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ISBN 978-3-7065-5862-4

Buchgestaltung nach Entwurfen von Kurt Horetzeder

Satz: Da-TeX Gerd Blumenstein, Leipzig

Umschlag: Karin Berner

Umschlagfoto: © aau/hoi, Peter Turrini bei der Ehrendoktoratsverleihung am 24.9.2010

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Arno Rußegger/Edward Białek/Krzysztof Huszcza (Hrsg.)

Ein romantischer Realist

Peter Turrinis Leben, Werk und Wirkung

Arno Rußegger

Vorwort

Der vorliegende Sammelband rekapituliert die Ergebnisse einer Tagung, die im Oktober 2014 an der Universität Wrocław in Polen stattgefunden hat. Äußerer Anlass war der 70. Geburtstag des österreichischen Schriftstellers Peter Turrini am 26. September. Die Veranstaltung war international besetzt und versammelte nicht nur LiteraturwissenschaftlerInnen unterschiedlicher philologischer Ausrichtung, sondern auch Praktiker und Kulturvermittler, vor allem aus dem Theaterbetrieb. Sie alle legten ein beredtes Zeugnis dafür ab, welch intensive Rezeption Turrinis Werke in vielen Ländern der Welt seit Jahrzehnten erfahren und wie groß die Wertschätzung ist, die dem Autor auch persönlich entgegengebracht wird.

Zur Sprache kommen im Folgenden die mannigfachen Facetten eines Œuvres, dessen Formenreichtum, Phantasie und Realitätssinn ebenso gewürdigt werden, wie Turrinis Ironie und innere Wahrhaftigkeit. Es wird deutlich gemacht, in welchen Traditionen der Autor steht und inwiefern zugleich Impulse von ihm ausgehen, um andere hinsichtlich ihrer Kunst zu inspirieren. Nicht von ungefähr sind wesentliche Texte Turrinis kooperativ entstanden, zuletzt in Zusammenarbeit mit Silke Hassler, die sich auch als Neu-Herausgeberin seiner älteren Werke sehr verdient gemacht hat.

So ist mittlerweile ein guter Überblick über das ganze Schaffen Turrinis vorhanden, was sich in der Zusammenstellung der Beiträge zu diesem Band spiegelt. Es reihen sich fachspezifische Studien an essayistische, durchaus kritische Auseinandersetzungen mit Turrinis Positionen als stets innovativer, um den adäquaten ästhetischen Ausdruck seiner Themen und Anliegen ringender Künstler – sei es in Gedichten, Filmen, öffentlichen Reden und Stellungnahmen, Performances, Thea­terstücken, Kinderbüchern oder Nachdichtungen berühmter Werke der Literaturgeschichte. Auf diese Weise kristallisieren sich bestimmte Motivkomplexe und Kontexte heraus (wie etwa der Katholizismus oder Turrinis unermüdlicher Kampf gegen Xenophobie), denen grundsätzliches Gewicht zukommt – oft auch für die Entwicklung der österreichischen Literatur nach 1945 insgesamt. Dort, wo es im Einzelnen um die Rezeption und Wirkung seiner schöpferischen Arbeit geht, wird immer auch das konkrete gesellschaftspolitische Engagement erkennbar, mit dem sich Turrini der menschlichen Existenz in all ihren Daseinsformen widmet.

Manfred Durzak

Was ist das Bürgerliche in den ‚bürgerlichen‘ Dramen von Peter Turrini?

I.

Bei seinem Stück Die Bürger (1981), das Turrini in seinem Band Bei Einbruch der Dunkelheit: Bürgerliche Dramen (2007) zusammen mit den beiden Stücken bei Einbruch der Dunkelheit (2005) und Gott im Wiener Wald (2007) veröffentlicht hat, stellt sich die Frage, ob die Genre-Bezeichnung bürgerliches Drama nur eine Verlegenheitsformel darstellt. Ist sie nur inhaltlich begründet, weil die Protagonisten, Künstler, Musiker, Theaterleute, Rechtsanwälte, Ärzte, einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht angehören, die als soziale Elite beispielsweise mit dem grobianischen Personal seiner frühen Volksstücke nichts mehr zu tun hat? Gleich zu Anfang des Stückes Die Bürger findet sich im Gespräch zwischen dem Schriftsteller und Verena, der Ehefrau des erfolgreichen Arztes Schneider und heimliche Geliebte des Schriftstellers, der Hinweis auf ein berühmtes bürgerliches Trauerspiel der deutschen Literatur, nämlich Schillers Kabale und Liebe (1784). Verena zitiert einen Verriss des seinerzeit um seine literarische Anerkennung ringenden literarischen Outcasts Karl Philipp Moritz in der Berlinischen Wochenschrift (und nicht, wie Turrini irrtümlich schreibt, in der Vossischen Zeitung, siehe Turrini 2007, S. 83) vom 21. Juli 1784:

Wieder einmal ein Product, das unseren Zeiten Schande macht. Mit welcher Stirn kann ein Mensch doch solchen Unsinn schreiben und aufführen lassen, und wie muß es in dessen Kopf und Herz aussehen, der solche Geburten seines Geistes mit Wohlgefallen betrachtet. So schreiben, heißt Geschmack und gesunde Kritik mit Füßen treten, endlose Seiten voll ekelhafter Wiederholungen gemeinster Ausdrücke. Alles, was dieser Verfasser angreift, wird unter seinen Händen zu Schaum und Blase.

Moritz, der von einem klassischen Literaturideal Winckelmannscher Prägung aus argumentiert, verschließt sich hier den revolutionären Impulsen Schillers, der die Liebe zwischen dem Adelsspross Ferdinand und der Musikanten-Tochter Luise Miller über alle ständischen Barrieren stellt und den höfischen Landesherrn geißelt, der Untertanen als Söldner nach Amerika verkauft, nur um seiner Mätresse, Lady Millford, ein teures Geschmeide finanzieren zu können. Auch wenn die Mess­aliance durch üble Intrigen verhindert wird und die Liebenden in den Tod führt, bleibt auch in der gesellschaftlichen Negation der emanzipatorische Anspruch von Schillers Stück erhalten: dass es einen Bereich des menschlichen Gefühls gibt, der sich der höfischen Unterordnung verweigert und Autonomie (wenn auch vergeblich) beansprucht.

Am Ende des Stückes Die Bürger findet sich ein weiterer Hinweis auf diesen Kontext, nämlich in der Äußerung des „Alten“, des Vaters des erfolgreichen Arztes Schneider, der seinen alten Herrn entmündigen lassen möchte, um an das Vermögen heranzukommen. Dieser Alte, der sich subversiv verweigert und der neben dem sprachlos gewordenen Sohn Heiner der Einzige ist, der sich den eingespielten Mechanismen dieser Gesellschaftsschicht entzieht, bleibt für Turrini eine Stimme der Vernunft. In einem Kommentar von 1981 Über die Bürger hat der Autor über beide Personen Folgendes geäußert:

In meinem Stück gibt es zwei Menschen, die aus einer anderen Generation stammen. Einen Alten, bei dem Sprache und Gefühle noch identisch sind, der spricht, wie er denkt und fühlt. Der andere ist ein Junge, der überhaupt nichts mehr sagt. Sein Schweigen ist die Antwort auf das zu Sprachfloskeln erstarrte Reden seiner Umgebung. (zitiert nach Turrini 2007, S. 140)

Schließlich verweist der Alte auf Goethes Werther: „Werther war kein Liebesdrama, das ist ein Irrtum, es ist das große politische Drama des rechtlosen Bürgers, der als Kanaille aus der Gesellschaft verwiesen wird.“ (Turrini 2007, S. 132)

Sicherlich, die Desillusionierung Werthers, der im zweiten Teil des Briefromans einem pedantischen Gesandten zugeordnet ist und die höfische Praxis als Selbstverleugnung und Liebedienerei kennenlernt, ist unübersehbar. Aber seine Konfliktlage entsteht nicht zuletzt aus der Verabsolutierung seines auf die bereits vergebene Lotte gerichteten Liebesverlangens, dem die Verwirklichung versagt bleibt und das ihn letztlich in den Tod treibt. Auch hier lassen sich deutlich die Momente erkennen, die das Bürgerlich-Sein der Menschen begründen: Es entsteht ein Innenraum der Gefühle, eine Enklave der Innerlichkeit, die sich als Vorstellung der Selbstbestimmung des eigenen Ichs und seiner moralischen Integrität und eines subjektiven Glücksverlangens dem Zugriff der höfischen Realität widersetzt. Das sind komplexe Sachverhalte. Sie laufen tendenziell darauf hinaus, dass dieser historische Durchsetzungsprozess des Bürgertums mit dem Prozess der allmählichen Herausbildung eines neuen Bewusstseins verbunden ist, das vom Anspruch auf die Wichtigkeit der eigenen Empfindungsweise über die Forderung nach moralischer Selbstbestimmung bis hin zu dem Appell der revolutionären Aktivität mit dem Ziel einer Veränderung der etablierten gesellschaftlichen Machtverhältnisse reicht. Es geht um den Prozess der historischen Emanzipation des Bürgertums. Der Literaturwissenschaftler Peter Szondi hat das in seiner Theorie des bürgerlichen Trauerspiels im 18. Jahrhundert (1973) so auf den Punkt gebracht: „Es ist das Allgemeinmenschliche, entscheidender Glaubenspunkt der revolutionären bürgerlichen Ideologie des 18. Jahrhunderts.“ (Szondi 1973, S. 111; zur historischen Entwicklung der Gattung vgl. Guthke 1994)

Auf diesen wichtigen historischen Sachverhalt, die Entstehung eines Bereiches der Innerlichkeit und der Intimität, der sich als subjektive Privatheit von den Ansprüchen einer feudalen Öffentlichkeit abspaltet, ist das Moment des Bürgerlichen im 18. Jahrhundert unmittelbar bezogen. Ich will Turrini nicht unterstellen, dass diese historischen Sachverhalte ihm unmittelbar bewusst waren. Aber sie tauchen im zweimaligen Zitat als historische Orientierungssignale in seinem Stück Die Bürger auf und lassen in der Differenz zwischen dem einstigen Aufklärungsziel einer Humanisierung des menschlichen Verhaltens und dem aktuellen Ist-Zustand des gegenwärtigen entmenschlichten Miteinanders erkennen, was aus dem Bürgerlichen inzwischen geworden ist.

II.

Ich will das im Folgenden am Beispiel der drei bürgerlichen Dramen seines Bandes Bei Einbruch der Dunkelheit zu akzentuieren versuchen. Ich beginne mit dem radikalsten Beispiel, dem Stück Gott im Wienerwald von 2007, einer Neufassung seines Stückes Die Schlacht um Wien, das 1995 am Burgtheater uraufgeführt wurde. Das Stück ist ein parabelhaftes Endspiel, das einen alt und müde gewordenen Gott als passiven Zuschauer einer zufällig zusammengewürfelten Gruppe von Menschen zeigt. Diese Menschen sind nicht als Erholungsuchende in den Wiener Wald gekommen wie seinerzeit in Horváths Geschichten aus dem Wiener Wald (1931). Das Schicksal des „süßen Mädels“ Marianne zwischen dem rabiaten Fleischhauer Oskar und dem Hallodri Alfred wird bei Horváth im Kontext einer Sommerfrische in eine unausweichliche Unglücksverkettung gelenkt. Die Personen Turrinis sind hingegen dem Aufruf zu einem Mörderspiel gefolgt, das einer Expedition ins wirkliche Leben gleichkommen soll. Der Theaterdirektor begründet das so:

[...] ich habe mich zur Gruppe „Mörder“ gemeldet, um endlich das nackte Entsetzen kennenzulernen. Nicht in der Kunst, nicht auf der Bühne, dort habe ich es schon hundertmal inszeniert. [...] Aber was sind Kübel von Theaterblut gegen drei Tropfen, die von der Stirn eines Kindes rinnen, welches gerade von einem Heckenschützen mitten in den Kopf getroffen wurde? Ich muß näher an die Wirklichkeit heran, verstehen Sie? Soll ich weiterhin Theaterstücke aufführen, in denen von Menschenrechten gefaselt wird, während im Publikum Leute sitzen, die mit Waffen und ähnlichen Geräten prächtige Geschäfte machen? Wenn ein Schauspieler das Wort Menschenrechte ausspricht, dann dauert das ungefähr zwei Sekunden. „Menschenrechte“. Und in diesen zwei Sekunden werden weltweit ungefähr zweitausend Menschen gewaltsam zu Tode gebracht. (Turrini 2007, S. 154)

Humanisierung der Menschen als Aufklärungsziel ist in der Gegenwart zur Phrase eines gespaltenen Bewusstseins geworden, das appellativ moralisches Verhalten propagiert und gleichzeitig Geschäfte mit den Agenten des Todes macht. Der Theaterdirektor ist wie der Autor Turrini selbst in dieser Aporie gefangen, die widersprüchliche Wirklichkeit anprangern zu müssen, aber es nur mit ästhetischen Mitteln tun zu können. Die Grausamkeit und das Entsetzen eines sich real vollziehenden Todes, des Kindes, das von einer Kugel in der Stirn getroffen wird, könnte möglicherweise den Schock auslösen, der das Entsetzen kreatürlich und körperlich werden lässt.

Von einem autonomen Bereich der Innerlichkeit, der als Gewissensinstanz und moralischer Kompass des einzelnen sichtbar wird, ist konkret nichts mehr zurückgeblieben. Der Prozess der Regression und Barbarisierung ist so umfassend, dass nur noch die Erfahrung des Todes als Existential des eigenen Lebens gilt. Während der Cellospieler ununterbrochen seine monotone traurige Melodie spielt und das junge Mädchen verwirrt auf der Suche nach dem Schönen durch den Wald irrt, versucht der Theaterdirektor auf seine gewohnt theatralische Weise seinen Tod zu inszenieren im historischen Beispiel des Bruders von Kaiser Franz Joseph, Maximilian von Mexiko, der, für kurze Zeit zum Kaiser von Mexiko ernannt, in den Wirren der mexikanischen Revolution verhaftet und exekutiert wird. Die Operettensängerin, die sich insgeheim eine Anstellung durch den Theaterdirektor erhofft, wird aufgefordert, auf ihn, der im Gestus Maximilians schwadroniert, zu schießen: „Ich blute aus vielen Wunden. Die Geschichte wird mir recht geben. Jetzt müssen Sie auf mich anlegen und schießen.“ (ebd., S. 166)

Die absurde Überdrehung der Situation zeigt sich darin, dass er tatsächlich erschossen wird. Sein von ihm herumgestoßenes Theater-Faktotum, der alte Mann, der die Theatralik offenbar durchschaut und äußert: „Sie wissen doch, Herr Direktor, am Theater ist nichts echt.“ (ebd., S. 167), wird von ihm korrigiert: „Soll das ein Witz sein, Fröhlich? Hat die Requisite eine Platzpatrone mit einer echten Patrone verwechselt?“ (ebd.)

Der Sterbende hat auf groteske Art und Weise sein Ziel erreicht, das Entsetzen des Todes kennenzulernen. Eine analoge absurde Pointe weist auch der zweite Zufalls-Tod auf. Der depressive Cellospieler, der sich umbringen will, fragt den Journalisten nach einer Pistole. Dieser will ihn nicht etwa von seinem Selbstmord abbringen, sondern sieht die Chance auf eine sensationelle Geschichte für die Seite vier seiner Zeitung. Auch der Journalist will den Tod inszenieren, indem er dem Cellospieler vorschlägt:

Sie können doch nicht tonlos sterben. Sie müssen eine Geschichte erzählen, eine phantastische Geschichte. Die Menschen müssen mit Ihnen leiden, um Sie bangen, und paff, jagen Sie sich eine Kugel in den Kopf. Aber vorher die Geschichte. (ebd., S. 193)

Als zufällig die Jugendbande auftaucht, gibt der Journalist dem Anführer der jungen Leute die Pistole mit dem Hinweis, den Cellospieler zu erschießen, während er seine Kamera in Anschlag bringt. Seine Aufforderung: „Irgend etwas Dramatisches wird Ihnen doch einfallen.“ (ebd., S. 194) wird auf absurde Weise erfüllt. Aus dem geplanten Selbstmord soll ein Mord werden. Der jugendliche Mörder erschießt freilich nicht den Cellospieler, sondern den Journalisten. Das als Freizeitvergnügen inszenierte Mörderspiel wird grausame Wirklichkeit. Die Morde als Schwellenüberschreitung zum aufrüttelnden Entsetzen ereignen sich als absurde Zufälle.

Das menschliche Miteinander ist auf einer Ebene des vorzivilisatorischen Umgangs zu einem Totentanz geworden von Kreaturen, die jede Mitmenschlichkeit eingebüßt haben. Die Plautus-Sentenz Homo homini lupus, die der englische Philosoph Thomas Hobbes in seinem Leviathan (1651) auf den Naturzustand des Menschen bezogen hat, ist zum Prinzip der Wirklichkeit geworden. Im bedrohlichen Meeresungeheuer Leviathan wird dieser dunkle Untergrund des Naturzustandes verbildlicht. Ein alt gewordener müder Gott registriert diesen Katastrophenzustand bewegungslos. In diesem chaotischen Verschlingen und Verschlungenwerden lässt sich auch nicht einmal mehr ein versprengtes schwaches Echo der einstigen Emanzipationshoffnungen der Aufklärung aufspüren.

III.

In dem Stück Die Bürger hat Turrini die aufbrechende Gewaltbereitschaft in den Innenraum einer bürgerlichen Familie verlegt und gleichsam in die Watte ihrer Konventionen eingepackt. Aus der Außenperspektive ist das ein Porträt von erfolgreichen Leuten, die zur feinen Gesellschaft gehören und materiell sichergestellt sind. Dr. Schneider ist ein erfolgreicher Arzt, der kurz vor seinem größten Coup steht, der Gründung seiner Sterbeklinik, die ihm das große Geld bringen soll, wenn der zögerliche Vater sie finanziert. Seine Ehe mit Verena hält nur den äußeren Schein aufrecht, da er auf Ärztekongressen seinen Amouren nachgeht und sie ihrerseits eine Beziehung zu ihrem ständigen Hausgast, einem Schriftsteller, unterhält. Sie beschreibt ihre Ehe wie eine geschäftliche Vereinbarung: „Im Grunde genommen möchte ich, daß er funktioniert, möglichst viel Geld nach Hause bringt, damit ich in Ruhe leben kann. Er ist zuständig für das Geld.“ (ebd., S. 84)

Sie haben die Spitzen der Gesellschaft zu sich eingeladen, den Intendanten und seine Frau, ein Unternehmerehepaar, einen Abgeordneten und einen Schauspieler. Dieses Ensemble von arrivierten Figuren der Gesellschaft wird ergänzt durch den Schriftsteller, den alten Schneider und den schweigsamen Sohn der Schneiders, der, mit einem ständig laufenden Kassettenrecorder ausgestattet, sich akustisch aus allem ausgeblendet hat. Turrini hebt zu Anfang seines Stückes in einer ausführlichen Bühnenanmerkung hervor:

Ich ersuche die Regisseure, die Personen dieses Stückes nicht zu denunzieren, geschweige Kabarettfiguren aus ihnen zu machen. Es gibt keine „Guten“ und „Bösen“ in diesem Stück. Alle „Schlechtigkeiten“ entspringen einer privaten, bürgerlichen Moral und ihrer Rechtfertigung. (ebd., S. 81)

Was hier als bürgerliche Moral angesprochen wird, ist freilich ein berechnendes Kalkül, das jeder auf den andern projiziert, um ihn für seine eigenen Zwecke zu instrumentalisieren. Es ist das Gegenteil des inneren Wertekompasses, der sich in der Entwicklung des bürgerlichen Trauerspiels durchgesetzt hat. Der alte Schneider beschreibt diese Auflösung des Bürgertums mit den Worten: „Es gibt kein Bürgertum mehr in diesem Lande, keine bürgerliche Partei, es gibt nur solche, die meinen, die Gegensprechanlage an ihrem Gartenzaun würde sie daran hindern, ein Gartenzwerg zu sein.“ (ebd., S. 86) Zugleich beschreibt der Alte mit dem Blick auf seine eigene schulische Vergangenheit, was das Bürgertum einmal für ihn bedeutet hat:

Ich werde Ihnen etwas von meinem Bürgertum erzählen … in meiner Schule … akademisches Gymnasium … sogenannte Judenschule … mühsam bin ich durchgebracht worden … lange nachdem Franz Schubert in Mathematik durchgefallen ist … der Schüler Schnitzler … der Schüler Hofmannsthal … meine Klassenkollegen Oppenheim und Edelmann … in unseren glühenden Herzen trugen wir das europäische Alphabet der fortschrittlichen Literatur … das lebende Bürgertum … (ebd., S. 87)

Alles das ist Vergangenheit. Die Vertreter der feinen Gesellschaft demaskieren sich im Verlauf der Abendgesellschaft. Schneider gesteht seinem Nebenbuhler, dass der Abend das „Abschiedsfest“ (ebd., S. 96) seiner Ehe ist, da sich Verena endgültig scheiden lassen will.

Gerhart Hauptmann hat sein zweites Stück Das Friedensfest (1890), in dem sich seine Familie Scholz in wechselseitigen Beschuldigungen selbst zerfleischt, im Untertitel „Eine Familienkatastrophe“ genannt. Das könnte auch auf Turrinis Die Bürger bezogen werden, an deren Ende der Selbstmord des sprachlos gewordenen Sohnes Heiner steht. Aber wenn sich jeder Identitätskern seiner Personen verflüchtig hat, die einzelnen Figuren nur noch Resonanzraum einer selbstzerstörerischen Sprache sind so wie der Kassettenrecorder des Schriftstellers, wird eine mögliche Bewusstseinserhellung aufgehoben und der Katastrophenzustand endgültig gemacht. Turrini ist davon überzeugt: „Ich behaupte, diese Gesellschaft mordet auch mit Sprache, sie mordet vor allem junge Leute, die diese Sprache nicht mehr ertragen und sich in die Sprachlosigkeit bis zur Selbstzerstörung flüchten.“ (ebd., S. 141) Die ästhetischen Mittel, mit denen er das umsetzt, verbleiben innerhalb der Konventionen eines Konversationsstückes und lassen jene Radikalisierung durch absurde Kippbewegungen vermissen, die beispielsweise für Gott im Wienerwald gilt.

Auf andere Weise gilt das auch für das Stück Bein Einbruch der Dunkelheit, das ästhetisch vielschichtiger aufgebaut ist und mit der Figur des 16jährigen Jungen Alois Mitteregger in die biographische Frühgeschichte Turrinis zurückreicht. Der Klagenfurter Germanist Klaus Amann hat in seinem Aufsatz Peter Turrinis ‚Bei Einbruch der Dunkelheit. Ein Stück über den ‚Tonhof? Mit einem Seitenblick auf Thomas Bernhards ‚Holzfällen. Eine Erregung‘ (Amann 2007, S. 155–178.) diese Zusammenhänge detailliert aufgearbeitet. Amann lässt keinen Zweifel daran, dass dieser seit Ende der 1950er Jahre bestehende Künstlerkreis, dem auch Thomas Bernhard jahrelang freundschaftlich zugetan war, eine junge Avantgarde von Künstlern, zu denen einige der wichtigsten Schriftsteller und Schriftstellerinnen Österreichs gehörten, versammelt hatte und sie mäzenatisch förderte. Das gilt auch für den jungen Lyriker Alois, der, in Maria Saal, wo sich der „Tonhof“ befand, aufgewachsen, hier den Zuspruch fand, der ihm in seiner Umgebung als Sohn eines italienischen Gastarbeiters eher verweigert wurde.

Turrinis Stück ist keineswegs ein Beispiel ehrfürchtiger literarischer Erinnerungsarbeit, sondern karikiert an den einzelnen Personen, dem Komponisten ­Philippe, den Gästen, dem Lyriker Vinzenz, dem Maler Giuseppe und dem Anwalt der Familie Meier-Waldhof, die komischen Auswüchse einer elitären Künstlergemeinschaft. Zwischendurch animiert Philippe immer wieder Alois eines seiner Gedichte vorzulesen, die dieser auf Zetteln in seiner Tasche herumträgt. Alois’ Gedichte, die, wie Amann betont hat, aus einem „13-seitigen Gedichtzyklus [Turrinis] aus den Jahren 1957–1959“ (ebd., S. 174) stammen, sind die einzigen sprachlichen Äußerungen, die er, ansonsten stumm und nur gestisch anwesend, von sich gibt. Sie sind im doppelten Sinne authentisch. Authentisch im Sinne von unverstellt und geradeaus sind auch die Äußerungen von Claires Mutter, der alten Gräfin, die unprätentiös mit Frau Schwarz angeredet werden möchte. Sie durchschaut die Gäste, die beiden Kunst-Schmarotzer Vinzenz und Giuseppe, den Anwalt Meier-Waldhof, der im Auftrage Claires ein Entmündigungsverfahren gegen sie anstrengt, wobei der Anwalt insgeheim plant, selbst zum Bevollmächtigten des Vermögens aufzusteigen.

Was dieses Stück im Vergleich zu den beiden anderen Bürgerdramen auszeichnet, ist, dass die Möglichkeit einer Utopie noch nicht völlig erloschen ist. Unter diesem Aspekt ist es bezeichnend, dass am Ende von Gott im Wienerwald die Sätze stehen: „Es wird dunkler, immer dunkler. Bis es ganz dunkel ist. Aus. Ende des Stückes.“ (Turrini 2007, S. 197)

Alles erstirbt in lebloser Schwärze. Es ist ein Ende von trostloser Endgültigkeit. In Bei Einbruch der Dunkelheit hält Claire bis zuletzt an ihrem „Spiel für Erwachsene“ (ebd., S. 24) fest:

Früher haben wir das oft gespielt, ein wunderbares Spiel. Es ist Abend, wir hängen Lampions im Garten auf, die Dunkelheit bricht herein, und ich sage zu Else: „Jetzt!“ Und Else drückt den Hauptschalter der elektrischen Anlage nach unten. Es ist finster im Garten, ganz finster. Und jeder ist ein anderer. Jeder ruft in die Finsternis, wer er ist, wer er schon immer sein wollte. Jede Ausdenkung ist erlaubt. Alles, was wir uns wünschen, wonach wir uns sehnen, dürfen wir sein. (ebd., S. 24–25)

Für einen Augenblick befreit sich das Ich aus seinem alten verhunzten Leben und verwirklicht sich spielerisch in seinen Wünschen und Träumen, in der Vorstellung von einem anderen authentischen Leben. Am Ende, als das Spiel beginnt, ist Claire allerdings fast allein. Nur Alois ist noch da, dessen Hand sie ergreift, um mit ihm in die „Tiefe des Gartens“ (ebd., S. 68) zu laufen. Für den Autor Peter Turrini, der sich zu einem der wichtigsten Dramatiker der österreichischen Literatur entwickelte, hat dieses Spiel offenbar funktioniert.

Literaturverzeichnis

Primärliteratur

Peter Turrini: Bei Einbruch der Dunkelheit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007.

Sekundärliteratur

Klaus Amann: Peter Turrinis ‚Bei Einbruch der Dunkelheit‘. Ein Stück über den ‚Tonhof‘? Mit einem Seitenblick auf Thomas Bernhards ‚Holzfällen. Eine Erregung‘. In: ders. (Hg.): Peter Turrini. Schriftsteller, Kämpfer, Künstler, Narr und Bürger. Salzburg: Residenz 2007, S. 155–178.

Karl S. Guthke: Das deutsche bürgerliche Trauerspiel. 5. Aufl., Stuttgart: Metzler 1994.

Peter Szondi: Theorie des bürgerlichen Trauerspiels im 18. Jahrhundert. Studienausgabe der Vorlesungen. Bd. 1. Hg. v. Gert Mattenklott. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1973.

Marie Reygnier

„Ich hustete wie Kafka“: Masken der Revolte und der Anpassung in Peter Turrinis dramatischem Werk

Mój wykład poświęcam pamięci mojej babci Marii Dobrowolskiej.

Vom 4. März bis zum 19. April 2014 wurde in Paris (Création de LÉtoile du Nord) Peter Turrinis Theaterstück Endlich Schluß (1997) aufgeführt (Enfin la fin; Regisseur: Jean Macqueron; mit Christophe Garcia in der Hauptrolle). Die Hauptfigur, allein auf der Bühne, will bis tausend zählen und sich dann erschießen. Vorher rollt sie ihre Lebensgeschichte auf. Dabei lassen folgende Worte aufhorchen:

Ich hustete wie Kafka, rief mehrere Sanatorien an und wartete auf den Blutsturz. [...] Ich wollte wie Büchner vom Typhus hinweggerafft werden, ich wollte gebissen werden wie Ferdinand Raimund, oder zumindest wie Alban Berg an einem Insektenstich zugrunde gehen. Ich konfrontierte meine Familie, meine Freunde, meine Bekannten mit meinen bedrohlichen Krankheiten, und als ich ihr nachlassendes Interesse bemerkte, weihte ich sie in mein bevorstehendes Sterben ein. (Turrini 1999c, S. 58)

Das wiederholte „wie“ macht stutzig: „Wie Kafka husten“? Wie Büchner „hinweggerafft“, wie Raimund „gebissen“ werden? Wie Alban Berg „zugrunde gehen“? Ihr Leben lang ist diese Figur, wie Peter Paul Sänger in Tod und Teufel (1999), auf der Jagd nach dem Sensationellen. Journalist von Beruf, lebt der Mann in einem Gefühlsvakuum, hat den Zugang zu seinem wahren Selbst verloren und gestikuliert sinnlos, um Aufmerksamkeit zu erregen. Er ist eine der zahlreichen maskierten Figuren, die wir im dramatischen Werk von Peter Turrini antreffen.

Unter Maske verstehe ich hier nicht die materielle Hülle, mit der man das Gesicht verdecken kann. Auch nicht die Schminke, die das Individuelle zugunsten des Kollektivs zurücktreten lässt wie bei Tadeusz Kantor. Unter Maske ist im Folgenden eine ästhetische Vorkehrung gemeint, um die Kluft zwischen Sein und Schein, den Abschied von der eigenen Identität bühnenwirksam zu machen. Maske steht außerdem für Theater schlechthin – auf diese Weise können zwei Bereiche verbunden werden, die Peter Turrini besonders wichtig sind: Theater und Identität.

Ich gehe im Folgenden auf die unterschiedlichen Praktiken ein, für die das Wort Maske als Sammelbegriff steht: Schweigen, Grunzen, Wiederholen, Zitieren bei den revoltierenden Figuren; erwartungsgemäß Sprechen, Handeln und Drauflossprechen bei den angepassten Figuren; zu diesen Figuren kommen schließlich noch diejenigen, die nicht eine, sondern mehrere Masken tragen: sie lügen, imitieren, schauspielern. Abschließen werde ich mich der maskiertesten aller Figuren zuwenden, der alle entstammen und die alle in sich trägt.

Masken der Revolte

Masken der Revolte tragen der Junge, Heiner Schneider, in Die Bürger (1981), Valentin in Sauschlachten (1972), Shakespeare in Die Minderleister (1988).

In Die Bürger sagt Heiner Schneider, Sohn des Gastgebers, kein Wort und erhängt sich am Ende des Stückes. Dieses beharrliche Schweigen inmitten von Leuten, die leere Worte sprechen, ist die Maske der Ablehnung von deren Werten, der Nicht-Zugehörigkeit. Sie ist, so Peter Turrini, eine „schöne Hülle“ (Turrini 1991, S. 10–11). „Die entscheidenden Vorgänge vollziehen sich [nämlich] nicht im Sprechen, sondern jenseits des Gesprochenen“, besagt eine Regieanweisung am Anfang des Stückes (Turrini 1999b, S. 73).

Diese könnte auch für Sauschlachten gelten. Dadurch, dass hier der Protest die hörbare Form des Grunzens annimmt, entsteht eine direkte Konfrontation:

LEHRER Ich zitiere Dichtung, und der grunzt. Bestial! (Turrini 1999a, S. 143)

Von den anderen Figuren werden diese Grunzlaute richtig als Antworten jenseits der Sprache gedeutet, als Abkehr der Sprache und der Menschen, die sie sprechen. Mit der Maske des Grunzens, die keine Nuance zulässt, gibt der feinfühlige Valentin zu verstehen, dass er sich gegen die Sprachdressur, gegen die Sprache der Anpassung auflehnt. Mehr noch: dass er zu diesen Menschen schon nicht mehr gehört. Sein Protest endet mit dem Tod. Wie das Schweigen ist das Grunzen eine Maske, eine ästhetische Möglichkeit, um den Protest bühnenwirksam zu machen. Die grunzende Ablehnung einer Realität und von Menschen, die noch unter dem Einfluss der Nazi-Propaganda stehen, hat eine historische Verankerung: in den 1970er Jahren gab es noch keine offizielle Debatte über Österreichs Verschulden im 2. Weltkrieg. Die alten Nazis bekleideten wieder die Ämter: „[...] da in Österreich ja kaum linke Theorie da war, haben das halt die Künstler übernehmen müssen. Wir hatten keinen Habermas, wir hatten auch keine Philosophen, [...] da war nichts“, so Elfriede Jelinek in einem Interview (Scharang 2006). Im Laufe der Jahre distanzierte sich Peter Turrini von brutalen Vorgängen und Formen eines direkten Protests auf der Bühne. In Die Minderleister treffen wir zum letzten Mal eine Figur an, die eine Maske der Revolte trägt. Obwohl in seinem ganzen Bühnenwerk Die Minderleister den stärksten sozialen Bezug hat, wollte Peter Turrini kein realistisches Stück schreiben. In einer Tagebucheintragung gibt er Auskunft über sein Anliegen:

Ich will kein „Sozialdrama“ schreiben, nichts über „Außenseiter“. Es soll ein großes, archaisches Stück werden, mit einer großen Sprache. Die Arbeiter sind doch keine Minderheit. (Turrini 1999b, S. 221)

Tatsächlich sprechen die Figuren der Minderleister in freien Versen, der Rhythmus hebt sich von dem der Alltagssprache, das Gesagte vom Konkreten ab. Shakespeare ist nicht nur ein betrunkener Bibliothekar, sondern auch der große tote Dichter, der sich mit den Figuren identifiziert. „Wo bleibst du?“, fragt Hans die Kellnerin – „Immer übrig“ (Turrini 1989, S. 51), antwortet sie. „Immer bleibe ich übrig“ (ebd., S. 121), behauptet später auch Shakespeare. „Warum nehmt ihr nicht mich/das alte Fleisch?“ (ebd., S. 57), fragt der Schmelzer. Mit einem anderen Bild bringt Shakespeare seinerseits das Gefühl der Nutzlosigkeit ebenfalls zum Ausdruck: „Ich bin Schmelzer/[...] Ich bin der Ast, den man gedankenlos/verbrennen kann.“ (ebd., S. 120). Diese Identifizierung ist keine Schrulle eines Betrunkenen, sondern trifft den Sachverhalt genau. Denn Shakespeare ist tatsächlich ein Wortschmelzer: er verbindet und übernimmt die Worte der verzweifelten Stahlarbeiter, verleiht ihnen Nachhall.

„Wer bin ich schon?/Der Narr, der alles besser weiß“ (ebd., S. 62), meint Shakespeare. Er bezeichnet sich auch als „Chronist“ (ebd., S. 58) – und, wie der Schmelzer, als „Herr der Hölle“ (ebd., S. 58 u. 21). Als übergeschichtliche Figur und Bibliothekar hat er doppelt Abstand. Seine Revolte nimmt die Form einer Maske der Worte an: Er spricht mit den Worten der anderen, wiederholt sie, macht sie unüberhörbar. Die ästhetische Lösung der freien Verse und der zitierten Worte ist auch größte Poesie, im Sinne eines Aristoteles: das Gesagte nimmt eine philosophische, allgemeine Dimension an und spricht uns somit alle an. Hier begegnen sich Peter Turrini, dessen Theaterauffassung sich ständig wandelt, und Jerzy Grotowski, der versuchte, die Zuschauer in das Spiel mit einzubeziehen; in Rozznjogd und Sauschlachten waren Schüsse ins Publikum und das Verspritzen von Schweinefutter in Richtung der Zuschauer in der ersten Reihe ein Experiment, um die vierte Wand zu durchbrechen. Diese muss zugleich aber bestehen bleiben, denn, so Grotowski, „[d]en Zuschauer zu distanzieren heißt, ihm die Chance zur Teilnahme zu geben [...]“ (Grotowski 2008, S. 132)

Masken der Anpassung

Hatten die Figuren der Revolte kein Zugehörigkeitsgefühl, so sind die Figuren, die eine Maske der Anpassung tragen, vollkommen integriert. Viele von ihnen sind typisiert und ohne Eigennamen. Josef und Maria etwa entgehen nur knapp dieser Anonymisierung. Sie erscheinen am Anfang angepasst, das heißt völlig unsichtbar: „Da ist niemand, bitte, da bin nur ich, die Frau Maria“ (Turrini 2003, S. 30), sagt Maria ganz zu Beginn, als sie sich noch mit dem Bild, das sie von außen bekommt, identifiziert. Andere Figuren bekommen nicht wie Josef und Maria die Chance, durch die Liebe aus der ihnen zugeteilten Rolle auszubrechen. Nur manchmal, zaghaft, hört man, durch die Maske durch, den Wunsch nach einer anderen Identität, eine gewisse Sehnsucht: „Ich bin kein Riese“ (Turrini 2008, S. 179 u. 188), sagt der junge Mann in Der Riese vom Steinfeld (2002). „Ich heiße Bleibtreu“ (Turrini 1995), sagt der Alte in Die Schlacht um Wien (1995), der von den anderen beharrlich „Fröhlich“ genannt wird.

Die Theaterfigur Nestroy hat sich ebenfalls für die Anpassung entschieden und trägt die Maske eines Komödienschreibers. Einmal gelingt es ihm doch, seine wahre Stimme hören zu lassen: „Meine einzige Freud wär, wenn ich am Burgtheater den Tragöden spielen könnt.“ (Turrini 2008, S. 53)

Da Ponte, einer historischen Figur, mit der sich Peter Turrini auch auseinandergesetzt hat, geht es vor allem darum, seine jüdische Herkunft vergessen zu lassen. Sein Leben steht unter dem Zeichen der Selbstverleugnung. Am Ende des Stückes legt er die Maske ab:

Mein Name ist nicht Lorenzo Da Ponte, ich heiße Emanuele Conegliano und bin ein Jude aus dem Ghetto von Ceneda. Ein Leben lang habe ich einen Wall von Worten errichtet, Bücher aufgehäuft zwischen mir und den Menschen, um mich vor ihrem Zorn zu schützen. Ein Libretto nach dem anderen habe ich geschrieben, Geld und Titel erworben, den Mächtigen geschmeichelt, mit Adeligen über Juden gescherzt, die Nähe der Berühmten gesucht, jede Wahrheit für eine gute Geschichte verdreht, erfunden, erfunden und erfunden, damit sie endlich vergessen, wer ich bin. (Turrini 2008, S. 139)

Nichts anderes als existieren will hingegen die junge Frau in Kindsmord (1973). Dazu legt sie sich verschiedene Verhaltensmasken auf:

SIE Für mich ist nichts selbstverständlich. Ich beobachte, wie es die anderen machen. Ich bewege mich, als würde ich gehen. Ich spreche, wie man spricht. Es ist meine einzige Chance, alles nachzuahmen, sonst würde ich nicht existieren. [...] Ich habe ständig Angst, daß jemand kommt und merkt, daß ich durchsichtig bin, aus Glas. (Turrini 2006, S. 99)

Mit dem zweideutigen „Umwerben Sie mich.“, dem sie vorsichtig „Ich soll doch etwas kaufen, oder?“ (Turrini 1992, S. 11) anhängt, lässt die Kundin in Grillparzer im Pornoladen (1993) ihren Wunsch nach Wärme und Liebe mitklingen. „Wir erfüllen hier Kundenwünsche, sonst nichts“ (ebd., S. 40), erwidert aber der Mann. Die Frau registriert diese Antwort und benimmt sich dementsprechend. Jeder spielt fortan seine Rolle. Emotionale Erfüllung steht eben nicht auf dem Programm, nur Geschäftliches.

Nur in Die Bürger bleibt die Maske der Anpassung dicht. Da sind der junge Schneider, der schweigt und der alte Schneider, bei dem, so eine Regieanweisung, „Sprache und Gefühle noch identisch sind“ (Turrini 1999b, S. 71). Sonst tragen alle Partygäste eine Sprechmaske: Sie sprechen von Erfolg und Macht. Ihr wahres Wesen ist aber zugemauert, sie haben keinen Zugang zu eigenen Gefühlen. Dem alten Schneider entgeht das nicht: „[…] o mein Gott, sie tragen goldene Masken am Tage und flennen vor Hilflosigkeit in der Nacht […]“ (ebd., S. 79).

Die Maske als Spiel-Raum

Masken der Revolte und der Anpassung sind theaterfähige Mittel, diesen Gegensatz zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte, sicht- und hörbar zu machen. Dieser Kunstgriff und dessen Grenzen sind dem Theaterdichter Peter Turrini sehr bewusst. Er schreibt 1994:

Ich muss immer wieder darüber schreiben, was der Mensch sein könnte und was er ist. Dieser Unterschied verzweifelt mich manchmal [...]. Ich werde mich zeitlebens literarisch und persönlich dafür einsetzen, dass er geringer wird. (Turrini 1999b, S. 133)

In seinen weiteren Stücken hat sich Peter Turrini Figuren erdacht, die mehrere Masken tragen. Somit gibt er ihnen die Möglichkeit, die Kluft zwischen Sein und Schein zu verringern und gewährt ihnen auch mehr Spiel-Raum, Raum für Freiheit, Raum fürs Spielen.

Die Hauptfiguren von Alpenglühen (1993) sind beide nicht das, wofür sie sich ausgeben. Hier geht es nicht um Revolte oder Anpassung, sondern um Verdrängung, Verdrehung der Vergangenheit, Vergrabung der Träume. „Sollte ich so erscheinen, wie ich bin?“, fragt Jasmine den Blinden, „Sie hätten mich nicht wahrgenommen, es hat mich ja bis heute niemand wahrgenommen.“ (Turrini 1999c, S. 43) Jede Figur schält sich langsam aus einer Reihe von Halbwahrheiten heraus und präsentiert sich mit verschiedenen Masken, durch die sie sich selbst schützt. Diese langsame Freilegung eines Kerns ist ein schwindelerregendes Spiel – ob man aber tatsächlich bis zum Kern kommt, bleibt dahingestellt. Und das ist nicht einmal verwerflich, denn, so Peter Turrini: „Gegen den ohnmächtigen, getriebenen Menschen setze ich den lügenden Menschen, die schöne Kraft der Ausdenkung.“ (Turrini 2008, S. 151)

In seiner Bereitschaft zur raschen, wechselseitigen Maskierung hinter Lügen, Meinungen, privat und in seinem Beruf als Journalist, zeigt sich der Protagonist in Endlich Schluß (1997) gesellschaftskonform:

Ich […] beschrieb fortan die Welt, wie alle sie beschrieben. [...] In unregelmäßigen Abständen verkehrte ich meine Meinung ins Gegenteil [...]. Dies trug mir den Ruf eines unabhängigen Denkers ein […]. (Turrini 1999c, S. 64)

Die Antworten, die er darauf bekommt – einen schmeichelhaften Ruf in seiner beruflichen Welt, innerhalb der Familie hingegen Gleichgültigkeit (als er „wie Kafka hustet“) –, entsprechen den Menschen einer Gesellschaft, in der allen alles vollkommen gleichgültig ist. Dadurch wird er sich selber immer fremder, anstatt, wie Jasmine und der Blinde in Alpenglühen, zu versuchen, sich mit sich selber zu versöhnen.

In Die Eröffnung (2000) bekommt die Problematik der Maske und der Identität eine neue Dimension. Denn es gehört ja zum Wesen des Schauspielers, dass er eine Maske trägt. Diese ist hier nicht sichtbarer Ausdruck der Revolte, der Anpassung oder der Suche nach sich selbst, sondern Ausdruck einer Präferenz für einen besonderen Ort. Das hat aber eine Kehrseite: dem Schauspieler wird die Welt, chaotisch wie sie ist, völlig fremd:

Jeden Abend tanzte ich über dem Loch in meiner Brust [...]. Nach dem Stückende [...] rannte [ich] von der Bühne, hinaus ins Freie, im Kostüm und mit umgehängtem Herzen; [...] ich stand im wirklichen Leben, im sengenden Licht des Tages, im Chaos der Realität: Alles um mich war lebensgefährlich, und ich schrie um Hilfe. (Turrini 2006, S. 25)

Die Maske wird zum Requisit des Überlebens und das Theater zum Zufluchtsort. Auf der Bühne ist der Schauspieler immer wieder ein anderer, aber freiwillig. Somit sind unendlich viele Neubegegnungen mit der Welt möglich:

Nur im Theater [...] kann ich die Liebe wieder spüren. Ich habe den Garten Eden als Misthaufen verlassen, ich habe mit allem Schluß gemacht, aber im Theater fange ich noch einmal von vorne an, im Theater stehe ich mit der Liebe wieder am Anfang. […]. (Turrini 2006, S. 23)

Anhand der für mich markantesten Masken-Situationen habe ich die Bedeutung der Maskierung in Peter Turrinis dramatischem Schaffen dargelegt. Mit der Zeit gewannen die Masken verschiedene Formen und Funktionen: In den frühen Jahren, als Peter Turrini noch als das enfant terrible des österreichischen Theaters betrachtet wurde und sich gegen Missstände und Ungerechtigkeiten auflehnen wollte, setzte er einigen Figuren, die ihm offensichtlich nahe stehen, eine Maske der Revolte auf; andere Figuren tragen eine Maske der Anpassung. Bei den einen und bei den anderen geht diese Maskierung mit einem Zugemauertsein der Emotionen und des inneren Wesens einher. Nach und nach erdichtete Peter Turrini andere Formen der Maske, mit denen die Figuren auch spielen können, auch wenn sie sich nicht ganz daraus befreien können. Peter Turrini ist es hoch anzurechnen, dass er nie in einem bloßen Spiel-im-Spiel verfällt. In einem Interview nahm er zu solchen Praktiken Stellung: „Ich will keine Stücke schaffen, die so hermetisch sind, dass es in dieser Welt nichts zu gewinnen gäbe.“ (Krause/Melzer 2014, S. 8)

Der konstante Bezug zur Welt und zu den Menschen und deren Sehnsüchten und Schwächen, aber auch zu seinen Figuren, die er ja liebt, ist ein großes Anliegen von Turrini. Er ist eben kein Bewohner des Elfenbeinturms. Andererseits fällt eine enge Verwandtschaft zwischen Peter Turrini und seinen Figuren auf. Wie der Schauspieler in Die Eröffnung ist ihm das Leben nur durch das Theater erträglich, sagt und schreibt er; wie der Riese vom Steinfeld ist ihm die Kluft zwischen Innen- und Außenwahrnehmung bewusst und schmerzhaft: „Wie man sich selber sieht, und wie man gesehen wird, unterscheidet sich oft erheblich“, sagt auch Turrini (ebd., S. 7); wie die Figur des Shakespeare „steht [er] ja nicht am Rande der Hölle, [...] er ist ja ebenso ihr Mitbewohner“ (Turrini 1989, S. 147) und verkörpert dessen Möglichkeit und Fähigkeit, die Realität mit poetischen Mitteln darzustellen.

Was will ich damit sagen? Was hat das mit dem Thema zu tun? Es geht um Folgendes: Der Dichter Peter Turrini tritt nicht hinter seine Figuren zurück, sondern steht neben ihnen auf der Bühne. Er spricht wie sie, oder sie sprechen wie er. Dazu kommt, dass Peter Turrini Biographisches gerne bespricht und kommentiert. Wir, die Germanisten und Germanistinnen, die wir gerne klassifizieren, glaubten uns in Sicherheit und meinten eine Grenze zwischen Realität und Theaterwirklichkeit ziehen zu können. Im Gespräch mit Andrea Schurian zog uns Peter Turrini aber den Boden unter den Füßen weg:

Im Begleittext zu Cest la vie hat meine Liebste, die Silke Hassler, geschrieben: „Verfallen Sie nicht in den Irrtum, dem Dichter Peter Turrini alles über den Dichter Peter Turrini zu glauben.“ Ich bitte Sie, der Silke Hassler zu glauben. (Schurian 2014)

Peter Turrini liebt es, uns zu verwirren. Diese Aussage wirkt wie eine wiederhergestellte vierte Wand: hinter ihr erscheint Peter Turrini zugleich als realer und als erdichteter Mensch. Durch seine Figuren und durch das, was er vom eigenen Leben preisgibt, legt sich der Schriftsteller immer neue Masken an: Es sind die der Rebellion, der Angepasstheit, des Spiels. In greifbarer Nähe und doch unerreichbar ist Peter Turrini sozusagen die maskierteste aller Figuren.

Literaturverzeichnis

Primärliteratur

Peter Turrini: Die Minderleister. Frankfurt a. M.: Luchterhand 1989.

Peter Turrini: pung, der weltuntergung. In: Wolfgang Schuch u. Klaus Siblewski (Hg.): Peter Turrini – Texte, Daten, Bilder. Frankfurt a. M.: Luchterhand 1991.

Peter Turrini: Grillparzer im Pornoladen. Manuskript. Wien: Sessler Verlag 1992.

Peter Turrini: Die Schlacht um Wien. Schauspiel in drei Akten. München: Luch­terhand 1995.

Peter Turrini: Ein irrer Traum. Lesebuch eins. München: Luchterhand 1999a.

Peter Turrini: Das Gegenteil ist wahr. Lesebuch 2. Hg. v. Silke Hassler u. Klaus Siblewski. München: Luchterhand 1999b.

Peter Turrini: Zuhause bin ich nur hier: am Theater. Lesebuch 3. Hg. v. Silke Hassler u. Klaus Siblewski. München: Luchterhand 1999c.

Peter Turrini: Josef und Maria. Ein Spiel. Hg. v. Silke Hassler. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003.

Peter Turrini: Die Eröffnung. Endlich Schluß. Kindsmord. In: Die Eröffnung. Monologe. Hg. u. mit einem Nachwort v. Silke Hassler. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006.

Peter Turrini: Da Ponte in Santa Fe. Der Riese vom Steinfeld. In: Mein Nestroy. Historische Dramen. Hg. u. mit einem Nachwort v. Silke Hassler. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008.

Sekundärliteratur

Jerzy Grotowski : Theater und Ritual. In: Mateusz Borowski u. Małgorzata ­Sugiera (Hg.): Theater spielen und denken. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008.

Werner Krause u. Gerhard Melzer: Ich bin kein Unterganghofer. In: Kleine Zeitung. Klagenfurt, Graz, 14. 09. 2014, S. 8.

Elisabeth Scharang: Elfriede Jelinek kocht Kaffee. Das Interview. CD. Wien: ORF 2006.

Andrea Schurian: Peter Turrini: Meine ganze Literatur ist eine Art Zurückschreierei. In: Der Standard. Wien, 16. 09. 2014.

Gustav Landgren

„Abfall, Scheiße, Mist in uns.“ Kultur- und Sprachkritik in Peter Turrinis Drama Rattenjagd

Einleitung

Das Verhältnis des österreichischen Dichters zu seinem Heimatland ist nicht selten das eines Migranten im eigenen Land. Wer erinnert sich nicht an Thomas Bernhards testamentarische Verfügung, dass seine Stücke in Österreich nach seinem Tode nicht mehr gespielt werden dürfen, an Peter Handkes Kritik am Universitätswesen, wo man nur auf „Fachidiotie, Witzeleien über Kunst und Unwissenheit über Literatur, und damit auch Verachtung des Lebens“ (Handke 1977, S. 57) stoße oder an Elfriede Jelineks pauschale Bezeichnung ihrer Landsleute als „Verbrecher“ (vgl. Jelinek 1995, S. 61 u. 63)?

Zu den österreichischen Gegenwartsautoren, die ein gestörtes Verhältnis zu ihrem Heimatland haben, gehört auch Peter Turrini. Selbst Sohn eines italienischen Gastarbeiters, hielt er 1995 eine Rede anlässlich der Feier zur Republikgründung auf dem Wiener Heldenplatz, die er mit der lakonischen Frage „Liebe Mörder, wie geht es euch?“ einleitete (Turrini 1995a, S. 194). Zum Begriff „Heimat“ schreibt Turrini in dem Essay Heimat, deine Verrückten (1981), dass der Begriff im Zeitalter der globalen Auslöschung durch Atomwaffen, in dem auf jeden Menschen „drei Tonnen hochexplosiven Sprengstoffs“ kommen, aktueller denn je erscheint. Dabei zitiert Turrini am Ende Ernst Blochs utopische Definition des Begriffs Heimat aus dem dritten Band von Das Prinzip der Hoffnung (1947):

Der Mensch lebt noch überall in der Vorgeschichte, ja alles und jedes steht noch vor Erschaffung der Welt, als einer rechten. Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfaßt und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat. (Bloch 1970, S. 1.628, Hervorhebungen im Original)

In der Bundesrepublik Deutschland und ansatzweise auch in Österreich hat es unter Linken und anverwandten Geistern einen ziemlich fest umrissenen Diskurs über den Begriff Heimat gegeben. Der Begriff, so hieß es, sei aus seiner reaktionären Verankerung zu lösen. Es solle ihm das falsche Gewicht der Volkstümelei genommen werden. Er sei mit demokratischen und wenn möglich sozialistischen Inhalten zu füllen: „[…] Ernst Bloch definiert Heimat als einen nicht entfremdeten und demokratischen Ort, worin noch niemand war. Meine Verbitterung und meine Verzweiflung haben einen einfachen, naiven Grund. Ich will unbedingt dorthin.“ (Turrini 1990a, S. 280–288)

Sprachkritik

Nicht nur das Verhältnis des Dichters zum Heimatland ist problematisch geworden, sondern auch seine Beziehung zur Sprache. Die Sprachkritik, die bereits im 19. Jahrhundert zarte Blüten trieb, verschärft sich im 20. Jahrhundert. Heraufbeschworen wurde diese Sprachkrise von der Veränderung der Sprache durch den wachsenden Einfluss von Kommerzialisierung und durch ideologische Konflikte. Besonders in der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn zeigten sich die Literaten „angeekelt“ durch das, was Alan Janik und Stephen Toulmin in dem Buch Wittgensteins Wien/Wittgensteins Vienna (1973) den „lügenhaften Worthandel des Journalismus“ nannten (zit. nach Zima 1992, S. 110). Zu den prominentesten Sprachkritikern um 1900 gehörten neben Fritz Mauthner (Beiträge zu einer Kritik der Sprache