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HANNE SINN

 

Wie ein weißes Blatt Papier

 

Roman

 

Ein Buch aus dem FRANZIUS VERLAG

 

Buchumschlag: Jacqueline Spieweg

Kartenzeichnung: Hanne Sinn

Korrektorat/Lektorat: Petra Liermann

Verantwortlich für den Inhalt ist die Autorin Hanne Sinn

Satz, Herstellung und Verlag: Franzius Verlag GmbH

Druck und Bindung: SDL, Berlin

 

2. Auflage

 

ISBN 978-3-96050-028-5

 

 

Alle Rechte liegen bei der Franzius Verlag GmbH

Hollerallee 8, 28209 Bremen

 

Copyright © 2017 Franzius Verlag GmbH, Bremen

www.franzius-verlag.de

 

 

 

 

 

 

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

 

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Widmung

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Karte

Danksagung

Über die Autorin

Veröffentlichungen des Franzius Verlages:

 

Widmung

 

Für meinen Vater,

 

ohne den es das Buch nicht geben würde.

 

Prolog

 

Moosbewachsene Hügel säumen die Landstraße. Der Himmel ist grau und das Wetter kühl und feucht. Es ist Herbst. Leichter Nieselregen fällt und benetzt Haut und Haar. Jolie rast auf ihrer hellblauen Schwalbe in Richtung Horizont. Der Wind schneidet ihr tränenüberströmtes Gesicht. Sie ist am Boden zerstört. Völlig rastlos und verzweifelt. Etwas Ungeheuerliches ist geschehen. Etwas, das ihr Leben ins Wanken brachte und alles verändert hat.

Leise meldet sich der Schmerz. »Bleib fort! Komm nicht näher!«, versucht sie ihn abzuwehren.

Es ist wie eine Flucht vor der Wahrheit, wie das Verlangen zu vergessen und alles ungeschehen zu machen.

Doch die Straße ist leer. Keine Menschenseele ist zu sehen. Niemand, der sie aufhält oder ihr sagt, wie verrückt das Ganze ist. Jolie hat alles hinter sich gelassen und beschlossen, die Vergangenheit tief zu vergraben.

Die Erinnerung wird verblassen. Der Schmerz vergehen. Ganz bestimmt.

Während ihre Gedanken Kreise ziehen, bläst der Wind mit einer solchen Wucht in ihr Gesicht, dass ihre Augen zu tränen beginnen. Es ist, als befände sie sich eingeschlossen in einer unsichtbaren Hülle. Abgeschnitten von der Außenwelt. In sich gekehrt.

Die Welt wirkt bizarr. Sie ist ihr fremd geworden. Ein Riss durchzieht sie. Sehnsüchtig wandert ihr Blick zu den Hügeln. In Gedanken versunken, registriert sie erst viel zu spät den Lastwagen, der auf sie zurast, ihren Körper erfasst und sie zu Boden streckt. Schrecken durchfährt all ihre Glieder. Dann ist alles schwarz.

 

Kapitel 1

 

Pfeifen und Scheppern erfüllen die Luft. Fast menschenleere Zugabteile. Hellbraune Ledersitze, die alt und ranzig aussehen. Landschaft, die in raschem Tempo vorüberzieht. Über den Sitzen Ablageflächen. Ein Müllbehälter. Darüber ein Fenster, das von der morgendlichen Kälte eines Herbsttages beschlagen ist. Eine Modezeitschrift auf einem der Sitze. Knattern. Der Geruch nach alten Möbeln in der Nase.

Ein langsam werdender Zug, der schließlich hält. Schmale, mit Laub bedeckte Bahnsteige. Menschen steigen ein und aus. Mit einem Ruck öffnen und schließen sich die Türen. Gemächlich fährt der Zug weiter. Bäume, Pflanzen und Gräser werden immer schneller, bis sie zu grün-braunen Streifen werden. Ein Mädchen sitzt allein in einem der Abteile. Verträumt schaut sie sich um und reibt sich den Schlaf aus ihren Augen. Sie fühlt sich, als hätte sie eine Ewigkeit geschlafen, ohne zu wissen, wie sie an diesen Ort gelangt ist und was sie hier tut.

Während sie versucht sich zu erinnern, starrt sie wie gelähmt ins Leere und allmählich steigt Panik in ihr auf. Weshalb ist sie bloß in diesen Zug gestiegen? Wohin fährt er? Und wer ist sie überhaupt?

Im Fenster spiegelt sich ein Mädchen von etwa sechzehn Jahren. Braune, mittellange Haare umrahmen ihr Gesicht und fallen in sanften Wellen über ihre Schultern. Eine kleine Stupsnase. Dunkle Augen, die verängstigt dreinschauen. Ein zuckersüßer Mund, der staunend offensteht. Außer einem ledernen Geldbeutel scheint sie nichts bei sich zu haben. Neugierig und aufgeregt zugleich streichen ihre Finger über das dunkle, kühle Leder. Sacht öffnet sie ihn und lugt hinein. In diesem Moment beginnt ihr Herz schneller zu schlagen. Vielleicht verbirgt sich dort ein Pass oder so etwas? Etwas, auf dem ihr Name oder eine Adresse steht. Doch nichts dergleichen. Eine Fahrkarte, silberne Münzen und ein Foto. Mit zitternden Händen lässt sie die Münzen zurück in den Geldbeutel fallen und widmet sich zunächst der Fahrkarte. Darauf steht:

 

Preisstufe D, 22.09.2004, 07:45.

 

Als nächstes nimmt sie das Foto zur Hand. Es zeigt einen Mann mittleren Alters, der freundlich lächelnd in die Kamera sieht. Seine hellbraunen, grau melierten, lockigen Haare wehen im Wind. Im Hintergrund befindet sich eine Lichtung. Sonnenstrahlen fallen durch die Baumkronen und zieren den Waldboden mit Mustern. Der Mann scheint glücklich zu sein. Seine Augen strahlen und sein Lächeln ist groß.

Das Mädchen betrachtet wie gebannt das Foto. Jedes Detail und jede Besonderheit prägt sie sich ein. Doch auch nach längerem Betrachten erkennt sie den Mann nicht.

In gespannter Erwartung dreht sie das Foto. Buchstaben tauchen vor ihren Augen auf:

 

Pier van der Linden

Straat: Hendrik Jan van Heekplein 1a, Sneek

Und ganz unten am Rand steht: Für Jolie

 

Mit großen Augen starrt sie auf die Worte. Jolie? Ist sie damit gemeint? Wer ist dieser Mann?

Kopfschüttelnd schaut sie wieder aus dem Fenster und mustert ihr Spiegelbild. Wer ist das, verdammt nochmal? Wieso kann sie sich nicht erinnern?

Das alles muss ein Traum sein. Und ein verrückter noch dazu. Ein Mädchen sitzt mutterseelenallein in einem Zugabteil und weiß nicht, wer sie ist und wohin sie fährt. Das klingt so absurd, dass sie beinahe laut loslacht.

Das Foto wieder im Geldbeutel verstaut, lehnt sie sich zurück. Der Ledersitz ist alt, aber bequem. Ein paar Mal atmet sie bewusst tief ein und lässt die Luft langsam ihrem Mund entweichen. Ihre Hände streichen über die Sitze zu ihrer Rechten und Linken. Das Leder fühlt sich kalt und glatt an. Einige Löcher sind darin. Es ist so, als würden sie Geschichten erzählen.

Sie hält inne. Für einen Traum ist das alles ziemlich real. Was ist, wenn sie sich wirklich nicht erinnern kann? Der Kloß in ihrem Hals wird größer und die Angst liegt wie ein Stein auf ihrem Herzen. Was soll sie bloß tun und wie soll es weitergehen? Fragen über Fragen.

Vielleicht kann der Mann auf dem Foto ihr weiterhelfen. Vielleicht weiß er, wer sie ist.

Wieder sieht das Mädchen aus dem Fenster, so als sei dort zwischen Bäumen und Büschen die Antwort verborgen.

Gerade als sie beschließt, die Adresse ausfindig zu machen und nach dem Mann zu fragen, öffnet sich plötzlich die Abteiltür und eine Dame tritt ein.

»Ist hier noch frei?«, fragt sie und deutet auf einen der Sitze auf der gegenüberliegenden Seite.

Aus den Gedanken gerissen, bringt das Mädchen kein Wort heraus und nickt nur.

Die Dame lächelt und lässt sich in den Sitz fallen. Genüsslich schließt sie die Augen und atmet tief ein, so als käme sie von einem erfolgreichen, aber anstrengenden Meeting. Das Mädchen betrachtet sie einen Moment lächelnd und schaut dann wieder aus dem Fenster. Plötzlich kullern unkontrolliert Tränen über ihr Gesicht. Verstohlen wischt sie sie weg und versucht sich nichts anmerken zu lassen. Doch die Dame hat sie bereits erahnt.

»Kann ich Ihnen irgendwie helfen? Geht es Ihnen gut?«, fragt sie nach einer Weile.

Das Mädchen schaut auf. »Danke, es geht schon.«

Ihre Stimme klingt dünn und nicht sehr überzeugend. Die Dame lächelt und betretenes Schweigen macht sich breit. Spannung liegt in der Luft.

Während das Mädchen immer noch mit den Tränen kämpft, kommt ihr plötzlich ein Gedanke:

»Wissen Sie ob dieser Zug nach Sneek fährt?«

Die Dame überlegt einen Moment.

»Ja, ich meine, ich wäre schon einmal daran vorbeigefahren. Es müsste nicht mehr lange dauern.«

Das Mädchen atmet erleichtert aus. »Vielen Dank.«

Mit einem Mal verspürt sie neuen Mut und sie ist sich sicher, sobald sie die Adresse gefunden hat, wird sich alles aufklären.

 

Mittlerweile sind schon etliche Orte, deren Namen sie nie gehört hat, an ihnen vorbeigezogen und sie hat Mühe, nicht einzuschlafen. Auf der Armbanduhr der Dame ist es zwölf. Also ist sie schon seit mindestens vier Stunden unterwegs. Vier geschlagene Stunden in diesem verdammten Zug!

Das Geräusch eines Mobiltelefons reißt sie aus ihren Gedanken. Die Dame fährt zusammen und ihre zarten Hände fischen hektisch ein schwarzes Klapphandy aus der Seitentasche ihres grau-silbernen Koffers, der neben ihr steht.

»Miss Batlló, was kann ich für Sie tun? … Oh, Mister Roxen, sehr erfreut, von Ihnen zu hören.« Ein Strahlen breitet sich auf ihrem Gesicht aus. »Gerne können wir einen Termin vereinbaren. Nächste Woche Montag um neun, ist Ihnen das recht?«

Ihr Blick streift das Mädchen, wendet ihn jedoch schnell wieder ab.

»Nichts zu danken, ich berate Sie gern und schätze Sie ebenfalls sehr. Also bis dahin! Auf Wiedersehen!« Mit einem Lächeln klappt sie das Handy zu und verstaut es wieder in der Seitentasche des Koffers.

»Geschäfte, Geschäfte«, sagt sie und lacht.

Das Mädchen erwidert ihr Lächeln und schweigt. Verlegen schaut sie zu Boden und versucht zu verdrängen, dass sie keinen blassen Schimmer hat, wer sie ist und woher sie kommt. Hoffentlich fragt sie niemand danach. Was soll sie dann antworten? Dass sie vergessen hat, wer sie ist? Dann wird man sie für verrückt erklären und in die Klapsmühle stecken. Nein, sie sollte gewappnet sein und sich vorher eine Geschichte zurechtlegen.

Nach einigem Hin und Her entscheidet sie sich schließlich dafür, sich von nun an Jolie zu nennen, so wie es auf dem Foto geschrieben steht. Sie ist sechzehn Jahre alt, wohnt mit ihren beiden Schwestern bei ihren Eltern und geht derzeit noch zur Schule. Im Augenblick sind Ferien und sie besucht ihren Onkel in Sneek. Ihre Lieblingsfächer sind Mathematik und Gesellschaftslehre. Ihre Lieblingsfarbe ist Blau und Pizza Hawaii ihr Leibgericht …

Das müsste genügen, beschließt sie und seufzt.

 

Die Dame ist inzwischen eingeschlafen. Sie sieht erschöpft, aber zufrieden aus. So, als wenn man nach langer und disziplinierter Arbeit sein Ziel erreicht hat und im Einklang mit sich und der Welt zu Bett geht, um sich am nächsten Tag neuen Herausforderungen zu stellen. Jolie bewundert die Stärke und Grazie dieser Frau. Sie ist jemand, der den Raum ausfüllt, ohne etwas dafür tun zu müssen, der Menschen für sich begeistern kann, ohne es selbst zu bemerken. Jemand, der in Erinnerung bleibt.

Jolies Blick schweift zum Fenster. Rasch zieht die Landschaft vorüber. Wälder, orangefarbene Blätter im Wind, Vögel, die in Schwärmen über den Himmel ziehen, Wolkenbilder, Felder und Wiesen.

Plötzlich entdeckt Jolie Rehe am Waldrand. Sie stehen dicht, jederzeit bereit zu fliehen. Ein kurzer Blick und schon hat der Zug sie hinter sich gelassen. Er ist schnell. Er schert sich nicht darum, was um ihn herum geschieht. Er hat sein Ziel und kehrt niemals um. Egal, wie schnell er fährt, irgendwann kommt er an. Ferne Länder durchquert er. Städte, Dörfer, Wälder, Seen und Flüsse, Berge und Täler begegnen ihm. Seine Türen öffnen sich für jedermann. Leute kommen und gehen. Unterschiedlich wie Tag und Nacht. Nur seine Linie bleibt ihm treu.

Jolie schaut gedankenverloren aus dem Fenster und lässt sich treiben. Plötzlich ertönt eine schroffe Männerstimme aus dem Lautsprecher: »Nächster Halt Sneek. Ausstieg in Fahrtrichtung links.«

Ein wenig beunruhigt, im Grunde jedoch zuversichtlich, erhebt sie sich und versucht nicht allzu fest aufzutreten, um die Dame nicht aus ihrem Schlaf zu reißen. Bevor sie das Abteil verlässt, wirft sie ihr einen letzten Blick zu und wünscht ihr im Stillen alles Gute.

Dann tritt sie auf den leeren Gang hinaus. Erblühenden Mutes geht sie durch eine Tür und hält sich an einer Metallstange fest. Braun-rot gefärbte Bäume und Büsche nehmen langsam Gestalt an und ein Bahnsteig kommt in Sicht. Jolie betrachtet neugierig die Szenerie. Aufregung und Abenteuerlust packen sie.

 

Als der Zug endgültig zum Stehen kommt, greift sie nach dem Hebel, der an der Tür angebracht ist, und öffnet sie mit einem Ruck. Zwei Stufen und schon steht sie auf dem Bahnsteig. Weit und breit ist niemand zu sehen. Hinter ein paar Bäumen tauchen Felder und Häuser auf und zu ihrer Rechten ein kleiner Pfad, der ins Unbekannte führt. Als sie näherkommt, entdeckt Jolie ein Schild: Sneek. Dort muss es sein.

Mit klopfendem Herzen macht sie sich auf den Weg und folgt dem Pfad. Einem Pfad wie jeder andere und doch ist er besonders. Wohin er sie führen wird, ist ungewiss. Was er im Schilde führt und wie weit er reicht, nicht klar. Ein Pfad, auf dem schon viele gegangen sind. Groß und Klein, fest oder behutsam, rasch oder gemächlich.

Nun steht Jolie da, innehaltend. Sieht sich um, nimmt wahr, was sie umgibt. Alles auf ihre ganz eigene Weise.

Es ist ein Pfad, auf dem sie Spuren hinterlässt und der zu ihrem geworden ist. Was hält er wohl bereit? Was schlummert dort und will gesehen werden?

Mit aufmerksamem Blick setzt sie ihren Weg fort. Und schon bald ist ihre Gestalt kaum noch zu sehen. Nur noch Umrisse, die nicht mehr erkennen lassen, wer dort geht. Schließlich verschwindet sie in der Ferne. Die Zukunft in ihren Händen.

 

Kapitel 2

 

Eine frische Brise streicht über Jolies Gesicht und ihr Haar. Es ist ein warmer Herbsttag, die Sonne lässt ihn hell und freundlich wirken. Das Blau des Himmels steht im Kontrast zu rot-orangenen Baumkronen. Das Dorf, das vor ihr liegt, ist still. Es ist Mittagszeit, Siesta, und alles ruht.

Jolie läuft durch kleine, verwinkelte Gassen. Links und rechts stehen Häuser. Sie sind aus Holz gebaut. Mal rot, mal weiß, grün oder gelb.

Hinter einem der Fenster erblickt Jolie eine Familie. Vater, Mutter und Kinder sitzen an einem Tisch und diskutieren angeregt. Einen Moment bleibt Jolie unbemerkt stehen. Vielleicht trifft sie jemanden auf der Straße, den sie nach der Adresse fragen kann, kommt ihr plötzlich in den Sinn und sie wendet sich rasch ab, um das Zentrum des Dorfes aufzusuchen.

Nur wenig später gelangt sie in den wohlhabenden Teil des Dorfes und mustert die prächtigen Bauten, die die Straßen umrahmen. Schöne Verzierungen und Muster schmücken die Häuser hier. Jedes hat seinen eigenen Garten und sein eigenes Profil. Prunk.

In Gedanken versunken überquert Jolie eine Brücke, die aus Stein gebaut ist und so massiv wirkt, als könnte selbst ein Wirbelsturm ihr nichts anhaben.

Sich über die Kante lehnend, blickt sie in die Tiefen des Flusses und versucht den Grund auszumachen. Viele Wasserpflanzen wachsen dort, die die Sicht versperren, doch da entdeckt Jolie etwas silbern Schimmerndes. Entzückt betrachtet sie es und versucht zu ergründen, was es ist. Nach einer Weile jedoch gibt sie es auf und reißt sich los.

Ehe es Abend wird und sie die Hand nicht mehr vor Augen sieht, ehe sich alles zur Ruh begibt und sich die Nacht über den Tag beugt, muss sie die Adresse auf dem Foto gefunden haben.

Also nichts wie weiter! Seufzend setzt Jolie mit träumerischer Sicherheit einen Schritt vor den anderen und verlässt die Brücke.

Doch wohin soll sie gehen? Sie muss diese Adresse finden. Nur, wie soll sie das anstellen?

Wie gerufen kommt ihr mit einem Mal ein junges Pärchen entgegen. Erleichterung und Aufregung überkommen Jolie. Tief ein- und ausatmend, läuft sie mit langsamen Schritten weiter und versucht sich ein wenig zu beruhigen. Als das Pärchen sie beinahe erreicht hat, lächelt sie und nähert sich behutsam. Ihr Atem stockt, unsicher hebt sie die Hand und bittet um Entschuldigung. Das Pärchen bleibt verwundert stehen.

Sie scheinen nicht viel älter zu sein als sie selbst. Der Mann sieht bodenständig aus, fast zu bodenständig für ihren Geschmack. Mit ungewohnter Stimme, die ihr etwas höher als sonst vorkommt, erzählt Jolie, dass sie auf der Suche nach einer Adresse ist, und hält ihnen das Foto entgegen. Einige Augenblicke schauen die beiden nachdenklich auf dessen Rückseite und schließlich schüttelt der Mann den Kopf.

»Tut mir leid, diese Adresse ist mir nicht bekannt«, sagt er und sieht die Frau zu seiner Rechten an. »Dir, meine Liebe?«

»Nein, tut mir wirklich leid«, erwidert sie mit bekümmertem Blick. Da hellt sich plötzlich das Gesicht des Mannes auf.

»Fragen Sie doch in der Post nach. Dort kann man Ihnen sicherlich weiterhelfen … Wenn Sie mögen, begleiten wir Sie dorthin. Es ist nicht weit und wir wollten gerade sowieso einen Spaziergang machen.«

Die Frau und der Mann tauschen verliebte Blicke. Jolie strahlt. Ihr ist die Überraschung über die Wendung des Gesprächs wie ins Gesicht geschrieben. Dankend nimmt sie an und lächelt den beiden zu.

»Wo entlang denn?«

Der Mann deutet in die Richtung, aus der sie gekommen ist. »Dort entlang, über die Brücke und dann rechts.«

Erneut überqueren sie den Fluss. Dann biegen sie in eine kleinere Straße ab und die nächste links. Hier sind die Häuser nicht mehr so groß und prunkvoll. Während sich Jolie neugierig umsieht, kommt langsam Leben in das Dorf. Vereinzelt sieht man Geschäfte, die gerade öffnen, eine Bäckerei, eine Tischlerei, ein Metzger.

Der Straße folgend, kommt bald ein Platz in Sicht. Dies muss das Zentrum sein. In der Mitte des Platzes befindet sich ein marmorner Brunnen. Das Juwel des Dorfes. Kinder toben und spielen Fangen. Vergnügt laufen sie um den Brunnen herum und verstecken sich hinter Stein-Statuen. Jolie kann nicht erkennen, was sie darstellen. Sind es vielleicht Meerjungfrauen?

»Was sind das für Stein-Statuen?«, fragt sie und schaut die Frau erwartungsvoll an.

»Mein Großvater hat mir einmal erzählt, es seien Jungfrauen, die verborgen im Fluss leben. Ich solle achtgeben, wenn ich baden ginge. Nach der Legende sind schon viele, die ins Wasser gegangen sind, nie zurückgekehrt. Er sagte, sie verfügten über Verführungskünste, denen man nur noch schwer entrinnen kann, wenn man sich ihnen einmal hingegeben hat.«

Beinahe ehrfürchtig betrachtet Jolie den Brunnen einige Augenblicke, doch die Frau schüttelt lachend den Kopf.

»Das sind nur alte Geschichten. Nichts als Hokuspokus! Angstmacherei!« Dann deutet sie auf ein Häuschen auf der anderen Seite des Dorfplatzes. »Dort drüben befindet sich die Post. Sehen Sie?«

Jolie nickt und die Frau lächelt freundlich. »Ich wünsche Ihnen viel Glück bei ihrer weiteren Suche! Auf Wiedersehen!«, sagt sie und der Mann winkt ihr zum Abschied.

Einen Moment lang schaut Jolie ihnen nach, bevor sie mit schnellen Schritten weitergeht. Schon steht sie vor der Post, einem eher kleinen Gebäude mit weißen Fensterläden und rotgestrichenen Vertäfelungen. Vom Stil her ist es wie die anderen Häuser auf dem Dorfplatz. Wie eine Perle in einer Kette reiht es sich an die anderen und schmiegt sich an sie, Wand an Wand.

Als Jolie über die Schwelle tritt, lässt sie ihren Blick durch den Raum schweifen. Niemand zu sehen. Nur ein leerer Schalter, über dem eine flackernde Leuchtreklame hängt: Postamt. An den Wänden hängen kleine Bilder, die in dunkelbraunen Holzrahmen stecken. Etwas spartanisch, aber liebevoll eingerichtet.

Nicht zu vergessen ein gelbfarbener Briefkasten, der neben dem Schalter angebracht ist. Darauf steht: Montag, 7-8 Uhr.

Einmal in der Woche wird die Post also abgeholt. Das ist wirklich nicht oft.

Während Jolie wartet, wird sie allmählich ungeduldig. Wann kommt denn endlich jemand? Da entdeckt sie eine goldene Handklingel auf dem Schalter. Als sie sie betätigt, schrillt es so laut, dass sie erschreckt zusammenzuckt. Dann ist es wieder still. Allein in ihren Ohren hört Jolie den Widerhall dieses furchtbaren Tones.

Kurz darauf werden jedoch polternde Schritte hörbar. Jemand scheint geschwind eine Treppe hinunter zu laufen, so als habe er oder sie nur darauf gewartet, dass Kundschaft in den Laden kommt. Jolie ist gespannt wer das wohl sein mag und ob man ihr weiterhelfen kann, als plötzlich ein junger, gutaussehender Mann hinter dem Tresen auftaucht. Er sieht aus, als wäre er gerade aus dem Bett gefallen und fährt sich mit einer Hand durch die strubbeligen, braunen Haare.

»Guten Morgen, wie kann ich behilflich sein?«

Jolie muss sich ein Lachen verkneifen. Guten Morgen? Es ist bereits nach 14 Uhr.

»Ähm … Ich suche eine Adresse.« Jolie greift nach ihrem Geldbeutel, nimmt das Foto heraus und liest vor: »Straat: Hendrik Jan van Heekplein, Sneek. Wissen Sie vielleicht, wie man dorthin kommt?«

Der Postbeamte lächelt. »Sicher. Es ist ein wenig abseits des Dorfes. Doch glauben Sie mir, ich kenne hier jeden Winkel. Wenn Sie einen Moment Zeit erübrigen können, erkläre ich Ihnen, wohin Sie gehen müssen.«

Jolie nickt aufgeregt.

»Also … Am besten zeichne ich es Ihnen auf, damit Sie sich ja nicht verirren. Das geschieht hier zu Weil, wissen Sie.«

Aus einer Schublade hinter dem Tresen kramt er einen Stift und Papier und beginnt Linien darauf zu zeichnen.

»Nun gut. Dann wollen wir mal. Am einfachsten ist es, wenn Sie zunächst links den Marktplatz verlassen und dann rechts der Straße folgen. An der nächsten Kreuzung biegen Sie links ab und dann wieder rechts. Überqueren Sie den Fluss und folgen Sie dem Verlauf auf der linken Seite. Etwa einen Kilometer, dann haben Sie ihr Ziel erreicht. Doch geben Sie acht! Seien Sie vorsichtig! In diesem Dorf geschehen merkwürdige Dinge.«

Jolie schluckt. »Was für Dinge meinen Sie?«

»Oh, entschuldigen Sie.« Der Postbeamte lächelt beschwichtigend. »Ich wollte Ihnen keine Angst einjagen. Vermutlich haben die Leute Recht und das ist alles nur meiner Vorstellung entsprungen.«

Jolie schaut irritiert drein und will noch etwas erwidern, doch da verabschiedet sich der Postbeamte auch schon und verlässt das Geschäft.

»Viel Glück! Tschüss!«

Jolie steht wie angewurzelt da, vernimmt nur Schritte, die langsam eine Treppe hinauf laufen und immer leiser werden. Nach wenigen Sekunden hat sich Jolie wieder gefasst, greift nach dem Papier und tritt hinaus ins Sonnenlicht.

 

Schon etwas ruhiger atmet sie aus und macht sich auf den Weg. Tatsächlich ist dem Postbeamten die Zeichnung sehr gut gelungen. Jolie staunt über die präzisen, filigranen Striche, die so selbstsicher und elegant auf diesem ollen Stück Papier Platz gefunden haben. Ist sie einem unbekannten Meistermaler begegnet? Sie lacht. Amüsiert durch ihren eigenen, originellen Gedanken, folgt sie den Straßen und findet den Weg auf Anhieb und ohne Probleme.

Je weiter sie sich vom Dorfplatz entfernt, desto weniger Menschen begegnen ihr. Inzwischen hat sie das Flussufer erreicht. Wie beschrieben befindet sich dort eine Brücke. Diese ist jedoch schmaler und nicht ganz so massiv, da sie aus Holz erbaut wurde. In das Geländer sind kleine, aus der Ferne nicht zu sehende Muster geschnitzt, die sich erst auf den zweiten Blick offenbaren.

Jolie bleibt einen Augenblick stehen und vergisst Raum und Zeit. Spürt frischen Wind im Haar, warme, glühende Sonnenstrahlen im Gesicht, den Geruch von feuchter Erde in der Nase. Und plötzlich reißt sie das Zwitschern eines Vogels aus ihren Tagträumen. Rasch setzt sie ihren Weg fort, getrieben von dem Verlangen zu erfahren, was das alles zu bedeuten hat.

Dem Pfad auf der anderen Seite des Flusses folgend, zermartert sie sich den Kopf darüber, was geschehen sein könnte und wer der Mann auf dem Foto ist. Doch auch nach längerem Überlegen fällt ihr keine logische Erklärung ein. Ihr bleibt also nichts anderes übrig, als darauf zu vertrauen, dass sich alles aufklären wird.

Zu ihrer Linken als auch zu ihrer Rechten tauchen nun Felder auf, die durch den Fluss mit Wasser versorgt werden.

Grübelnd setzt Jolie einen Fuß vor den anderen, bis sich schließlich ein Waldgebiet vor ihr auftut. Der Weg ist nun schmaler und übersät von Wurzeln. Bäume ragen in den Fluss hinein, der Jolie nun noch reißender erscheint. Plötzlich gabelt er sich und Jolie folgt dem schmaleren, der in einem Bogen verläuft. Den Blick gesenkt, betrachtet sie Moos und Gräser, Wurzeln und Erdboden.

 

Als sie aufschaut, erblickt sie, wie aus dem Nichts erschienen, eine Lichtung, auf der wenig später eine Villa zu sehen ist. Hier muss es sein.

Auf den ersten Blick wirkt die Villa hell und freundlich. Aus beigem Stein errichtet. Als Fundament schwarzer Granit. Das Dach spitz und mit rötlichen Dachpfannen vertäfelt.

Voller Verwunderung betrachtet Jolie das Gebäude. Dies ist mit Abstand das schönste im gesamten Dorf.

Da entdeckt sie seitlich an der Hauswand eine kleine Treppe, die zu einer Veranda führt. Im Sommer muss es herrlich sein, dort Kaffee zu schlürfen und Croissants zu verzehren. Geschafft setzt sich Jolie auf die Stufen der Steintreppe. Ihre Füße schmerzen von dem langen Fußmarsch und auch ihr Magen meldet sich zu Wort. Einen Moment verharrend, versucht sie ihren rasenden Atem zu beruhigen. Tief ein- und ausatmend, erhebt sie sich schließlich und geht langsam zur Eingangstür. Dort sind zwei metallene Henkel und ein Schild angebracht, auf dem steht:

Hendrik Jan van Heekplein 1a, Sneek.

 

Hier ist es, jubelt Jolie. Aufgeregt hebt sie die Hand, atmet einmal tief ein, greift nach einem der Henkel und klopft. Stille. Nur der Wind, der das Laub zum Rascheln bringt, ist zu vernehmen. Noch ein letztes Mal betrachtet sie das Foto, da öffnet sich plötzlich die Tür.

Kapitel 3

 

Jolies Herz setzt einen Moment aus und beginnt dann rasant immer schneller zu schlagen. Während ihr die Worte im Hals steckenbleiben, steht vor ihr eine alte Großmutter. Sie lächelt aus ihrem zerknitterten Gesicht. Ihre Augen versprühen einen Glanz, als sei sie noch jungen Blutes und voller Abenteuerlust. Ihr Haar ist so weiß wie Schnee und doch erstaunlich dicht. Es ist zu einem Knoten zusammengebunden, so wie es Großmütter zu tun pflegen.

Sie schaut Jolie fragend an. »Mein Kind, was führt dich zu einer alten Frau, wie ich es bin?«

Die Tür nur leicht geöffnet, tritt sie hinaus auf die Veranda. Sonnenstrahlen fallen auf ihr Gesicht und lassen ihre blau-grauen Augen funkeln. Langsam macht sie ein paar Schritte.

»Setzen wir uns doch.« Sie deutet auf einen grüngestrichenen Holztisch, an dem links und rechts zwei Bänke stehen.

Als beide Platz genommen haben, hat Jolie genügend Mut gefasst und beginnt zu erzählen:

»Entschuldigen Sie bitte meine Schüchternheit. Ich wusste nicht, wie ich anfangen sollte.« Sie nimmt das Foto zur Hand und zeigt es ihr. »Mein Name ist Jolie. Ich bin auf der Suche nach diesem Mann. Kennen Sie ihn?«

Die Großmutter betrachtet das Foto aufmerksam, doch nach einer Weile schüttelt sie bedauernd den Kopf.

»Tut mir leid, ich habe ihn noch nie gesehen. Aber, bitte, nenn mich Omi Gretje, mein Kind.«

Sogleich spiegelt sich die Enttäuschung in Jolies Gesicht. Mist!

»Diese Adresse ist mein einziger Anhaltspunkt«, sagt sie mit einer Spur Verzweiflung in der Stimme. »Ist er sicher nicht hier gewesen?«

Wieder schüttelt die Großmutter den Kopf und lächelt besänftigend, als sie bemerkt, wie Jolie unruhig auf der Bank hin und her rutscht.

»Du bist bestimmt hungrig. Komm erstmal herein in die gute Stube. Ich mache uns etwas Warmes zu essen und morgen sehen wir weiter. Vielleicht wissen die Leute im Dorf, wer der Mann auf dem Foto ist, doch bis dahin bleib doch lieber hier. Es wird bald dunkel, da sollte ein Mädchen wie du nicht allein im Wald sein.«

Jolie nickt. Sie ist gerührt von der Freundlichkeit dieser alten Dame, die sie nicht einmal kennt und heute zum ersten Mal getroffen hat.

Schnell folgt sie ihr ins Innere der Villa und betrachtet begierig die Empfangshalle. Der Raum, in dem sie sich befinden, hängt voller Spiegel in allen erdenklichen Formen und Größen. Je nachdem, in welchen sie blickt, wirkt der Raum anders. An einer Wand steht ein schwarzes Klavier, auf dem verstaubte Noten stehen. Es ist wie in einem Tanzsaal. Plötzlich tauchen vor Jolies Augen umherwirbelnde Paare auf, in malerischen Gewändern, wie einer anderen Zeit entsprungen.

Das Besondere an diesem Raum ist jedoch zweifellos der Fußboden. Er ist übersät von verschiedenen Mosaiken in blauen Facetten, von hell bis dunkel, von grünlich bis fliederfarben. Ein Mandala als Zentrum in der Mitte. Als Jolie es näher betrachtet, entdeckt sie eine aus kleinen, blauen Steinen zusammengesetzte Meerjungfrau in einem Kreis in der Mitte des Mosaiks. Unwillkürlich muss sie an die Legende denken, von der die junge Frau erzählt hat und ein Schauder läuft ihr über den Rücken.

»Schön haben Sie es hier. Dieses Mosaik ist atemberaubend und sein Zusammenspiel mit den Spiegeln.«

»Ja, das ist es. Aber, bitte, sag ‚du‘ zu mir, sonst komme ich mir so alt vor.«

Jolie grinst. »Okay, also. Omi Gretje … Darf ich dir eine Frage stellen?«

Omi Gretje nickt wohlwollend. »Sicher.«

Jolie holt tief Luft. »Wer hat diesen Saal gestaltet? Es muss ein Künstler gewesen sein.«

Omi Gretjes Blick schweift ab. Ein Lächeln liegt sacht auf ihren Lippen.

»Es war mein Großvater«, beginnt sie zu erzählen. »Er hat dieses Haus gebaut und vermutlich auch das Mosaik. Die Spiegel haben mein Mann und ich angebracht. Als er noch lebte, haben wir oft an diesem Haus renoviert und viel verändert, weißt du? Aber nun wollen wir in die Stube gehen und uns stärken.« Mit diesen Worten bedeutet sie Jolie ihr zu folgen.

»Das mit deinem Mann tut mir leid«, sagt Jolie vorsichtig, als sie die Küche durch eine der Türen betreten.

Ihre Blicke treffen sich. Jolie ist die Situation unangenehm, doch Omi Gretjes Gesicht ist sanft.

»Weißt du, ich erinnere mich gern an meinen Mann. Wir haben uns sehr geliebt und hatten ein schönes Leben. Bei Gelegenheit erzähle ich dir mehr von ihm. Aber nun wollen wir erstmal etwas essen. Was magst du denn am liebsten? Vielleicht Reis? Kartoffelauflauf? Hühnersuppe? Oder Eintopf?«

Omi Gretje ist ganz in ihrem Element und hört gar nicht mehr auf, Dinge aufzuzählen, die sie zubereiten könnte.

»Ja, also …«, unterbricht Jolie sie zögerlich. »Das ist lieb gemeint, doch koch´ einfach, was du selbst gern isst. Es ist wirklich nicht wichtig.«

Omi Gretje lächelt herzlich.

»Nun gut, dann setz dich einen Moment und ruh dich aus. Nach unserer Mahlzeit zeige ich dir, wo du schlafen kannst«, sagt sie und deutet auf einen dunkelbraunen Holztisch, an dem rundherum blau angestrichene Stühle stehen, von denen bereits die Farbe abgeblättert ist. An der gegenüberliegenden Wand befindet sich ein altes, gemütlich wirkendes Sofa aus rotem Samt. Wie ungewöhnlich. Ein Sofa in der Küche und noch dazu am Esstisch. Omi Gretje ist wirklich erstaunlich. Was hält dieses Haus wohl noch für sie bereit?

Jolie nimmt wie befohlen Platz und schaut zu, wie Omi Gretje in Schubladen kramt und mit Töpfen und Pfannen hantiert. Bald erfüllt der Geruch nach schmackhaftem Essen die Luft. Jolie läuft das Wasser im Mund zusammen. Ihr Magen knurrt so laut, dass sie fürchtet, man könne es hören. Doch nicht mehr lang muss sie warten, da stehen auch schon Geschirr und dampfende Töpfe auf dem Tisch.

»Reis mit Curry-Soße, Putenstücken und Ananas. Das hat meinem Mann immer vorzüglich geschmeckt«, sagt Omi Gretje lachend und setzt sich zu Jolie an den Tisch. »Greif nur zu!«

Rasch, beinahe gierig nimmt sich Jolie und beginnt das Mahl herunter zu schlingen. Es schmeckt fantastisch.

 

Als sie das Abendessen beendet und den Tisch abgeräumt haben, zeigt Omi Gretje ihr, wo sie schlafen kann. Sie verlassen die Küche und gehen durch eine Holztür in den Wohnbereich, der mehr an ein Musikanten-Studio erinnert.

»Wow«, bringt Jolie hervor. »Wer spielt denn all diese Instrumente?«

Omi Gretje streicht gedankenverloren über die Seiten einer Gitarre.

»Mein Mann, ich selbst und unsere Kinder, wir haben alle gern musiziert. Doch besonders begnadet war mein Mann. Ich habe ihm gern zugesehen, wie er ganz in seinem Element war.«

»Und deine Kinder?«, fragt Jolie, während sie die Treppe am anderen Ende des Raumes hinaufsteigen.

»Wir haben zwei Töchter. Mittlerweile sind sie erwachsen. Doch ab und zu bekomme ich Besuch von Freunden und Familie. Hier ist viel Platz und ich habe gern Gesellschaft.«

Oben am Treppenabsatz angekommen, deutet sie mit einer ausladenden, beinahe feierlichen Bewegung auf eine dunkle Eichentür und öffnet sie.

»Hier ist das Bad. Es ist alles dort. Fühl dich wie Zuhause.«

Als sie die Tür wieder geschlossen hat, geht sie weiter. Im Flur hängen eine Menge Bilder. Eins nach dem anderen wie bunte Farbkleckse, ohne dass man erkennen mag, wer sie erschaffen hat.

Plötzlich bleibt Omi Gretje vor einer der zahlreichen Türen stehen, öffnet sie und tritt hinein.

»Hier ist es. Es war das Zimmer meiner jüngsten Tochter. Nun ist es für Gäste gedacht. Ich hoffe, es gefällt dir.«

Jolie strahlt. »Es ist wunderbar. Danke vielmals.«

Omi Gretje erwidert ihr Lächeln.

»Warte einen Moment. Ich bringe dir noch schnell eines meiner Nachthemden.«

 

Als Omi Gretje verschwunden ist, beginnt Jolie sich umzusehen. Ein traumhaft weißes Himmelbett steht auf einem kleinen Podest. Bettwäsche mit rosa Blüten darauf. Eine weiße Kommode. Ein Kerzenleuchter auf der Fensterbank.

Neugierig wirft Jolie einen kurzen Blick aus dem Fenster und erblickt alte Obstbäume, eine Wiese zum Herumliegen und Bücherverschlingen, den Fluss, ein paar Vögel und etwas Laub.

»Hier hast du es«, ertönt plötzlich Omi Gretjes Stimme hinter ihr.

Jolie fährt zusammen. Sie hat sie gar nicht kommen hören. Omi Gretje hält ihr ein hellblaues Nachthemd entgegen und lächelt.

»Du bist sicher müde. Ruh dich nur aus, mein Kind. Schlaf gut«, sagt sie und verlässt das Zimmer ebenso schnell wie sie gekommen ist.

»Danke, Omi Gretje«, ruft Jolie ihr hinterher, doch sie ist schon verschwunden.

Zufrieden lässt sich Jolie aufs Bett fallen, wirft das hellblaue Nachthemd über und kuschelt sich in die Decke. Nach kurzer Zeit ist sie eingeschlafen.

 

Als sie wieder erwacht, ist es bereits dunkel. Verängstigt schaut sie sich um. Da fällt ihr plötzlich wieder ein, was passiert ist und wo sie sich befindet. Das alles ist also kein Traum?!

Langsam kriecht sie unter der Decke hervor und setzt sich auf. Es ist Nacht und der Mond scheint hell in das Zimmer, gespenstische Schatten werfend. Auf dem Fensterbrett liegen Streichhölzer. Um mehr Licht zu haben, entzündet Jolie gelbe Honigkerzen, die in einem silbernen Leuchter stecken.

Obwohl Jolie unheimliche Angst hat, überwiegen ihre Abenteuerlust und das Verlangen zu erfahren, was es mit dem Foto und der Adresse auf sich hat. Mit dem Kerzenleuchter in der einen Hand, öffnet sie mit der anderen die Tür und schleicht hinaus. Vorsichtig sieht sie sich um. Alles ist dunkel und still.

Ihrem Gefühl vertrauend, folgt sie behutsam dem Flur, während sie den Kerzenleuchter sacht hin und her schwenkt und Augen und Ohren offenhält. Da taucht plötzlich eine Tür zu ihrer Linken auf. Beklommen legt sie die freie Hand auf die Klinke, drückt sie langsam nach unten und schaut den Atem anhaltend hinein. Doch es ist nur ein Schlafzimmer, so wie ihres. Also schließt sie schnell die Tür und geht weiter den Flur entlang, bis sie zur nächsten gelangt. Wieder erreicht ihre Anspannung einen Höhepunkt. Gleich lässt sie den Kerzenleuchter fallen und fackelt das ganze Haus ab.

 

Einmal tief einatmend öffnet sie schließlich die Tür und betritt das Dunkel. Das Kerzenlicht erhellt ein Zimmer, das einem Büro gleicht. An den Wänden Regale über Regale, vollgestopft mit Mappen, Pappkartons und Ordnern. Vor einem großen Fenster ein riesiger Schreibtisch aus dunklem Holz mit mehreren Schubladen an beiden Seiten. Bedacht, nirgendwo gegenzustoßen, schaut sich Jolie um. Dies scheint das Arbeitszimmer von Omi Gretjes Mannes zu sein. Neugierig öffnet sie mehrere Schubladen und sieht hinein: Dokumente, Pergament, Tintenfässer. Urplötzlich jedoch lässt sie eine laute, verärgerte Stimme entsetzt zusammenzucken. Jemand hat sie erwischt, hat sie beim Schnüffeln ertappt. Angst überkommt sie und lässt sie erstarren wie einen Stock im gefrorenen Eis.

 

Kapitel 4

 

Omi Gretje steht, eine Hand in die Hüfte gestemmt, in der Tür. Im Licht des Kerzenleuchters wirkt ihr Gesicht fahl und ihre Gestalt gleicht einem Gespenst. Der freundlich junge Glanz von heute Nachmittag, der ihr so schmeichelte, ist verschwunden. Erschreckt stolpert Jolie zwei, drei Schritte zurück und spürt plötzlich das kalte, harte Holz des Schreibtisches im Rücken.

»Tut mir leid! Ich konnte nicht schlafen …«, versucht sie Omi Gretje zu besänftigen. Doch die schaut strafend zurück.

»Wie konntest du nur?!«

»Ich …« Sofort überkommt Jolie ein schlechtes Gewissen. »Tut mir wirklich leid.«

Omi Gretje seufzt und mit einem Mal verblasst die Zornesfalte auf ihrer Stirn und ihre Züge werden wieder weicher.

»Wenn du nicht schlafen kannst, dann komm zu mir in die Bibliothek und schleich nicht durchs Haus. Nachts sitze ich gern dort und schreibe. Komm ruhig hinauf. Ich habe nichts gegen etwas Gesellschaft.«

Erleichtert entspannt sich Jolie ein wenig und folgt ihr auf den Flur hinaus. Mit einem der Schlüssel, die um ihren Hals hängen, schließt Omi Gretje die Tür und schaut Jolie bedeutungsvoll an. Zugleich versteht Jolie das Unausgesprochene. Dieses Zimmer ist tabu.

‚Doch warum so ärgerlich?‘, fragt sie sich. Was ist in diesem Zimmer, das Omi Gretje so beharrlich vor ihr geheimhalten will?

Noch immer grübelnd, folgt sie Omi Gretje am Ende des Flures eine schmale hölzerne Treppe hinauf. Dort öffnet die Großmutter eine massiv wirkende Holztür und betritt die Bibliothek. Scheinbar endlose Reihen alte, verschnörkelte Bücherregale tauchen vor ihnen auf. Zwischen ihnen Kerzenleuchter mit denselben gelblichen Kerzen wie in den anderen Zimmern. Jolie steht wie erstarrt da, fasziniert und gebannt zugleich.

»All diese Bücher, das muss ein echter Schatz sein«, sagt sie beeindruckt und dreht sich verwundert einmal um ihre eigene Achse. Omi Gretje sitzt derweil bereits direkt neben der Tür in einem Lehnstuhl, eine Lesebrille auf der Nase sowie Stift und Papier in den Händen.

»Woran schreibst du?«

Omi Gretje schaut auf. »Ich versuche mich an einem Buch über das Leben und die Liebe, über ihre Arten und Wege. Doch sieh dich nur um.«

»Probier´ ruhig ein paar von meinen Kokosmakronen und Zuckerringen. Habe sie erst gestern gebacken!«

Sie deutet auf eine Schale mit Keksen, die auf einem kleinen Tischchen steht.

Das lässt sich Jolie nicht zweimal sagen und beginnt die Bibliothek zu erkunden. Sie ist begeistert von der Vielfalt und Größe der Bibliothek. Hier steht wirklich alles von A bis Z. Romane, Biografien, Reiseführer, Atlanten, Fabeln und Märchen, Sachlektüre und Lyrik … Alles ist vorhanden.

Manuskripte über Vergangenes, die Gegenwart und Zukunft. Zeugnisse über alle Arten der Kunst, Fantasie und Traum, über die Wunder der Natur, Tiere und Menschen, über Spiritualität und Glaube, Leben und Tod, Liebe und Hass, über Glück und Leid, Vorstellung und Wirklichkeit. Jolie streicht über einen Buchrücken aus dunkelrotem Leder, auf dem ein goldener Schriftzug prangt: Sinn oder Unsinn.

Gedanken über Gedanken. Geschaffen von der Hand eines Schreibers. Seine Wahrheit gelesen. Seine Wahrheit hinterfragt. Seine Wahrheit kommentiert durch die, die lesen.

Jolie schlägt das Buch in ihren Händen auf und blättert darin. Es steckt voller Worte vergangener Philosophen und Weisheiten. Weisheiten, die vom Alter gebeutelt und von Idealismus geprägt wurden. Zur Ordnung des Lebens. Der Erfahrene versteht, ob jung oder alt, ob arm oder reich. Weisheiten erwacht und überlistet. Weisheiten, die zu eigenen werden.

Hier stehen Geschichten über Geschichten. Erlebt von großen und kleinen Leuten. Hier und dort. Froh oder trüb endend. Wahr oder fiktiv. Nichts eindeutig. Nichts vorgegeben.

Er, der Schreiber, erzählt seine Geschichte selbst. Bestimmt, wie sie klingt. Er entscheidet, wohin die Reise des Lebens führt.

Die Jolies hat erst gerade begonnen. Die ersten Seiten sind noch unangetastet. Weiß liegen sie vor ihr. Jolie hat keinen blassen Schimmer, wohin ihre Reise des Lebens führt. Sie steht nicht geschrieben. Ist nicht in Stein gemeißelt. Sie ist lebendig und unberechenbar. Ihr Autor ist Jolie selbst. Sie selbst bestimmt, wovon ihr Leben handelt. Ob von Freude oder Leid, Liebe oder Hass, Dankbarkeit oder Verbitterung, Glaube oder Misstrauen, Wahrheit oder Lüge, von Hoffnung oder Trübsal, Toleranz oder Starrsinn, Gemeinschaft oder Ausgrenzung, Frieden oder Krieg … Es liegt in ihrer Hand.

Gedankenverloren setzt sich Jolie in einen alten, roten Schaukelstuhl am anderen Ende der Bibliothek und wippt hin und her. Mit der Zeit ist sie müde geworden. Es war ein langer Tag und eine anstrengende Reise bis hierher. Nur langsam erhebt sie sich und bleibt schließlich vor Omi Gretje stehen. Omi Gretje schreibt immer noch und scheint gerade in einem Fluss zu sein.

Nur zögerlich unterbricht Jolie sie: »Omi Gretje? Ich bin müde und werde zu Bett gehen. Ich wünsche dir eine gute Nacht.«

Omi Gretje schaut überrascht auf.

»Ach, mein Kind, ist es schon so spät? Nun gut, dann werde ich auch bald schlafen gehen. Gute Nacht, Liebes.«

Sie lächelt sanft, so als sei nichts geschehen.

»Vergiss nicht, auf dein Gefühl zu vertrauen«, sagt sie mit bedeutungsvoller Stimme, jedoch völlig aus dem Zusammenhang gerissen, und wendet sich wieder ihrem Buch zu.

Jolie weiß nicht, was sie darauf antworten soll und geht ohne jedes weitere Wort die Treppe hinunter, durch den Flur in das Gästezimmer, in Gedanken bei dem, was Omi Gretje gesagt hat. Was hat sie bloß damit gemeint? Jolie kann sich keinen Reim darauf machen und fällt schlaftrunken ins Bett.

 

Die Nacht ist klar und der Mond scheint silbrig ins Zimmer. Sterne funkeln am Himmelszelt.

Jolies Reise führte in dieses Dorf. Was hier geschieht, ist sonderbar. Die Villa, in der sie übernachtet, ist sonderbar. Und auch Omi Gretje ist ein wenig merkwürdig. Doch Jolie schläft ruhig und traumlos, in das Gute vertrauend, solange, bis der Tag erwacht und die Sonne aufgeht, die den Morgentau zum Schmelzen bringt und alles Grau in heller Freundlichkeit erstrahlen lässt.

 

Als Jolie am nächsten Morgen erwacht, schmerzen ihre Glieder. Genüsslich streckt sie sich und gähnt ein paar Mal zaghaft. Mit einer Mischung aus Anspannung und Vorfreude beginnt sie einen neuen Tag. Heute hat sie Großes vor, denn sie möchte die Dorfbewohner ansprechen und nach dem Mann auf dem Foto fragen. Für die meisten wäre es vermutlich ein Klacks, doch für sie ist es eine wahre Herausforderung. Ihre Zurückhaltung und der Gedanke daran, was andere über sie denken könnten, hindern sie. Doch nur Mut! Wer nicht wagt, der nicht gewinnt!

Nachdem Jolie ihre Kleidung übergestreift und sich die Zähne geputzt hat, geht sie hinunter in die Küche. Omi Gretje sitzt bereits am Tisch, schlürft Kaffee und liest Zeitung.

»Guten Morgen«, sagt sie, als Jolie den Raum betritt. »Magst du frühstücken?«

Jolie nickt eifrig. »Ja, liebend gern.«

Der alte Holztisch in der Küche ist reichlich gedeckt. Rosinenstuten, Marmelade, Butter, Käse, Schinken, Salami, Honig, Erdnussbutter, selbstgemachter Apfelsaft, Erdbeermilch und vieles mehr. Ein richtiges Festmahl. Jolie genießt es in vollen Zügen.

»Heute werde ich ins Dorf gehen, um die Leute zu befragen. Wenn es dir Recht ist, bleibe ich noch eine Nacht«, sagt sie.

Omi Gretje lächelt. »Bleib nur, mein Kind.«

Erleichtert atmet Jolie aus. Scheinbar sind die gestrigen Ereignisse vergessen. In ihrer Erinnerung kommen sie ihr nun nur noch unwirklich vor.

Wie ein Engel kümmert sich Omi Gretje rührend um sie, so als könne sie keiner Fliege etwas zuleide tun. Oder doch?

Da reißt Omi Gretje Jolie plötzlich aus ihren Tagträumen. »Wenn du magst, kannst du eines der Fahrräder aus dem Keller nehmen, dann bist du schneller im Dorf.«

»Ja, gern«, antwortet Jolie überrascht, während Omi Gretje fortfährt.

»Heute ist Markt, du solltest dich beeilen. Folge mir. Ich zeige es dir.«

Jolie stürzt hastig die übrig gebliebene Erdbeermilch hinunter und folgt ihr.

Von der Empfangshalle aus geht eine hölzerne, kleine, unscheinbare Tür ab und führt hinab. Links geht es in die Vorratskammer und rechts in einen Werkraum. Überall stehen Holzplatten, Werkzeuge und Gerümpel. Auf einem Tisch liegt eine angefangene Bürste.

»Hast du die selbst gemacht?«, fragt Jolie neugierig und deutet darauf.

»Ach wo! Mein Mann hat damals gern gewerkelt«, weicht Omi Gretje aus und öffnet eine Tür zu ihrer Rechten. »Hier sind die Fahrräder. Such dir eines aus«, fordert sie Jolie auf und lächelt.

Jolie greift nach dem ihr am nächsten stehenden, einem roten Damenrad. Die anderen scheinen etwas zu groß zu sein.

»Gute Wahl«, sagt Omi Gretje anerkennend und sie steigen wieder die Treppe hinauf.

Das Fahrrad ist schwer, doch Jolie entdeckt ungeahnte Kräfte. Oben angekommen, streckt Omi Gretje ihr ein graues Schloss und mehrere Münzen entgegen.

»Hier, nimm das … Und wärst du so lieb, mir ein Schälchen Erdbeeren mitzubringen?«

»Gern«, erwidert Jolie, nimmt das Schloss und die Münzen entgegen und braust kurze Zeit später davon.

 

Es ist schon seltsam. Die Bürste im Keller sah so aus, als hätte jemand erst kurz zuvor begonnen, sie zu fertigen, dann aber keine Zeit mehr gehabt, seine Arbeit zu Ende zu bringen.

Immer wieder muss Jolie an das Arbeitszimmer denken, das sie nicht mehr betreten darf. Was verbirgt sich dort?

Aus den Gedanken aufgeschreckt, vernimmt sie mit einem Mal eine verärgerte Frauenstimme.

»Passen Sie doch auf, wohin Sie fahren!«

In Windeseile reißt Jolie den Lenker herum und ordnet sich wieder am Rand der Straße ein. In ihre Grübelei vertieft, hat sie gar nicht bemerkt, dass sie die Dorfmitte bereits erreicht hat. Zwei Straßen weiter und schon steht sie auf dem Marktplatz. Sie grinst. Ihr Orientierungssinn hat sie also noch nicht verlassen.

An einer Laterne kettet sie das Fahrrad an, sodass es nicht davonfahren kann oder vom Wind verweht wird und geht, entschlossen, die Herausforderung zu meistern, auf die Stände im Zentrum des Marktplatzes zu.

»Frisches Gemüse, gut gesät und geerntet!«, ruft eine Frau.

Ein Mann prahlt mit seltenen Gewürzen, die er aus fernen Ländern mitgebracht hat, während eine Andere ihre Backwaren anpreist. Doch Jolie macht sich zunächst auf die Suche nach dem Obststand, um nach Erdbeeren zu schauen. Und tatsächlich: Ungewöhnlicherweise gibt es noch immer welche.

»Eine Schale, bitte«, sagt Jolie und deutet auf die noch frisch aussehenden Exemplare.

Die Verkäuferin nickt. »Sehr gern, sonst noch etwas?«

Jetzt ist der Moment gekommen. Jetzt könnte sie der Frau das Foto zeigen und die entscheidende Frage stellen. Doch Jolies Mund ist trocken, so als hätte sie seit Stunden nichts mehr getrunken. Sie schluckt. Es kostet sie all ihre Überwindung, doch schlussendlich kommen die Worte doch über ihre Lippen: »Danke, sonst nichts. Aber ich hätte noch eine Frage. Ähm …, ich suche nach einem Mann …« Schüchtern reicht sie der Frau das Foto. »Kennen Sie ihn?«

Die Frau betrachtet es einen Moment lang und schüttelt den Kopf. »Nein, tut mir leid. Er ist mir nicht bekannt.«

Und schon wendet sich die Verkäuferin dem nächsten potenziellen Kunden zu.