PROLOG

Nachts sieht der Ozean anders aus. Geheimnisvoller. Gefährlich.

Trotz der kühlen Luft treibt eine Nebeldecke sanft an der Oberfläche. Das Wasser bewegt sich langsam, aber gleichmäßig, die Flut strömt gierig auf das Festland zu. Ein kleiner Strand trennt das Meer vom Ufer. Hinter dem Wasser und dem dichter werdenden Nebel lugen durch einen dunklen Schleier die Umrisse von Gebäuden und das schwache Schimmern der Stadtlichter hervor.

Dicht unter den Wellen, wegen der Dunkelheit und des Nebels kaum zu erkennen, bewegt sich etwas lautlos auf die Küste zu. Verborgen im schattigen Wasser der Nacht, weder Fisch noch Mensch, taucht es dennoch mit der Anmut und der rohen Kraft eines großen Hais vorwärts. Eine Kreatur, die sich ihren Weg durch den Ozean mit einem Selbstvertrauen bahnt, das Raubtieren vorbehalten ist, die seit Millionen von Jahren keinen natürlichen Feind haben.

Etwas, das einer menschlichen Hand ähnelt – die Finger sind lang, gekrümmt und mit Schwimmhäuten versehen – dringt an die Wasseroberfläche und streift aus Versehen die letzte Boje vor der Küste. Die Glocke an ihrer Spitze scheppert und hallt durch die Dunkelheit, der einzige Laut in einer ansonsten geradezu unheimlich stillen Nacht.

Während es sich dem Ufer nähert, wird das Wasser flacher, und seine Füße berühren den Boden. Seine Zehen finden in dem feuchten, dunklen Sand Halt. In einer einzigen fließenden und gebieterischen Bewegung richtet es sich ganz auf und sein Körper bricht durch die Wasseroberfläche. Von den Armen und dem Oberkörper tropft Salzwasser, an seinem Torso hängen Seetang und Unrat.

Das Mondlicht ist schwach, aber selbst inmitten der Schatten ist es offenkundig, dass das Wesen eine Metamorphose von einem Meeresbewohner zu einer Kreatur durchgemacht hat, die besser für das Leben an Land geeignet ist. Die klauenartigen Hände und Füße mit den Schwimmhäuten sind verschwunden, ebenso die schwarzen Augen, der missgestaltete Kopf, die glatten Ohren, der Schwanz, die Schuppen und die Kiemen. Von all dem ist nichts mehr zu sehen, menschliche Merkmale sind an seine Stelle getreten.

Das Wesen geht auf den Strand zu, wischt dabei den Tang vom Körper und wirft ihn zurück ins Meer. Auch die Abfallreste entfernt es von seinem nackten Körper. Sein Gang ist eindeutig feminin und verführerisch. Als es seinen Kopf schüttelt, löst sich sein Haar und fällt über die nun zierlichen, weichen Schultern. Lange, nasse Haarsträhnen hängen über großen Brüsten, die in dem dämmrigen Licht kaum zu sehen sind.

Es bleibt stehen und nimmt einen Augenblick lang seine Umgebung in sich auf. Die Nase zuckt. Der Blick ist starr. Der Kopf ist gebeugt, während es lauscht und wahrnimmt. Der Nebel wabert umher und bewegt sich wie Rauch, der das Wesen umschlingt. Dabei ist es nicht mehr nötig, sich zu verstecken. Sollte jemand das Wesen jetzt sehen, würde er nichts anderes als eine nackte, äußerst attraktive Schwimmerin erblicken.

Dies ist der Ort, denkt es. Denkt sie. Dies ist der Ort, nach dem ich gesucht habe. Hier hält er sich auf. Irgendwo dort draußen zwischen den wenigen Lichtern der ansonsten dunklen Stadtlandschaft wartet derjenige, für den sie gekommen ist. Im Moment ist ihr nur kaum bewusst, was er ist, was sie ist, was geschehen wird. Was geschehen ist.

Seinetwegen.

NEUN

Er weiß noch, dass er eine Weile im Schnee wartete, festgefroren in jener verlassenen Straße. Obwohl er aufs Tiefste erschüttert war, brach die Kälte schließlich seine Trance. Er suchte die Gegend noch einmal nach Geistern oder Zeichen ab, entdeckte allerdings nichts. Die Welt war blass, eisig und schrill zurückgekehrt. Ihre Geheimnisse waren in den Irreführungen des Alltags versteckt.

Nach einer weiteren Busfahrt und ein paar Häuserblocks zu Fuß findet sich Dignon vor dem Eingang von Borges Lane Nummer 36 wieder. Bree wohnt in Apartment 18, hat sie ihm gesagt.

Er gibt sich alle Mühe, die Erinnerung an den Geist seines Vaters aus seinem Verstand zu spülen, aber das ist leichter gesagt als getan, denn sie ist ein hartnäckiges Phantom. In seiner Manteltasche schließt sich Dignons Hand fest um eine Plastikdose. Darin ist rezeptpflichtiges Valium, das ihm der Arzt zusammen mit den Antidepressiva gegeben hat. Angesichts seines Herzrasens und der leichten Kopfschmerzen, die im hinteren Teil seines Schädels lauern, ist Dignon der Meinung, eine Valium könnte jetzt durchaus eine gute Idee sein. Er ist sich nicht sicher, ob er Bree ohne Valium gegenübertreten kann und hat Angst, dass er ansonsten eine Weile auf das Gebäude starren und dann umkehren und nach Hause gehen wird.

Die Stimmen in seinem Kopf werden lauter und reagieren auf den Gedanken, indem sie jeden vorstellbaren Grund erforschen, weshalb er das Haus nicht betreten sollte, und jede Katastrophe, die eintreten könnte, falls er es doch macht. Er weiß, dass er schwach werden und umkehren wird, wenn er nicht einen Weg findet, die Stimmen entweder zum Schweigen zu bringen oder zu ignorieren. In der Vergangenheit ist ihm das Gleiche zahllose Male in weitaus trivialeren Situationen passiert.

Entspann dich, sagt sich Dignon. Atme.

Ohne sie aus seiner Manteltasche hervorzuholen, schnippt Dignon das Döschen auf und schüttelt eine einzelne Pille heraus. Er sammelt etwas Speichel an, schiebt die Pille lässig auf seine Zunge und zwingt sie mit einem Schlucken nach unten.

Er blickt zurück auf die Straße und wird das Gefühl nicht los, dass ihm jemand folgt, seit er aus dem Bus gestiegen und die restlichen Blocks bis zu Brees Haus gegangen ist. Vielleicht Kyle, überlegt er. Wahrscheinlich, denn wer sonst würde ihm folgen? Keines der Gesichter, die an ihm vorbeiziehen, wirkt vertraut oder scheint ihm besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Was auch immer ihn dort draußen beobachtet, es hält sich gut versteckt.

Das Geräusch einer sich öffnenden Tür lenkt seine Aufmerksamkeit wieder auf das Gebäude zurück. Ein Mann, der nach draußen tritt, wirft ihm ein rasches Lächeln zu und hält die Tür einen Moment lang fest. »Gehen Sie rein?«

Dignon streckt die Hand aus und greift nach der Tür. »Ja, danke.«

Im Inneren ist das Gebäude so eintönig und fantasielos wie von außen. Alles ist in einem industriellen Braun gehalten. Gegenüber einer Reihe von Briefkästen befindet sich ein Fahrstuhl. Rechts davon führt eine Tür zum Treppenhaus.

Dignon wählt die Treppe.

Nachdem er mehrere Stockwerke erklommen hat, findet er sich in einem langen, dunklen Korridor wieder. Das einzige Licht stammt von einem Fenster am gegenüberliegenden Ende des Ganges. Er geht zur Nummer 18. Er steht davor, beobachtet den Spion in der oberen Mitte der Tür und überlegt, ob Bree sich auf der anderen Seite befindet und nach draußen guckt. Um den Türgriff ist ein rotes Weihnachtsband geschlungen. Hinter der Tür kann er ganz leise Musik hören und andeutungsweise Bewegungen.

Dignon klopft an.

Das Geräusch von Bewegungen kommt näher und die Tür schwingt auf.

»Hey!« Bree begrüßt ihn mit einem umwerfenden Lächeln. »Hast du gut hierher gefunden?«

Dignon erwidert ihr Lächeln. »Yeah, kein Problem«, sagt er und tritt in die Wohnung. Er holt Mystische Wesen in einer sterblichen Welt aus seiner Manteltasche und reicht es Bree. »Bevor wir es vergessen, hier ist dein Buch.«

»Stimmt, den Teil vergessen wir immer!« Sie nimmt das Buch entgegen und verdreht spielerisch die Augen. »Ist dieser Schnee nicht irre?«

»Da draußen schneit’s immer noch ziemlich heftig.«

»Kann ich dir etwas anbieten?«, fragt sie und eskortiert ihn weiter in die Wohnung. »Ich habe gerade eine Flasche Merlot aufgemacht, du magst den doch auch?«

»Klar.«

Die Wohnung ist makellos sauber und hübsch eingerichtet. Ein frischer Geruch liegt in der Luft, als wäre alles vor Kurzem mit einem gut riechenden Reinigungsmittel abgewischt worden. Obwohl es sich um einen einfachen und nicht furchtbar originellen Wohnraum handelt, hat Bree eine Menge unternommen, um ihn so ansprechend wie möglich zu machen. Die Musik, die leise spielt, ist von der New-Age-Machart, fließend und ätherisch. Sie wabert aus dem ersten Zimmer heraus, einem Wohnzimmer, das geschmackvoll eingerichtet ist und einen Fernseher, eine Stereoanlage, eine Couch und ein paar Stühle aus Eichenholz mit passendem Couchtisch beinhaltet. Auf dem Couchtisch liegt neben einer ganzen Reihe von Krimskrams ein ausgeschalteter und zugeklappter Laptop. Die Kunstwerke an den Wänden sind billige Poster in Rahmen, aber stilvoll, hauptsächlich Drucke impressionistischer Werke von Monet. Ein bescheidener, aber echter Weihnachtsbaum steht in der Ecke. Er ist lückenlos mit silbernem Lametta und winzigen weißen Lichtern geschmückt.

Bree führt ihn durch eine weitere Tür in die Küche, wo sie von einem kleinen Tisch, der für zwei Leute gedeckt ist, und zwei Stühlen begrüßt werden. Auf dem Tisch befinden sich Stoffservietten und Unterlagen, bezahlbare Nachbildungen von Designer-Geschirr und Weingläser. An der hinteren Wand, über dem Spülbecken, blickt man durch zwei große Fenster auf’s Meer hinaus. Selbst durch das Wirrwarr des herunterrieselnden Schnees ist die Aussicht wunderschön.

»Sieht das nicht toll aus?« Sie zeigt auf die Fenster. »Wegen dieser Aussicht habe ich mich für diese Wohnung entschieden. Manchmal ist es absolut atemberaubend.«

Er kann spüren, wie sich das Valium langsam in ihm breitmacht. »Die ganze Wohnung ist schön.«

»Danke.« Bree geht zur Arbeitsplatte, um die Flasche Wein zu holen. Sie ist lässiger gekleidet als beim letzten Mal, aber dennoch schafft sie es, in einer alten Levis, Cowboystiefeln und einem violetten Pulli schick auszusehen. Ihr Haar ist hochgesteckt und wird von einem Gummi in derselben Farbe festgehalten. Obwohl ihr Make-up dezenter ist als zuvor, verringert es ihre natürliche Schönheit nicht, sondern erhöht sie nur noch. Sie schenkt Wein in sein Glas ein und reicht es ihm.

»Ich war mir nicht sicher, was du gerne isst, also habe ich mich für Hühnchen entschieden. Ich habe mir gedacht, dass doch jeder gerne Hühnchen mag, oder? Bitte sag mir, dass du Hühnchen magst.«

»Ich mag Hühnchen.« Obwohl er sich schon etwas benommener fühlt als ihm lieb ist, nippt er an dem Wein. Benebelt ist besser als in Panik zu geraten.

»Es ist eine Art italienischer Hühnchensalat«, erklärt sie und schenkt sich selber Wein ein, bevor sie die Flasche wieder zurückstellt. »Ich mache ein Dressing aus Olivenöl und Balsamico-Essig, darin brate ich kleine Stücke vom Huhn, ohne Knochen, kurz an, und gebe Knoblauch, kleingehackte Zwiebeln und Oregano dazu. Das kommt dann auf frischen Salat, dann streue ich geriebenen Käse darüber und noch mehr von dem Dressing. Ein leicht zu machendes Gericht und es schmeckt sooo gut!«

»Klingt super«, sagt er. Dann wird ihm klar, dass er immer noch grinst und lässt sein Lächeln verschwinden.

»Das Essen ist bereits zubereitet und kühlt gerade im Kühlschrank ab. Ich serviere es kalt. In ein paar Minuten sollte alles fertig sein, okay?« Sie deutet auf die Stühle. »Setz dich.«

Er sieht, wie sie das Heftpflaster an seinem Finger bemerkt und ihr Blick etwas länger darauf verharrt, als es eigentlich notwendig wäre. Zum Glück fragt sie ihn nicht danach. Er lässt sich auf einem der Küchenstühle nieder. Sie lehnt weiterhin gegen die Arbeitsplatte. Aus Gewohnheit sieht er sich nach einem Hund oder einer Katze um. »Hast du Haustiere?«

»Nein, ich hätte gerne welche. Ich liebe Tiere. Aber bei meinen ganzen Umzügen ist es nicht machbar. Tiere brauchen einen festen Anlaufpunkt, ein Zuhause, so wie auch Kinder. Alles andere ist nicht fair ihnen gegenüber.«

Dignon merkt, dass sie aus Erfahrung spricht, und ihm fällt ein, dass sie bei ihrem letzten Treffen von ihrer unsteten Kindheit gesprochen hat. »Ich habe einen Kater«, erzählt er. »Ich habe ihn schon seit Jahren. Kommt mir wie eine Ewigkeit vor, ich kann mir nicht vorstellen, ohne ihn zu leben.«

»Ihr Jungs müsst einander nahestehen. Wie heißt er?«

»Mr. Tibbs.«

»Fan von Sidney Poitier, was?«

»Viele Leute kommen nicht darauf.«

»Ich bin ein Filmfan. Ich mag vor allem die älteren Hollywood-Filme.«

»Ich auch. In der Hitze der Nacht ist einer meiner Lieblingsfilme.«

Brees Augen weiten sich, als sie einen Schluck Wein nimmt, und sagt dann in ihrer besten Poitier-Stimme: »Man nennt mich Mister Tibbs!«

Sie lachen beide. Das Lachen kommt von Herzen, und Dignon spürt, wie sich eine Wärme in ihm ausbreitet, während sein Körper und sein Verstand sich entspannen. Seine übliche Verlegenheit wird schwächer.

»Danke für die Einladung«, sagt er leise, »also, zum Mittagessen und so.«

Bree spitzt ihren Mund, als müsse sie sich das Lachen verkneifen.

»Was ist?«, fragt er.

»Nichts, du bist bloß süß, das ist alles. Bist du noch nie von jemandem zum Mittagessen eingeladen worden?«

»Schon seit Langem nicht mehr.«

»Tja, ob du’s glaubst oder nicht, normalerweise lade ich Männer, die ich nicht kenne, nicht in meine Wohnung ein. Aber ich folge meistens meinen Instinkten, und sie sagten vom ersten Augenblick an, als ich dich traf, dass du ein netter Typ bist und niemand, vor dem ich mich fürchten oder wegen dem ich mir Sorgen machen müsste. Ich habe einfach diese sofortige ... ich weiß nicht ... Verbindung, das ist es wohl, gespürt. Du kamst mir wie ein alter Freund vor und nicht wie jemand, den ich gerade erst kennengelernt habe.«

Sie vollführt eine leichte Kreisbewegung mit ihrem Glas. Der Wein schwenkt im Inneren des Glases umher. »Habe ich also recht? Bist du so lieb wie du mir vorkommst?«

»Ich fürchte schon.«

»Siehst du? Es lohnt sich immer, sich auf die Instinkte zu verlassen. Alles geschieht aus einem bestimmten Grund.«

»Du meinst Schicksal?«

Sie nickt. »Ich glaube eigentlich nicht an Zufälle. Ich schätze, dass es sie schon von Zeit zu Zeit gibt, aber ich glaube, dass die Dinge meistens genau so passieren, wie sie auch passieren sollen. Ich sollte mein Buch verlieren, und du solltest es finden. Und deswegen waren wir dazu bestimmt, uns kennenzulernen. So einfach ist das.«

»Ich hoffe, dass du recht hast.«

»Ich weiß, dass es leicht ist, so einen Glauben als Wunschvorstellung abzutun. Trotzdem wäre die Welt weitaus interessanter, wenn alles eine Bedeutung hätte, oder? Ansonsten ist alles sinnlos, und alles ist nur zufällig. Ich kann mir eine Welt ohne jeglichen Sinn nicht vorstellen, ein Leben ohne Bedeutung. Das wäre ein furchtbar grausamer Scherz auf unsere Kosten, findest du nicht auch?«

»In der Welt gibt es zu viel Schönes, als dass alles zufällig sein könnte.«

Bree schien seine Entgegnung abzuwägen, bevor sie näher darauf einging. »Du bist ein nachdenklicher Typ, Dignon. Ich wette, dass du etliche Dinge spürst und bemerkst, die den meisten Leuten gar nicht auffallen.«

In seinen Wangen breitet sich Wärme aus. »Manchmal.«

»Ich bin genauso. Ich kann sehr sensibel sein. An manchen Tagen überwältigt es mich richtig, verstehst du, was ich meine?«

Er versteht. Er nickt, schlürft seinen Wein.

Eine Zeit lang schweigen sie.

Ebenso wie er eine viel provisorischere Wohnung erwartet hatte, hatte er auch damit gerechnet, dass er sich im Gespräch wie üblich ungeschickt und nervös anstellen würde, sobald er hier ist. Aber er kann sich nicht daran erinnern, wann er zum letzten Mal in einer neuen Umgebung oder in einer Situation mit jemandem, den er nicht kannte, so entspannt gewesen ist. Dennoch ruft die Leichtigkeit, mit der sich Bree bewegt, mit ihm redet und mit ihm umgeht, gemischte Gefühle in ihm hervor. Er freut sich, und doch ist er unsicher. Kann er ihr trauen, und sollte er das? Warum ist sie so nett zu ihm?

»Ich wollte eigentlich keine so ernsten Themen ansprechen«, sagt Bree plötzlich und schiebt sich von der Arbeitsplatte weg. »Manchmal bin ich eine richtige Langweilerin.«

»Überhaupt nicht. Es ist irgendwie nett, zur Abwechslung auch mal ein anständiges Gespräch zu führen.«

Sie trinkt ihren Wein aus und stellt das Glas auf den Tisch. Ihr Gesichtsausdruck verrät, dass sie dazu noch weitere Gedanken hat. »Ja, da hast du recht.« Sie wirbelt rasch um die eigene Achse und steht vor der Kühlschranktür, die sie öffnet. Aus dem obersten Regal entnimmt sie zwei Salatteller.

Schon sitzen sie einander gegenüber und essen ihre Salate mehr oder weniger schweigsam. Wenn sie reden, dann ist es Small-Talk. Im Zimmer nebenan spielt leise Musik. Der Wind pfeift hinter den Hausmauern, und gelegentlich dringen Geräusche von anderen Leuten oder irgendwelchen Vorgängen im Haus zu ihnen durch.

»Köstlich«, sagt Dignon.

»Ich bin froh, dass es dir schmeckt.« Bree schenkt ihnen beiden mehr Wein ein. »Also, erzähl mir was von dir.«

Er gräbt in seinem Verstand und versucht, sich an ihr vorheriges Gespräch in dem Café zu erinnern und daran, was er ihr bereits gesagt hat. »Da gibt es nicht wirklich viel zu erzählen.«

»Hast du Geschwister?«

»Eine Schwester. Sie lebt hier in der Stadt. Du?«

»Ich bin ein Einzelkind. Meine Eltern sehe ich mittlerweile nur noch selten. Sie sind Rentner und leben jetzt in Miami.« Bree mampft Salat. »Es muss schön sein, eine Schwester zu haben.«

»Ja, ist es.«

»Und deine Eltern?«

»Sie sind tot.« Er wünscht sich sofort, sich etwas feinfühliger ausgedrückt zu haben.

»Oh, das tut mir leid.«

»Braucht es nicht, sie sind schon vor langer Zeit gestorben. Mein Vater starb vor fünfzehn Jahren und meine Mutter schon vorher.«

»Das muss schrecklich für dich gewesen sein.«

Dignon zögert das Unausweichliche hinaus, indem er einen weiteren Bissen Salat zu sich nimmt. »Nicht so schlimm, wie du vielleicht glaubst. Ich habe meine Mutter nie kennengelernt, und mein Vater und ich standen uns nicht nahe.«

»Wie schade.« Sie legt ihre Gabel auf den Tisch und rutscht ein Stück auf ihrem Stuhl zurück. »Ich bin immer einigermaßen gut mit meinen Eltern zurechtgekommen. Ich schätze, ich habe Glück gehabt.«

»Allerdings. Mein Vater hat mich gehasst.«

»Hass ist ein starkes Wort.«

Er bringt ein höfliches Lächeln zustande. Etwas in ihm drängt ihn, weiterzusprechen, sie einzuweihen, ihr Dinge zu erzählen, die er niemand anderem je erzählt hat und an die er sogar sich selber nur selten zu denken erlaubt. Er fühlt sich auf unheimliche Weise entspannt.

»Als meine Mutter starb, zerbrach mein Vater. Sie war sein Ein und Alles. Ihr Tod zerstörte ihn. Er erholte sich niemals davon. Er hasste das Leben, er hasste Gott, die Welt, und alle, die darin lebten. Aber mich hasste er am meisten.«

»Wie konnte er sein eigenes Kind hassen?«

»Er gab mir die Schuld am Tod meiner Mutter.«

»Warum um alles in der Welt gab er dir die Schuld?«

Dignon wischt sich mit der Stoffserviette sorgfältig Salatdressing aus dem Mundwinkel. »Weil ich derjenige bin, der sie umgebracht hat.«

Eine Weile später, nachdem sie den Salat aufgegessen und ihre Weingläser wieder aufgefüllt haben, ziehen sie sich ins Wohnzimmer zurück. Dignon sitzt auf der Couch. Bree sitzt völlig gelassen neben ihm. In ihrer Gegenwart kommt er sich vor wie ein Jungendlicher, als wäre er in eine unschuldigere Zeit zurückgereist, in der ein Mädchen, das dicht neben einem saß, nervöses Schwitzen oder peinliche Unsicherheiten verursachte. Die emotionale Reaktion ist dieselbe, aber körperlich bleibt er ruhig und entspannt.

Bree stellt ihm viele Fragen. Dignon gibt sein Bestes, sie alle ehrlich zu beantworten. Er erzählt, dass seine Mutter an einem massiven Blutsturz starb, während sie ihn gebar. Obwohl Bree sehr einfühlsam ist, wirkt sie auch seltsam fasziniert. Sie scheint vor allem daran interessiert zu sein, wie dieses Ereignis sein anschließendes Familienleben beeinflusst hat. Dignon stellt seine frühen Jahre so dunkel wie sie waren dar, bleibt aber eher allgemein, ohne das ganze Ausmaß dessen zu enthüllen, wie weit sein Vater manchmal gegangen ist.

»Mein Gott«, sagt sie. »So aufzuwachsen, mit einem Vater, der dir die Schuld gibt, während du ohnehin selber mit der Tatsache umgehen musst, dass deine Mutter bei der Geburt starb, das ist ... ich meine, ich ... kann mir gar nicht vorstellen, wie das für dich gewesen sein muss. Du musst eine furchtbar unglückliche Kindheit gehabt haben.«

»Sie war nicht leicht.«

»Aber du hast doch wohl irgendwann verstanden, dass du nicht den Tod deiner Mutter verursacht hast?«

»Als ich etwas älter war, kam ich besser damit zurecht. Aber es ist, wie es ist.«

»Hat dein Vater dich auch auf sonstige Weise missbraucht, Dignon?«

Er blickt nach unten in seinen Merlot. »Also, ich ... lass uns über etwas anderes reden, ja?«

»Ich wollte dich nicht aus der Fassung bringen.« Ihre Hand ruht auf seiner. »Ich weiß, dass wir einander noch nicht sehr gut kennen, aber du sollst wissen, dass alles in Ordnung ist. Ich selber finde es immer einfacher, mich jemandem anzuvertrauen, den ich nicht so gut kenne. Vielleicht liegt es an der Art, wie ich lebe, mit den ganzen Umzügen, wer weiß? Aber ich habe festgestellt, dass es so manchmal leichter ist, und das Vertrauen kann zu einer tieferen Beziehung führen. Ich will dich nicht ausquetschen. Ich will auch nicht, dass du dich unter Druck gesetzt fühlst. Aber ich möchte, dass du weißt, dass du mit mir reden kannst. Hier mit mir bist du sicher, und ich werde dein Vertrauen niemals missbrauchen. Niemals. Okay?«

»Okay.«

Ihre Berührung ist warm und sanft. Dignon will in die Kissen sinken, sich gegen sie lehnen und ihre Berührung erwidern. Stattdessen nutzt er seine neu gewonnene Ruhe und schüttelt seine Hemmungen ab. »Nachdem Willie die Highschool abgeschlossen hatte, zog sie aus, fing an zu arbeiten und suchte sich eine eigene Wohnung. Die letzten zwei Jahre, die ich alleine mit meinem Vater zusammenwohnte, kommen mir verschwommen vor. Damals war sein Trinken schon so schlimm geworden, dass er viel stürzte. Ich hab ihn überall im Haus regelmäßig bewusstlos aufgefunden. Sobald es ging, zog ich mit meiner damaligen Freundin Lisa nach New York City.«

Bree zieht ihre Hand zurück und legt die Beine übereinander. »Das muss aufregend gewesen sein. Ich liebe New York.«

»Allerdings. Ich war vorher nie irgendwo gewesen, und Manhattan kam mir wie ein anderer Planet vor. Ich war absolut begeistert, und außerdem war es der Ort, an dem Lisa sein musste. Sie wollte Schauspielerin werden, am Broadway auftreten. Das war ihr Traum. In der Highschool war sie im Theaterclub gewesen und hatte in allen Stücken mitgespielt. Sie redete über nichts anderes als davon, eines Tages eine berühmte Schauspielerin zu sein.«

»Hatte sie was drauf?«

»Sie hatte Talent. Alle glaubten, dass sie es schaffen würde. Sie wollte schon immer nach New York, um dort zu leben und zu studieren, also bin ich mitgekommen.«

»Was wolltest du selber denn damals mit deinem Leben anstellen?«

Dignon hat es sich seit Jahren nicht mehr gestattet, daran zu denken. Als er plötzlich damit konfrontiert ist, wie mit einem staubigen Schmuckstück, das er in der hintersten Ecke eines dunklen Schranks findet, muss er erst einmal schlucken. »Ich wollte Lehrer werden.«

»Ich arbeite mit vielen Lehrern zusammen. Das ist ein ehrenwerter Beruf.«

»Ich war in der Schule nie besonders gut. Der einzige Unterricht, der mir gefiel, war Englisch. Ich las sehr gerne – und immer noch – deswegen dachte ich, dass ich vielleicht Englischlehrer werden könnte. Lange Zeit spielte ich sogar mit dem Gedanken, Theaterstücke zu schreiben. Ich würde die Stücke schreiben, und Lisa könnte darin auftreten. Bescheuert, ich weiß.«

»Warum ist das bescheuert?«

»Träumereien, das ist alles.«

»Manchmal ist das alles, was wir haben.«

»Na ja, die Wirklichkeit sah jedenfalls so aus, dass wir vorhatten, Jobs zu finden. Dann wollte Lisa Schauspielunterricht nehmen und ich mich am College einschreiben. Sie würde professionelle Schauspielerin werden und ich Lehrer, und wir hätten glücklich für den Rest unserer Tage zusammenleben können. Das hat allerdings nicht mal ansatzweise funktioniert. Mein Vater starb ein paar Wochen nach meinem Umzug. Willie fand ihn. Eines Abends war er so betrunken, dass er die Treppe runterfiel … Er brach sich das Genick. Der Gerichtsmediziner meinte, dass er schon eine Woche oder länger tot war, als sie ihn fand. Der Postbote hatte Verdacht geschöpft, als sich die Post jeden Tag höher stapelte, also sollte Willie mal nach ihm sehen.«

Dignon sieht an Bree vorbei, als sehe er jene lange vergangenen Tage, die sich vor ihm ausbreiten, an die Wand projiziert.

»Ich wollte nicht für seine Beerdigung nach Hause kommen, doch ich konnte Willie nicht alles alleine machen lassen, also fuhr ich für ein paar Tage zurück und half ihr, alles zu klären. Das Haus war gemietet. Nur sein altes Auto und ein paar wenige Besitztümer blieben übrig. Willie kümmerte sich darum, alles loszuwerden, und ich fuhr zurück nach New York. Ein paar Wochen später schickte sie mir einen Scheck über die Hälfte von dem, was sie für das Zeug bekommen hatte. Meine Erbschaft betrug etwa zweihundert Mäuse. Was sie nicht verkaufen konnte, spendete sie an Amnesty International.«

Er bemerkt, wie ihn Bree aus ihren veilchenblauen Augen anschaut. Sie sind so wunderschön, dass er einen Augenblick lang erstarrt.

»Lisa und ich hatten inzwischen Jobs. Sie kellnerte, und ich fand eine Anstellung in einer Buchhandlung. Sie fing mit dem Schauspielunterricht an, und ich sah mich gerade nach Colleges um, als alles den Bach runterging.«

»Was ist passiert?«

»Sie verliebte sich in ihren Schauspiellehrer, und das war’s.«

»Sie verließ dich?«

»Sie packte ihre Siebensachen und zog bei ihm ein. Wir waren seit unserem zweiten Jahr auf der Highschool zusammen, und sie haute ab, als wäre es keine große Sache. Als ob wir uns kaum kannten und die ganze Zeit, die wir zusammen verbracht hatten, nichts bedeutete. Ein paar Tage später machte ich mich auf den Weg nach Hause. Ich sah Lisa nie wieder und redete nie wieder mit ihr.«

»Was ist aus ihr geworden?«

»Ich weiß es nicht.«

»Hast du nie versucht, es herauszufinden?«

»Ich habe im Laufe der Jahre ein paarmal mit dem Gedanken gespielt, aber ich hab nie etwas unternommen.« Er nippt an seinem Wein. »Ich hatte eine Menge Probleme. Ich kann ihr nicht vorwerfen, was sie getan hat.«

»Na klar kannst du das.«

Er lächelt, sieht, wie sie ebenfalls lächelt. »Yeah, ich schätze schon.«

»Also bist du hierher zurückgezogen.«

»Und seitdem hier geblieben. Ich hatte ein paar Jobs, bis ich schließlich die Lieferantenstelle bei Tech Metropolis ergatterte.«

»Sei bitte nicht beleidigt«, sagt sie. »Es ist natürlich völlig in Ordnung, als Lieferant zu arbeiten, aber du bist nicht wie diese üblichen Zusteller-Typen. Um ehrlich zu sein, kommst du mir eher wie ein Englischlehrer vor.«

»Die meisten von uns sind nicht das, was sie sein sollten. Wir sind nur das, was aus uns wird.«

»Es ist nie zu spät, weißt du?«

»Irgendwie bin ich da hängen geblieben«, gibt er zu. »Ich hätte nie geglaubt, dort für immer und ewig zu arbeiten. Ich dachte mir, der Job sei vorübergehend. Aber bevor ich mich versah, arbeitete ich schon drei Jahre als Lieferant. Das einzig Gute daran war, dass ich mit dem Rauchen aufhören musste. Diese Kartons zu schleppen und außer Atem zu sein, ging einfach nicht. Natürlich legte ich etwa eine Million Pfund zu, weil ich ein Jahr lang nonstop aß, anstatt mir eine anzuzünden. Wenig später wurde mir klar, dass ich dort wahrscheinlich für den Rest meines Lebens arbeiten würde. Ohne das, was Jackie Shine zugestoßen ist, wäre es wohl auch so gekommen.«

»Das muss entsetzlich gewesen sein.«

»Ich versuche, nicht daran zu denken.«

Sie versteht den Wink und kehrt zu dem früheren Thema zurück. »Also hast du nie jemanden kennengelernt, nachdem du und Lisa euch getrennt habt?«

»Ich hatte ein paar Verabredungen mit Frauen, aber nichts Ernsthaftes. Ich glaubte immer, dass ich eines Tages jemanden treffen würde. Als es nicht dazu kam, gab ich die Versuche nach einer Weile auf.« Er richtet sich gerade auf und versucht, damit seinen Bauch besser zu verstecken. »Ich ließ mich gehen. Alles wurde immer mehr zur Routine, ich spulte in meinem Leben immer dasselbe Programm ab. Schließlich hatte ich mich so sehr daran gewöhnt, wie alles war, dass es mich nicht weiter störte. Immerhin war Tibbs immer an meiner Seite.«

»Eines Tages muss ich ihn kennenlernen.«

»Das würde ihm gefallen.«

»Was hast du jetzt vor?«

»Ich versuche immer noch, mir über meine Zukunft klar zu werden. Meinen alten Job will ich nicht zurück, die Zeiten sind vorbei.«

»Hast du jemals daran gedacht, tatsächlich zur Uni zu gehen?«

»Nicht wirklich.«

»Vielleicht wäre das eine gute Idee.«

»Wie steht’s mit dir?«

Die Frage amüsiert sie anscheinend. Bree lehnt sich vor. Ihre Beine sind noch übereinandergeschlagen, aber sie lehnt ihren Körper jetzt näher zu ihm. Ihr Kinn ruht in einer ihrer Hände, die andere hält das Weinglas neben ihrer Taille fest. »Was soll mit mir sein?«

»Hast du immer denselben Beruf gehabt wie jetzt?«

»Gleich nach dem College hatte ich ein paar andere Jobs, aber ansonsten, ja.«

»Hängt dir das viele Umziehen nicht manchmal zum Hals raus?«

»Zuweilen, aber es kann auch sehr interessant sein. Ich habe so viele verschiedene und tolle Orte gesehen und so viele faszinierende Leute kennengelernt. Ich mache immer neue Erfahrungen und lerne etwas dazu. Ich werde reifer, und das ist mir wichtig.«

Der Wind peitscht, und das Gebäude zittert, was Bree und Dignon daran erinnert, dass sie nicht allein im Universum sind.

»Aber manchmal ist es wie als ich ein Kind war und mein Vater von Stützpunkt zu Stützpunkt versetzt wurde. Ich ziehe irgendwo hin, richte mich ein, und in dem Moment, da ich Freunde gefunden habe und mich wohlfühle, wird es Zeit weiterzuziehen. Manchmal ist es schwierig, aber mein Leben war immer so, und wie du schon sagst: Wir gewöhnen uns an alles und geben uns Routinen hin, guten und schlechten.«

»Warst du jemals verheiratet?«

»Ich wurde schon einige Male gefragt.«

»Das glaube ich sofort.«

»Ich hatte ein paar ernsthafte Beziehungen – und ein paar nicht so ernste. Aber ich habe nie jemanden getroffen, bei dem ich mir vorstellen konnte, mit ihm sesshaft zu werden und immer mit ihm zusammen zu sein. Manchmal frage ich mich, ob mir so etwas vielleicht einfach nicht bestimmt ist. Außerdem habe ich einige wirklich schlechte Entscheidungen getroffen, was Männer angeht.«

»Schwer zu glauben, nachdem ich Kyle kennengelernt habe.«

»Sehr witzig.« Sie grinst unbeschwert. »Ob du’s glaubst oder nicht, als ich ihn kennenlernte, war er wirklich nett. Bloß wollte er später alles kontrollieren und war so besessen, dass es unmöglich wurde. So etwas habe ich nicht nötig. Ich bevorzuge eine erwachsene Beziehung anstatt einer, bei der ich mich fühle, als wäre ich wieder in der Mittelschule mit irgendeinem eifersüchtigen Teenager, der vor Testosteron verrückt spielt.«

»Deswegen versucht du es jetzt mal mit Typen, die fett und arbeitslos sind und schütteres Haar haben?«

Er rechnet damit, dass sie lacht. Aber sie lacht nicht.

»Dignon, ich kenne eine Menge Leute. Einige davon sind nett, andere weniger. Eine Sache, die ich gelernt habe, ist, dass die Dinge, die im Leben wirklich wichtig sind, nichts damit zu tun haben, was uns eingetrichtert wird oder was wir glauben sollen.«

Sie hebt die Hand und drückt sie zwischen ihre Brüste. »Was hier drin ist, zählt. Wer du tief in deiner Seele bist. Alles andere ist Augenwischerei, völlig bedeutungsloser Bullshit, der letztlich bestenfalls kurzlebig und oberflächlich ist.«

»Das ist wahr«, sagt er, aber sein Verstand sagt ihm auch, dass jemand wie Bree im wirklichen Leben bei jemandem wie ihm nie an mehr als Freundschaft interessiert ist. »Aber die Leute, die auf diesen Gedanken kommen, sind meistens alleine.«

Mystische Wesen in einer sterblichen Welt

Sie ist zugleich angsteinflößend und schön. Was ist geschehen, damit sich alles so schnell verändert hat? Das ist ja wohl eine unverfängliche Frage, oder? Sein Verstand rast und versucht, sich einen Reim auf diese plötzliche Panikattacke zu machen.

»Nur ein paar Seiten«, antwortet er.

»Ich glaube, ich werde noch ein Glas Wein trinken und es mir mit dem Buch gemütlich machen. Ich habe es natürlich schon einmal gelesen, aber es ist faszinierend – wenn man sich für solche Sachen interessiert. Und heute ist ein guter Tag, um sich mit einem guten Buch zurückzuziehen.«

»Ja«, antwortet er eintönig.

»Sei vorsichtig da draußen.« Sie macht die Tür auf und lehnt sich gegen den Türrahmen. »Ruf mich an, ja?«

»Mache ich.«

Sie betrachtet ihn. »Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist? Du siehst ein bisschen kränklich aus.«

»Ich bin nur müde.« Er betritt den Korridor. »Bis bald.«

»Mach’s gut.«

Dignon kann spüren, wie ihre Blicke ihm folgen, bis er in den dunklen Winkeln am Ende des Korridors verschwunden ist.

Im Eingangsbereich blickt er durch die gläserne Tür, bevor er sich ins Freie wagt. Die Straßenlampen sind früh angegangen. Nebeneinander aufgereiht beleuchten sie mehrere Häuserblocks, glühen in der Weißblendung, Leuchtsignale in der Kälte, die ihn nach Hause führen sollen. Er fragt sich, ob dort draußen jemand ebenfalls die Straßenlampen ansieht und dieselben Gedanken hat.

Sein Atem zeichnet sich auf dem Glas der Tür ab.

Draußen warten der Sturm und all das, was er verdeckt.