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Hermann Hesse

Mit der Reife wird man
immer jünger



Betrachtungen und Gedichte über das Alter

Zusammengestellt und mit einem Nachwort versehen von Volker Michels

Insel Verlag

ebook Insel Verlag Berlin 2010

Um einige Texte erweiterte Ausgabe der Edition von 1990

Erste Auflage 2002

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1990 und 2002

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

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durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

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Hinweise zu dieser Ausgabe am Schluß des Bandes

Vertrieb durch den Suhrkamp Taschenbuch Verlag

Umschlag: Michael Hagemann

www.suhrkamp.de

eISBN 978-3-458-73630-1

Gang im Frühling

Jetzt stehen wieder die kleinen klaren Tränen an den harzigen Blattknospen, und erste Pfauenaugen tun im Sonnenlicht ihr edles Samtkleid auf und zu, die Knaben spielen mit Kreiseln und Steinkugeln. Die Karwoche ist da, voll und übervoll von Klängen und beladen mit Erinnerungen, an grelle Ostereierfarben, an Jesus im Garten Gethsemane, an Jesus auf Golgatha, an die Matthäuspassion, an frühe Begeisterungen, erste Verliebtheiten, erste Jünglingsmelancholien. Anemonen nicken im Moos, Butterblumen glänzen fett am Rand der Wiesenbäche.

Einsamer Wanderer, unterscheide ich nicht zwischen den Trieben und Zwängen meines Innern und dem Konzert des Wachstums, das mich mit tausend Stimmen von außen umgibt. Ich komme aus der Stadt, ich bin nach sehr langer Zeit wieder einmal unter Menschen gewesen, in einer Eisenbahn gesessen, habe Bilder und Plastiken gesehen, habe wunderbare neue Lieder von Othmar Schoeck gehört. Jetzt weht der frohe leichte Wind mir übers Gesicht, wie er über die nickenden Anemonen weht, und indem er Schwärme von Erinnerungen in mir aufweht wie Staubwirbel, klingt mir Mahnung an Schmerz und Vergänglichkeit aus dem Blut ins Bewußtsein. Stein am Weg, du bist stärker als ich! Baum in der Wiese, du wirst mich überdauern, und vielleicht sogar du, kleiner Himbeerstrauch, und vielleicht sogar du, rosig behauchte Anemone.

Einen Atemzug lang spüre ich, tiefer als je, die Flüchtigkeit meiner Form und fühle mich hinübergezogen zur Verwandlung, zum Stein, zur Erde, zum Himbeerstrauch, zur Baumwurzel. An die Zeichen des Vergehens klammert sich mein Durst, an Erde und Wasser und verwelktes Laub. Morgen, übermorgen, bald, bald bin ich du, bin ich Laub, bin ich Erde, bin ich Wurzel, schreibe nicht mehr Worte auf Papier, rieche nicht mehr am prächtigen Goldlack, trage nicht mehr die Rechnung des Zahnarztes in der Tasche, werde nicht mehr von gefährlichen Beamten um den Heimatschein gequält, schwimme Wolke im Blau, fließe Welle im Bache, knospe Blatt am Strauch, bin in Vergessen, bin in tausendmal ersehnte Wandlung getaucht.

Zehnmal und hundertmal noch wirst du mich wieder einfangen, bezaubern und einkerkern, Welt der Worte, Welt der Meinungen, Welt der Menschen, Welt der gesteigerten Lust und der fiebernden Angst. Tausendmal wirst du mich entzücken und erschrecken, mit Liedern am Flügel gesungen, mit Zeitungen, mit Telegrammen, mit Todesnachrichten, mit Anmeldeformularen und all deinem tollen Kram, du Welt voll Lust und Angst, holde Oper voll melodischen Unsinns! Aber niemals mehr, gebe es Gott, wirst du mir ganz verloren gehen, Andacht der Vergänglichkeit, Passionsmusik der Wandlung, Bereitschaft zum Sterben, Wille zur Wiedergeburt. Immer wird Ostern wiederkehren, immer wieder wird Lust zu Angst, Angst zu Erlösung werden, wird ohne Trauer mich das Lied der Vergänglichkeit auf meinen Wegen begleiten, voll Ja, voll Bereitschaft, voll Hoffnung.

(1920)

Aufhorchen

Ein Klang so zart, ein Hauch so neu
Geht durch den grauen Tag,
Wie Vogelflügelflattern scheu,
Wie Frühlingsduft so zag.



Aus Lebens Morgenstunden her
Erinnerungen wehn,
Wie Silberschauer überm Meer
Aufzittern und vergehn.



Vom Heut zum Gestern scheint es weit,
Zum lang Vergessenen nah,
Die Vorwelt liegt und Märchenzeit,
Ein offener Garten, da.



Vielleicht ist heut mein Urahn wach,
Der tausend Jahr geruht
Und nun mit meiner Stimme sprach,
Sich wärmt in meinem Blut.



Vielleicht ein Bote draußen steht
Und tritt gleich bei mir ein;
Vielleicht, noch eh der Tag vergeht,
Werd ich zu Hause sein.

Sommers Ende

Es war ein schöner, glänzender Hochsommer hier im Süden der Alpen, und seit zwei Wochen habe ich jeden Tag jene heimliche Angst um sein Ende gespürt, die ich als Beigabe und geheime stärkste Würze alles Schönen kenne. Vor allem fürchtete ich jedes leiseste Anzeichen eines Gewitters, denn von der Mitte des August an kann jedes Gewitter leicht ausarten, kann tagelang dauern, und dann ist es zu Ende mit dem Sommer, selbst wenn das Wetter sich wieder erholt. Gerade hier im Süden ist es beinah die Regel, daß dem Hochsommer durch ein solches Gewitter das Genick gebrochen wird, daß er rasch, lodernd und zuckend erlöschen und sterben muß. Dann, wenn die tagelangen wilden Zuckungen eines solchen Gewitters am Himmel vorüber sind, wenn die tausend Blitze, die unendlichen Donnerkonzerte, das wilde rasende Sichergießen der lauen Regenströme verrauscht und vergangen sind, blickt eines Morgens oder Nachmittags aus dem verkochenden Gewölk ein kühler, sanfter Himmel, von seligster Farbe, alles voll Herbst, und die Schatten in der Landschaft sind ein wenig schärfer und schwärzer, haben an Farbe verloren und an Umriß gewonnen, so wie ein Fünfzigjähriger, der gestern noch rüstig und frisch aussah, nach einer Krankheit, nach einem Leid, nach einer Enttäuschung plötzlich das Gesicht voll kleiner Fäden und in allen Falten die kleinen Zeichen der Verwitterung sitzen hat. Furchtbar ist solch letztes Sommergewitter, und grauenvoll der Todeskampf des Sommers, sein wilder Widerwille gegen das Sterbenmüssen, seine tolle schmerzliche Wut, sein Umsichschlagen und Bäumen, das doch alles vergeblich ist und nach einigem Toben hilflos erlöschen muß.

Dieses Jahr scheint der Hochsommer nicht jenes wilde, dramatische Ende zu nehmen (obwohl es noch immer möglich ist), er scheint diesmal den sanften, langsamen Alterstod sterben zu wollen. Nichts ist für diese Tage so charakteristisch, bei keinem andern Anzeichen empfinde ich diese besondere, unendlich schöne Art von Sommer-Ende so innig wie am späten Abend bei der Heimkehr von einem Gang oder von einem ländlichen Abendmahl: Brot, Käse und Wein in einem der schattigen Waldkeller. Das Eigene an diesen Abenden ist die Verteilung der Wärme, das stille langsame Zunehmen der Kühle, des nächtlichen Taues und das stille, unendlich biegsame Fliehen und Sichwehren des Sommers. In tausend feinen Wellen macht dieser Kampf sich spürbar, wenn man zwei oder drei Stunden nach Sonnenuntergang unterwegs ist. Dann sitzt in jedem dichten Walde, in jedem Gebüsch, in jedem Hohlweg die Tageswärme noch gesammelt und verkrochen, hält sich die ganze Nacht hindurch zäh am Leben, sucht jeden Hohlraum, jeden Windschutz auf. An der Abendseite der Hügel sind zu diesen Stunden die Wälder lauter große Wärmespeicher, rundum benagt von der Nachtkühle, und jede Bodensenkung, jeder Bachlauf nicht bloß, nein, auch jede Art und Dichtigkeit der Bewaldung drückt sich dem Wandernden genau und unendlich deutlich in den Abstufungen der Wärme aus. Genau so wie ein Skiläufer beim Durchfahren eines Berggeländes die ganze Bildung des Landes, jede Hebung und Senkung, jede Längs- und Seitenrippe der Gebirgsstruktur rein sinnlich in seinen wiegenden Knien spüren kann, so daß er nach einiger Übung aus diesem Knie-Gefühl das gesamte Bild eines Berghanges während der Abfahrt ablesen kann, so lese ich hier in der tiefen Dunkelheit der mondlosen Nacht aus den zarten Wärmewellen das Bild der Landschaft ab. Ich trete in einen Wald, schon nach drei Schritten von einer rasch zunehmenden Wärmeflut wie von einem sanft glühenden Ofen empfangen, ich finde diese Wärme mit der Dichtigkeit des Waldes anschwellen und abnehmen; jeder leere Bachlauf, der zwar längst kein Wasser mehr, aber doch in der Erde noch einen Rest von Feuchtigkeit bewahrt hat, kündigt sich durch ausstrahlende Kühle an. Zu jeder Jahreszeit sind ja die Temperaturen verschiedener Punkte eines Geländes verschieden, aber nur in diesen Tagen des Übergangs vom Hochsommer zum Frühherbst spürt man sie so stark und deutlich. Wie im Winter das Rosenrot der kahlen Berge, wie im Frühling die strotzende Feuchtigkeit von Luft und Pflanzenwuchs, wie beim ersten Sommerbeginn das nächtliche Schwärmen der Glühwürmer, so gehört gegen das Ende des Sommers dies merkwürdige nächtliche Gehen durch die wechselnden Wärmewogen zu den sinnlichen Erlebnissen, die am stärksten auf Stimmung und Lebensgefühl wirken.

Wie doch gestern nacht, als ich vom Waldkeller nach Hause ging, dort bei der Mündung des Hohlweges gegen den Friedhof von Sant’ Abbondio mir die feuchte Kühle der Wiesen und des Seetals entgegenschlug! Wie die wohlige Waldwärme zurückblieb und sich scheu unter den Akazien, Kastanien und Erlen verkroch! Wie der Wald sich gegen den Herbst, wie der Sommer sich gegen das Sterbenmüssen wehrte! So wehrt sich der Mensch in den Jahren, wo sein Sommer sinkt, gegen das Welken und Sterben, gegen die eindringende Kühle des Weltraums, gegen die eindringende Kühle im eigenen Blut. Und mit erneuter Innigkeit gibt er sich den kleinen Spielen und Klängen des Lebens hin, den tausend holden Schönheiten seiner Oberfläche, den zärtlichen Farbenschauern, den huschenden Wolkenschatten, klammert sich lächelnd und angstvoll an das Vergänglichste, sieht seinem Sterben zu, schöpft Angst und schöpft Trost daraus, und lernt schaudernd die Kunst des Sterbenkönnens. Hier liegt die Grenze zwischen Jugend und Alter. Mancher hat sie schon mit vierzig Jahren oder früher überschritten, mancher spürt sie erst spät in den Fünfzigern oder Sechzigern. Aber es ist immer dasselbe: statt der Lebenskunst beginnt jene andere Kunst uns zu interessieren, statt der Bildung und Verfeinerung unserer Persönlichkeit beginnt deren Abbau und Auflösung uns zu beschäftigen, und plötzlich, beinah von einem Tag auf den andern, empfinden wir uns als alt, empfinden wir die Gedanken, Interessen und Gefühle der Jugend als fremd. Diese Tage des Übergangs sind es, in welchen solche kleine zarte Schauspiele wie das Verglühen und Hinsterben eines Sommers uns ergreifen und bewegen können, uns das Herz mit Staunen und Schaudern erfüllen, uns zittern und lächeln machen.

Schon hat auch der Wald das Grün von gestern nicht mehr, und die Rebenblätter beginnen gelber zu scheinen, unter ihnen werden die Beeren schon blau und purpurn. Und die Berge haben gegen Abend das Violett, und der Himmel die smaragdenen Töne, die zum Herbst hinüberführen. Was dann? Dann wird es wieder zu Ende sein mit den Abenden im Grotto, und zu Ende mit den Badenachmittagen am See von Agno, und zu Ende mit dem Draußensitzen und Malen unter den Kastanienbäumen. Wohl dem, der dann eine Heimkehr zu geliebter und sinnvoller Arbeit, zu geliebten Menschen, zu irgendeiner Heimat hat! Wer das nicht hat, wem diese Illusionen zerbrochen sind, der kriecht alsdann vor der beginnenden Kälte ins Bett oder flieht auf Reisen, und sieht als Wanderer hier und dort den Menschen zu, welche Heimat haben, welche Gemeinschaft haben, welche an ihre Berufe und Tätigkeiten glauben, sieht ihnen zu, wie sie arbeiten, sich anstrengen und mühen, und wie über all ihrem guten Glauben und all ihrer Anstrengung langsam und ungesehen sich die Wolke des nächsten Krieges, des nächsten Umsturzes, des nächsten Untergangs zusammenzieht, nur den Müßiggängern, nur den Ungläubigen und Enttäuschten sichtbar – den Altgewordenen, die an Stelle des verlornen Optimismus ihre kleine, zärtliche Altersvorliebe für bittere Wahrheiten gesetzt haben. Wir Alten sehen zu, wie unterm Fahnenschwenken der Optimisten jeden Tag die Welt vollkommener wird, wie jede Nation sich immer göttlicher,

immer fehlerloser, immer berechtigter zu Gewalt und frohem Angriff fühlt, wie in der Kunst, im Sport, in der Wissenschaft die neuen Moden und neuen Sterne auftauchen, die Namen glänzen, die Superlative aus den Zeitungen tropfen, und wie das alles glüht von Leben, von Wärme, von Begeisterung, von heftigem Lebenswillen, von berauschtem Nichtsterbenwollen. Woge um Woge glüht auf wie die Wärmewogen im Tessiner Sommerwald. Ewig und gewaltig ist das Schauspiel des Lebens, ohne Inhalt zwar, aber ewige Bewegung, ewige Abwehr gegen den Tod.

Manche gute Dinge stehen uns noch bevor, ehe es wieder in den Winter hinein geht. Die bläulichen Trauben werden weich und süß werden, die jungen Burschen werden bei der Ernte singen, und die jungen Mädchen in ihren farbigen Kopftüchern werden wie schöne Feldblumen im vergilbenden Reblaub stehen. Manche gute Dinge stehen uns noch bevor, und manches, was uns heute noch bitter scheint, wird uns einst süß munden, wenn wir erst die Kunst des Sterbens besser werden gelernt haben. Einstweilen warten wir noch auf das Reifwerden der Trauben, auf das Fallen der Kastanien, und hoffen, den nächsten Vollmond noch zu genießen, und werden zwar zusehends alt, sehen aber den Tod doch noch recht weit in der Ferne stehen. Wie ein Dichter gesagt hat:

Herrlich ist für alte Leute
Ofen und Burgunder rot,
Und zuletzt ein sanfter Tod –
Aber später, noch nicht heute!

(1926)

Altwerden

All der Tand, den Jugend schätzt,
Auch von mir ward er verehrt,
Locken, Schlipse, Helm und Schwert,
Und die Weiblein nicht zuletzt.



Aber nun erst seh ich klar,
Da für mich, den alten Knaben,
Nichts von allem mehr zu haben.
Aber nun erst seh ich klar,
Wie dies Streben weise war.



Zwar vergehen Band und Locken
Und der ganze Zauber bald;
Aber was ich sonst gewonnen,
Weisheit, Tugend, warme Socken,
Ach, auch das ist bald zerronnen,
Und auf Erden wird es kalt.



Herrlich ist für alte Leute
Ofen und Burgunder rot
Und zuletzt ein sanfter Tod –
Aber später, noch nicht heute!





»Jugend« ist das in uns, was Kind bleibt, und je mehr dessen ist, desto reicher können wir auch im kühlbewußten Leben sein.

(Aus einem Brief von 1912
an Wilhelm Einsle)



Wie lang war es in der Kinderzeit von einem Geburtstag bis zum anderen! Im Älterwerden geht das immer schneller.

(Aus einem Brief vom Dezember 1960
an seinen Sohn Bruno)





Im Alter spürt man oft den Widerspruch, daß zwar die Jahre ungeheuer schnell, die Tage oder Stunden aber oft so langsam hingehen.

(Aus einem Brief vom Dezember 1949 an Otto Korradi)





Man wird so schnell alt, wenn man mit dem Kurs der Welt uneins ist.

(Aus einem Brief vom 21. 10. 1929 an Carlo Isenberg)





Im Älterwerden liebt man den Herbst immer mehr, während man den Frühling fürchtet.

(Aus einem Brief vom 26. 10. 1929 an Elsy Bodmer)





Es ist mit dem Altwerden wie Goethe von der Einsamkeit sagt: wer sich ihr ergibt, ist bald allein. Und wer sich dem Altwerden ergibt, ist schnell alt. Jeden Abend steht das graue Gespenst am Bett. Aber ich werde vorher noch einige Male um mich schlagen, und einige Feuerwerke loslassen.

(Aus einem Brief vom Januar 1920 an Anni Bodmer)





Die Großeltern, die Alten, die schon selbst wieder mit dem Kindwerden beschäftigt sind, nehmen die Kinder nicht ernst, so wenig als sie sich selber ernst nehmen. Pathos ist eine schöne Sache und jungen Menschen steht es oft wundervoll. Für ältere Leute eignet sich besser der Humor, das Lächeln, das Nichternstnehmen, das Verwandeln der Welt in ein Bild, das Betrachten der Dinge als seien sie flüchtige Abendwolkenspiele.

(Aus der Betrachtung »Abendwolken«, 1926)

Spätsommer

Noch schenkt der späte Sommer Tag um Tag
Voll süßer Wärme. Über Blumendolden
Schwebt da und dort mit müdem Flügelschlag
Ein Schmetterling und funkelt sammetgolden.



Die Abende und Morgen atmen feucht
Von dünnen Nebeln, deren Naß noch lau.
Vom Maulbeerbaum mit plötzlichem Geleucht
Weht gelb und groß ein Blatt ins sanfte Blau.



Eidechse rastet auf besonntem Stein,
Im Blätterschatten Trauben sich verstecken.
Bezaubert scheint die Welt, gebannt zu sein
In Schlaf, in Traum, und warnt dich, sie zu wecken.



So wiegt sich manchmal viele Takte lang
Musik, zu goldener Ewigkeit erstarrt,
Bis sie erwachend sich dem Bann entrang
Zurück zu Werdemut und Gegenwart.



Wir Alten stehen erntend am Spalier
Und wärmen uns die sommerbraunen Hände.

Noch lacht der Tag, noch ist er nicht zu Ende,
Noch hält und schmeichelt uns das Heut und Hier.

Von der alten Zeit

In meiner Heimat wohnt ein alter Gymnasialprofessor, einer von den guten, der schreibt mir alle Jahre einmal einen Brief. Er wohnt in seinem Einsiedlerhäuschen und Garten still und nachdenklich dahin, und wenn in der Stadt jemand begraben wird, so ist es meist ein früherer Schüler von ihm. Dieser alte Herr hat mir kürzlich wieder geschrieben. Und obwohl ich selbst einer ganz anderen Meinung bin und ihm in meiner Antwort kräftig widersprochen habe, scheint mir seine Betrachtung über die alte und neue Zeit doch lesenswert, so daß ich dieses Stück aus seinem Brief hier mitteile. Es heißt:

»… Es will mir nämlich vorkommen, die heutige Welt sei von der, die zu meinen jungen Zeiten noch bestand und galt, durch eine größere Kluft getrennt, als sonst Generationen voneinander getrennt sind. Wissen kann ich es nicht, und die Geschichtschreibung scheint zu lehren, meine Ansicht sei ein Irrtum, dem jedes alternde Geschlecht verfalle. Denn der Fluß der Entwicklungen ist ein stetiger, und zu allen Zeiten sind die Väter von den Söhnen überwunden und nicht mehr verstanden worden. Dennoch kann ich mein Gefühl nicht ändern, es sei – wenigstens in unserem Volk und Land – in den letzten Jahrzehnten alles viel gründlicher anders geworden und als habe unsere Geschichte eine viel raschere Gangart angenommen als in früheren Zeiten.

Soll ich bekennen, was mir an diesem Umschwung des Zeitgeistes als das Wesentlichste erscheint? Da ist, um es kurz zu sagen, ein überall spürbares Abnehmen der Ehrfurcht und der Keuschheit. Ich will die alten Zeiten nicht loben. Ich weiß, daß es jederzeit nur eine kleine Minderheit von Guten und Brauchbaren gegeben hat, einen Denker auf tausend Redner, einen Frommen auf tausend Seelenlose, einen Freien auf tausend Philister. Im Grunde war vielleicht nichts Einzelnes früher besser als heute. Aber im Ganzen war, scheint mir, bis vor einigen Jahrzehnten in unserem allgemeinen Lebenshabitus mehr Anstand und Bescheidenheit als heute. Jetzt wird alles mit größerem Getöse und größerer Eigenliebe getan, und die Welt hallt von der Überzeugung wider, sie stehe an der Schwelle der goldenen Zeit, während doch niemand zufrieden ist.

Ringsum ergeht ein Reden, Predigen und Schreiben von Wissenschaft, von Kultur, von Schönheit, von Persönlichkeit! Aber die Einsicht, daß alle diese wertvollen Dinge nur in Stille und nächtlichem Wachstum gedeihen können, scheint durchaus vergessen zu sein. Jede Wissenschaft und Erkenntnis hat es so eilig, gleich auch Früchte zu tragen und sichtbare Erfolge sehen zu wollen.

Das Erkennen eines natürlichen Gesetzes, an sich ein so erhabenes und inniges Ereignis, wird mit bedenklicher Hast in die Praxis gezogen – als ob man einen Baum zu schnellerem Wachstum nötigen könnte, wenn man das Gesetz seines Wachsens erkannt hat. Und so ist überall ein Wühlen an den Wurzeln, ein Experimentieren und Goldmachen am Werk, dem ich mißtrauen möchte. Es gibt weder für die Gelehrten noch für die Dichter mehr Dinge, über welche man schweigt. Es wird alles besprochen, bloßgelegt und beleuchtet, und jedes Forschen will gleich ein Wissen sein. Eine neue Erkenntnis, ein neuer Fund eines Forschers steht, noch ehe der Mann damit ganz fertig ist, schon popularisiert und ausgebeutet in den Zeitungen. Und jedes Fündlein eines Anatomen oder Zoologen bringt gleich auch die Geisteswissenschaft ins Zittern! Eine Spezialstatistik beeinflußt Philosophen, eine mikroskopische Entdeckung die Seelenlehren der Theologen. Und gleich ist auch ein Dichter da, der den Roman dazu schreibt. Alle jene alten, heiligen Fragen um die Wurzeln unseres Lebens sind aktuelle Unterhaltungsstoffe, von jedem Hauch der Mode in Wissenschaft und Kunst berührt und beeinflußt. Es scheint kein Schweigen, kein Wartenkönnen, auch keinen Unterschied zwischen Großem und Kleinem mehr zu geben.

Im sichtbaren täglichen Leben ist es ebenso. Lebensregeln, Gesundheitslehren, Häuser- und Möbelformen und andere Gegenstände längeren Gebrauchs, denen sonst eine gewisse Stabilität anhaftete, wechseln heute so eilig wie Kleidermoden. Jedes Jahr ist auf jedem Gebiet der Gipfel erklommen und das Endgültige geleistet. Im Leben der einzelnen Familien führt das alles zu einem argen Riß zwischen innen und außen, zwischen Schauseite und Innenseite, und damit zu einem Verfall der Sitte und Lebenskunst, dessen Grundzug ein erstaunlicher Mangel an Phantasie ist.