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Werner J. Egli,

wurde 1943 in Luzern, Schweiz, geboren und lebt heute als freier Schriftsteller in Tucson (USA), in Freudenstadt (D) und in Egg bei Zürich. Seine erfolgreichen und in viele Sprachen übersetzten Jugendbücher wurden unter anderem mit dem Friedrich-Gerstäcker-Preis, mit dem Preis der Leseratten (ZDF) und mit dem Jugendbuchpreis der Ausländerbeauftragten des Senats Berlin ausgezeichnet. 2002 wurde er für den Hans-Christian-Andersen-Preis nominiert, die international höchste Auszeichnung für Jugendliteratur.

Unter www.egli-online.com ist der Autor auch im Internet zu finden.

Von Werner J. Egli bei ARAVAIPA:

Der letzte Kampf des Tigers

Black Shark

Aus den Augen, voll im Sinn

Der erste Schuss

Bis ans Ende der Fährte

Der Fremde im Sturm

Andere:

Heul doch den Mond an

Martin und Lara

Tage im Leben eines Feiglings

WERNER J. EGLI

TARANTINO

Roman

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ISBN 978-3-03864-207-7

ARAVAIPA im Internet: www.aravaipa.ch

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

1.

Tarantinos Schwester Marcela kauerte an der steilen Böschung im Bachbett, über das eine schmale Brücke führte. Auf der anderen Seite hörte die Straße auf, denn dort befand sich der Grenzzaun, der Mexiko von Kalifornien trennte. Die Brücke und die Straße erschienen Tarantino wie eine Herausforderung an Leute, die immer höhere Mauern und Zäune forderten.

Auf der amerikanischen Seite war das Gelände dem Zaun entlang auf einer Breite von mindestens fünfzig Yards von Bäumen, Büschen oder Gras befreit worden. Auf diesem Streifen wuchs gar nichts mehr, so dass die amerikanischen Grenzbeamten von Beobachtungstürmen aus auf der gesamten Strecke vom Pazifik bis nach Arizona die Grenze Tag und Nacht überwachen konnten.

Dort drüben, auf der anderen Seite des Zaunes, war Amerika. Los Estados Unidos. Von seiner Schwester nicht viel mehr erkennen als einen formlosen Schatten zwischen den verbeulten Überresten eines ausgeschlachteten Autowracks, das mit den Rädern nach oben auf der Böschung lag.

Der Bach floss auf der mexikanischen Seite der Grenze entlang westwärts. Von ihrem Versteck bis zum Grenzzaun hätte Marcela nur etwa Dreißig Meter zu laufen müssen, um durch das Loch zu schlüpfen und dann so schnell wie möglich den kahlen Grenzstreifen zu überqueren. Der nächste Wachturm, der auf einem Großen Anhänger montiert war, so dass er bei Bedarf von einem Laster zu einem anderen Standort gezogen werden konnte, befand sich etwa 300 Meter weit entfernt. Einen anderen Wachturm, der weiter westwärts aufgestellt worden war, war in der Dunkelheit nur schwach zu erkennen. Sein Scheinwerferlicht reichte kaum bis zur Stelle, wo sich Marcela versteckt hatte. Somit befand sich auf der anderen Seite der Brücke eine der wenigen schlecht ausgeleuchteten Stellen entlang des Grenzzaunes. Leute, die illegal in die USA gelangen wollten, benutzten solche Stellen oft, um unbemerkt durch Löcher im Maschendraht auf die andere Seite zu gelangen. Viele kamen durch. Andere hatten Pech.

Im Bachbett floss zu dieser Jahreszeit nur ein zähflüssiges Rinnsal, auf dem sich, wie geschwürbedeckte Riesenkrabben, schmutzige Schaumkronen bewegten. Es stank erbärmlich nach Fäulnis und Verwesung. Es stank nach Tod und Verderben.

Tarantino spürte, wie ihm die Beine einschliefen. Fast eine halbe Stunde lang befand er sich schon einige Schritte von seiner Schwester und von Jacinto entfernt und verharrte dort in der gleichen Stellung. Von seinem Versteck aus konnte er die Brücke sehen. Es war eine Brücke aus Beton. Scheinbar für die Ewigkeit gebaut. Der Bach floss unter ihr hindurch.

Tarantino versuchte das linke Bein auszustrecken. Dazu musste er sein Gewicht verlagern. Als er sich etwas aufrichtete, lösten sich Steine. Sie kollerten zwischen seinen Beinen hindurch in das Bachbett hinein und verschwanden im Schaum, der sich zwischen alten Autoreifen und einem verbeulten Kühlschrank staute. Rechts von Tarantino bewegte sich ein Schatten. Es war Jacinto.

„He“, flüsterte Jacinto.

„He“, gab Tarantino leise zurück. Das war alles. Sie mussten sich still verhalten. Absolut still. Dieser Grenzabschnitt war berüchtigt. Es gab hier mehrere Löcher im Zaun, die von den Drogenschmugglern genauso benutzt wurden wie von den Flüchtlingen. Manchmal gab es Streit. Oft fielen Schüsse und es gab Tote auf beiden Seiten des Zaunes.

Irgendwann würde auf der Brücke el indicador, ein Mann auf einem Motorrad, der ihnen als Wegweiser ein Zeichen geben sollte, wenn alles in Ordnung war, um dann sofortwieder zu verschwinden.

So war es ausgemacht. Und wenn die Luft rein war, würden sie den Bach durchqueren und zum Zaun laufen, durch das Loch im Maschendrahtzaun, an dem allerhand stinkendes Zeug hing, und auf der anderen Seite, in Amerika, würde ein anderer Gringo mit einem Auto warten, um sie aus der Gefahrenzone heraus zu bringen, Und sobald sie in Sicherheit waren, konnten sie endlich aufatmen und sich umarmen und vor Glück weinen, denn dann waren sie endlich drüben in Amerika, und für Marcela und Tarantino und natürlich auch für Jacinto würde ein neues und gutes Leben beginnen.

So würde es sein. Ganz bestimmt würden sie vor Glück weinen, und das war immerhin ein guter Anfang.

Tarantino warf einen Blick auf die Armbanduhr, die einmal seinem Vater gehört hatte. Es war kurz vor vier Uhr. Um diese Zeit sollte die Grenzpatrouille in einem grünen dem Grenzzaun entlang fahren. Hin und wieder, so hatte es der Gringo gesagt, stieg einer der beiden Grenzwächter sogar aus dem Auto und leuchtete mit seiner Taschenlampe durch den Maschendrahtzaun in jeden dunklen Winkel des Bachbettes. Nicht einmal die kleinen Löcher würden seinem scharfen Blick entgehen, die jene in die Böschung gegraben hatten, die dem Schutz eines Autowracks nicht trauten.

Meistens kam es hingegen vor, dass die Grenzwächter gar nicht in das Bachbett hineinleuchteten, weil sie es eilig hatten oder weil sie bestochen worden waren, indem sie für ihre Nachlässigkeit tausend Dollar oder manchmal auch mehr einsteckten.

Aber der Gringo hatte gesagt, dass man sich auf diese Möglichkeit nicht verlassen konnte. Und deshalb war es absolut lebenswichtig, sich ruhig zu verhalten und sich nicht einmal dann zu bewegen, wenn einem eine Ratte ins Hemd kroch.

Marcela kauerte hinter dem Armaturenbrett eines alten Ford, von dem einige Kabel herunterhingen. Sie hatte ihr Bündel im Schoß. Sie war angespannt, wie sie es noch nie zuvor im Leben gewesen war. Obwohl sie nicht wussten, wieviel Uhr es war, spürte sie, dass die Zeit nicht vergehen wollte und das Warten auf den Gringo zur Qual wurde. Wer war der Gringo überhaupt? Keiner von ihnen wusste seinen Namen oder sonst irgendetwas über ihn. Er war ein Amerikaner, das besagte das Wort „Gringo“. Und er war ihr Verbindungsmann auf amerikanischem Boden, la conexión.

Marcela blickte zu Tarantino hinüber, konnte ihn aber nicht sehen. Er hatte sich so klein gemacht, dass sein Schatten aussah, als gehörte er zu den Autoreifen, die an der Böschung lagen. Und auch Jacinto konnte sie kaum erkennen. Er kauerte in einem der Löcher, das er fast ganz mit einem Stück zerrissener Plane zugedeckt hatte.

Neben Marcela kroch eine große fette Ratte über einen weißen Plastikeimer. Der Eimer rollte ein wenig zur Seite, so dass ihr langer, nackter Schwanz darauf liegenblieb. In den kleinen, wachsamen Augen des Tieres spiegelte sich der Mond wider.

„Warum wohnst du nicht dort drüben, auf der anderen Seite des Zaunes?“, flüsterte Marcela. „Dich kann doch niemand einsperren.“

Die Ratte machte sich schnurstracks davon, und dabei löste sich eine Blechbüchse und rollte die Böschung hinab. Tarantino hob den Kopf. Einen Moment lang konnte Marcela sein Gesicht erkennen; ein heller Fleck im Schatten der Autoreifen.

„He“, flüsterte Tarantino.

„He“, gab Marcela zurück.

Es war alles in Ordnung.

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Pünktlich um vier Uhr näherte sich die Grenzpatrouille von Osten her der dunkelsten Stelle am Zaun. Tarantino konnte zuerst nichts anderes sehen als den Strahl eines Suchscheinwerfers, der sich den Zaun entlang tastete. Dann tauchten über einer Bodenwelle die beiden Scheinwerfer auf. Das Auto gab ein leises, brummendes Geräusch von sich, und da es eine holprige Straße war, auf der es fuhr, ächzte es hin und wieder, als wäre ihm die Fahrt entlang der Grenze eine unsägliche Mühe.

An der Böschung kauernd, machte sich Tarantino noch etwas kleiner. Der schwere Packen auf seinem Rücken drückte ihm ins Genick, aber jetzt spürte er keinen Schmerz mehr. Nicht einmal die Wunde an der linken Hand, wo er sich an einem Stück Flaschenhals geschnitten hatte, tat noch weh.

Die Armbanduhr befand sich so dicht an seinem linken Auge, dass er die leuchtenden Zeiger nur verschwommen sehen konnte.

Der Geländewagen hielt plötzlich an. Wie auf einen Schlag lagen der Zaun und das Bachbett im grellen Licht des Suchscheinwerfers. Einer Flut von glitzerndem Wasser gleich floss es an den steilen Hängen herunter. Es schien, als bewegten sich die Gegenstände, die überall herumlagen, aber es waren nur ihre Schatten, die sich veränderten, während der Scheinwerfer das Bachbett absuchte. Nichts rührte sich mehr. Selbst die Ratten, überrascht und geblendet, erstarrten im Licht. Marcela glaubte sogar, ihr Herz hätte ausgesetzt, und sie nahm das kleine Kreuz, das ihr an einer Kette vom Hals hing, in den Mund und presste es mit ihren Lippen fest. Sie wollte beten, aber es fiel ihr in diesem schrecklichen Augenblick nichts ein, was sie dem Herrgott oder der Mutter Maria hätte sagen können, und so sagte sie nur, ohne dass dabei ein Laut aus ihrem Mund kam: „Lieber Gott, sobald ich in Amerika bin, werde ich Englisch lernen, damit du mich besser verstehst.“

Plötzlich erlosch der Scheinwerfer.

Mit einem Mal war es so dunkel, dass Marcela nichts mehr sehen konnte. Dunkler als die Nacht. Nicht einmal die Sterne schienen zu leuchten, aber das war nur, weil der Scheinwerfer so hell gestrahlt hatte.

Der Geländewagen der Grenzpatrouille fuhr langsam weiter. Das Motorengeräusch wurde leiser und leiser, bis es schließlich ganz verschwand.

Stille. Die alte, vertraute Stille.

Der Wind bewegte die Plane vor Jacintos Loch. Der Wind kam vom Meer her.

Tarantino richtete sich auf. Krumm stand er an der steilen Böschung und schaute zu, wie Jacinto aus seinem Versteck kroch.

„He“, sagte er leise.

Marcela rührte sich nicht.

„Marcela“, flüsterte Tarantino.

Er folgte dem Bach bis zur Stelle, wo das Autowrack lag. Als er dort anlangte, hob Marcela den Kopf. Auf der Brücke tauchte ohne Licht ein Motorrad auf, das anhielt. Ein Mann lehnte sich über das Brückengelände rund zeigte ihnen den erhobenen Daumen. Dann wendete das Motorrad und fuhr davon.

„Marcela, bist du bereit?“ fragte Tarantino seine Schwester.

Jacinto kam nun ebenfalls herüber.

„He“, sagte er. „Ich bin‘s, Jack.“

Sie gab ihm keine Antwort. Da lachte er leise auf.

„Worauf warten wir noch?“

Bevor ihm Tarantino oder Marcela eine Antwort geben konnten, lief er los. Jacinto war der erste von ihnen, der beim Zaun anlangte. Er kauerte sich nieder und zog ein Drahtstück zur Seite, so dass sich ein nicht sehr großes Loch öffnete. „Komm“, rief er Marcela zu. Sie rannte sofort los, ihr Bündel fest an sich gedrückt und schlüpfte durch das Loch im Zaun. Jacinto wartete, bis auch Tarantino durch war, bevor er selbst hindurch schlüpfte und das Zaunstück hinter sich wieder zumachte.

Hintereinander liefen sie über den breiten Grenzstreifen. Der Boden war so trocken, dass der Wind einen dünnen Schleier von Staub von ihren Füssen wehte. Auf der anderen Seite des Streifens fing die Wüste an, mit Kakteen und Dornengestrüpp, und mit Felsbrocken, die vom Grenzstreifen weggeräumt worden waren.

Sie sie erreichten einen Karrenweg, der durch die Wüste führte, nicht mehr als zwei Fahrrillen über Stock und Stein. Dort hielten sie an. Alle drei waren ziemlich außer Atem geraten.

„Wir haben es geschafft“, keuchte Tarantino.

„Jetzt muss nur noch der Gringo kommen. Wenn die Sonne aufgeht, sind wir andere Menschen.“

Sie rückten eng zusammen und Tarantino sah die Tränen in den Augen seiner Schwester, die nach Luft ringend neben ihm kauerte. Er nahm sie bei der Hand, und sie gingen den Karrenweg entlang und erreichten einen Betonkanal, in dessen Mitte sich wie eine träge Blindschleiche, die keinen Anfang und kein Ende hatte, der Schlamm bewegte. An einer Stelle, wo eine schmale Treppe die steile Betonböschung hinunter und auf der anderen Seite wieder hinaufführte, durchquerten sie den Kanal. Oben befand sich eine große ausgebaggerte Senke, in der eine Planierraupe und ein Bagger standen. Am Rand der Senke ragte ein Tankwagen aus Büschen und hohem Gras

„Wo bleibt der Gringo?“, fragte Marcela besorgt. Sie blickte sich nach allen Seiten um. Es war niemand da.

„Wir müssen weiter“, sagte Tarantino. Am Horizont schimmerte der Himmel hell. Dort musste sich die Stadt ausbreiten. San Diego.

Jacinto lief voran. Der durchgeackerte Boden in der Senke aufgeweicht und voller Pfützen. Als sie die Planierraupe erreichten, leuchtete plötzlich eine Lampe auf. Dreimal hintereinander.

„Das ist der Gringo“, sagte Jacinto.

Sie blieben stehen.

„Und wenn es nicht der Gringo ist?“, sagte Tarantino.

„Wer könnte es sonst sein?“

Marcela drückte fest die Hand ihres Bruders.

„Er muss es sein“, sagte Jacinto beharrlich und griff unter sein Hemd, das ihm über die Hose herunterhing. „Und wenn es nicht der Gringo ist, dann …“ Er sprach den Satz nicht zu Ende, aber Marcela und Tarantino bemerkten, dass er den alten Revolver in der Hand hielt, der einmal einem Soldaten gehört hatte.

Sie verließen die Senke und erreichten eine Straße. In einer Entfernung von etwa einer halben Meile beleuchteten Straßenlaternen mehrere große Lagergebäude. Es schien, als ob sie sich am Rande eines Industriegebietes befanden.

Sie blickten in die Richtung, wo die Lampe aufgeleuchtet war. Es war jetzt dunkel dort und still, aber sie ahnten, dass sie nicht mehr allein waren.

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Zwei Gestalten schlenderten heran, als wären sie auf einem Spaziergang ganz zufällig hier vorbeigekommen. Einer von ihnen hielt die Taschenlampe in der Hand. Es war ein dunkelhäutiger Junge, der eine Armeejacke mit vielen Taschen, eine zerrissene Blue Jeans und Turnschuhe trug.

Der andere sah aus wie der Gringo, mit dem sie unten in Tijuana verhandelt hatten. Er hatte auch blaue Augen und blondes, strähniges Haar, das ihm schräg gescheitelt über die Schultern herunterhing. Er trug ein offenes Hemd, eine dunkle weite Hose und ähnliches Schuhwerk wie sein Gefährte.

Sie blieben vor Jacinto stehen, der seine Hand mit dem Revolver hinter dem Rücken versteckt hielt. Etwas schräg hinter Jacinto standen Tarantino und Marcela, dicht beisammen.

Der dunkelhäutige Junge hakte seine Daumen in die Gürtelschlaufen seiner Jeans und musterte Jacinto abschätzend von Kopf bis Fuß. Jacinto rührte sich nicht.

„Wie heißt du?“, fragte der Junge plötzlich auf Spanisch. Sein Akzent war der eines Mexikaners.

„Jacinto“, sagte Jacinto, „aber man nennt mich Jack.“

Der Junge verzog sein Gesicht und warf einen Blick auf Tarantino und Marcela.

„Für wen seid ihr die Maultiere?“

„Wir sind Flüchtlinge“, antwortete Jacinto, „wir kommen aus einem Lager im Süden:“

„Aber ihr seid Maultiere, nicht wahr?“

„Ich weiß nicht, was du meinst.“

Der Junge lachte und stieß seinen Gefährten an. „Er weiß nicht, was Maultiere sind, Jim“, sagte er dann auf Englisch. Nur Tarantino konnte ihn verstehen, weil er daheim in der Schule Englisch gelernt hatte.

Jim bleckte seine Zähne.

„Verdammt, worauf warten wir“, drängte er. „Wir nehmen ihnen den Stoff weg und hauen ab.“

Tarantino ließ Marcelas Hand los.

„Maultiere sind Idioten, die sich dazu überreden lassen, Kokain über die Grenze zu bringen“, erklärte der dunkelhäutige Junge. „Sag mir, für wen ihr arbeitet, und wir lassen euch ungeschoren davonkommen.“

„Wir arbeiten für den Gringo“, sagte Jacinto. Tarantino hörte der Stimme seines Freundes an, dass gleich etwas passieren würde. Er trat von Marcela weg, und seine rechte Hand glitt langsam und versteckt in die Hosentasche, in der sich meistens sein Messer befand. Der andere, der Jim hieß, bemerkte es und stieß einen Warnruf aus, der jedoch zu spät kam. Jacintos Hand mit dem Revolver kam nämlich in diesem Augenblick blitzschnell hinter dem Rücken hervor, und bevor der dunkelhäutige Junge zurückspringen konnte, stieß ihm Jacinto den Lauf des Revolvers tief in die Magengrube und drückte ab. Der dunkelhäutige Junge wurde, wie von einem furchtbaren Schlag getroffen, zurückgeworfen. Er prallte gegen seinen Gefährten, der versuchte, ihn einen Moment aufrecht zu halten, aber er entglitt seinen Händen und fiel zu Boden. Dort, am Rand einer Pfütze, blieb er zusammengekrümmt liegen und stöhnte, und aus seinem Mund strömte das Blut, als ob die Kugel in seinem Innern eine seiner Hauptschlagadern durchgetrennt hätte

Sein Gefährte wich langsam und mit erhobenen Händen von Jacinto zurück, die Augen vor Schreck weit aufgerissen.

„Bitte schieß nicht mehr“, keuchte er.

Jacinto spannte den Hammer und ging mit ausgestrecktem Arm auf den Jungen zu, den Revolver zum nächsten Schuss bereit.

„Jacinto“, rief ihm Tarantino zu, „lass uns von hier verschwinden! Bestimmt hat jemand den Schuss gehört!“

Jacinto blieb nicht eher stehen, als bis die Mündung des Revolvers die Stirn des anderen Jungen berührte. Am Boden lag nun dessen Gefährte leblos in einer Blutlache.

„Jacinto“, flüsterte Marcela, „bitte, lass ihn!“

Da fiel Jim vor Jacinto auf die Knie, und Jacinto ließ den Hammer zurückgleiten und steckte den Revolver unter sein Hemd in den Hosenbund zurück.

„Hau ab, du Ratte!“, sagte er. „Und nimm deinen Freund mit.“

Der Junge sprang auf und rannte wie ein Hase davon, ohne sich um die Leiche zu kümmern. Jacinto drehte sich um. Der Mond schien ihm in das schmale Gesicht. Er lachte und fuhr sich mit den Fingern durch das strähnige Haar. „Wir hatten Glück“, sagte er.

„Warum sagst du das?“, fragte Marcela verständnislos. „Du hast ihn getötet, und dabei sind wir in Amerika.“

„Wenn ich ihn nicht getötet hätte, hätte er mich getötet“, sagte Jacinto. Er ging zu der Leiche und drehte sie mit dem Fuß auf den Rücken. Die rechte Hand des toten Jungen steckte in einer der vielen Taschen seiner Armeejacke.

„Was glaubst du, was er in der Hand hat?“, fragte Jacinto.

„Einen Revolver, vielleicht“, vermutete Tarantino. Er ging zu dem Toten und kauerte nieder. Tatsächlich hielt die im Tode verkrampfte Hand des Jungen den Griff einer Pistole umklammert. Tarantino nahm ihm die Waffe weg und erhob sich.

„Siehst du“, lächelte Jacinto. „Vielleicht hätte er nicht nur mich getötet, sondern uns alle drei, auch Marcela. Was sollte ich tun? Sollte ich etwa darauf warten, dass er mir ein Loch in den Bauch schießt?“

„Nein, das habe ich nicht gesagt“, sagte Marcela.

„Also gut.“

Jacinto rückte den Packen auf seiner Schulter zurecht.

„Kommt, wir gehen jetzt lieber, bevor jemand vorbeikommt und die Leiche hier entdeckt.“

Tarantino steckte die Pistole ein, während Jacinto sich bückte und die Taschenlampe vom Boden aufhob. Dann gingen sie eilig über den Platz davon, und sie vergaßen, wie glücklich sie eigentlich hätten sein sollen. Sie umarmten sich nicht, und sie weinten auch nicht vor Glück. Sie begannen zu laufen, und sie liefen, so schnell sie konnten, in die Dunkelheit hinein.

Keiner von ihnen sah das Auto, das zwischen Büschen versteckt im tiefen Nachtschatten einer Wellblechbarrake stand.

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Der Gringo hieß Russell Boyd. Er saß hinter dem Steuerrad in seinem Buick, hatte das Seitenfenster heruntergekurbelt und rauchte eine Pall Mall ohne Filter. Das Autoradio hatte er abgedreht, und es war so still, dass man sogar das leise Summen einer Passagiermaschine hören konnte, die hoch am Himmel in Richtung Süden flog. Ihre Positionslichter blinkten. Wahrscheinlich flog sie von Los Angeles nach Mexico City, ohne eine Zwischenlandung in San Diego einzulegen.

Der Weg, auf dem Russell Boyd seinen Wagen angehalten hatte, führte an mehreren Baracken vorbei, auf deren Wellblechwände mit blauer und grüner Sprühfarbe Echsen aufgemalt waren, und in einer leuchtend bunten Graffitischrift TOD DEN MONKS.

Es schien, als ob von den riesigen Buchstaben Blut tropfte.

JUSTIN CASE IS KING. Und BLUE LIZZARDS RULE THE WORLD.

Blaue Echsen regieren die Welt. Zu allem Überfluss hatte jemand mit weißer Farbe ein paar Hakenkreuze und einen SS-Totenkopf hingeschmiert. Hier muss ein Gehirnamputierter am Werk gewesen sein, dachte Russell Boyd angewidert, einer von den Skinhead-Artisten, die aus New York nach Kalifornien eingewandert waren und hier an der Westküste herumschlichen wie Schakale unter Löwen und Panthern.

Und Justin Case, der eigentlich ganz einfach William Powell hieß, war auch nicht mehr der König, seit ihn die Kugel eines nervös gewordenen Polizisten in den Rücken getroffen hatte. Nun lag er ausgemergelt und mit leeren Augen angeschnallt in einem Bett des St.-Mary-Krankenhauses, so, als fürchte man, er würde eines Nachts einfach aufstehen und abhauen. Aber das schaffte selbst der ehemalige König der Blauen Echsen nicht mehr, denn die Kugel hatte einen Nervenstrang durchtrennt, und von seinem Hals aus abwärts funktionierte nichts mehr, nicht einmal mehr sein kleiner Zeh, das wussten alle im Revier.

Wie lange das ein Mann durchhalten konnte, bevor er starb, war ungewiss. Es konnte Monate dauern oder Jahre, denn der ehemalige Echsen-König hing an den modernsten Lebenserhaltungsmaschinen, und das Personal im Krankenhaus nannte ihn nicht Justin Case, den König der Blauen Echsen, sondern die Krankenschwestern und die Helfer und die Ärzte nannten ihn scherzhaft das Blaue Kaninchen, weil man allerhand Versuche mit ihm anstellte und sein Gesicht manchmal schon richtig blau war von dem Zeug, mit dem man ihn vollpumpte.

Und inzwischen war hier draußen so allerhand los, und niemand wusste so genau, wer der nächste Echsenkönig sein würde.

„Du bist ein armes Schwein, William Powell“, murmelte Russell Boyd aus seinen Gedanken heraus, während er seine Zigarette rauchte und zum Kanal hinüberblickte. Und er überlegte sich, wen er in den nächsten Tagen losschicken konnte, um die Hakenkreuze und den Totenkopf mit neuem Graffiti zu überspritzen. Die Zeiten änderten sich schnell. Heute ist alles so, wie es ist, und morgen ist alles ganz anders, dachte Russell. Das betrifft alle, außer einen, der einen Schlauch zwischen den Beinen hat, durch den die Pisse in einen Sammelbehälter läuft, während die Herz-Lungen-Maschine gleichmäßig summt. Tag und Nacht. Immerfort, bis in alle Ewigkeit Amen.

Russell Boyd verjagte seine Gedanken, als er die drei Gestalten erspähte, die über den Platz kamen. Voran der Kleine, der Jacinto hieß. Dahinter der Junge mit seiner hübschen Schwester. Sie liefen auf die Planierraupe zu, die dort zwischen den Pfützen stand und wie ein erstarrtes Monster aussah, dem man die Seele aus dem riesigen gelben Leib gerissen hatte. Der Mond schien, und der Platz war eigentlich ziemlich hell, und wenn drüben auf dem Weg, der am Kanal entlangführte, zufällig eine Grenzpatrouille vorbeigefahren wäre, dann hätte es ganz bestimmt Stunk gegeben. Russell nahm seine Mac-10 vom Nebensitz und steckte sie in seinen Hosenbund. Überall lag Zeug herum. Alte Musikkassetten, Socken, ein Hemd. Turnschuhe und Lisas Haarspray. Russell schob alles unter die Sitze. Auf dem Rücksitz war ebenfalls ein ziemliches Durcheinander. Ein Schlafsack. Eine Kühlbox aus Styropor mit einigen Dosen Cola und Keystone-Bier, das zurzeit überall im Sonderangebot zu haben war.

Werkzeuge. Der Buick war sechs Jahre alt und hatte über hundertfünfzigtausend Meilen drauf. Hätte man William Powell, den ehemaligen Echsen-König, an eine Herz-Lungen-Maschine angeschlossen, die sechs Jahre alt war, wären seine Chancen, mit Würde zu sterben, vielleicht etwas besser gewesen. Aber nein, seine Maschine war das neueste absolute Spitzenmodell und lief noch unter Herstellergarantie.

Russell Boyd kam nicht mehr dazu, die Rückbank aufzuräumen, denn plötzlich bemerkte er die beiden Gestalten hinter der Planierraupe hervor schleichen, und es sah so aus, als wären sie es gewesen, die dem Monster Herz und Seele geklaut hatten. Einer von ihnen, das konnte Russell Boyd deutlich erkennen, trug ein schwarzes Tuch; das er sich in Waschfrauenart um den Kopf gewickelt hatte, und das war ein sicheres Zeichen dafür, dass es sich bei den beiden um Mitglieder der „Monks“ handelte, einer der vielen Banden in San Diego.

„Oh, du heilige Scheiße!“, entfuhr es Russell. Er zog seine Pistole aus dem Hosenbund, lud sie durch und rückte sich zurecht, bis er beide Arme auf dem Rahmen des Seitenfensters aufstützen konnte, während er die Pistole auf die beiden Bandenbrüder richtete. Entfernung über hundert Schritt. Mondlicht. Russell merkte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Auf diese Entfernung hatte er noch nie auf jemand geschossen. Ob die Mac-10 überhaupt so weit traf? Die beiden „Mönche“ blieben stehen.

Sie redeten mit Jacinto.

Russell konnte zwar ihre Stimmen hören, nicht aber die einzelnen Worte verstehen.

Jacinto sprach Spanisch. Der andere, Tarantino, und seine Schwester sprachen Englisch. Sie hatten es von einem Entwicklungshelfer gelernt, der zwei Jahre lang in ihrem Dorf versucht hatte, die Leute davon abzuhalten, ihre Schweine vom Tisch und aus dem Kochtopf fressen zu lassen.

Solche Leute waren das. Und jetzt standen sie hier zwei Monks gegenüber und hatten nicht die leiseste Ahnung, was das bedeutete.

Mitten in Russells Gedanken hinein fiel der Schuss. Im ersten Augenblick wusste Russell gar nicht, was jetzt passiert war, denn er konnte nicht einmal den Mündungsblitz sehen. Aber dann fiel einer der beiden Monks plötzlich zu Boden, obwohl der andere versuchte, ihn zu halten, und erst jetzt konnte Russell erkennen, dass Jacinto einen Revolver oder eine Pistole in der ausgestreckten Hand hielt und auf den anderen Jungen zuging.

Russell konnte es nicht glauben. Da lag einer am Boden, wahrscheinlich schon tot, und der andere wich mit erhobenen Händen vor dem kleinen Jacinto zurück und fiel schließlich im Dreck auf seine Knie und bettelte um sein Leben.

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Die drei Maultiere schritten ziemlich eilig über den Platz, und dann begannen sie sogar zu laufen. Russell Boyd verhielt sich still und schaute ihnen mit einem teilnahmsvollen Lächeln zu, und erst als sie nur noch etwa zehn Schritt von seinem Buick entfernt waren, machte er das Radio an, und der Sender spielte zufällig einen Rap von M. C. Hammer, und schon beim ersten Ton blieben die drei stehen, und die Hand des kleinen Jacinto fuhr blitzschnell unter sein zerrissenes Hemd. Da öffnete Russell die Tür und stieg aus.

„Willkommen in Amerika“, sagte er und zeigte ihnen dabei seine Zähne, von denen er sich einen, der Mode entsprechend, hatte vergolden lassen.

Tarantino ließ die Hand seiner Schwester los und trat einen Schritt vor.

„Warst du die ganze Zeit hier?“, fragte er auf Englisch.

Russell Boyd nickte.

„Ich habe alles gesehen.“

„Hat er gesehen, dass ich einen umbringen musste?“, fragte Jacinto auf Spanisch.

„Was sagt er?“, fragte Russell Boyd.

„Er will wissen, ob du gesehen hast, dass er einen töten musste.“

„Ich hab‘s gesehen.“ Russell Boyd deutete mit einer Kopfbewegung in die Richtung, in der der Leichnam am Boden lag.

„Er hätte den anderen auch gleich erschießen sollen. Die gehören zu einer berüchtigten Straßenbande! Ihre Mitglieder nennen sich Monks. Sie werden euch suchen und finden! Sie werden sich rächen!“

„Kennst du sie?“, fragte ihn Tarantino verständnislos.

„Ich kenne einige von ihnen“, nickte Russell.

„Sie sind alle gefährlich. Blut für Blut, das ist ihr Gesetz! Wer einen von ihnen umbringt, ist selbst zum Tode verurteilt.“

„Das ist ein merkwürdiges Gesetz“, sagte Tarantino.

Russell Boyd lachte auf. „Das ist ein Bandengesetz.“ Er packte Tarantino am Arm. „Sag deinem Freund, er soll die Finger von seiner Knarre lassen. Das macht mich ganz nervös, wenn ich seine Hand nicht sehen kann.“

Tarantino wandte sich an Jacinto.

„Er will deine Hand sehen, Jacinto“, sagte er.

Ohne sich zu rühren, starrte Jacinto Russell Boyd einige Sekunden lang misstrauisch an, aber dann kam sein Arm unter dem Hemd hervor, und er streckte Russell Boyd die leeren Handflächen entgegen.

„Wir sind Freunde“, sagte er mit einem schiefen Grinsen. „Amigos.“

„Amigos“, antwortete Russell Boyd. „Ich hoffe, es ist euch klar, dass ihr ohne mich aufgeschmissen seid. Sag ihm das, Tarantino! Sag ihm, dass ohne mich nichts geht.“

„Er weiß es“, antwortete Tarantino.

„Und du? Weißt du es auch?“

Tarantino beantwortete die Frage mit einem Kopfnicken. Da drehte sich Russell um und machte die hintere Tür des Buick auf. „Steigt ein. Ich bringe euch weg von hier, bevor die Cops auftauchen.“

Marcela stieg zuerst ein. Jacinto und Tarantino zwängten sich auch auf den hinteren Sitz, und Tarantino musste seinen Rucksack auf die Knie legen, damit sie überhaupt Platz hatten.

Russell Boyd setzte sich hinters Steuer und drehte den Zündschlüssel. Nichts tat sich. Er fluchte, stieg aus und machte die Kühlerhaube auf. Nach einer Weile kehrte er ins Auto zurück, und jetzt sprang der Motor an, aber er fuhr ohne Licht auf dem schmalen Pfad durchs Schilfgras bis zu einer Straße, die asphaltiert war. Dort schwenkte er nach rechts ab und machte die Scheinwerfer an.

2.

Der Monk war tot. Das konnte niemand mehr ändern. Sonst war alles relativ gut gegangen, in jener Nacht, als Tarantino, Jacinto und Marcela über die Grenze nach Kalifornien gekommen waren. Jacinto hatte zwar einen Menschen umgebracht, aber das war sozusagen in Notwehr geschehen. Außerdem wusste niemand, wer sie waren und wo sie sich versteckten.

Russell Boyd brachte sie zu sich nach Hause. Er wohnte in einem kleinen Holzhaus in der 98. Straße, die zum Bandenrevier der Blauen Echsen gehörte. Bis auf ein paar neuere mehrstöckige Mietskasernen sahen die Häuser an dieser Straße ziemlich gleich aus, alle hatten Giebeldächer, eine Veranda und machten einen ziemlich verlotterten Eindruck.

Russell Boyds Haus war vor Jahren einmal grau gestrichen worden, aber jetzt blätterte die Farbe von den Wandbrettern und dem Verandageländer. Das Haus hatte ein Stockwerk und einen Keller, zu dem eine schmale Treppe von der Küche aus hinunterführte. In zwei Räumen lagen Matratzen auf dem Boden, und es gab einen alten Schrank, einen Stuhl und eine Stehlampe ohne Schirm. Sonst nichts. Der dritte Raum war eine Gerümpelkammer.

Russell Boyd hatte ihnen diese beiden Räume im Keller bis auf weiteres zur Verfügung gestellt. „Obwohl hier die Monks nichts zu suchen haben, lasst ihr euch besser vorläufig draußen nicht blicken“, hatte er sie gewarnt. Und er versprach ihnen, Kleider zu kaufen, damit sie neues Zeug anziehen konnten und nicht mehr wie Flüchtlinge aus El Salvador aussahen.