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Gloria und die Londoner Liebschaften

 

Ein viktorianischer Krimi

 

von Marlene Klaus

 

Dryas

Inhalt

Titel

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Nachwort

Sonstige Anmerkungen

Zur Baker Street Bibliothek

Impressum

Zum Weiterlesen: "Die Liebenden von Verona"

Streetlamp

Die Baker-Street-Bibliothek

 

Romane aus den Anfängen der modernen Kriminalistik

 

Verfügte Sherlock Holmes in seinem Haus in der Baker Street 221b über eine literarische Bibliothek?

Wir wissen es nicht.

Aber wir stellen uns gern vor, dass er die Bücher dieser Reihe gelesen hätte: Geschichten rund um skurrile Morde, bizarre Motive und eigenwillige Ermittler, die allesamt in einer Zeit spielen, in der die Verbrechensermittlung noch in den Kinderschuhen steckte.

 

Mehr unter: www.bakerstreetbibliothek.de

Zum Weiterlesen:
"Gloria und die Liebenden von Verona" von Marlene Klaus

 


Dryas Verlag, Print ISBN 978-3-940855-58-9, E-Book ISBN 978-3-941408-81-4

 

1. Kapitel

Die Straße war schlecht wie alle Straßen, die sie seit ihrer Abreise aus England vor zwei Monaten befahren hatten. Die italienischen machten da keine Ausnahme, nein, weiß Gott nicht.

„Ach herrje!“, rief Tante Jo, die neben Gloria in der Postkutsche saß, als sie durch ein weiteres Schlagloch rumpelten und sie auf ihrem Sitz durchgerüttelt wurde.

Der dicke Kaufmann Fromm – „Ignaz Fromm aus Wien Gewürze, Weine, Seide“, wie er sich ihnen vorgestellt hatte –, ihr zufälliger Reisegefährte seit dem Brennerpass, setzte ein aufmunterndes (wenn auch gequältes) Lächeln auf. „Wir sind bald in Verona, verehrte Gnädigste“, suchte er Glorias Großtante zu beruhigen. „Bald haben Sie es überstanden. Und der malerische Anblick der alten römischen Stadt, wie sie da romantisch zwischen grünen Weinhügeln liegt, wird Sie für die Beschwernisse entschädigen, das versichere ich Ihnen.“ Er schaute Gloria an. „Adieesch!“, rief er bühnengerecht erhaben und hob einen Arm. „So heißt der Fluss Etsch, der sich um das Städtchen schmiegt, auf Italienisch.“

Als ob sie das nicht wüsste! Aber sie schenkte ihm ein höfliches Lächeln, das ihm zeigen sollte, dass sie seine Informationen, die er verstreute wie Gewürzprisen, seit sie die Südtiroler Berge hinter sich gelassen hatten, geneigt zur Kenntnis nahm.

Sie sprach natürlich ein passables Italienisch, wenn sie auch kaum das Kauderwelsch der örtlichen Dialekte verstand. Und außerdem hatte sie ihren Baedeker dabei.

„Ah, Italien!“, seufzte Kaufmann Fromm und schaute aus dem Fenster. Nicht ohne natürlich sein mit aufgeblähten Wangen geplustertes „Bab-bala-ba-bap“ hintanzusetzen, was umso lustiger war, als sich sein grauer Backenbart dabei bewegte wie ein eigenständiges Wesen.

Gloria spürte Tante Jos Blick auf sich und wandte sich ihr schmunzelnd zu. Sie hätte auch ohne hinzusehen gewusst, wie Tante Jo hinter ihrem Fächer dreinsah. Und genau so sah sie drein. Der gute Ton gebot Freundlichkeit gegen den mitreisenden Herrn, doch sein Weltmann-Gebaren wie aus dem Buche war ihr gehörig lästig. Kaum dass sie zum Beispiel ihren Fächer hervorgeholt hatte, hatte er ihr geschwätzig erklärt, dieses überaus nützliche Utensil nenne man in Wien „Waderl“, das leite sich von „wehen“ her – und er hatte sowohl Tante Jo als auch sie in einer geradezu impertinenten Weise genötigt, das Wort wieder und wieder nachzusprechen, um es ihnen beizubringen, woran sie kein Interesse hatten, er aber ein nachgerade einfältiges Vergnügen fand.

„Wie schade, dass die beiden Fräulein von Stetten uns bereits in Trient verließen“, sagte Tante Jo leise und mit aufrichtigem Bedauern, während sie sich Luft zufächelte. Das ältliche Geschwisterpaar aus Deutschland hatte sich bestens mit Tante Jo verstanden, die Postkutsche aber leider ebenso verlassen wie ein weiterer Herr, sodass sie seither die ungeteilte Aufmerksamkeit Kaufmann Fromms genossen, die sich zuvor wenigstens noch auf die anderen Mitreisenden verteilt hatte.

„Selbst dieser Unausstehliche von der Poststation in Trient käme mir jetzt gelegen, um den Kaufmann von uns abzulenken“, flüsterte Tante Jo nah an Glorias Ohr und verborgen hinter dem Fächer, damit der Handelsherr es nicht hörte.

„Erinnere mich bloß nicht an den!“, zischte Gloria. „Lord Alexander Lyndon, Viscount Loughborough! Blasiert, besserwisserisch und durch und durch eigennützig! Wie unverschämt von ihm, uns nicht das bessere Zimmer zu überlassen! Kein Kavalier, wahrlich nicht!“

„Sprachen Sie von dem Viscount, dem wir in Trients Poststation begegneten?“, wandte sich der Österreicher ihnen wieder zu. „Ein ignoranter Mensch, wollte mir scheinen.“

Gloria rollte innerlich die Augen. Ignorant war gar kein Ausdruck! Arrogant und rechthaberisch, wenn auch von tadellosem Äußeren. Von tadellosem Aussehen sogar, wenn man ehrlich war (trotz der kleinen ovalen Narbe oberhalb des rechten Wangenknochens nah beim Auge), doch es bestätigte einmal mehr, dass man sich danach keinesfalls richten durfte. Sein Charakter entsprach seinem angenehmen Äußeren keinesfalls. Es stimmte sie verdrießlich, dass sie an ihn erinnert wurde, es stimmte sie verdrießlich, dass der Kaufmann dieses Thema auch noch aufgreifen zu wollen schien. Und so erwiderte sie mit süßlichem Unterton: „Nun ja, seine Reisebekanntschaften kann man sich nicht aussuchen, nicht wahr?“ Sie setzte ein Lächeln auf, das, wie sie hoffte, der Zweideutigkeit ihrer Aussage die Spitze nahm. Lieber Himmel, sie wünschte, sie wären schon in Verona, damit sie diesen lästigen Reisegefährten endlich los wären.

Aber ihr Bitten wurde nicht erhört, nein, ganz im Gegenteil, denn die Kutsche schlingerte plötzlich, man hörte den Postillion auf seinem Kutschbock fluchen, Geschrei erhob sich, die Pferde wieherten, und mit einem plötzlichen Ruck, der sie und Tante Jo fast auf die Knie des Kaufmanns schleuderte, wurde gehalten.

„Was ist da los?!“, echauffierte sich der Österreicher und beugte sich aus dem Fenster.

Gloria sah ebenfalls hinaus.

Bei den Pferden stand eine junge Italienerin und schrie und gestikulierte zum Postillion hinauf. Das Gesicht der jungen Frau war tränenüberströmt, ihre Haare aufgelöst, ihr hübsches helles Sommerkleid schmutzig.

Glorias Herz klopfte aufgeregt und sie überlegte, ob es sich wohl um eine jener Listen handelte, von denen man hörte und las: Räuberbanden schickten ein vermeintliches Opfer vor, brachten die Kutschen zum Stehen und die Insassen in Verwirrung, und hatten so leichtes Spiel, sie auszurauben.

Sie spähte nach links und rechts, aber als keine wilden Horden auftauchten, stieg sie aus.

„Kind!“, entfuhr es Tante Jo entsetzt und der Kaufmann rief bestürzt: „Mailäidi!“

Die junge Frau – einige Jahre jünger als Gloria, Anfang zwanzig etwa – reckte noch immer die Arme zum Postillion und wehklagte. Gloria verstand kein Wort ihres Geschreis.

„Um was geht es?“, wollte Tante Jo hinter ihr in der Kutsche wissen.

„Ihrem Gebaren nach scheint etwas Schlimmes geschehen zu sein. Sie ringt die Hände, ruft Namen. Luigi und Giulio oder so“, erwiderte Gloria über die Schulter und bemerkte dabei, dass der Kaufmann nun ebenfalls ausstieg.

Langsam ging sie auf die Weinende zu, eine hübsche junge Frau von jener zierlichen italienischen Art, die Engländerinnen wie sie sich plump vorkommen ließ, obwohl dazu nun wahrlich kein Grund bestand, denn auch sie hatte eine schlanke Figur und schöne braune Augen mit einem Kranz dichter Wimpern. Das Mädchen sah sie, eilte auf sie zu und griff nach ihren Händen. Gloria zuckte leicht zurück und schämte sich sofort dafür, denn die tränennassen Augen der jungen Frau blickten sie flehentlich an, und mit eindrücklicher Inbrunst in der Stimme sagte sie: „Signora!“ Sie ließ eine Hand los und deutete mit dem ausgestreckten Arm in den Weinhügel seitlich der Straße, hinter dem sich blaugrün ein lichtes Wäldchen erstreckte. „Mi aiuti! Signora Inglese? Mi aiuti!“

Der Postkutscher befestigte fluchend die Zügel und stieg ab.

„Was mag dem armen Geschöpf nur geschehen sein?“, fragte der Kaufmann, der herangetreten war, irritiert.

Tante Jo beugte sich aus dem Wagenfenster. Gloria warf ihr einen fragenden Blick zu. „Sie bittet mich um Hilfe“, erklärte sie.

„Mi aiuti!“, bestätigte die Italienerin, fasste erneut Glorias Hände und versuchte, sie mit sich fortzuziehen. „Signora Inglese, venga!“, drängte sie verzweifelt.

„Sollte mich nicht wundern, wenn dieser Zwischenfall unsere Weiterfahrt verzögert“, stellte Tante Jo trocken fest.

Gloria war erschüttert vom Verhalten der jungen Frau und wusste nicht, was sie tun sollte. Der Postillion trat heran und kauderwelschte laut auf das Mädchen ein. Kaufmann Fromm tupfte sich mit einem Taschentuch die gerötete Stirn und Tante Jo trat nun ebenfalls auf die Straße und stellte sich neben Gloria.

Pferdegetrappel meldete das Nahen eines weiteren Gefährts. Alle drehten sich um und sahen nach hinten auf die Straße. Ihre Postkutsche versperrte den Weg.

Eine Kalesche nahte.

„Oh nein!“, stöhnte Gloria leise, als der junge Kutscher die Pferde zügelte, anhielt und ein Mann in den besten Jahren und im ausgesucht kostbaren Reiserock, der ihm, wie sie einräumen musste, vorteilhaft zu Gesicht stand, schwungvoll ausstieg. Wahrlich, ein Unglück kam selten allein. Von allen Geschöpfen auf Gottes großer Erde musste ausgerechnet er erneut ihren Weg kreuzen – mit einem Lächeln, das ausdrückte, dass mit seinem Kommen Rettung nahte.

„Alexander Lyndon, Viscount Loughborough. Kann ich behilflich sein?“

 

Mehr in Marlene Klaus „Gloria und die Liebenden von Verona“

www.dryas.de

Impressum

1. Auflage 2017

© Dryas Verlag

Herausgeber: Dryas Verlag, Frankfurt am Main, gegr. in Mannheim. Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

Herstellung: Dryas Verlag, Frankfurt am Main

Lektorat: Andreas Barth, Oldenburg

Korrektorat: Birgit Rentz, Itzehoe

Umschlaggestaltung: © Guter Punkt, München (www.guter-punkt.de)

Umschlagmotiv: © Guter Punkt, München, unter Verwendung von Motiven von Thinkstock und Framepool

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

 

ISBN Taschenbuch 978-3-940855-71-8, ISBN E-Book 978-3-941408-91-3, www.dryas.de

Sonstige Anmerkungen:

Die Personen der Geschichte

Real existierende Personen sind mit einem * gekennzeichnet.

 

Lady Gloria Victoria Wingfield (29), eine engagierte Dame nicht nur in Sachen Frauenbildung. Leider pflastern Leichen ihren Weg

Lady Josephine Margaret Blythe, genannt »Jo« (69), Lady Glorias Großtante

Lord Alexander Lyndon, Viscount Loughborough (33), gut aussehend, Gentleman durch und durch und zu seiner eigenen Überraschung mit einer guten Portion Humor ausgestattet

Lilian Fielding (29), Glorias Freundin und Mitstreiterin in Sachen Frauenbildung

Robert Fielding (32), Lilians Ehemann Lady Virginia Heaton (21), frisch vermählte Tochter aus herzoglichem Haus, die etwas für Frauenbildung übrig hat

Alfred Emanuel von Sachsfeld und Thalburg (21), Lady Virginias deutscher Ehemann, lebt in London und studiert dort britisches Staatsrecht; Sponsor des Frauenbildungsvereins

Marie Louise von Sachsfeld-Saale, Herzogin von Kent (54), Lady Virginias Mutter

Sir John Carrey (54), Baronet und Finanzverwalter der Herzogin von Kent

Eduard von Löwenstein (30), Virginias Cousin

James Peter Labulo Dickson (35), wohlhabender afrikanischer Geschäftsmann, Sponsor des Frauenbildungsvereins

Susan Forsythe Beltà (21), seine Ehefrau, einst eine afrikanische Prinzessin, nun Patentochter Königin Victorias

Bedwin Sands (23), Dandy und Orientreisender, Freund von Alfred

Constance Wilde* (31),Autorin, Rednerin, Frauenrechtlerin, Kriegsgegnerin und Herausgeberin der »Rational Dress Society Gazette«

Oscar Wilde* (34), Constances Ehemann, Schriftsteller und Ästhet, Herausgeber der Zeitschrift »Woman’s World«

Gregory Morris (27), angesehener Gesellschaftsreporter

Miss Margaret Bateson*, Journalistin der Frauenzeitung »The Queen«

Cecil Rigby, Inhaber der Rigby Sparkasse und Sponsor des Frauenbildungsvereins

Mr Brooks, Glorias Anwalt

Louise Lauritz (56), ehemalige Erzieherin und Gouvernante von Lady Virginia, nun ihre Vertraute und Freundin

Miss Ethel Lloyd*, Journalistin des »Daily Telegraph«, außerdem führendes Mitglied der Vorstandschaft der Frauenzeitung »The Lady’s Pictorial«

Miss Honor Morton*, Krankenschwester und Journalistin, schreibt für das wöchentliche Nursing Supplement

Sir James William Olive * (35), Inspector bei Scotland Yard

Mr Popkiss, Sergeant

Mrs Elizabeth Thomasina Meade Smith* (45), Autorin von Jugendbüchern sowie religiösen und sentimentalen Geschichten und historischen Romanen

Mrs Florence Fenwick Miller* (34), Medizinerin und berühmte Rednerin sowie Journalistin

Lady Greville*, Tochter des 4. Herzogs von Montrose, Journalistin und eine Autorität in Sachen Frauensport und Freizeit

Miss Susan Carpenter*, Irin, Journalistin

Mrs Warren* (79), die Herausgeberin von »The Ladies‘ Treasury«

Tom Twitter, ominöser Schmierenschreiber, seine reißerischen Artikel erscheinen hauptsächlich in den »Illustrated London News« sowie der »Tit-Bits«

Lady Rossmore (51), Mitglied im Alexandra Club und im Frauenbildungsverein

Lady Warwick (ca. Mitte 40), Mitglied im Alexandra Club und im Frauenbildungsverein

Lord & Lady Ashburton (in ihren 70ern), Nachbarn von Tante Jo

Lord & Lady Hastings, Baron Fitzherbert, Freunde und Gäste der Ashburtons

Das Personal im Frauenbildungsverein: John Atkinson, Hausmeister; Auguste Neal, Köchin; Sally Beaumont (20), Hausmädchen; Linda O’Connor (17), Küchenmädchen; Frederick Pratt (51), Butler mit Zeitarbeitsvertrag; Hutch (16), Laufbursche

Außerdem: Mrs Rigby; ein Constable; Lady Blythes Butler Twentyman; Finley, Lord Lyndons Kutscher; Hulda Friedrichs*, eine deutsche Journalistin, die in London lebt und für verschiedene Zeitungen schreibt; Viscountess Harberton* und Mrs King*, die Gründerinnen der Rational Dress Society; die Journalistin Frances Power Cobbe*.

Danksagung

Dem Blog »Gaiety Girl« für die Informationsfülle zum viktorianischen Zeitalter, zu finden unter: http://the-gaiety-girl.blogspot.de.

Robert C. Marley für das freimütige Beantworten all meiner Fragen zur Polizeiarbeit.

Andrea Bergen-Rösch und Eva J. Waldau für die vielen klugen Überlegungen zum Plot und die inspirierende Zusammenarbeit.

Sandra Thoms für das Geschenk.

Andreas Barth für das wie immer feinfühlige Lektorat.

Birgit Rentz für den letzten Schliff.

Krummstab

Nachwort

Es war mir von Anfang an klar, dass einer der Schwerpunkte in diesem Roman auf der Presse liegen sollte – vorzugsweise auf Frauen und Presse. Nachdem ich bereits für Glorias zweites Abenteuer in Ägypten einiges über viktorianische Frauenmagazine und -zeitungen recherchiert hatte, vertiefte ich dieses Thema für das dritte Buch.

Nicht nur explodierte die Presselandschaft im viktorianischen England um ein Vielfaches, es änderte sich auch die Art der Berichterstattung: Werbung wurde zunehmend wichtiger, verbesserte Drucktechniken führten zu mehr Illustrationen, Fotografien fanden ihren Weg in die Journale und die Interviewform wurde eingeführt. Ein weiteres Merkmal dieser Zeit war die Entanonymisierung der Schreibenden. Erschienen Artikel in der Mitte des Jahrhunderts noch anonym, so waren sie gegen dessen Ende namentlich gekennzeichnet.

Für Frauen, denen noch immer der Zugang zu fast allen Berufen verschlossen war, bot der Journalismus ein Auskommen. Es gab Frauenmagazine, die sich ausschließlich an Krankenschwestern und Arbeiterinnen wandten oder die sich dem Thema des Frauenwahlrechts widmeten.

Ich habe im Internet einen digitalisierten Originaltext gefunden mit dem Titel »Leading Lady Journalists«, geschrieben von Mary Frances Billingham. Der Text wurde laut einer Notiz auf dem Deckblatt ehemals im »Pearson’s Magazine« abgedruckt und stammt von 1896.

Ms Billingham zollt darin den Journalistinnen ihrer Zeit Respekt. Sie nennt die Namen sowie die Zeitungen, für die die Damen schrieben oder die sie herausgaben. Diesen Vorreiterinnen ihres Berufsstandes wollte ich ein Denkmal setzen und lasse sie im Roman auftauchen. Von den meisten ist mir weder ihr Alter bekannt noch, ob sie ihre Arbeit 1890, 1892 oder 1894 begannen, was ja nach der Zeit der Romanhandlung wäre. Im Rahmen der schriftstellerischen Freiheit lasse ich einige von ihnen trotzdem im Roman auftauchen. Alle mit * gekennzeichneten Journalistinnen (sowie andere Personen) im Personenregister hat es also wirklich gegeben. Auch die ihnen zugeordneten Themenbereiche stimmen. Bei Lady Greville und Frances Power Cobbe stimmt auch das Aussehen.

Nachdem ich in einem Blog über das viktorianische Zeitalter über die afrikanische Prinzessin Sara Forbes Bonetta gelesen hatte, war ich entschlossen, auch sie in den Roman einzubauen. So ist die Figur der Susan Forsythe Beltà der Biografie von Sara Forbes Bonetta, später Lady Sara Forbes Bonetta Davies, nachempfunden. Eine unglaubliche Geschichte eines ungewöhnlichen Schicksals einer schwarzafrikanischen Frau. Sara Forbes Bonetta starb bereits 1880, ich habe mir erlaubt, ihre biografischen Daten dem Roman anzupassen.

Wer mehr über sie erfahren möchte: https://en.wikipedia.org/wiki/Sara_Forbes_Bonetta http://suite7beautytalk.com/2012/02/27/little-known-historical-fact-sarah-forbes-bonetta-davies/ sowie http://the-gaiety-girl.blogspot.de/2014/01/sara-forbes-bonetta-die-patentochter.html. Der Kapitän, der sie rettete und den ich im Roman Frederick E. Forsythe nenne, hieß in Wirklichkeit Frederick E. Forbes, sein Schiff war die Bonetta. James Peter Labulo Dickson hieß in Wirklichkeit James Pinson Labulo Davies. Er war Saras Ehemann. Für ihn gilt das Gleiche: Auch seine Daten habe ich für den Roman modifiziert, und auch über ihn gibt es einen Wikipedia-Eintrag.

Die West Africa Squadron war eine Organisation, die an der westafrikanischen Küste patrouillierte, um den atlantischen Sklavenhandel zu unterbinden.

Kapitel 1

Morgen Abend würde es so weit sein!

Lady Gloria Wingfield war glücklich, sie hatte ihr Ziel erreicht: Morgen Abend würde der Frauenbildungsverein »Elizabeth« eröffnet werden!

Sie saß an dem großen Schreibtisch im Arbeitszimmer und sah noch einmal die Unterlagen durch, die sie für das Interview heute Nachmittag vorbereitet hatte. Durch die geöffnete Zimmertür drang geschäftiger Lärm herein. Endlich wurden die Stühle geliefert, leider verspätet und bedauerlicherweise zusammen mit den Buketts. Sie hörte den Hausmeister Atkinson Anweisungen geben und ihre Freundin Lilian den Blumenhändler dirigieren. Irgendwo schwirrten auch Mrs Fenwick Miller sowie Miss Morton herum, um die Lampions und Kerzenlichter auf den Veranden zu arrangieren und anderweitig nach dem Rechten zu sehen. Lilian, Mrs Fenwick Miller und Miss Morton waren wie Gloria im Vorstand des Frauenbildungsvereins. Den Namen »Elizabeth« hatte Gloria sowohl zu Ehren der Dichterin Elizabeth Barrett-Browning (deren Werke sie sehr schätzte) als auch von Englands einstiger Königin vorgeschlagen und er war von sämtlichen zehn Vorstandsfrauen für gut befunden und angenommen worden. Im vergangenen halben Jahr hatten sie alle sehr viel Engagement und Arbeit darauf verwandt, die Richtlinien des Vereins festzulegen, Kurse und Vorträge zusammenzustellen sowie Lehrerinnen und Referentinnen zu engagieren. Neben den abendlichen Fortbildungskursen würden künftig samstags Vorträge zu kulturellen Themen und freitags solche zu beruflichen, sozialen oder politischen stattfinden, zu denen nur weibliche Personen Zutritt hatten.

Glorias Großtante Lady Josephine Blythe war ebenfalls im Vorstand des Frauenbildungsvereins. Allerdings eher formell und um Gloria einen Gefallen zu tun. Sie hatte im Frühjahr einen nicht unerheblichen Teil der Korrespondenzen erledigt, hatte zahlreiche Damen der Gesellschaft über Glorias Vorhaben informiert und die Werbetrommel geschlagen. Über manche der Antworten hatte Gloria geschmunzelt (Lady Carmichel-Diamond hatte angeboten, einen Vortrag über das Rosenzüchten zu halten), über wenige sich geärgert (die Herzogin von York hielt ein solches Unterfangen für gänzlich unnötig und verbot sich weitere »korrespondäre Belästigung«). Nun, das war – nebst der lachhaften Wortschöpfung »korrespondär« – zu verkraften. Es gab genügend Frauen, die ein solches Unterfangen nicht für unnötig hielten. Aufgrund ihrer Werbeannoncen in diversen Zeitungen und Magazinen lagen bereits Anmeldungen für die Kurse Englisch und Französisch sowie Handelskunde vor.

Das Haus selbst hatte Glorias Anwalt Mr Brooks ausfindig gemacht. Er hatte den Mietvertrag mit den Eigentümern geschlossen und alles Rechtliche erledigt, das mit der Gründung einer solchen Einrichtung einherging. Er hatte Stellenannoncen aufgegeben und Gloria hatte gespannt auf die Antworten gewartet. Nun hatten sie nicht nur ausreichend Lehrerinnen für die unterschiedlichen Kurse, sondern auch einen zuverlässigen Stamm an Hauspersonal. Seit erstem April war Mr Atkinson als Hausmeister tätig. Er hatte die Neugestaltung und Renovierung überwacht und war für alle technischen Dinge zuständig. Er war, ebenso wie das Hausmädchen Sally, dauerhaft angestellt. Speziell für die Vorbereitungen zur Eröffnung wurde der Butler Pratt von einer Agentur engagiert. Er war bereits seit eineinhalb Wochen da und mit sämtlichen organisatorischen Aufgaben betraut. Unter anderem hatte er zwei Kellner verpflichtet, die beim morgigen Empfang servieren würden. Daneben gab es seit vorgestern die Köchin Mrs Neal und die Küchenhilfe Linda. Beide arbeiteten die gesamte Vorbereitungswoche bis zur Eröffnung, Mrs Neal künftig nur an den »kulturellen« Samstagen.

Gloria versuchte, sich trotz des Umtriebs draußen im Flur und der nebenan liegenden Großen Halle auf ihre Listen zu konzentrieren. Hier waren ihre Antworten für die Journalistin und den Journalisten, die sie am Nachmittag erwartete. Die nächste Liste enthielt eine Aufzählung der Speisen und Getränke für morgen Abend. Sie lächelte in sich hinein, denn sie hatte sie bereitgelegt, weil Gesellschaftsjournalisten immer wissen wollten, was es zu essen gab. Nun, sie würde es ihnen sagen können, falls sie danach fragten: kaltes Roastbeef, Steak-and-Kidney-Pies sowie mit Kalbsbries gefüllte Pastetchen. Dass sie Lord Lyndon zu Ehren bei Mrs Neal einen Melton Mowbray Pork Pie geordert hatte, der eine Spezialität aus Lord Lyndons Heimat Leicestershire war, würde sie unerwähnt lassen. Gloria heftete das Blatt mit der Speisenfolge an jenes mit den Antworten und wandte sich dem letzten Blatt zu: Anordnungen für Pratt, fein säuberlich untereinander geschrieben, damit man abhaken konnte, was erledigt war.

»Was machst du?«, fragte eine weibliche Stimme von der offenen Tür her.

Gloria sah auf und lächelte ihre Freundin Lilian an. »Ich gehe die Antworten noch einmal durch.«

»Du weißt doch sicher alles auswendig.«

»Ich möchte nichts vergessen.«

Lilian zog eine Augenbraue in die Höhe, etwas, das sie gut konnte – Gloria konnte es nicht – und das ihrer lehrerinnenhaften Erscheinung den letzten Schliff Strenge verlieh. Sie trug wie immer ein schwarzes Seidenkleid, hochgeschlossen, mit winzigem weißem Spitzenkrägelchen am schlanken Hals, das dunkelbraune Haar mit dem akkuraten Mittelscheitel nach hinten gekämmt und im Nacken verknotet. Die flaumkleinen Kringel, die den Haaransatz an der Stirn bekränzten, widersprachen jedoch dem strengen Eindruck ebenso wie das freundliche, ovale Gesicht mit den leicht geröteten Wangen. Diese waren augenblicklich noch ein wenig mehr gerötet als sonst, erstens war es heiß und zweitens hatte Lilian einiges an Arbeit hinter sich. Mit leichtem Wiegeschritt näherte sie sich dem Schreibtisch. Ihr Kleid raschelte leise.

»Die Blumen sind arrangiert?«, fragte Gloria.

Lilian nickte. Sie hatte sich in den vergangenen Wochen meist um die Einrichtung gekümmert. Sie hatte Handtücher und sonstige Notwendigkeiten für die beiden Badezimmer ausgesucht und dort alles hübsch hergerichtet. Da sie gerne nähte, hatte sie die Vorhänge für die fünf kleinen Zimmer im Dachgeschoss angefertigt. Drei Stuben waren für Bedienstete gedacht, falls diese über Nacht im Haus bleiben mussten, zwei waren für Referentinnen reserviert, die von weiter weg anreisten und im Haus übernachten wollten.

»Kommt Robert dich abholen?«, fragte Gloria.

»Er müsste jeden Augenblick hier sein.« Lilian strich mit der Hand an der Schreibtischkante entlang, eine Geste, die absichtsvoll verträumt wirkte, so als sei Gloria nicht Gloria, sondern ein Galan, den sie zu becircen hoffte.

»Wie geht es deinem Lord Lyndon?«

»Er ist nicht mein Lord Lyndon.«

»Immerhin nennst du ihn Alexander.«

Gloria lächelte und sagte: »Es geht ihm gut, nehme ich an.«

»Pass bloß auf, sonst schnappt ihn dir deine Tante vor der Nase weg.«

»Du bist unmöglich!« Gloria suchte nach etwas, das sie nach Lilian werfen konnte, fand auf dem Schreibtisch aber nichts Geeignetes und beließ es bei der Geste.

Lilian beugte sich vor und raunte: »Sie ist verrückt nach ihm!«

»Na, ihr beiden Verschwörerinnen, wer ist verrückt nach wem?«

Lilians Ehemann Robert stand plötzlich in der Tür, ein großer, hagerer Mann mit einem Gesicht, dem man ansah, dass er gerne Zeit im Freien verbrachte. Er hatte schmale Lippen und einen krausen Backenbart bis fast zur Kinnspitze. Lilian hauchte ihm einen Kuss auf die Wange und sagte: »Frauensache!«

Robert lachte und hielt Gloria die Hand zur Begrüßung hin.

»Hallo, Robert. Sei so gut und schaffe mir dieses Lästerweib vom Hals, ja?«

Hinter Roberts Rücken zog Lilian ihr eine Grimasse, verwandelte ihr Gesicht jedoch sofort wieder in die Miene des unschuldigsten Engels, als Robert sich zu ihr umdrehte.

»Sie nennt dich Lästerweib. Frau, was hast du gesagt?«

»Nichts, holder Gemahl. Lass uns essen gehen. Du willst wirklich nicht mitkommen, Belle?«

»Nein, ich habe Mrs Neal gebeten, mir ein Sandwich zu machen.«

Lilian warf Gloria eine Kusshand zu, hakte sich bei ihrem Mann unter und zog ihn aus dem Zimmer. »Bis später«, sagte sie.

»Wiedersehen, Gloria!«, rief Robert über die Schulter, dann machte er »Hoppla!« und einen Stolperschritt, denn in der Tür waren er und Lilian fast mit einer jungen Frau zusammengestoßen, die mit wehenden Hutbändern herangeflitzt kam und einen Ton ausstieß, der einem Quieken nicht unähnlich war. Auch sie hatte rosa erhitzte Wangen und einen Mann im Schlepptau. »Oh, hallo Mr und Mrs Fielding«, sagte sie.

»Lady Virginia«, erwiderte das Ehepaar den Gruß und Robert fragte: »So sind Sie wieder zurück?«

»Seit gestern Abend«, bestätigte der junge Mann.

»Und natürlich ist unser erster Weg heute hierher – nachdem Mutter uns aus ihren Klauen entließ, sie wollte uns zum Lunch dabehalten, aber wir sind entflohen!«, sagte Lady Virginia theatralisch. Sie war eine kleine, mollige Person mit braunem Haar, das wie bei Lilian im Nacken verknotet war. Lady Virginia rauschte auf Gloria zu, die hinter dem Schreibtisch hervorgekommen war, und streckte ihr beide Hände zur Begrüßung hin. Sie strahlte über das ganze Gesicht. »Wir haben uns beeilt«, bekräftigte sie und ihre Stimme klang melodisch und erwachsen und gar nicht mehr quiekend.

Während der junge Mann noch ein paar Worte mit den Fieldings wechselte, flüsterte Lady Virginia Gloria zu: »Oh, Lady Wingfield, da hatte ich als junges Mädchen Angst vor der Ehe – und sehen Sie mich jetzt an! Das Eheleben ist wundervoll!« Sie warf einen raschen Blick über die Schulter auf ihren jungen Gatten und sagte: »Ich bete ihn an! Er besitzt die Eigenschaften, die ich mir bei einem Mann wünschte. Ich habe Aussicht auf ein großes Glück! Zum ersten Mal in meinem Leben.«

»Das freut mich sehr«, erwiderte Gloria.

Robert und Lilian verabschiedeten sich und der derart gerühmte junge Mann kam nun ebenfalls heran und begrüßte Gloria mit Handschlag. »Schön, Sie wiederzusehen, Lady Wingfield.« An ihm fielen zuerst die großen blauen Augen auf sowie eine wohlgeformte Nase. Trotzdem fand Gloria ihn nicht besonders gut aussehend.

»Ich freue mich ebenfalls, Mr von Sachsfeld«, sagte sie. »Wie war die Reise?«

Lady Virginia legte den Kopf in den Nacken und richtete die Augen zur Zimmerdecke. »Ein Traum!«, schwärmte die junge Frau. »Oh, ich muss Ihnen alles erzählen! Paris zum Auftakt an meinem Geburtstag – das war ganz wunderbar. Aber Italien – ah! Alfred war ja schon einmal dort, aber ich sah es zum ersten Mal und würde am liebsten sofort wieder losreisen! Venedig, Verona …«

»Liebes, Lady Wingfield kennt Italien ebenfalls«, unterbrach Mr von Sachsfeld seine Ehefrau nachsichtig lächelnd.

»Es ist wunderschön dort«, bestätigte Gloria. »Und vielleicht finden wir heute Abend etwas Zeit, um über Ihre Hochzeitsreise zu plaudern.«

»Heute Abend!« Lady Virginia verrollte die Augen und zog einen Schmollmund. »Wenn ich an diesen grässlichen Ball denke, wird mir schlecht!«

»Du bist ungerecht, Liebes«, tadelte Mr von Sachsfeld. »Deine Mutter gibt diesen Ball zu Ehren unserer Rückkehr. Du mochtest Bälle doch sonst immer. Hast du vergessen, dass wir uns auf einem Ball kennenlernten?«

»Jaja«, maulte Lady Virginia. »Den meine Mutter seinerzeit zu deiner Ankunft in London gab. Nimm sie nur ja noch in Schutz!«

Mr von Sachsfeld rang sich ein steifes Lächeln ab. Gloria wusste, dass Lady Virginia nicht sonderlich gut mit ihrer Mutter auskam und nicht gerade das gehabt hatte, was man eine schöne Kindheit nennt. So steuerte sie das Gespräch taktvoll in eine andere Richtung. »Nun, sicher interessiert es Sie, was wir in Ihrer zweimonatigen Abwesenheit alles arrangiert haben.«

Schon verzauberte wieder glücklicher, junger Übermut Lady Virginias rundliches Gesicht. »Erzählen Sie! Wer wird morgen Abend kommen? Werde ich singen?«

»Werden Sie.«

Lady Virginia schlug begeistert die Hände zusammen. »Wird sie mich begleiten? Konnten Sie sie gewinnen?«

Gloria lächelte ihr junges Gegenüber vielsagend an. »Was glauben Sie?«

»Oh spannen Sie mich doch nicht so auf die Folter!«

»Susan Forsythe Beltà wird Sie am Flügel begleiten.«

»Hast du gehört, Alfred?! Die Patentochter der Königin wird mich am Flügel begleiten! Endlich werde ich sie kennenlernen, ich hatte so darauf gehofft!«, sagte Lady Virginia enthusiastisch.

Susan Forsythe Beltà, als afrikanische Prinzessin geboren, war eine Berühmtheit in der Londoner Gesellschaft, lange bevor sie Mr James Labulo Dickson geheiratet hatte. Mr Dickson, ein afrikanischer Geschäftsmann von ausgezeichnetem Ruf, war – ebenso wie Lady Virginia und ihr Ehemann – einer der Sponsoren des Frauenbildungsvereins. Er hielt viel von Bildung und hatte in Afrika Schulen bauen lassen. Seine Ehefrau war eine hervorragende Klavierspielerin, die gerne zugestimmt hatte, als Gloria sie fragte, ob sie den musikalischen Part am Eröffnungsabend übernehmen würde. Sie hatte Gloria einige Liedvorschläge übergeben, die diese nun Lady Virginia aushändigte.

Lady Virginia sah auf das Papier, nickte zustimmend und sagte: »Sehr schön.« Dann sah sie Gloria ins Gesicht und fragte: »Was noch?«

»Mrs Wilde wird mit ihrem Ehemann kommen.«

Mrs Constance Wilde, Herausgeberin der »Rational Dress Society Gazette«, war ebenfalls eine der Vorstandsfrauen, und Lady Virginia hatte vor ihrer Abreise spekuliert, ob sie zur Eröffnung zusammen mit ihrem berühmten Ehemann erscheinen würde.

»Hast du das gehört, Alfred? Mr Oscar Wilde wird morgen da sein!«

»Ich bin ja nicht taub«, gab Alfred leicht mürrisch zurück.

»Nun sei nicht so! Er ist die Kapazität in Sachen Ästhetik und Hauseinrichtung!«

»Und nebenbei ein prominenter Dichter und Schriftsteller«, merkte Gloria an.

»Und nebenbei ein Sozialist«, fügte Alfred mit skeptischer Miene hinzu. »Er posaunt seine Thesen im Travellers Club herum. Hält den Sozialismus für eine neue Triebfeder der Kunst. Lachhaft! Der Sozialismus zersetzt die Zivilisation, ich kann nur hoffen, dass die verblendeten Anhänger dieser Lehre dies bald einsehen.«

Gloria fand Mr Wildes Ansichten diesbezüglich zwar auch ein wenig überspannt, betrachtete Mr Wilde aber eher unter literarischen Gesichtspunkten. Und da gefiel ihr, was sie las. Seine Artikel in der »Pall Mall Gazette« und in »The Woman’s World«, für Letztere fungierte er als Herausgeber, waren spritzig. Er war ungewöhnlich und er hatte Stil.

»Ach, jetzt lass uns aber nicht über Politik reden«, murrte Lady Virginia und fügte an: »Bedwin jedenfalls wird an die Decke gehen, wenn er hört, dass er Oscar Wilde verpasst! Er verehrt ihn doch so! Lady Wingfield, Sie wissen, dass er nicht kommen kann?«

»Nein«, erwiderte Gloria und runzelte fragend die Stirn. Bedwin Sands war ein guter Freund Alfred von Sachsfelds. Sie hatte ihn bei der Hochzeit der beiden im Mai kennengelernt. Da das junge Ehepaar zu den Geldgebern des Frauenbildungsvereins gehörte, standen auch Freunde und Verwandte von ihnen auf der Gästeliste der Eröffnungsfeier.

»Die Segelpartie, zu der er eingeladen war, wird nun doch zustande kommen«, erklärte Alfred von Sachsfeld. »Er wird morgen Abend nach Brighton aufbrechen, früh am nächsten Morgen segeln sie los, die Atlantikküste hinunter bis Lissabon. Ihm wird sicher nicht nur furchtbar langweilig, sondern auch gehörig schlecht werden.«

Gloria bedauerte dies. Mr Sands war ihr trotz seines dandyhaften Auftretens sympathisch gewesen und sie hatte sich damals bei der Hochzeitsfeier mit ihm über Ägypten unterhalten, ein Land, das sie bereist hatte und das er gerne bereisen wollte. Er mochte den Orient und wäre sicher ein unterhaltsamer Gesprächspartner gewesen.

»Es wird auch ohne meinen Freund Bedwin eine gelungene Eröffnung werden, Lady Wingfield«, prophezeite Mr von Sachsfeld.

 

Mr Morris war ein absolut gut aussehender Mann. Gloria stockte kurz der Atem, als er so schneidig den Flur herauf auf sie zukam. Sie kannte den Gesellschaftsreporter bisher nur aus der Ferne. Wie er nun mit diesem federnden Gang herankam, spürte sie, dass ihr noch ein klein wenig heißer wurde, als es ihr ohnehin schon war. Rasch streckte sie ihm die Hand hin und sagte: »Schön, Sie zu sehen, Mr Morris.«

Sie war in der Großen Halle gewesen, um ein paar Worte mit Atkinson zu wechseln, als sie sah, wie Pratt Mr Morris hereinließ. Also hatte sie kurz gewartet, bis Pratt ihn zu ihr geführt hatte.

»Ich bin erfreut, dass Sie Zeit haben, Lady Wingfield!«, bekundete Mr Morris. Sein Händedruck war fest, die Hände warm und trocken (ein Wunder bei dieser Hitze) und er sah ihr direkt in die Augen.

Und was für Augen! Havannabraun und dunkel wie ein fernes Abenteuer blickten sie unter geraden, wie mit dem Pinsel gezogenen Augenbrauen hervor, durchdringend, wachsam, versiert. Er hatte eine schöne, sehr gerade Nase und um seinen hübschen Mund lag der Hauch eines trotzig-belustigten Zuges. Seine dunklen Haare lagen locker um seinen Kopf, sie liefen vor den Ohren spitz in die Wangen aus, und von hier, wo bei anderen Männern der Backenbart begann, bis hinunter zum markanten Kinn lag ein dunkler Bartschatten. Er mochte in ihrem Alter sein, überlegte Gloria, während sie mit der Hand den Weg deutete und sagte: »Bitte, hier entlang.« Sie war froh um den kurzen Augenblick, in dem sie den Blick von ihm wenden konnte, und ging voraus zum Arbeitszimmer.

»Das hier ist wohl der Festsaal?«, hörte sie seine Stimme hinter sich.

Sie drehte sich um. Mr Morris war an der Tür zur Großen Halle stehen geblieben und schaute hinein. »Ja, hier wird morgen Abend der Empfang stattfinden.« Gloria trat zu ihm und schaute ebenfalls hinein. Atkinson ging gerade prüfend die Stuhlreihen entlang. »Und in Zukunft all jene Veranstaltungen, zu denen wir ein größeres Publikum erwarten dürfen.« Sie stand neben ihm, er war etwa einen halben Kopf größer, und bemerkte einen Duft an ihm, harzig, würzig, wie von frisch geschlagenen Bäumen. Benutzte er Parfüm? Es würde zu ihm passen, dessen Erscheinung etwas von einem Landedlen längst vergangener Tage hatte.

Sie gingen weiter, aber Mr Morris blieb nach wenigen Schritten erneut stehen, wandte sich nach links und spähte interessiert die Treppe hinauf. »Ein schönes Haus«, sagte er anerkennend.

»Wir werden Sie und Miss Bateson im Anschluss an das Interview gerne herumführen.« Sowohl Miss Bateson als auch Mr Morris hatten vorgeschlagen, anlässlich der Gründung des Frauenbildungsvereins ein Interview mit ihr zu führen. Das war bei Miss Bateson allerdings zu erwarten gewesen. Interviews waren die Spezialität der Journalistin, die für ihre Reihe »Gespräche mit berufstätigen Frauen« bekannt war, die sie für »The Queen« schrieb. Da diese neue Form der Berichterstattung immer populärer wurde, hatte Gloria gerne zugestimmt, zweifellos würde es für Publicity sorgen.

»Das wäre mir ein Vergnügen«, antwortete Mr Morris, die Hand am Riemen seiner Umhängetasche, den Blick freimütig auf sie gerichtet.

Gloria machte erneut eine richtungsweisende Geste, der Journalist erwiderte dies mit einem charmanten Lächeln und ließ ihr den Vortritt. Im Zimmer angekommen, stellte sie Mr Morris und Lilian einander vor. Lilian, die bereits hinter dem Schreibtisch saß, erhob sich, um ihm die Hand zu schütteln. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Mrs Fielding«, sagte Mr Morris.

Lilian wies auf die beiden Stühle vor dem Schreibtisch und Mr Morris setzte sich. Er sah sich erneut interessiert um und nickte beifällig. »Schönes helles Zimmer, hier lässt es sich sicher hervorragend arbeiten.«

Ja, das tat es, deshalb hatten sie dieses Zimmer als Bureau ausgewählt. Durch das Fenster zu ihrer Rechten blickte man hinaus auf eine schmale Veranda, die fast die gesamte Rückseite des Hauses einnahm. Dahinter lag ein Hinterhof und man sah die Backsteinmauer des gegenüberliegenden Hauses. Das Fenster hinter dem Schreibtisch ging hinaus auf eine weitere Veranda an der Längsseite des Hauses, die man von der Großen Halle aus betrat. Gloria hatte auf beiden Veranden Blumenkübel mit Buchsbaum aufstellen lassen. Sie bestätigte Mr Morris’ Aussage und setzte sich neben Lilian. »Bitte bedienen Sie sich«, sagte sie und deutete auf das bereits gefüllte Glas Limonade auf dem Beistelltisch.

Mr Morris bedankte sich und griff nach dem Glas. Gloria bemerkte die Schweißperlchen auf seiner Oberlippe. Rasch sah sie weg und legte ihre vorbereiteten Unterlagen zurecht.

»Der Zeitpunkt der Eröffnung ist gut gewählt«, hörte sie ihn sagen und sah auf. Er stellte das Glas ab und sah sie an. Lächelte. »Mitten in der Saison sind auch viele Landeier in der Stadt. An Publikum dürfte es Ihnen nicht mangeln.«

Sie erwiderte sein Lächeln. »Sie haben recht. Jede Menge Töchter aus gutem Hause, jede Menge Leute aus der guten Gesellschaft.«

»Wie ich hörte, zählt auch Mr Dickson zu Ihren Geldgebern?«, fragte er und schloss mit einem Blick auch Lilian mit ein.

»Ja, kennen Sie ihn?«, fragte diese.

»Nein. Aber man kennt seinen Ruf.«

»Nun, lassen Sie uns darüber sprechen, wenn Miss Bateson da ist«, sagte Gloria.

»Sicher«, erwiderte Mr Morris freundlich.

«Sie werden das Interview in der ›Morning Post‹ veröffentlichen?«, fragte Lilian.

»Ich denke, ja«, antwortete Mr Morris.

Gloria sah auf ihre Unterlagen hinunter. Griff nach einem Stift. Legte ihn wieder hin. Da erschien Pratt und meldete Miss Bateson. Er trat einen Schritt zurück und ließ die Journalistin eintreten. Gloria schätzte sie etwas älter als sich selbst. Sie trug ein Sommerkleid in lichtem Gelb, mit seinen aufgedruckten Vögelchen ein wenig zu verspielt für Glorias Geschmack, aber hübsch anzuschauen in der Kombination mit Sonnenschirm und dem passenden Hut (auch auf ihm saß keck ein Vöglein, einen Blütenzweig im Schnabel haltend). Die Tasche aus hellem Leder, die sie bei sich trug, stellte einen guten Kontrast zu ihrer Aufmachung dar und verdeutlichte, dass sie beruflich unterwegs war.

»Ich muss mich für meine Verspätung entschuldigen«, sagte Miss Bateson. »Ganz London scheint auf dem Weg zu Nachmittagsunternehmungen. Die Straßen sind völlig verstopft.«

»Machen Sie sich keine Gedanken, Miss Bateson«, erwiderte Gloria, während sie aufstand, um der Journalistin über den Tisch hinweg die Hand zu geben. Lilian machte es ebenso und auch Mr Morris begrüßte seine Kollegin mit Handschlag. Nachdem Gloria auch ihr die Limonade angeboten hatte, bedankte sie sich für das Interesse und händigte den beiden eine kleine Broschüre über den Frauenbildungsverein aus. Dann konnte es losgehen. Beide Journalisten zückten Stift und Papier, Mr Morris ließ Miss Bateson den Vortritt mit der ersten Frage.

»Nun, Sie haben es in Angriff genommen, etwas für die Frauenbildung zu tun. Wie muss man sich die Arbeit des Vereins vorstellen?«, begann Miss Bateson.

»Ziel ist es, Frauen ein breites Kursangebot zu geringen Kosten anzubieten«, antwortete Lilian. »Ein kleiner monatlicher Beitrag berechtigt zur Teilnahme an den Kursen sowie den Vorträgen. Wir wollen zu freudiger Berufstätigkeit ermuntern und dazu anregen, sich Wissen anzueignen. Vorträge und Kurse werden selbstverständlich sämtlich von Frauen gehalten.«

»Sie haben ja im Vorfeld in der Presse auf Ihr Vorhaben aufmerksam gemacht. Wie viele Mitglieder hat der Verein inzwischen?«, fuhr Miss Bateson fort.

»Wir haben fünfundzwanzig Mitglieder, zehn davon sind im Vorstand«, sagte Gloria.

»Das ist nicht viel«, warf Mr Morris ein.

»Es werden mehr werden«, gab Gloria zurück.