweit etwa 30 Kommunen den Burkini an ihren Stränden. Frauen, die die zweiteilige Bademode, die außer Händen und Füßen den gesamten Körper verhüllt, dennoch tragen, müssen nicht nur damit rechnen, dass sie eine Ordnungsstrafe zahlen müssen. Schlimmer noch: Sie werden zum Gespött der Öffentlichkeit und zuweilen von uniformierten und bewaffneten Polizisten umstellt und dazu gezwungen, sich der Burkinis zu entledigen, während die umliegenden Badenden die Polizei anfeuern und klatschen – so geschehen in Nizza. Kenneth Roth, Direktor von Human Rights Watch, bezeichnet dies als den »Gipfel der Absurdität«. Und in Korsika hat der sozialistische Bürgermeister, Ange-Pierre Vivoni, den Burkini mit den Worten verboten, es gelte »die Bevölkerung zu schützen«, nachdem es zu einem Zusammenstoß zwischen Christen und drei muslimischen Familien gekommen war (vgl. Guardian v. 24.8.2016).2

Kriegserklärungen und die Barbarisierung Europas

Die Burkini-Affäre, die zu Beginn wie ein schlechter Sommerloch-Scherz der Medien klang, ist tatsächlich symptomatisch für die toxische Atmosphäre, die sich in vielen Städten Europas zusammengebraut hat. Terroranschläge in Paris, Brüssel und Nizza, Amokläufe in deutschen Städten und unverhohlene alltägliche rassistische Gewalt vergiften den Alltag und haben nicht nur zur Folge, dass rechtspopulistische Parteien (etwa die AfD, die FPÖ oder der Front National) einen lang nicht gekannten Zulauf bei den europäischen Wähler/innen erhalten, sondern auch zahlreiche gewalttätige verbale Auseinandersetzungen in der Öffentlichkeit und den Medien. Das explosive Gemisch aus religiösen, patriotischen und rassistischen Diskursen wird in den Städten, so zumindest scheint es, immer sensibler. Ein (auch kleiner) Vorfall kann zu unkalkulierbaren Kettenreaktionen führen. Für People of Color in Europa bedeutet dies, dass sie mit einer Zunahme von rassistischen Übergriffen rechnen müssen, während anti-muslimische Töne gesellschaftsfähig werden – selbst in liberalen Kreisen. Kaum ein Tag vergeht ohne eine Meldung über einen Anschlag auf Geflüchtete, Migrant/innen und/oder jene, die als muslimisch markiert werden. Die hochbejubelte »Willkommenskultur« Deutschlands und Österreichs, so scheint es zumindest, wandelt sich Schritt für Schritt in eine »Hasskultur«.3 Gleichzeitig finden immer wieder Terroranschläge statt – oder werden befürchtet –, die die Destabilisierung der europäischen Städte und die Verbreitung von Angst und Schrecken zum Ziel haben und deren Täter sich oft offen als »IS-Kämpfer« bezeichnen (vgl. Castro Varela 2016). Bereits nach den IS-Terroranschlägen in Paris im November 2015, bei denen über 130 Menschen ums Leben gekommen waren, erklärte der amtierende Präsident François Hollande, Frankreich befände sich im Krieg, und rief den Ausnahmezustand aus. Der Generaldirektor der städtischen Dienste von Cannes, Thierry Migoule, begründete das Verbot des Burkinis mit den Worten: »Es geht nicht darum, das Tragen religiöser Symbole am Strand zu verbieten, sondern ostentative Kleidung, die auf eine Zugehörigkeit zu terroristischen Bewegungen hinweist, die gegen uns Krieg führen« (vgl. Spiegel Online, 12.8.2016). Gleichzeitig will der ehemalige konservative Präsident Nicolas Sarkozy ein Gesetz gegen das Tragen der Burkinis erlassen und wird dabei durch Frankreichs aktuellen Premierminister Manuel Valls (selbst Sohn von Einwanderern) sekundiert, der behauptet, dies bedeute nicht, »die individuelle Freiheit infrage zu stellen, sondern einen tödlichen und rückschrittlichen Islam zurückzuweisen« (ebd.).

Wie Elfriede Jelineks Stück »Wut« so stark, provokant und durchdringend skizziert: Ob PEGIDA, Religionsverfechter oder -verächter, die Wutbürger/innen kommen aus allen nur möglichen Ecken – und sie kommen zu Wort. Nicht immer ist sogleich klar, wer gerade spricht, denn »das wütende Subjekt [kann] jederzeit switchen, kippen oder in der eigenen Sprechblase ausrutschen« (Wahl 2016: o.S.). Wir erinnern uns an die Tumulte in der Kölner Philharmonie bei der Aufführung von Steve Reichs Piano Phase von 1967 durch den iranischen Musiker Mahan Esfahani, dem gleich zu Beginn des Konzerts wütend zugebrüllt wurde, er solle gefälligst Deutsch reden, als er das Stück auf Englisch einführte. Drei Monate nach der berühmt-berüchtigten Silvesternacht von Köln, in der mutmaßlich von männlichen Migranten sexistische Angriffe auf Frauen ausgeübt wurden, toben die Bildungsbürger/innen in der Philharmonie und erreichen, dass das Konzert abgebrochen werden muss. Einige Kommentatoren sprechen daraufhin wohl zu Recht von einer Barbarisierung, »wie sie ins Ende der Weimarer Republik gepasst hätte« (Hagedorn 2016: o.S.). Und das gerade in Köln, wie der ZEIT-Redakteur Volker Hagedorn bemerkt: einer Stadt, die lange Zeit als Mekka der avantgardistischen Musik galt, der Wirkstätte keines Geringeren als Karlheinz Stockhausen (ebd.). Was ist bloß los in Eu-ropa? Welche Wut schafft sich hier Raum? Wie kann eine Bademode oder ein Konzert eines iranischen Musikers so viel Hass und Wut freisetzen?

Der weibliche Körper als ideologischer Kampfplatz

Dass die Bedeckung des weiblichen Körpers in der Öffentlichkeit zur Provokation gerät und zum Sicherheitsrisiko deklariert wird, ist dabei nur eine von vielen sichtbaren Symptomen einer sich selbst pathologisierenden europäischen Gesellschaft, die sich unter Angriff sieht. Nach Entscheidung des Staatsrates, des obersten Verwaltungsgerichts Frankreichs, ist dieses Verbot nicht rechtens, so dass eigentlich nun wieder Burkinis getragen werden dürfen, doch trotz dieser im Grunde bindenden Entscheidung wollen etliche Kommunen Burkinis nicht an ihren Stränden sehen, darunter Nizza und Fréjus an der Côte d’Azur (siehe Standard v. 27.8.2016).4 Marine Le Pen, Vorsitzende des rechtspopulistischen Front National, wertete das Urteil des obersten Verwaltungsgerichts nicht nur als bedauerlich, sondern bemerkte zudem, dass es darum gehe, die Frauen und die Laizität Frankreichs zu schützen (ebd.). Rationalisiert wird diese irrwitzige Argumentation innerhalb eines Sicherheitsdiskurses – Verbot von spezifischer Kleidung als Schutz vor Terroranschlägen. Wer kann oder will einer solchen Argumentationslogik noch folgen?

In Deutschland hat das Leipziger Verwaltungsgericht im Jahre 2013 erlassen, dass muslimische Schülerinnen am koedukativen Schwimmunterricht teilnehmen müssen, denn sie könnten dabei einen Burkini tragen, womit der Religionsfreiheit zur Genüge Rechnung getragen würde. Laut Spiegel Online vom 11.9.2013 ist es »in deutschen Großstadtschulen … längst Alltag, dass muslimische Schülerinnen beim Baden einen Burkini tragen« (Hipp / Popp 2013: o.S.). Die einen verbieten das Tragen von Burkinis; von den anderen wird die Existenz von Burkinis als Argument genutzt, um ein religiöses Verbot auszuhebeln. An keiner Stelle geht es freilich um die Frage der weiblichen Handlungsmacht. Hier ist der Kommentar von Eckhard Fuhr in der WELT vom 13.9.2016 bezeichnend:

Von dem Verhüllungszwang wird nichts zurückgenommen. Aber mit der Endung »ini« bekommt das so einen harmlos-lustigen Multikulti-Dreh. Das geht doch alles, der Koran und die Koedukation, die Scharia und die Schulpflicht. Ich finde, das geht gar nicht. … Es ist nur zu hoffen, dass sich bei der Mehrheit der muslimischen Eltern die Einsicht durchsetzt, dass für ihre Töchter ein normaler Badeanzug das Beste ist. Darin lernt es sich nicht nur leichter schwimmen, sondern auch in diesem Land zu leben als stolze muslimische Frau.
(Fuhr 2013: o.S.)

Auch in Anbetracht der zunehmenden anti-muslimischen Gewalt kann hier wohl nur zynisch geantwortet werden: Gut, dass der WELT-Redakteur Fuhr weiß, wie es sich »als stolze muslimische Frau« in diesem Land lebt.

Interessanterweise wurde der Badedress von der libanesisch-australischen Designerin Ahiida Zanetti entworfen, nachdem in Australien Musliminnen als Rettungsschwimmerinnen zugelassen worden waren. Diese stehen mit Surfbrettern bereit, um an den Stränden Australiens Menschen zu retten, die beim Schwimmen im Meer in Not geraten sind. Zanetti zufolge steht der Burkini, der übrigens in den USA als Splashgear verkauft wird, auch deswegen für Freiheit, Flexibilität und Selbstbewusstsein (vgl. Sydney Morning Herald v. 20.8.2016).5 Und schon lange wird der Burkini nicht mehr nur von muslimischen Frauen getragen. Die Bademode wird aus unterschiedlichen Gründen erworben. Den Körper am Strand zu verdecken, kann religiöse Gründe haben, aber auch Hautkrebserkrankungen beispielsweise erlauben es nicht, die Freuden eines Sommerbadeurlaubs am Strand zu genießen, wenn nur ein Bikini als Kleidung infrage kommt. Nicht zufällig führt eine erste grobe Internetrecherche zu Burkinis auf die Website »rabatt99.de«, auf der insgesamt 125 Treffer ausgewiesen werden: Burkinis in verschiedenen Farben, Designs und Größen sind hier günstig zu erwerben. Burkinis sind lange schon ein ganz normaler Kleidungsartikel, der in unterschiedlichen Qualitäten zu kaufen ist. Ein Produkt, das sich einer immer größeren Kundinnenzahl erfreut. Und so verwundert es nicht, dass Zanetti und viele andere die Verbote in Frankreich und Korsika als dumm und nicht nachvollziehbar bezeichnen. Das republikanische Frankreich macht sich in der Tat zum Narren. Doch sind die Debatten um das Für und Wider eines Verbotes des Burkinis – wie auch der Verschleierung in der Öffentlichkeit –, die in fast allen großen europäischen Städten geführt werden, durchaus komplexer und dichter. Es handelt sich eher um symbolische Kämpfe, die erbittert um Religion, Zugehörigkeit und ein bestenfalls problematisches europäisches Selbstverständnis kreisen, die hier an die Oberfläche gespült werden. Wir haben es mit einem diskursiven Netz zu tun, welches mit einer Diskussion um die Frage von Klugheit genauso wenig begreifbar ist, wie es auch nicht unter der Akte »Toleranz« vollständig dokumentierbar ist. Im Gegenteil, im Grunde zeigt das absurde Theater rund um den Burkini lediglich, wie fragil die (europäische) Toleranz ist, ja, immer war. Toleranz vis-à-vis der Anderen wird gezeigt und entzogen, beschnitten, bemüht und verschmäht. Toleranz ist eher politische Waffe denn ethische Praxis. Die Lücke zwischen Recht und Gerechtigkeit vergrößert sich vor unseren Augen und deutet auf ein viel gewichtigeres Problem – eine veritable Krise der Demokratie. Plötzlich wird wieder der »Schutz des Volkes« als Legitimation von Gewalt – struktureller wie körperlicher – hervorgezaubert. Wenn das »eigene Volk« in Gefahr ist, scheint es erlaubt, jene, die als Feinde ausgemacht werden, unmenschlich zu behandeln. Humanität und Humanismus stehen mal wieder zur Disposition. Nur die, die nicht unter historischer Amnesie leiden, wissen, dass dies in Europa – und von Europa ausgehend – nichts wirklich Neues ist. Umso beunruhigender ist die toxische Atmosphäre, die die Städte Europas im Griff zu haben scheint.

Es ist nicht das erste Mal in der Geschichte Europas, dass Badebekleidung die öffentliche Debatte anheizt. Ironischerweise hat auch die Einführung des Bikinis im Jahre 1946 in vielen Ländern zu polizeilichen Verordnungen geführt6 – etwa in Spanien (unter Franco) oder Portugal (unter Salazar). Im Jahre 1949 wurde der Bade-Zweiteiler von der französischen Polizeipräfektur zwar am Mittelmeer erlaubt, gleichzeitig aber an der französischen Atlantikküste verboten. Den einen galt das von einem US-amerikanischen Automechaniker – später Modeschöpfer – designte Bademodell als frivol und anstößig, den anderen als Zeichen der Emanzipation (vgl. Berger 2004). Heute gilt der Bikini in Europa als eine »normale Bademode«, die weder Anstoß noch besondere Aufmerksamkeit erregt.

In der Debatte um den Burkini gerät nun erneut der weibliche Körper zum ideologischen Kampfplatz, wieder geht es um »Freiheit« vs. »Anstößigkeit«, allerdings mit umgekehrten Vorzeichen. Ziemlich genau 70 Jahre nach der Bikini-Debatte gilt nun das Verhüllen des weiblichen Körpers in der Öffentlichkeit als ebensolche Zumutung, wie es damals das Entblößen war.

Freilich ist dieser Diskurs schon aus kolonialen Zeiten gut bekannt. Wie etliche postkoloniale Studien zeigen (etwa McClintock 1995; siehe auch Castro Varela / Dhawan 2015), wurden im Namen der kolonialen Zivilisierungsmission kolonisierte Länder gerne als frauenverachtend markiert. Eine Markierung, die den kolonialen Herrschern ein wichtiges Legitimierungsnarrativ für imperialistische Taktiken bereitstellte. »Das Image des Imperialismus als Begründer der guten Gesellschaft«, schreibt Gayatri Spivak in ihrer bekannten und vielrezipierten Schrift Can the Subaltern Speak?, »trägt die Markierung des Eintretens (…) für die Frau als Objekt des Schutzes vor ihrer eigenen Art.« (Spivak 2008/1984: 84) Auch in der Burkini-Debatte sind die »Andere Frau« und ihre vermeintliche Diskriminierung durch die »eigene Kultur« die Protagonistinnen eines politischen Spektakels. Die Andere Frau, so wird suggeriert, bedarf der Rettung durch die europäischen Männer (und Frauen). Was bei dieser Analyse vernachlässigt wird, ist die Tatsache, dass das weibliche Subjekt im Rettungsdiskurs seiner Handlungsmacht beraubt und zum Objekt degradiert wird, während es gleichzeitig Europa damit gelingt, sich als ethisches und aufgeklärtes Subjekt neu zu erfinden. Wieder einmal buchstabiert sich Europa als humanistisch, tolerant und emanzipiert aus, während der Rest der Welt erneut und immer wieder als barbarisch und rückständig repräsentiert wird. Dies ist ein allzu bekannter Prozess, der dem imperialistischen Europa die Herstellung eines positiven Selbstimages ermöglicht(e) und die eigene Gewalttätigkeit rechtfertigte. So stellt die Berliner Islamwissenschaftlerin und Politologin Schirin Amir-Moazami pointiert fest:

Bei den endlosen Kopftuchdebatten etwa könnten wir dann fragen, warum am entblößten Körper kaum noch Anstoß genommen wird oder an sexualisierter Öffentlichkeit, die feministische Befindlichkeiten der Vermarktung und Objektivierung des (weiblichen) Körpers eigentlich provozieren müsste, während der verhüllte Körper schlechthin zum Kompaktsymbol für weibliche Unterdrückung avanciert ist. Wir müssen dann auch fragen, wie das Säkulare als distinkter Machtmodus (als Trennungspraktik von Religion und Politik) auch mit Konventionen von Sichtbarkeit, Transparenz und Kontrolle des Körpers Bestandteil liberaler Normen ist oder inwieweit auch das feministische Subjekt der Freiheit durchaus normproduzierend ist. (Amir-Moazami 2016: 35)